Radsport: Die größten Legenden - Sven Bremer - E-Book

Radsport: Die größten Legenden E-Book

Sven Bremer

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Beschreibung

Radsport: Die größten Legenden erzählt die Geschichten der bekanntesten Radsportler aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart. Die spannenden, unterhaltsamen Erzählungen geben einen Einblick in die Höhepunkte und Tiefpunkte der Sportlerkarrieren, bieten gleichzeitig aber auch einen interessanten Blick auf das Leben der Radsportlegenden, außerhalb des Fahrradsattels. Wussten sie beispielsweise warum der ungekrönte König des Radsports, Eddy Merckx, den Spitznamen "Kannibale" trug? Oder warum das Jahrhundert-Talent Jan Ullrich wie kein anderer die Rolle des gefallenen Helden verkörpert? Diese und viele weitere Fragen beantwortet Sven Bremer in seinem Buch, das neben sportlichen Erfolgen, epischen Duellen und unvergessenen Skandalen besonders die einzigartigen Lebensgeschichten der Radsportlegenden in den Fokus stellt.

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Seitenzahl: 442

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SVEN BREMER

Radsport

DIE GRÖSSTEN LEGENDEN

Porträts, Geschichten und Skandale

Radsport – Die größten Legenden

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Details sind im Internet über <https://www.dnb.de> abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2023 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen

Auckland, Beirut, Dubai, Hägendorf, Hongkong, Indianapolis, Kairo, Kapstadt, Manila, Maidenhead, Neu-Delhi, Singapur, Sydney, Teheran, Wien

Member of the World Sport Publishers’ Association (WSPA)

Druck: CPI - Clausen & Bosse, Leck

eISBN 978-3-8403-3832-8

E-Mail: [email protected]

www.dersportverlag.de

INHALT

PROLOG

I DIE GANZ GROSSEN CHAMPIONS

1.1 Eddy Merckx – der Kannibale

1.2 Fausto Coppi – „Il Campionissimo”, der Meister aller Meister

1.3 Jacques Anquetil – „Maitre Jacques“

1.4 Miguel Induráin – der Überirdische

1.5 Bernard Hinault – der Dachs

1.6 Gino Bartali – der radelnde Mönch

1.7 Greg LeMond – Auferstanden von den Toten

1.8 Alberto Contador – umstrittener „Pistolero“

1.9 Jan Ullrich – Jahrhunderttalent und tragischer Held

1.10 Lance Armstrong – das Epizentrum des Dopings im Radsport

2 DIE BELGIER

2.1 Johan Museeuw – der Löwe von Flandern

2.2 Roger De Vlaeminck – Monsieur Paris-Roubaix

2.3 Rik Van Steenbergen – Rik I

2.4 Alberic „Briek“ Schotte – der eiserne Briek

2.5 Tom Boonen – auf der Überholspur

2.6 Rik Van Looy – der König der Classiques

2.7 Freddy Maertens – der schwierige Champion

3 DIE KLETTERER

3.1 Federico Bahamontes – der Adler von Toledo

3.2 Charly Gaul – „Engel der Berge“

3.3 Lucien Van Impe – belgischer Bergfloh

3.4 Richard Virenque – geliebt und gehasst

4 DIE ITALIENER

4.1 Marco Pantani – „Il pirata“

4.2 Felice Gimondi – der Konkurrent des Kannibalen

4.3 Costante Giradengo – der Bandit und der Champion

4.4 Alfredo Binda – der „Trompeter von Cittiglio“

4.5 Francesco Moser – „Francesco Nazionale“

4.6 Mario Cipollini – schrill, schriller, Cipollini

5 DIE FRANZOSEN

5.1 Laurent Fignon – acht Sekunden für die Ewigkeit

5.2 Louison Bobet – Der erste Hattrick

5.3 Raymond Poulidor – „Poupou“ – der Sieger der Herzen

6 DIE SCHWEIZER

6.1 Ferdy Kübler – der Adler von Adliswil

6.2 Hugo Koblet – das tragische Ende des „Pédaleur de Charme“

6.3 Fabian Cancellara – Spartacus auf dem Rad

7 DIE MÄNNER VON DEN INSELN

7.1 Tom Simpson – Drama am Mont Ventoux

7.2 Bradley Wiggins – der Rockstar auf dem Rad

7.3 Sean Kelly – von der Grünen Insel ins Grüne Trikot

7.4 Steven Roche – ein Ire in Gelb und Rosa

8 REKORDHALTER UND EXOTEN

8.1 Abdel-Kader Zaaf – falsche Richtung

8.2 Dschamolidin Abduschaparow – „Terror von Taschkent“

8.3 Cadel Evans – der erste Australier

8.4 Sylvain Chavanel – der Dauerbrenner bei der Tour de France

8.5 Alejandro Valverde – Weltmeister mit 38

8.6 Óscar Freire Goméz – ein Chaot mit drei WM-Titeln

9 DEUTSCHE LEGENDEN

9.1 Josef Fischer – der erste deutsche Radsportstar

9.2 Kurt Stöpel – „le philosophe“ – der erste Deutsche in Gelb bei der Tour de France

9.3 Gustav-Adolf „Täve“ Schur – „Gagarin der Landstraße“

9.4 Hans „Hennes“ Junkermann – „Hätt ich misch doch dä Fisch nit jejesse“

9.5 Rudi Altig – „sacré Ruedi“

9.6 Rolf Wolfshohl – le loup – der Wolf

9.7 Wolfgang Lötzsch – ein Opfer des Systems

9.8 Dietrich Thurau – der gefallene blonde Engel

9.9 Olaf Ludwig – ein Star vor und nach der Wende

9.10 Udo Bölts – „Quäl dich, du Sau“

9.11 Erik Zabel – nicht alles im grünen Bereich

9.12 Jens Voigt – König der Ausreißer

9.13 Andreas Klöden – lieber Helfer als Kapitän

9.14 André Greipel – Gorilla auf der Zielgeraden

9.15 Tony Martin – sie nannten ihn Panzerwagen

9.16 Marcel Kittel – „le Kaiser“

Anhang

1 LITERATURVERZEICHNIS

2 Bildnachweis

PROLOG

Die italienischen Radsportfans wussten es schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts: „Die Sonne geht unter, aber nicht Bartali.“ Die „Helden der Landstraßen“ wurden und werden verehrt, sie sind unsterblich für ihre Fans. Die besten Radsportler aller Zeiten haben Geschichte geschrieben und es gibt unzählige Geschichten zu erzählen über sie. Der Radsport-Autor Benjo Maso überschrieb sein Werk zur Historie des Radsports mit dem Titel „Der Schweiß der Götter.“ Abertausende von Radprofis haben schier Unmenschliches geleistet; die besten von ihnen wurden zu (lebenden) Legenden. Man nannte sie „Überirdische“ oder „Meister aller Meister“, man gab ihnen Spitznamen wie „Kannibale“, „Engel der Berge“ oder „il pirata“.

Es waren beeindruckende Persönlichkeiten unter ihnen, echte Charakterköpfe und „Leader“, aber auch Lebemänner, Hasardeure und vielfach ganz einfache Burschen, die nichts anderes so gut konnten wie verdammt schnell Rad zu fahren. Sie mögen Götter oder zumindest Halbgötter in ihrem Sport gewesen sein, aber im Privaten und insbesondere nach dem Ende der aktiven Karriere schrumpften viele von ihnen auf menschliche Größe zurück. Und dazu gehören nun auch einmal Schwächen, wie jeder Mensch sie hat – egal ob er den Mont Ventoux in Rekordzeit bezwingt oder nur mit dem Rad zum Bäcker fährt.

Die Geschichten handeln also nicht nur von zähen Kämpfen und dem Leiden am Berg, von epischen Duellen während der großen Rundfahrten. Sie handeln auch von tragischen Figuren: von Irrwegen und Brüchen in der Biografie, von Depressionen und Drogenmissbrauch, von Doping oder scheinheiligen Dopingbeichten – und von systematischem Betrug.

Einst waren es oft arme Teufel aus einfachsten Verhältnissen, die im Radsport eine Chance sahen, dem Elend zu entkommen. Bauernjungs, die sich ihr erstes Fahrrad vom Munde absparten, Bäcker- und Metzgerlehrlinge, die die Grundlage für ihre spätere Welt-Karriere legten, indem sie Waren mit dem Rad auslieferten und dabei gegen sich selbst die ersten Rennen fuhren. Heutzutage werden die Talente auf Radsport-Internate geschickt, sie trainieren nach Wattzahlen, haben als Jungprofis bereits einen „Staff“ von hundert Mitarbeitern im Rücken und Hightech-Material zur Verfügung. Dieses Buch widmet sich jedoch nicht den aktuellen Stars: Profis wie Peter Sagan, Chris Froome, Tadej Pogačar oder Wout Van Aert kommen nicht vor, ebenso wenig wie die besten Bahnfahrer aller Zeiten. Auch die besten Radfahrerinnen haben leider keinen Platz gefunden. In diesem Buch sind Porträts über die noch lebenden Legenden zu finden, die ihre aktive Karriere bereits beendet haben sowie Geschichten über all jene Legenden, die längst im Radsporthimmel ihre Runden drehen.

Für viele scheint der Radsport fast ausschließlich aus der Tour de France zu bestehen. Zweifelsohne ist die „Grande Boucle“ das Event eines jeden Jahres. Aber zu Legenden geworden sind auch die Klassikerjäger, jene Fahrer, die bei den Frühjahrsklassikern bzw. den fünf „Monumenten des Radsports“ triumphierten. Fragt man die Menschen in Flandern, in der vielleicht radsportverrücktesten Region der Welt, nach ihren Helden, dann nennen sie keinen Coppi und keinen Anquetil. Sie verehren die Klassikerspezialisten wie Johan Museeuw, die ganz harten Kerle, „Flandriens“ genannt. Männer, von denen die meisten bei den Grands Tours keine Chance hatten. Aber die im Frühjahr bei Wind und Wetter über die Kopfsteinpflasterpassagen bei Paris-Roubaix und bei der Flandern-Rundfahrt bretterten oder bei Schneegestöber die brutalen „Côtes“ der Ardennen bezwangen.

Den Namen Eddy Merckx dürfte wohl jeder schon mal gehört haben: der „Kannibale“ konnte alles – und hat alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Er siegte bei allen drei Grands Tours, er war Weltmeister und triumphierte sagenhafte 19-mal bei den „Monumenten des Radsports“. Aber wer weiß schon, dass auch seine Landsleute Rik Van Looy und Roger De Vlaeminck das Kunststück fertigbrachten, alle fünf Monumente zu gewinnen? Und wer kennt schon Briek Schotte, den „Eisernen Briek“, den kein Geringerer als Merckx als den Vater des modernen Radsports in Belgien bezeichnete. Darüber hinaus beinhaltet das Buch Porträts über die Heroen früherer Zeiten, über den ersten Superstar des italienischen Radsports, Costante Giradengo, über den „Campionissimo“ Fausto Coppi und seinen Dauerrivalen Gino Bartali, den die Fans nicht nur aufgrund seiner Fahrkünste verehrten, sondern auch weil er während des Faschismus in den Widerstand ging und Hunderten von Juden das Leben rettete.

Auch wenn Deutschland nicht zu den ganz großen Radsportnationen zählt, widmet sich das Buch ausführlich auch den deutschen Radsportlegenden. Natürlich dem tragischen Helden Jan Ullrich, dem ersten und einzigen deutschen Tour-de-France-Sieger, aber auch Deutschlands erstem und einzigen Straßen-Weltmeister Rudi Altig sowie Kurt Stöpel, dem ersten Deutschen im Gelben Trikot bei der Tour. Die deutschen Fahrer mögen – gemessen an ihren Erfolgen – ein wenig überrepräsentiert sein, aber das Buch erscheint nun mal auf dem deutschsprachigen Markt. Über die Auswahl ließe sich sowieso trefflich streiten. Hätte nicht auch der „ewige Zweite“ der Tour de France, Joop Zoetemelk, ein Porträt verdient? Genauso wie der „spanische Merckx“ Luis Ocaña oder Maurice Garin, der erste Tour-Sieger? Die Auswahl war schwierig, aber sie musste getroffen werden. Auch, wenn der eine oder andere Leser seinen persönlichen Helden vermissen sollte, ich denke bzw. ich hoffe, dass Radsportfans, oder die, die es noch werden wollen, in diesem Buch genug Lesenswertes über die größten Legenden des Radsports finden.

I

DIE GANZ GROSSEN CHAMPIONS

1.1EDDY MERCKX – DER KANNIBALE (*17.06.1945)

Kannibale, Menschenfresser also. So möchte man nicht wirklich genannt werden. Noch nicht einmal als bester und erfolgreichster Radprofi aller Zeiten. Édouard Louis Joseph Baron Merckx, kurz Eddy Merckx, wurde so genannt.

Man weiß bis heute nicht genau, wer es war, der dem fünfmaligen Tour-de-France-Sieger diesen Spitznamen gab. Manche sagen, es sei sein Kollege Christian Raymond gewesen. Andere behaupten, Journalisten hätten den Namen für Merckx erfunden. Ein nicht besonders schmeichelhafter Spitzname. Aber er passte perfekt für den schier unersättlichen Belgier, der so gut wie alle Rekordlisten im Radsport anführt und insgesamt 525 Siege als Radprofi feiern konnte.

Eddy Merckx war siegeshungrig, er war gnadenlos, er war unersättlich – er fraß sein Gegner geradezu auf. Merckx wollte gewinnen, auf Teufel komm raus, er kannte kein Pardon.

Sein langjähriger Freund und Landsmann Patrick Sercu erzählte einmal folgende Geschichte dazu: Nachdem Merckx den Sieg beim Flèche Wallonne verpasst hatte, stand wenige Tage später das Monument Lüttich-Bastogne-Lüttich im Kalender. Als Sercu sich mit dem Auto auf den Weg nach Lüttich machte, sah er auf der Landstraße einen einsamen Rennradfahrer. Es war Sauwetter, ein stürmischer Schneeregen ging übers Land. Keinen Hund hätte man vor die Tür schicken wollen. Sercu erkannte den Radfahrer sofort. Es war Merckx, der sich selbst 100 Kilometer „Strafarbeit“ auferlegt hatte.

Am Tag darauf gewann er Lüttich-Bastogne-Lüttich. Und als Merckx 1969 bei der Flandern-Rundfahrt bereits 80 Kilometer vor dem Ziel attackierte und ihn sein sportlicher Leiter aus dem Auto anwies, die Beine hochzunehmen und aufs Feld zu warten, da brauchte Eddy Merckx nur zwei Worte: „Leck mich!“, schrie er seinem Vorgesetzten entgegen und raste allein gegen den Wind zum Sieg.

Patrick Sercu wusste noch eine andere Geschichte zu erzählen, von einem der einst so populären und lukrativen Sechstagerennen in den 1970er-Jahren. Merckx war sauer auf den Veranstalter und er war nicht gut zu sprechen auf einige der Kollegen. Sein Ärger entlud sich auf der Bahn.

Normalerweise nehmen sich die Topteams bei Sechstagerennen in der ersten Nacht vielleicht eine, höchstens zwei Runden ab. Das war auch stets im Sinne des Veranstalters; es sollte schließlich möglichst lange spannend bleiben. „Aber Eddy fuhr wie ein Irrer um die Bahn; auch ich konnte ihn nicht bremsen. Er hat sogar Ablösungen verpasst und ist einfach immer weitergefahren in diesem höllischen Tempo“, erzählte Sercu, selbst Olympiasieger und der erfolgreichste Sixdays-Profis aller Zeiten.

Am Ende der ersten Nacht hatten Merckx/Sercu neun Runden Vorsprung auf die Zweitplatzierten. Das gab es vorher noch nie und nie wieder.

Wenn er keine Rennen fuhr, so heißt es, war Eddy Merckx ein umgänglicher und freundlicher Mensch. Auch vor dem Start der Rennen war er zumeist gut gelaunt. Aber er verstand sich auch darauf, zu bluffen. Dann erzählte Merckx seinen Kontrahenten gerne mal, dass es ihm gerade heute nicht so gut gehen würde. Mal hatte er Kopfschmerzen, mal eine Erkältung, dann war das Knie malade oder der Rücken zwickte. Was ihn dann nicht davon abhielt, ein mörderisches Tempo anzuschlagen und das Rennen zu gewinnen. Und irgendwann glaubte ihm das Theater sowieso keiner mehr.

Kaum eine Liste mit Superlativen und Rekorden im Radsport kommt ohne den Namen Eddy Merckx aus. Mailand-San Remo gewann er siebenmal, bei Lüttich-Bastogne-Lüttich triumphierte er fünfmal. Bei Paris-Roubaix siegte er dreimal, bei der Lombardei-Rundfahrt und bei der Flandern-Rundfahrt doch tatsächlich nur zweimal.

Außer ihm siegten nur noch seine Landsleute Roger De Vlaeminck und Rik Van Looy bei allen fünf Monumenten des Radsports: 19 Siege haben sie zusammengenommen einfahren können, so viele wie Merckx alleine. Er war dreimal Weltmeister bei den Profis, einmal bei den Amateuren. Er triumphierte fünfmal bei der Tour de France und fünfmal beim Giro – bei jeweils nur sieben bzw. acht Starts.

Der Kletterer, der Rouleur, der Zeitfahrer, der Rundfahrer, der Klassikerjäger, kurzum der Alleskönner Merckx sagte später einmal: „Wenn ich nur die Tour de France gefahren wäre, hätte ich sie bestimmt zehnmal gewonnen.“ Wahrscheinlich wäre es so gewesen. Einmal gewann er die Gesamtwertung der Vuelta a España, er nahm aber auch nur einmal teil. Von Mitte der 1960er-Jahre bis Mitte der 1970er-Jahre führte der Sieg, bei welchem Rennen auch immer, über Eddy Merckx.

Sage und schreibe 525 Siege fuhr Eddy Merckx im Verlauf seiner Karriere ein und drei Jahrzehnte später sagte der deutsche Weltklasse-Sprinter Erik Zabel einmal: „Überall, wo ich hinkomme, hat Eddy schon zehnmal gewonnen.“

Den Stundenweltrekord holte er sich 1972 übrigens auch noch. Wobei man im Vorfeld des Rekordversuchs auf der Bahn in Mexiko-Stadt doch tatsächlich an Merckx gezweifelt hatte. Der Kollege Raphael Geminiani sagte: „Ein solches Unternehmen erfordert Generalstabsarbeit.“ Und auch Rudi Altig glaubte, dass Merckx scheitern würde, den Rekord des Dänen Ole Ritter zu verbessern.

Der deutsche Weltklasse-Profi sagte hinsichtlich des Unterfangens: „Darauf muss man sein Programm monatelang abstellen.“ Jeder andere vielleicht, aber nicht Merckx. Er fuhr auf einem 5,75 Kilogramm schweren Stahlrad, das sich ansonsten nur wenig von den Rennmaschinen der damaligen Zeit unterschied. In der Höhenluft von Mexiko-City schaffte Merckx eine Strecke von 49,431 Kilometern und verbesserte den Stundenweltrekord um fast 800 Meter.

Merckx‘ Rekordmarke hielt bis 1984, ehe Francesco Moser an gleicher Stelle auf einer futuristischen Zeitfahrmaschine als erster Rennfahrer die magische Grenze von 50 Kilometern knackte. Doch weil der Welt-Radsportverband UCI den Rekord von Moser aufgrund des von ihm benutzten Materials später nur noch als Weltbestleistung führte, hatte Merckx‘ Stundenweltrekord letztendlich Bestand bis ins Jahr 2000 (siehe Porträt Moser).

Angefangen hatte Eddy Merckx mit dem Radsport eher gegen den Willen seiner Eltern, Vater Jules und Mutter Eugenie. Die Familie war aus dem kleinen Ort Meensel-Kiezigem bei Leuven nach Woluwé-Saint-Pierre im Großraum Brüssel gezogen, als Eddy ein Jahr alt war. Allerdings lebte er selbst bis zum Alter von fünf Jahren bei seiner Großmutter Martha.

Der kleine Eddy konnte, obwohl er als Kind zunächst ein kleines „Pummelchen“ war, so gut wie nie stillsitzen. Er spielte Tennis, Fußball, Basketball und war darüber hinaus ein guter Schwimmer und ein schlagkräftiger Boxer. Auf dem Rad war er zwar schon von Kindesbeinen an unterwegs, nahm aber zunächst an keinen offiziellen Wettkämpfen teil. Die Rennen, die Eddy mit seinen Kumpels ausfuhr, fanden auf dem Schulweg statt oder auf dem Weg zum Box,- zum Tennis- oder zum Fußballtraining.

Jeder von den Jungs wollte dabei Stan Ockers sein, der beste belgische Profi dieser Zeit. Als jener Stan Ockers 1955 gegen die Übermacht der italienischen und französischen Konkurrenz Weltmeister wurde, da beschloss Merckx, ihm nachzueifern. Unterstützung fand er im ehemaligen belgischen Profi Félicien Vervaecke, der gleich um die Ecke von Merckx‘ Elternhaus einen Fahrradladen betrieb.

Als seine Eltern, Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens am Goudevinkenplein in Woluwé-Saint-Pierre, eines Tages im Urlaub waren, nahm der damals 16 Jahre alte Teenager heimlich an einem Rennen teil. Aber selbst bei der genauesten Recherche wird man Eddy Merckx nicht in den Palmarès finden. Der Junge mit den perfekten Ortskenntnissen hatte nämlich, nachdem er zwischenzeitlich abgehängt worden war, ein paar Abkürzungen genommen, um wieder den Anschluss ans Hauptfeld zu schaffen – und wurde deshalb disqualifiziert.

Kaum zu glauben, bei dem, was später aus Eddy Merckx werden sollte; aber bei den folgenden Rennen, die er im Sommer 1961 bestritt, hat er nicht gewonnen. Erstmals offiziell als Sieger geführt wurde er bei einem Rennen am 1. Oktober des Jahres in Petit-Enghien. Aber schon vorher war Merckx klar, dass es für ihn nur eines gibt: den Radsport.

Die Schule war nicht so sein Ding. Wenn man sagen würde, Eddy Merckx war ein mittelmäßiger Schüler, dann wäre das eine Übertreibung. Also brach er sie nach reichlich Streit und Ärger mit seinen Eltern im Sommer 1962 nach der Mittleren Reife ab.

Bereits über den Winter 1961/62 hatte er mit seinem Mentor und väterlichen Freund Vervaecke hart und viel auf der Bahn trainiert und gewann 1962 die belgischen Meisterschaften in der Kategorie der „debutants“. Insgesamt siegte er während seiner Amateur-Laufbahn von 1962 bis 1964 bei über 70 Rennen, darunter war der Titelgewinn bei der Straßen-WM der Amateure 1964 im französischen Sallanches.

1965 startete Eddy Merckx seine Profikarriere beim Team Solo-Supéria; im Frühjahr 1966 siegte er erstmals bei Mailand-San Remo, im Herbst verpasste er den Sieg bei der Lombardei-Rundfahrt als Zweiter hinter dem Italiener Felice Gimondi nur knapp. 1967, im Trikot des Teams Peugeot-BP-Michelin debütierte Merckx beim Giro d’Italia. Er gewann zwei Etappen und belegte Rang neun in der Gesamtwertung. Da war einer mit viel Potenzial, das hatten Experten und Fans gesehen, aber sie ahnten nicht, was da alles noch kommen sollte.

1968 nahm Eddy Merckx, inzwischen im Trikot des FAEMA-Teams, zum zweiten Mal an der Rundfahrt durch Italien teil und triumphierte dort als erster Belgier überhaupt. Er gewann die erste und die achte Etappe, ehe er auf dem Tagesabschnitt Nummer 12 den Gesamtsieg perfekt machte und dabei die versammelte Weltelite zu Statisten degradierte.

Es war bereits Anfang Juni, aber es schneite auf dem Weg hinauf zu den Drei Zinnen in den Dolomiten. Natürlich hat auch ihm die Kälte zugesetzt, aber er konnte das von allen am besten ausblenden. Merckx kurbelte die Serpentinen so schnell hinauf, als säße er auf einem Moped. Im Schneegestöber verloren die meisten seiner Gegner Merckx nicht nur aus den Augen, sondern auch ihre Moral.

Als der große Felice Gimondi mit sechs Minuten Rückstand auf den jungen Belgier ins Ziel kam, weinte er. Und Vittorio Adorni, Giro-Sieger des Jahres 1965, sagte über Merckx: „Er ist diese Etappe gefahren, als wäre sie seine letzte.“ Das stimmte; nur dass Eddy Merckx nicht nur auf dieser einen Alpen-Etappe des Giro im Juni 1968 so fuhr, als wäre es seine letzte, sondern bei allen Rennen, die da noch kamen, in den kommenden zehn Jahren.

Im darauf folgenden Frühjahr gewann der Unersättliche mit Mailand-San-Remo, der Flandern-Rundfahrt und Lüttich-Bastogne-Lüttich drei Monumente des Radsports innerhalb von wenigen Wochen; das hatte vor ihm noch keiner geschafft. Hätte er sich nicht bei Paris-Roubaix eine Knieverletzung zugezogen, Merckx hätte auch noch in der Hölle des Nordens triumphiert. So wurde er „nur“ Zweiter hinter seinem Landsmann Walter Godefroot.

Beim Giro 1969 war Merckx auf Kurs Titelverteidigung, er hatte bereits vier Etappen gewonnen und trug das „Maglia Rosa“, als ihn die Organisatoren nach der zwölften Etappe aus dem Rennen nahmen. Bei einer Dopingprobe waren Spuren des Amphetamins Fencamfamin gefunden worden.

Der Champion tobte; Merckx mutmaßte, man habe ihm das Mittel in die Wasserflasche gemischt und sprach von einem Komplott. Die Italiener, so Merckx, hätten es nicht ertragen können, dass zum zweiten Mal in Folge ein Belgier und nicht einer ihrer Fahrer gewinnt. Mit einer gehörigen Portion Pathos behauptete Merckx, die Italiener hätten ihn gebrochen.

Natürlich hatten sie das nicht, man konnte diese menschliche Maschine nicht brechen.

Die Italiener hatten Eddy Merckx vor allem wütend gemacht. Und er fuhr, nachdem seine Sperre auf einen Monat verkürzt worden war, im Sommer 1969 erstmals die Tour de France. Und er fuhr bei der „Grande Boucle“ alles in Grund und Boden, die Wut musste raus und das ging am besten auf dem Rad. Mit 17 Minuten Vorsprung gewann der Kannibale zum ersten Mal die wichtigste Rundfahrt der Welt. Er gewann fünf Etappen; neben dem Gelben Trikot noch das Bergtrikot, das Punktetrikot und die damals gerade eingeführte Kombinationswertung.

Jacques Goddet, Tour-Direktor und Autor bei der französischen Zeitung L’Équipe, kreierte den Begriff „Merckxissimo“, in Anlehnung an die italienischen „Campionissimi“ früherer Zeiten. Ausgerechnet ein italienischer Begriff … An anderer Stelle nannte die Zeitung den Belgier einen „Velonauten“.

Als Eddy Merckx, der Mann vom anderen Stern, seinen ersten Tour-Sieg feierte, betraten die US-amerikanischen Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin gerade als erste Menschen den Mond. Nicht nur in der Geschichte der bemannten Raumfahrt hatte ein neues Zeitalter begonnen; auch im Radsport.

Die sechs Etappen, die Merckx 1969 bei der Tour de France gewann, waren die ersten von insgesamt 34 im Laufe seiner Karriere. Erst 2021 stellte der britische Sprinter Mark Cavendish den Rekord zumindest ein. Der inzwischen 76 Jahre alte Eddy Merckx gab sich großzügig, er gratulierte Cavendish und sagte lapidar: „Das kostet mich keinen Schlaf. Rekorde sind dazu da, um gebrochen zu werden.“ Seine 96 Tage im Gelben Trikot bleiben bis heute unerreicht.

1970 gewann Merckx sein erstes Double aus Giro und Tour, 1972 und 1974 gelang ihm das Kunststück nochmals. 1973 siegte er bei seiner einzigen Teilnahme an der Vuelta a España und anschließend beim Giro. Der Hunger des Kannibalen, als erster Radprofi alle drei Grands Tours in einem Jahr zu gewinnen, war groß; erstaunlicherweise obsiegte die Vernunft. 60 Etappen in gerade einmal drei Monaten seien sogar für ihn zu viel, begründete Merckx die Absage.

1975 bei der Tour de France musste Merckx sich dem Franzosen Bernard Thévenet als Gesamtzweiter geschlagen geben. Merckx hatte aufgrund einer schweren Angina ein verkorkstes Frühjahr hinter sich; die Tour war nicht nur aufgrund der sportlichen Herausforderungen eine Tour der Leiden für den Belgier.

Schon zu Beginn der Rundfahrt wurde der Dominator der vergangenen Jahre von den französischen Fans beschimpft, bedroht und beleidigt. Schließlich wurde er während der 14. Etappe hinauf zum Puy de Dôme tatsächlich von einem Fanatiker mit Boxhieben traktiert; benommen vor Schmerzen bewältigte er den Schlussanstieg und verlor wertvolle Zeit. Schließlich wurde er noch in einen Sturz verwickelt und brach sich dabei das Jochbein und den Kiefer. Er kämpfte weiter, was sonst? Aber es reichte nicht, der „flandrische Löwe“ war angeknockt.

Im Sommer 1975 war Eddy Merckx das letzte Mal bei einer der Grands Tours um den Sieg gefahren. Im Frühjahr 1976 holte er sich zwar noch seinen siebten Triumph bei Mailand-San Remo, beim Giro jedoch quälte er sich mit einem Furunkel im Gesäßbereich als Gesamtachter ins Ziel und sagte anschließend die Teilnahme an der Tour de France ab. Seine Zeit schien vorbei zu sein, auf jeden Fall war die Zeit vorbei, in der Eddy Merckx den Radsport dominierte.

Aber er wollte es nicht einsehen; er beging den klassischen Fehler, sich nicht als Champion zu verabschieden, sondern als ehemaliger Champion, der krampfhaft versuchte, immer noch ein Champion zu sein. Im Sommer 1977 wollte er seinen sechsten Sieg bei der Tour perfekt machen; am Ende hatte er als Gesamtsechster mehr als zwölf Minuten Rückstand auf den Sieger.

Als Merckx 1978 im Frühjahr komplett der Musik hinterherfuhr, beendete er schließlich im Mai des Jahres seine aktive Karriere. Es sei, so Merckx später, der schwerste Schritt seines Lebens gewesen, als Verlierer abzutreten. Denn alles andere, als zu gewinnen, kam für den Kannibalen einer Niederlage gleich.

Eddy Merckx ist Belgiens Weltsportler des 20. Jahrhunderts, er wurde von der UCI zum besten Radsportler des vergangenen Jahrhunderts gekürt. Wenn er nicht als Kannibale bezeichnet wurde, dann als Eroberer, als Supermann, als Gott. Es gab nie einen Besseren, das sagen fast alle, wenngleich es einige wenige gibt, wie den italienischen Radsportjournalisten Gian Paolo Ormezzano, die das anders sahen.

Ormezzano machte den feinen Unterschied und schrieb, Merckx sei „der Stärkste“, Fausto Coppi hingehen „der Beste“ in der Geschichte des Radsports gewesen. Der Autor begründete das damit, dass Coppi sich in seiner Glanzzeit mit deutlich stärkeren Gegnern als Merckx messen musste.

Ein anderer großer Champion, Jacques Anquetil, hatte einmal gesagt: „Nimm die Beine von Eddy Merckx, den Kopf von Eddy Merckx, die Muskeln von Eddy Merckx, das Herz von Eddy Merckx und den Siegeshunger von Eddy Merckx – und du hast den idealen Rennfahrer.“

Wie auch immer: Merckx war ein Alleskönner, vielleicht der Letzte überhaupt im Radsport. Er konnte sprinten, er war ein Puncheur par excellence bei den schweren Eintagesklassikern, er war ein brillanter Zeitfahrer und er war enorm stark im Hochgebirge – obwohl er im Vergleich zu den heutigen Rundfahrtspezialisten mit 1,82 Meter Körpergröße und einem Gewicht von knapp 75 Kilogramm nicht die besten physischen Voraussetzungen mitbrachte.

Man könnte von einer unglaublichen mentalen Stärke sprechen, man könnte es aber einfach auch als Besessenheit bezeichnen. Der italienische Radsportautor Giacomo Pellizzari schrieb von einer „wunderbaren Maßlosigkeit“, die Merckx charakterisiere. Der Unersättliche ordnete darüber hinaus alles seinem Sport unter. Und er besaß eine erstaunliche Regenerationsfähigkeit. Wie schwer die Etappe am Tag zuvor auch gewesen sein mochte: Merckx war am nächsten Morgen topfit und hatte nach dem Start schon bald wieder das Messer zwischen den Zähnen.

Nur ganz selten zeigte Eddy Merckx Schwäche; einmal am Mont Ventoux, an jenem kahlen und mythischen Riesen im Süden Frankreichs. Merckx kam während der Tour-de-France-Etappe 1970 zwar als Erster im Ziel an, doch dann erlitt er noch vor der Siegerehrung und den TV-Interviews einen Schwächeanfall. Er rang nach Luft, sank gar zu Boden und musste beatmet werden.

Angst, so gestand Merckx wenig später, habe er gehabt. Angst, die Tour verlieren zu können. Und Angst davor, dass es ihm wie Tom Simpson ergehen könnte, der einige Jahre zuvor am Mont Ventoux bei einer ähnlichen Affenhitze kollabiert und anschließend gestorben war.

Jahre später behauptete Merckx zwar, er habe den Kollaps nur vorgegaukelt, um nicht noch mehr Interviews geben zu müssen. Doch wer ihn da gesehen hat, kreidebleich, kalten Schweiß auf der Stirn, der Blick ins Leere – der mochte das nicht wirklich glauben. Simpson war 1967 wohl aufgrund eines Cocktails aus Alkohol und Amphetaminen gestorben. Ob Merckx vor der Etappe auf den Mont Ventoux ebenfalls gedopt hatte? Man weiß es nicht.

Aber er hat es getan, wie die meisten Fahrer seiner Epoche, das gab Merckx nach dem Karriereende zu. EPO, synthetische Wachstumshormone, systematisches Doping wie zu Zeiten eines Lance Armstrongs gab es noch nicht. Merckx & Co. halfen nach mit Cortison, mit verschiedenen Schmerzmitteln und so manch einer mit Amphetaminen. Merckx wurde während seiner aktiven Laufbahn dreimal positiv getestet: 1969 beim Giro d‘Italia, 1973 bei der Lombardei-Rundfahrt und 1977 beim Flèche Wallonne.

Eddy Merckx fiel es zunächst schwer, das Leben nach der aktiven Karriere zu meistern. Er war zeitweise depressiv, er trank gerne, vor allem zu viel, er war zwischenzeitlich ganz schön fett geworden. Mithilfe seiner Frau Claudine und mithilfe des Radsports schaffte er es schließlich doch, im normalen Leben Fuß zu fassen. Merckx war Kommentator bei großen Rennen, er war unter anderem Direktor der Flandern-Rundfahrt und er verfolgte die Karriere seines Sohnes Axel, der immerhin Bronze bei den Olympischen Spielen 2004 holte.

Auch Ugo de Rosa spielte eine große Rolle dabei, dass Merckx sich jenseits der Landstraßen wohlfühlte. Der Chef des italienischen Rennradherstellers De Rosa half Merckx auf die Sprünge, seine eigene Firma aufzubauen. Ab 1980 entstanden edle Rennmaschinen mit dem Namen des größten Rennfahrers aller Zeiten, die in den 1980er- und 1990-Jahren von vielen Profiteams gefahren wurden.

2008 zog sich Merckx aus dem operativen Geschäft zurück, blieb dem Unternehmen (2017 von Ridley aufgekauft) aber noch als Berater und Testfahrer verbunden. Denn längst hatte Merckx die Freude am Radfahren wiedergefunden und mehr als 30 Kilogramm abgenommen. Im Frühjahr 2015, kurz vor seinem 70. Geburtstag, verriet Eddy Merckx, dass er pro Jahr um die 7.000 Kilometer auf dem Rennrad abreißt – auch wenn die Knie ihm Probleme bereiteten.

Lapidar sagte er: „Wenn dir in meinem Alter morgens nichts wehtut, dann bist du tot.“ Auch der 2013 eingesetzte Herzschrittmacher hielt ihn nicht vom Radfahren ab. Erst seit er sich 2019, im Alter von inzwischen 74 Jahren, bei einer Ausfahrt schwere Kopfverletzungen zuzog, tritt Eddy Merckx, der erfolgreichste Rennfahrer in der Geschichte des Radsports, etwas kürzer.

1.2FAUSTO COPPI – „IL CAMPIONISSIMO”, DER MEISTER ALLER MEISTER (15.09.1919-02.01.1960)

Als Fausto Coppi am 2. Januar 1960 mit nur 40 Jahren starb, trauerte ganz Italien um den „Campionissimo“. Coppi zählte zu den Größten überhaupt in der Geschichte des Radsports; er gewann zweimal die Tour de France und fünfmal den Giro d’Italia.

Die Cycling Week schrieb einmal über den besten Rennfahrer Italiens aller Zeiten: „Wo Hinault Angst verbreitete, Anquetil Bewunderung und Merckx Respekt, erfuhr Coppi eine gottesdienstähnliche Anbetung – und gelegentlich Hass.“ Hass deshalb, weil Coppi in den frühen 1950er-Jahren seine Ehefrau für eine andere verließ; für die meisten seiner Landsleute im katholischen und bigotten Italien dieser Zeit eine Sünde.

Fausto Coppi, eines von fünf Kindern einer ärmlichen Bauernfamilie, hatte für die Schule nicht viel übrig. Häufig schwänzte er sie sogar, fuhr lieber mit seinem alten rostigen Fahrrad durch die Hügel des Piemont und musste anschließend seine Strafarbeiten abarbeiten. Irgendwann hatte er genug davon, schmiss die Schule und arbeitete bereits im Alter von 13 Jahren als Aushilfe in einem Feinkostladen in Novi Ligure.

Tagtäglich fuhr der Teenager die 25 Kilometer lange Strecke mit dem Fahrrad, hatte großen Spaß daran und versuchte jeden Tag aufs Neue, den Arbeitsweg noch ein bisschen schneller zurückzulegen. Seine Ersparnisse aus dem kargen Lohn investierte der Youngster darin, sein normales Alltagsrad „aufzupimpen“.

Aus Spaß wurde schließlich Ernst, nachdem ihn der legendäre Biagio Cavanna (1893-1961) entdeckt hatte. Der inzwischen fast erblindete ehemalige Boxer und Radsportler sowie langjährige Masseur der italienischen Radsportstars Costante Giradengo (1893-1978) und Learco Guerra (1902-1963) sah trotz seiner Sehbehinderung in absoluter Klarheit in Coppi einen jungen Burschen, der ihm wie geschaffen schien für den Radsport.

„Mit seinen langen Beinen, die mit denen eines Reihers verglichen wurden, einem kurzen Rumpf und einer leichten Wölbung des Rückens, verschmolz Coppi mit seinem Rad zu einer untrennbaren Einheit“, hieß es in einem Buch über den späteren „Campionissimo“. Hinzu kam ein außerordentlich niedriger Ruhepuls sowie ein Lungenvolumen von mehr als sieben Litern.

Anfang Juli 1937 fuhr Fausto Coppi rund um seinen Heimatort Castellania sein erstes Rennen. Inzwischen saß er sogar auf einem richtigen Rennrad, sein Gehalt als Metzger und ein großzügiges Geschenk seines Onkels Fausto gingen für die erste Rennmaschine drauf. Coppi attackierte fast vom Start weg, er setzte sich ab – und musste dann aufgrund eines Defekts aufgeben.

Bereits im darauf folgenden Jahr feierte der 18-Jährige beim Kriterium in Castelleto d‘Orba seinen ersten Sieg bei einem Amateurrennen. Die Prämie dafür waren angeblich 20 Lire und ein Salamibrötchen. Weitere Siege folgten im Verlauf des Jahres und Fausto Coppi betrieb seinen Sport schon bald mit großer Akribie: Er las medizinische Fachbücher, er ging so gut wie nie später als um 22 Uhr zu Bett und achtete auf seine Ernährung.

Er trainierte als wohl erster Radprofi Intervalle und installierte bei sich zu Hause, falls ganz schlechtes Wetter sein sollte, einen selbstgebauten Hometrainer. Kurzum: Er verhielt sich wie ein Profi, obwohl er noch gar keiner war.

1939 nahm Fausto Coppi als sogenannter Indipendente erstmals an Profirennen teil und gewann Ende Mai die Coppa Città di Pavia. Nach einigen weiteren Podestplätzen bei nationalen Eintagesrennen in Italien unterschrieb das Talent zur Saison 1940 einen Profivertrag beim Team Legnano, wo der inzwischen 20-Jährige als Helfer für den damals schon legendären Gino Bartali (1914-2000) vorgesehen war.

Gleich zu Saisonbeginn verhalf er Bartali zum Sieg bei Mailand-San Remo und belegte zeitgleich mit seinem Kapitän Platz 10 bei der „Classicissima“. Im Mai des Jahres dann zählte Coppi zum Aufgebot seines Teams beim Giro d’Italia. Als Bartali sich bereits auf der zweiten Etappe nach einer Kollision mit einem Hund verletzte und zurückfiel, bekam der Jungprofi Coppi „grünes Licht“ von seinen Teamchefs und gewann gleich bei seinem Debüt die Italien-Rundfahrt. Einen Tag später trat das faschistische Italien unter dem „Duce“ Benito Mussolini an der Seite Nazi-Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg ein und der Giro wurde von 1941 bis 1945 nicht ausgetragen.

Coppi gewann einige Eintagesrennen in Italien wie beispielsweise Tre Valli Varesine, konnte aber längst nicht an allen Rennen in der Heimat teilnehmen, da er in den Jahren 1940 und 1941 seinen Wehrdienst ableistet; so hatte er beispielsweise schon den Giro 1940 während seines Urlaubs bestritten.

1942 holte sich Fausto Coppi erstmals den italienischen Meistertitel und startete Ende des Jahres den Versuch, den fünf Jahre alten Stundenweltrekord des Franzosen Maurice Archambaud zu knacken. Coppi legte auf der legendären Vigorelli-Bahn zu Mailand eine Distanz von 45,848 Kilometern zurück und schaffte damit 31 Meter mehr als der bisherige Rekordhalter.

Gefahren war Coppi die Rekordzeit, während rundherum in der lombardischen Metropole die Bomben fielen. Und er musste es sich gefallen lassen, dass die von den Faschisten gleichgeschalteten Zeitungen am Tag darauf seine Rekordfahrt als einen Beweis für die „Stärke und den Willen der italienischen Rasse“ feierten.

Wenig später wurde Fausto Coppi, Gefreiter im 38. Infanterieregiment der Ravenna-Division, nach Nordafrika abkommandiert. Bereits nach einem guten Vierteljahr wurde er von britischen Soldaten am Kap Bon in Tunesien gefangen genommen, anschließend in ein Lager bei Medjez el Bab gebracht, um schließlich den Rest seiner Gefangenschaft bis zum 1. Februar 1945 im Lager Blida in der Nähe der algerischen Hauptstadt Algier zu verbringen.

Zurück in der Heimat stand der ehemalige Giro-Sieger zunächst einmal vor dem Nichts. Er kehrte mit Magenproblemen und einer leichten Form der Malaria zurück, sein altes Team gab es nicht mehr und er wandte sich in seiner Not an den Journalisten Gino Palumbo von der Gazetto dello Sport. Er würde gerne wieder Profirennen fahren, aber er habe kein Team und lediglich ein schweres Militärrad mit dicken Reifen.

Palumbo startete einen Aufruf, Coppi bekam ein Rennrad und fuhr 1945 mit dem Giro del Lazio sein erstes Rennen seit Jahren. Und für das Radsportjahr 1946, in dem alle großen Rennen wieder gestartet werden sollten, fand er mit dem Bianchi-Team auch einen neuen Rennstall.

Gleich zum Auftakt der Saison 1946 gewann Fausto Coppi den Frühjahrsklassiker Mailand-San Remo, zum Ende des Jahres die Lombardei-Rundfahrt. Beim Giro d’Italia allerdings musste er sich Gino Bartali geschlagen geben, jenem Rennfahrerkollegen, mit dem ihn schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine besondere Rivalität verband.

Das Duell Coppi vs. Bartali sollte Italien beschäftigen und bewegen wie nie zuvor ein sportlicher Zweikampf und wie nie wieder in der Geschichte des italienischen Sports. Man war und ist bis heute entweder „Bartalisti“ oder „Coppisti“ (auch „Bartaliani“ oder „Coppiani“). Der Riss ging bisweilen mitten durch Familien und sorgte am Esstisch für hitzige Diskussionen. Es soll sogar Familien gegeben haben, die sich nicht mehr an einen Tisch setzten, weil sie darüber erbittert stritten, wer denn nun der wahre Champion sei.

Der „radelnde Mönch“ Gino Bartali, der Laienbruder des Karmeliterordens, der während des Zweiten Weltkriegs Juden vor der Verfolgung der Faschisten rettete? Oder der polyglotte, der moderne Vollprofi Fausto Coppi, der ab dem Ende der 1940er-Jahre im erzkatholischen Italien vor allem für Schlagzeilen sorgte, weil er seine Frau für eine andere verließ. Auf die Idee, dass es zwei große Champions geben kann, kam anscheinend kaum jemand.

Der italienische Journalist und Autor Curzio Malaparte, ganz offensichtlich ein „Bartalisti“, schrieb Folgendes: „Bartali ist ein Mann der Tradition. Er ist ein metaphysischer, von den Engeln geschützter Mensch. Coppi hat im Himmel keinen, der sich um ihn kümmert. Er sitzt allein auf seinem Rad, hat keinen Engel auf der Schulter, der mittritt. Er denkt rational, nüchtern und glaubt nur an den Motor, der ihm gegeben wurde, das heißt, an seinen Körper.“

Befeuert wurden die Zwistigkeiten der Tifosi mit beinahe diabolischer Freude von den italienischen Medien. Sie hatten damit definitiv einen Nerv getroffen im tief gespaltenen Nachkriegs-Italien: Bartali wurde als Symbolfigur von den italienischen Christdemokraten für die Bewahrung der alten Werte geradezu missbraucht, denn er war keineswegs ein rückständiger Mann, eher einer, der für Werte wie Demut, Bescheidenheit und Solidarität stand.

Der damalige Papst Pius XII. (Papst 1939-1958) sprach den Italienern nach dem Krieg gar Mut zu, indem er sagte: „Ihr werdet siegen wie Bartali.“ Coppi hingegen wurde als Sozialist oder gar als Kommunist „verkauft“ – was er definitiv nicht war.

Die beiden Weltklasse-Radsportler waren sportliche Konkurrenten, meistens achteten und respektierten sie sich aber gegenseitig und verhielten sich sportlich fair. Als Beleg dafür gilt gemeinhin ein geradezu ikonisches Bild, das während der Tour de France 1952 entstand: Beide kämpften am Aufstieg zum Galibier um den Sieg und auf dem Foto ist zu sehen, wie Bartali seinem Rivalen seine Trinkflasche reicht. Allerdings ist bis heute ungeklärt, ob es wirklich Bartali war oder umgekehrt Coppi ihm die Trinkflasche überließ. Wieder mal ein Fall, bei dem sich „Bartalisti“ und „Coppisti“ wunderbar streiten können.

Aber es gab auch Situationen, in denen sich die beiden tatsächlich nicht das Schwarze unterm Fingernagel gönnten. Beim WM-Straßenrennen 1948 sollten Coppi und Bartali als Mitglieder des italienischen Nationalteams eigentlich zusammenarbeiten. Aber sie blockierten sich stattdessen gegenseitig, schieden schließlich abgeschlagen aus dem Rennen aus und wurden anschließend seitens des italienischen Verbands mit einer Sperre belegt.

1947 nahm Fausto Coppi für die Niederlage gegen Bartali beim Giro des Vorjahres Revanche, er wurde italienischer Meister und gewann erneut den Giro di Lombardia. 1949 gewann er zum dritten Mal den Giro und mit dem anschließenden Triumph bei der Tour de France – mit gut zehn Minuten Vorsprung auf Bartali – als erster Rennfahrer überhaupt beide Grands Tours innerhalb eines Jahres.

Kaum jemand schien dem „Campionissimo“ Paroli bieten zu können, der im Frühjahr 1950 erstmals Paris-Roubaix gewann und im Mai des Jahres seinen vierten Triumph beim Giro feiern wollte. Doch dann stürzte er auf der neunten Etappe und verpasste so auch die Frankreich-Rundfahrt.

1951 fuhr Fausto Coppi die Tour de France in tiefster Trauer und war nicht wirklich ein Kandidat für das „Maillot jaune“. Sein jüngerer Bruder Serse war wenige Tage vor dem Grand Départ bei der Piemont-Rundfahrt gestürzt und erlag wenig später seinen Verletzungen. Fausto Coppi dachte ans Karriereende, überwand die Trauer aber schließlich auch dadurch, dass er weiter Rennen fuhr.

1952 dann schaffte das „Phänomen“, wie man Coppi auch nannte, das zweite „Double“ aus Giro und Tour. Die Frankreich-Rundfahrt gewann er mit einem Vorsprung von 28 Minuten auf den zweitplatzierten Stan Ockers; es ist bis heute der größte Vorsprung der Nachkriegsgeschichte. Sein damaliger Teamkollege, der Franzose Raphaël Géminiani, sagte: „Wenn Fausto gewann und du wolltest die Zeitabstände prüfen, brauchte man keine Stoppuhr. Die Kirchenglocken taten es auch …“

Zur Tour de France im darauf folgenden Jahr wurde Coppi von den Veranstaltern gar nicht erst eingeladen; sie befürchteten aufgrund der bisherigen Dominanz des Italieners ein langweiliges Rennen. Dafür gewann er 1953 zum fünften Mal den Giro d’Italia und erstmals den WM-Titel. Ab 1954 fand der „Campionissimo“ – auch bedingt durch zahlreiche Verletzungen – nicht mehr zu seiner Topform zurück. Ein Leben ohne Radrennen schien er sich jedoch nicht vorstellen zu können und nahm bis zum Alter von 39 Jahren an Profirennen teil.

Dass Fausto Coppi ab Mitte der 1950er-Jahre nicht mehr zu den Besten der Besten zählte, lag sicherlich auch an seiner privaten Situation. Coppi, der mit seiner Jugendliebe Bruna verheiratet war, lernte 1948 eine gewisse Giulia Locatelli kennen – im Gegensatz zu seiner Ehefrau eine wahre Schönheit. Coppi war fasziniert von der „dama bianchi“, der „Dame in Weiß“, und begann mit der ebenfalls verheirateten Frau eine Affäre. Undenkbar im katholischen und bigotten Italien der 1940er-Jahre.

Als er 1953 seine Frau verließ, um mit Locatelli zusammenzuleben, mischte sich gar der Papst ein und forderte Coppi auf, zu seiner Ehefrau zurückzukehren. Coppi und Locatelli wurden wegen Ehebruchs zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. Und je weniger Rennen er gewann, desto mehr Schmutz goss die Boulevardpresse über Coppi und Locatelli aus.

Ende 1959 brach Fausto Coppi gemeinsam mit seinen Rennfahrerkollegen Raphaël Géminiani, Roger Rivière und Jacques Anquetil zu einer Safari ins damalige Obervolta (heute Burkina Faso) auf. Coppi infizierte sich in Afrika mit Malaria, was nach seiner Rückkehr nach Italien von den Ärzten aber nicht erkannt wurde. Er starb am 2. Januar 1960 – und plötzlich verziehen sie ihm fast alle.

Alle jene Moralisten, die seinen Lebenswandel angeprangert hatten, trauerten nun um den vielleicht größten italienischen Radfahrer aller Zeiten. Wobei Locatelli an Coppis Sterbebett der Öffentlichkeit und der katholischen Kirche versprechen musste, Fausto Coppi im Falle seiner Genesung zu verlassen. Sonst wären dem Sünder die Sterbesakramente vorenthalten worden.

Pathetisch schrieb der Corriere della Sera zum Tode Fausto Coppis: „Die Flügel des großen Reihers sind zur Ruhe gekommen.“ Nach Fausto Coppi wurde inzwischen ein Asteroid benannt und sein Geburtsort Castellania heißt inzwischen Castellania Coppi.

1.3JACQUES ANQUETIL – „MAÎTRE JACQUES“ (08.01.1934-18.11.1987)

Die französischen Radsportfans nannten ihn „Maître Jacques“. Sie taten das mit Respekt, wenn sie von Jacques Anquetil sprachen. Aber so richtig in ihr Herz geschlossen haben die Franzosen den fünfmaligen Gewinner der Tour de France nicht. Zu dominant waren seine Siege, zu kühl das Auftreten Anquetils, der als erster Rennfahrer fünfmal bei der wichtigsten Rundfahrt im Radsport triumphierte.

Akribisch plante der überragende Zeitfahrer seine Rennen, im Kampf gegen die Uhr hatte die Konkurrenz zumeist nicht den Hauch einer Chance – weshalb man Anquetil auch „Monsieur Chrono“ taufte.

Jacques Anquetil stammte, wie so viele Radrennfahrer seiner Zeit, aus einfachsten Verhältnissen. Geboren in Mont-Saint-Aignan, einem Vorort von Rouen, wuchs Jacques zunächst in Bois-Guillaume in der Normandie auf. Sein Vater Ernest, ursprünglich Maurermeister, weigerte sich, den deutschen Besatzern während des Zweiten Weltkriegs beim Aufbau des Atlantikwalls zu helfen, verlor seinen Job und versuchte sich fortan als Erdbeerbauer.

Jacques‘ Vater war ein großer Radsportfan, seine Überredungskünste, den Sohn zum Radsport zu bewegen, fruchteten jedoch zunächst nicht: Jacques betrieb zunächst lieber Leichtathletik. Während seiner Ausbildung zum Maschinenschlosser lernte der 16-jährige Anquetil seinen Freund Maurice Dieulois kennen, der ihn mit zu seinen Rennen nahm. Und Dieulois schaffte es schließlich im Gegensatz zu Anquetil senior, seinen Kumpel zum Radsport zu überreden.

Jacques Anquetil war angeblich vor allem deshalb begeistert, weil seinem Freund Maurice die Herzen der Mädchen zuflogen; das gefiel ihm, und er entschloss sich, dem Radsport-Klub AC Sottevillais beizutreten. Der junge Mann aus der Normandie entpuppte sich schon bald als Riesentalent, schon damals waren Beobachter begeistert von der ästhetischen und gleichzeitig effektiven Fahrweise Anquetils.

Dieser trainierte fortan hart und viel; er gab sogar seine Anstellung als Dreher auf, nachdem sein Firmenchef sich geweigert hatte, ihm einen freien Tag zum Trainieren zu geben und arbeitete zunächst auf der Erdbeerplantage seines Vaters.

Sein erstes Rennen gewann Jacques Anquetil im Jahr 1951 mit dem GP Maurice Latour in der Heimat. Bei einem Zeitfahren der besten Juniorenfahrer der Normandie im selben Jahr startete Anquetil vier Minuten nach seinem Freund Dieulois. Schon bald geriet der Kumpel in Sichtweite und Anquetil verringerte das Tempo. Er hatte Sorge, dass er Dieulois demoralisieren würde; doch dann gewann der Rennfahrer in Anquetil gegen den Freund Anquetil. Er überholte Dieulois und sagte rückblickend: „Ich tat es wie ein Pfeil, ohne einen Blick zu verschwenden, um die Sache abzukürzen.“ So viele Gedanken um seine Kontrahenten machte sich Anquetil später nie mehr.

1952 wurde der inzwischen 18-Jährige französischer Straßenmeister der Amateure und qualifizierte sich damit für die Olympischen Spiele 1952 in Helsinki. An der Seite von Alfred Tonello, Claude Rouer und Roland Bezamat gewann er im Mannschaftszeitfahren die Bronzemedaille, während er sich im Einzelrennen mit dem zwölften Rang zufriedengeben musste. Nur drei Wochen später belegte der Teenager bei der Straßen-WM in Luxemburg den achten Platz.

Längst hatten natürlich auch die Verantwortlichen französischer Profi-Rennställe Wind bekommen von den Leistungen des Youngsters, der schon damals vor allem im Zeitfahren eine Klasse für sich war. Doch Jacques Anquetil zögerte die Entscheidung, Radprofi zu werden, noch etwas hinaus und startete 1953 als sogenannter Indépendant in die Saison. Der Status erlaubte es ihm, an Amateursowie an Profirennen teilzunehmen.

Doch im Laufe eines erfolgreichen ersten Halbjahres unterschrieb Anquetil dann doch einen Profivertrag beim Team La Perle-Hutchinson und gewann als Jungprofi auf Anhieb das Einzelzeitfahren Grand Prix des Nations und den GP Lugano; bei der WM 1954 am Klingenring in Solingen landete er auf Rang fünf.

Im darauf folgenden Jahr wiederholte er seinen Sieg am Luganer See, wurde WM-Sechster im italienischen Frascati und gewann 1956 zum zweiten Mal den Grand Prix des Nations. Langsam, aber sicher, etablierte sich Anquetil in der erweiterten Weltspitze, wenngleich bis 1956 die Topergebnisse bei den ganz großen Eintagesrennen wie Mailand-San Remo oder Paris-Roubaix noch ausblieben.

Den Durchbruch zum Weltklasse-Profi schaffte Jacques Anquetil 1957, als er im März des Jahres die Gesamtwertung der Fernfahrt Paris-Nizza gewann und im Sommer erstmals für die französische Nationalmannschaft an der Tour de France teilnehmen durfte. Allerdings keinesfalls als Favorit auf den Gesamtsieg, auch wenn er in seiner höchst selbstbewussten Art und Weise bereits tönte: „Wenn man Anquetil heißt, kommt man nicht, um die Tour kennenzulernen, sondern um sie zu gewinnen.“

Der „Lautsprecher“ Anquetil hatte nicht zu viel versprochen und ließ seinen Worten Taten folgen. Ausgerechnet in der Heimat, auf der dritten Etappe von Caen nach Rouen, holte sich Anquetil seinen ersten Etappensieg bei der „Grande Boucle“, es folgten drei weitere Etappensiege, zwei davon im „contre la montre“.

In den Bergen, insbesondere auf der Etappe über den Col d’Aubisque in den Pyrenäen, quälte sich der 23-Jährige mächtig, konnte aber die Attacken seiner Kontrahenten parieren und gewann die Tour de France bei seinem Debüt schließlich mit einem Vorsprung von fast einer Viertelstunde vor dem Belgier Marcel Janssens.

Die Dominanz des jungen Franzosen war schon damals fast erschreckend. Kaum etwas überließ er dem Zufall, er analysierte die Gegner und deren Strategie, widmete sich vor dem Start akribisch den Schlüsselstellen der jeweiligen Etappen. Desto verwunderlicher war es, dass Anquetil 1958 – wohl auch aufgrund seiner Flitterwochen – nicht in Bestform bei der Frankreich-Rundfahrt antrat und schließlich mit einer Lungenentzündung vorzeitig ausstieg.

1959 wagte Anquetil erstmals den Doppelstart bei Giro und Tour und hatte sich damit offensichtlich ein wenig übernommen. Nach Platz zwei in Italien musste er bei der Tour dem spanischen Kletterkünstler Federico Bahamontes den Gesamtsieg überlassen und wurde hinter seinem Landsmann Henry Anglade „nur“ Dritter. Schlau geworden aus den Erfahrungen im Vorjahr trat er 1960 nur beim Giro d’Italia an und gewann als erster Franzose die Gesamtwertung der Italien-Rundfahrt.

Von 1961 bis 1964 siegte der große Stilist Jacques Anquetil dann als erster Profi viermal in Folge und somit auch als erster Rennfahrer insgesamt fünfmal bei der Tour de France. Der letzte Triumph war definitiv sein schwerster Sieg, denn ein junger Mann namens Raymond Poulidor machte ihm das Siegen verdammt schwer.

Vor der alles entscheidenden 20. Etappe von Brive hinauf zum Puy de Dôme hatte Anquetils Landsmann einen Rückstand von gerade einmal 56 Sekunden auf den Spitzenreiter. Am Schlussanstieg auf den Vulkan in der Auvergne war der Mann im Gelben Trikot vollkommen am Ende, doch es gelang ihm, seinen Kontrahenten zu bluffen, Stärke vorzugaukeln, obwohl er beinahe kollabiert wäre. Anquetils Kontrahent ließ sich täuschen, zögerte lange mit der Attacke. Ellbogen an Ellbogen – ein Bild, das um die Welt ging – quälten sich die beiden Hauptakteure die steilen Rampen hinauf. Erst einen Kilometer vor dem Zielstrich setzte Poulidor sich von Anquetil ab und verkürzte den Rückstand um 14 Sekunden.

Jacques Anquetil gab später zu: „„Wenn er mir am Puy-de-Dôme das Gelbe Trikot abgenommen hätte, wäre ich ausgestiegen.“ So aber baute der beste Zeitfahrer seiner Epoche den Vorsprung beim „contre la montre“ zwischen Versailles und Paris noch aus und gewann am Ende mit 55 Sekunden Vorsprung vor Poulidor zum fünften Mal die Tour de France.

1965 gewann Anquetil zunächst die Fernfahrt Paris-Nizza und das Critérium du Dauphiné Libéré, um am Tag darauf beim längsten Eintagesrennen dieser Zeit am Start zu stehen. 557 Kilometer hatten die Rennfahrer bei Bordeaux-Paris zu bewältigen. Anquetil war anfangs angeblich so müde, dass er auf dem Rad einschlief und seine Helfer ihn schieben bzw. wachhalten mussten. Am Ende gewann er dennoch in einer Zeit von 15 Stunden und drei Minuten. Auf die Teilnahme an den großen Landesrundfahrten verzichtete Anquetil.

„Meine Verträge werden nicht mehr erhöht, auch wenn ich ein sechstes Mal die Tour gewinne. Umgekehrt aber verliere ich bei einem Misserfolg alles“, begründete er den Verzicht und wurde fortan der „Champion mit dem Rechenschieber“ genannt.

1966, nach dem erneuten Sieg bei Paris-Nizza und dem Triumph bei Lüttich-Bastogne-Lüttich – seinem einzigen bei einem der fünf Monumente des Radsports – entschied sich Jacques Anquetil um und nahm doch noch einmal am Giro und an der Tour de France teil. Bei der Italien-Rundfahrt wurde der Franzose Dritter, bei der Tour stieg er aufgrund einer Bronchitis vorzeitig aus.

An Weltmeisterschaften hatte Anquetil höchst sporadisch teilgenommen; man ahnt, warum: Die Prämien schienen ihm nicht lukrativ genug zu sein. 1966 beim Straßenrennen am Nürburgring war er dabei und bis kurz vor Schluss des Rennens sogar auf Titelkurs. Drei Runden vor dem Ende des Rennens befand er sich gemeinsam mit Poulidor in der Spitzengruppe.

Als die Gruppe begann, zu taktieren, stürmte Rudi Altig heran, schoss an Anquetil & Co. vorbei und holte sich schließlich den WM-Titel. Anquetil wurde Zweiter, Poulidor Dritter. Während „Poupou“ brav auf dem Podium stand und sich die Bronzemedaille umhängen ließ, weigerte sich Jacques Anquetil, an der Zeremonie teilzunehmen.

Geäußert hat er sich nicht dazu, aber es ist anzunehmen, dass ihn die Dysbalance zwischen Aufwand und Ertrag so geärgert hatte, dass er der Siegerehrung fernblieb.

1967 fuhr der inzwischen 33 Jahre alte Jacques Anquetil deutlich weniger Rennen; er siegte beim Critérium National de la Route und bei der Katalonien-Rundfahrt, beim Giro d’Italia wurde er Dritter. Im Herbst des Jahres nahm „Monsieur Chrono“ den rund zehn Jahre bestehenden Stundenweltrekord von Roger Rivière in Angriff. Mit 47,493 km knackte er den Rekord, anerkannt wurde die Bestmarke allerdings nicht, weil Anquetil die Dopingprobe nach der Rekordfahrt verweigerte.

In den letzten Jahren des „Maître Jacques“ blieben die Erfolge bei großen Rennen oder Rundfahrten aus, abgesehen vom Sieg bei der Baskenland-Rundfahrt im Frühjahr 1969. Im Dezember des Jahres beendete er bei einer Showveranstaltung im Vélodrom zu Antwerpen seine aktive Karriere.

Ursprünglich wollte sich Jacques Anquetil danach zurückziehen in die Heimat, auf einen Bauernhof in der Normandie. Aber es zog ihn immer wieder zurück in den Radsport. Er fungierte als Rennleiter bei Paris-Nizza und bei der Mittelmeer-Rundfahrt, er arbeitete für verschiedene französische TV-Sender und Zeitungen als Experte bzw. als Kolumnist.

Jacques Anquetil starb im November 1987 im Alter von nur 53 Jahren an Magenkrebs. Die Inschrift auf seinem Grabstein lautet: „Vor ihm hat man sich nicht vorstellen können, dass es einen Anquetil geben könnte.“ Und angeblich soll Anquetil seinem Freund und Konkurrenten Poulidor, dem ewigen Zweiten, auf dem Sterbebett zugeflüstert haben: „Mein armer Raymond, ich werde als Erster die Reise ins Jenseits antreten. Du wirst Zweiter sein, wieder einmal …“ Allerdings sagen andere Quellen, dass Poulidor zum Zeitpunkt des Todes noch nicht einmal in Frankreich, geschweige denn am Totenbett Anquetils war.

Jacques Anquetil war eine Persönlichkeit, eine äußerst komplexe und durchaus widersprüchliche Persönlichkeit. Er war ein Lebemann, gleichzeitig ein Perfektionist. In einem Interview nach der Karriere sagte Anquetil einmal: „Aufgezwungene Disziplin widerstrebt mir und deprimiert mich. Die Disziplin, die ich mir selbst auferlege, genügt mir. Ich akzeptiere keine Befehle, die meinen Ansichten oder meinem Willen zuwiderlaufen.“

Er trainierte wie ein Besessener, aber eben nur, wenn er es wollte und wenn er es für richtig hielt. Ansonsten schien der Junge aus höchst bescheidenen Verhältnissen es zu genießen, in einem gewissen Luxus zu schwelgen. Seine Siege feierte er selbst zwar nicht überschwänglich, aber nicht selten mit seiner großen Entourage mit Champagner und Austern.

Was die Vorbereitung anbelangte, hatte Anquetil eine höchst exquisite Meinung: „Um sich auf ein Rennen vorzubereiten, gibt es nichts Besseres als einen leckeren Fasan, etwas Champagner und eine Frau.“ Er besaß Charme und schien dennoch unnahbar, er war hart zu sich selbst und verdammt eitel.

Einer seiner langjährigen Helfer, der Brite Vin Denson, soll immer einen Kamm dabeigehabt haben, damit sich Anquetil im Ziel die Haare schön machen konnte. Außerdem war im Gepäck Densons stets ein Flaschenöffner zu finden, falls es seinem Kapitän nach einem Bier dürstete.

Fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod geriet Jacques Anquetil noch einmal in die Schlagzeilen. 2004 enthüllte die damals 32 Jahre alte leibliche Tochter Sophie ein Geheimnis. In ihrem Buch Aus Liebe zu Jacques war zu lesen, dass ihr Vater jahrelang in Bigamie lebte, dass er sowohl eine Liebesbeziehung zu seiner Ehefrau Jeanine als auch zu seiner Stieftochter Annie hatte. 1986, ein Jahr vor seinem Tod, wurde er noch einmal Vater. Sohn Christopher stammt aus der Beziehung zu Dominique, der Ex-Frau seines Stiefsohnes.

1.4MIGUEL INDURÁIN – DER ÜBERIRDISCHE (*16.07.1964)

Die Spanier wählten Miguel Induráin im Jahr 2000 zu ihrem Sportler des vergangenen Jahrhunderts. Er war Weltsportler des Jahres und wurde sogar von den Franzosen zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen. Miguel Induráin war einer der größten Rennfahrer der Geschichte, ein Stilist auf dem Rad, wie es nur wenige gegeben hat.

Von 1991 bis 1995 hat „Don Miguel“ fünfmal in Folge die Tour de France gewonnen, was keinem anderen Rennfahrer je gelang. Induráin fuhr seine Siege auf eine solch dominante Art und Weise ein, dass die Medien ihn einen „Überirdischen“ oder auch den „Unberührbaren“ nannten.