Räuber und Schandarm - Walter Christian Kärger - E-Book
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Räuber und Schandarm E-Book

Walter Christian Kärger

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Eine rasante Krimikomödie mit bissigem Humor. Räuber und Drei Dorfpolizisten aus dem bayerischen Grenzland sehen ihre Daseinsberechtigung in ihrer geliebten Heimat in Gefahr. Denn im kleinsten Polizeirevier Bayerns tut sich kriminalistisch rein gar nichts. Um nicht zwangsversetzt zu werden, versuchen die drei mit Hilfe eines befreundeten Kleinkriminellen dem Verbrechen auf die Sprünge zu helfen und so die Kriminalstatistik hochzutreiben. Doch immer wenn sie glauben, ein Problem auf die illegale Art gelöst zu haben, tauchen stattdessen drei neue auf ...

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Walter Christian Kärger, aufgewachsen im Allgäu, absolvierte die Hochschule für Fernsehen und Film und arbeitete dreißig Jahre als Drehbuchautor in München. Über hundert seiner Drehbücher wurden für Kino oder TV verfilmt. Er lebt als Romanautor in Memmingen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Es ist natürlich eine nicht zu leugnende Tatsache, dass auf dem Land im tiefsten Niederbayern Dialekt gesprochen wird. Besonders unter Einheimischen, die sich seit frühester Kindheit kennen, so wie unsere Protagonisten. Um aber die folgende Geschichte leichter nacherlebbar und allgemeinverständlicher zu gestalten, sind die Dialoge auf Hochdeutsch gehalten.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: lookphotos/Jan Greune

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Carlos Westerkamp

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-041-9

Niederbayern Krimi

Originalausgabe

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Wie immer für Gabriele, Tilman und Lilly-Marie.

I work all night, I work all day

To pay the bills I have to pay

Ain’t it sad?

And still there never seems to be

A single penny left for me

That’s too bad

In my dreams I have a plan

If I got me a wealthy man

I wouldn’t have to work at all

I’d fool around and have a ball

Money, money, money

Must be funny

In the rich man’s world

Money, money, money

Always sunny

In the rich man’s world

ABBA, »Money, Money, Money«

1

Eine schier endlose Landstraße am Rand der bayerischen Welt. Sie führte vom Nirgendwo ins Irgendwo, zwischen hügeligen Feldern und Brachwiesen hindurch. Dort, wo im Osten hinter dem fernen Waldrand am dunstigen Horizont die tschechische Grenze zu ahnen war und die Orte seltsame Namen haben wie Katzwalchen, Guglöd, Gschieß oder Himmelreich.

Polizeihauptmeister Mathias »Mats« Behringer langweilte sich auf der Holzbank in einem einsamen Bushaltestellenhäuschen, das mit zahlreichen obszönen Schnitzereien und Graffitis von diversen Liebesnöten und -phantasien der testosterongeschwängerten Jugendbevölkerung Zeugnis ablegte, und spielte mit seinem mobilen Radarmessgerät, im Polizeijargon »Laserkanone« genannt, herum.

Der Himmel war, wie es sich für Bayern gehörte, weiß-blau, es war heiß, mitten im Sommer, und PHM Mats hatte sich die Dienstmütze abgenommen und sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn gewischt. In Ermangelung einer anderen sinnvollen Beschäftigung memorierte er seinen verschossenen Elfmeter beim Kreisligaspiel der B-Klasse des FC Thalbach gegen die Spielvereinigung Niederkaltenkirchen am letzten Samstag, bei dem seine Mannschaft erneut eine veritable Klatsche eingesteckt hatte, die er mit einem möglichen Treffer seinerseits auch nicht viel erträglicher hätte gestalten können.

11:0.

Er schüttelte den Kopf, als er auf seinem Handy zum wiederholten Mal den Tabellenstand des FC Thalbach abfragte.

Im Grunde genommen hielt er sich für einen Stoiker und rechnete immer mit dem Schlimmsten, das er aufrecht und mannhaft durchstehen wollte, denn es konnte theoretisch ja eventuell auch mal besser werden.

Selbst wenn es in der Praxis meistens anders aussah.

Die Situation seines Vereins war ähnlich hoffnungslos wie der Stand seines Kontos bei seiner Hausbank, der Kreissparkasse Thalbach.

Tabellenplatz: letzter, und das in der untersten Liga, knietief im Dispo.

Nein, verbesserte er sich, eher schon kinntief.

Schlimmer ging’s nimmer.

Oder doch, dachte Mats. Der Himmel konnte einem auf den Kopf fallen. Bei diesem Gedanken musste er jedenfalls wieder grinsen. Er war ein Comicfan, seit ihn sein verstorbener Onkel mit seiner Riesensammlung damit angesteckt hatte. Neben den »Superman«- und Carl-Barks-Comics insbesondere von Asterix und Obelix und deren Sprüchen. Waren die unbesiegbaren Gallier in ihrem Dorf auch Stoiker?

Wahrscheinlich, das mussten sie wohl sein, umzingelt von so vielen Römern und ihren Garnisonen: Kleinbonum, Laudanum, Aquarium, Babaorum.

Kauzige Namen wie hier in seiner niederbayerischen Heimat.

Er konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben.

Mats war in seiner Freizeit als Spielertrainer ein engagierter Streiter für seinen Verein und für die Taktik und Aufstellung der Mannschaft verantwortlich. Und als Stürmer für das Toreschießen. Aber er hatte wohl am Abend vor dem Spiel im Vereinsheim zu viel Zielwasser getrunken. Noch beim Anpfiff hatte er seinen pochenden Brummschädel gespürt.

Außerdem war er bei der freiwilligen Feuerwehr und sonntäglicher Kirchgänger in der St.-Josefs-Kirche von Thalbach, wo er an hohen Feiertagen sogar im Chor mitsang, obwohl er nicht gerade mit Musikalität, sondern eher mit Inbrunst und Lautstärke gesegnet war. So wie es sich auf dem Land gehörte, wenn man kein Außenseiter sein wollte. Ganz und gar ein vollwertiges und stolzes Mitglied der kleinstädtischen Gemeinschaft seines Geburtsorts.

Aber manchmal, wenn er nachts wach lag und über sein Leben nachdachte, über Vergangenheit und Zukunft, kam es ihm vor, als wäre er ein Hamster in einem Laufrad, das sich sinnlos drehte. Er lief und lief und kam eigentlich nicht von der Stelle.

Was würde ein Stoiker sagen: Der Weg ist das Ziel?

Bei diesen hochphilosophischen Gedankenspielen konnte er meistens endlich wegdämmern.

Wenn ihn seine Frau nicht weckte und er seinen ehelichen Pflichten nachkam.

Er liebte seine Frau. Und sie liebte ihn.

In guten wie in schlechten Zeiten.

Kurz bevor sie in Löffelstellung einschliefen, wünschte er sich, dass die schlechten Zeiten nie kämen.

Doch von irgendwoher hörte er die vier apokalyptischen Reiter sich schon nähern. Sie sahen aus wie sein Bankdirektor Fröhlich von der Kreissparkasse, sein Schwager Wildbieler, Inhaber des größten Autohauses weit und breit, sein Vorgesetzter Kriminaldirektor Hamann aus dem (Gott sei Dank) fernen Passau, und – last, but not least – sein ehemaliger Mathelehrer Oberstudienrat Dr. Häring, der ihn vor versammelter Klasse so richtig zur Schnecke gemacht hatte, indem er ihn gnadenlos an der Tafel mit einer relativ leichten Aufgabe aus dem Bereich der Trigonometrie auflaufen ließ und dann, nach Mats’ verzweifelten und unzulänglichen Lösungsversuchen, den verächtlichen Kommentar abgab, dass Mats zu Hause aufpassen sollte, von seiner Mutter nicht mit dem Staubsauger aufgesaugt zu werden. Setzen, sechs. Unvergessliche Momente aus einem traumatischen Schülerleben. Aber Dr. Häring war (Gott sei Dank) schon seit ein paar Jahren tot.

Das konnte wohl nur ein Alptraum gewesen sein.

Da immer noch weit und breit kein Auto zu sehen war, lehnte Mats sich auf der Bank im Bushaltestellenhäuschen zurück, schloss die Augen und ließ seinen Erinnerungen an die letzte Nacht im Bett mit seiner leidenschaftlichen Frau freien Lauf. Aber es war einfach zu heiß für erfreuliche Nachbetrachtungen.

Sein Gedankenkarussell landete wieder beim Fußball.

11:0.

Oder besser: 0:11.

Es war ein Heimspiel.

Dabei hatte er während der Dienstzeit eine großartige Strategie ausgetüftelt. Zeit dafür war reichlich vorhanden. Es war wie immer nicht viel los in ihrem Zuständigkeitsbereich, und der lästige Papierkrieg ließ sich auf die lange Bank schieben.

Mats hatte die Aufstellung seiner Mannschaft für das Spiel gegen die Spielvereinigung Niederkaltenkirchen ausgearbeitet, die Namen notiert, korrigiert, umgestellt.

Mit dem Zettel war er an die große Magnettafel gegangen, die für die optische Aufbereitung von Kriminalfällen vorgesehen war, aber derzeit gab es keine – außer einem verschwundenen Hund, der von seinem Frauchen erneut als vermisst oder gar entführt gemeldet worden war. Zum dritten oder vierten Mal. Die Breitwieserin war eine resolute, man könnte auch sagen: penetrante Frau jenseits der achtzig, die alle vierzehn Tage damit ankam, weil sie vietnamesische Hundefänger aus Tschechien in Verdacht hatte. Aber ihr entlaufener Hund tauchte regelmäßig wieder auf. Stets vor der Metzgerei Nerlinger, weil er wusste, dass er dort seine Lieblingswurst zu fressen bekam, wenn er nur lang genug vor der Eingangstür saß und bettelte.

Mats entfernte das »Vermisst!«-Bild des Dackels, das Frau Breitwieser zur Verfügung gestellt hatte, und verschaffte sich mit den Magneten, die Spieler darstellten, einen besseren Überblick über die mögliche Aufstellung.

Er überlegte.

4-4-2, 5-3-2 oder doch besser 4-3-2-1?

Allzu viele Optionen hatte er leider nicht. Zwei wichtige Spieler waren verletzt, und der Stammtorwart musste ausgerechnet am Spieltag zur Hochzeit seiner Schwester nach Cham.

Mats hatte sich an der Magnettafel schließlich für frühes Pressing und überfallartige Konter entschieden. Jürgen Klopp, der Erfolgstrainer des FC Liverpool, hätte ihm bestimmt dazu gratuliert.

Aber das war dummerweise genau die Vorgehensweise, wie sie von der gegnerischen Mannschaft erfolgreich praktiziert worden war.

Mit der Durchführung seines raffinierten Plans und der dazu nötigen individuellen Klasse seiner Mitspieler, um ihn auch umsetzen zu können, war das nämlich so eine Sache – nach spätestens sechzig Minuten und fünf Gegentoren ging seinen Mitspielern und ihm endgültig die Puste flöten und dazu jegliche Resthoffnung auf eine gnadenlose Aufholjagd, im Gegenteil, sie wurden regelrecht an die Wand gespielt und nach allen Regeln der Fußballkunst filetiert. Auch ein Jürgen Klopp hätte aus dem Kader des FC Thalbach nicht mehr herauskitzeln können, stellte Mats laut seufzend fest.

Sein Funkgerät knisterte.

»Kannst du mich hören?«

»Klar und deutlich«, meldete er sich. Und fügte ein »Over!« hinzu, weil er das professioneller fand.

»Was machst du?«, fragte Florian Schedlbauer, sein Freund, defensiver Mittelfeldspieler beim FC Thalbach und Kollege, überflüssigerweise. Er hatte sich an einem Waldweg ein paar hundert Meter weiter mit seinem Polizeiwagen hinter einem Holzstapel versteckt und döste auf dem Fahrersitz vor sich hin, aber das Auto stand wenigstens im Schatten.

Mats hörte, wie Florian sich eine eiskalte Dose Cola Zero aus der Kühltasche im Fußraum des Beifahrersitzes fischte, sie aufmachte und gierig trank, während das Bushaltehäuschen in der prallen Sonne stand und Mats innerlich fluchte, weil er vergessen hatte, sich ebenfalls mit etwas Trinkbarem einzudecken. Und die Tupperdose mit der Brotzeit von seiner Frau hatte er auch im Dienstwagen liegen gelassen. Die hatte Florian inzwischen bestimmt entdeckt und aufgemacht – Connys Salami- und Käsesandwiches aus bestem Pfisterbrot rochen verführerisch. Mats sah förmlich vor sich, wie Florian eines aufklappte und zu seiner Freude auch noch Gurken- und Tomatenscheiben sah. Da würde er der Versuchung endgültig nicht mehr widerstehen können und es sich schnappen.

Mats kannte seinen Partner gut genug. Florian hatte immer Hunger. Immer. Er wusste das, weil sie schließlich seit Kindergartenzeiten beste Freunde waren, das ging über Schule, Polizeifachschule und erste Praxisjahre in größeren Städten wie Regensburg, Cham und Passau. Stets hatten sie wie Pech und Schwefel zusammengehalten. Wie Brüder. Und jetzt waren sie durch glückliche Umstände zusammen mit Leo Hochreiter die Gesetzeshüter in Thalbach, ihrer alten Heimat. Gegen Leo waren sie schon Seifenkistenrennen gefahren, und seither konnte sie nichts mehr trennen. Immer noch teilten sie sich alles – Sorgen, Geständnisse, Niederlagen und Glücksgefühle. In guten wie in schlechten Zeiten. Wenn er nachdachte, war er mit Flo und Leo länger und öfter zusammen als mit seiner Ehefrau.

Wieder überkam Mats das mulmige Gefühl in der Bauchgegend, dass jetzt die schlechten Zeiten angebrochen waren. Er hätte nicht genau sagen können, warum, aber seine alte Knieverletzung aus dem Spiel vor drei Jahren gegen den FC Schöngeisling – die Rabauken der Kreisliga – meldete sich wieder, und das war kein gutes Omen. Er hatte die OP-Narbe mit einem Tattoo überstechen lassen, einem Lorbeerkranz. Zweckoptimismus pur.

»Was denkst du, was ich mache?«, sprach er in sein Funkgerät, kratzte sich am Knie und konnte seinen Ärger über sich selbst und seine pessimistischen Abschweifungen nur mühsam verbergen. »Ich versuche, die Telefonnummer vom Vatikan herauszubekommen. Vielleicht kann ich den Papst um göttlichen Beistand für unser nächstes Auswärtsspiel bitten.«

»Das wäre bitter nötig«, antwortete Florian ernsthaft. »Leider ist Ratzinger nicht mehr unser kirchliches Oberhaupt. Er als Bayer hätte vielleicht noch was arrangieren können. Für ein paar Ave Maria. Was meinst du – elf vielleicht?«

Florian konnte es nicht lassen. Mats knirschte mit den Zähnen, nahm sich aber zusammen. Ein Stoiker ließ sich nicht provozieren.

Florian steckte sich den letzten Rest vom Sandwich zwischen die Zähne und fragte ungeniert mit vollem Mund: »Also – was ist los bei dir? Nichts zu sehen?«

»Nein. Aber warte – Moment mal …«

Er horchte. Das näher kommende Geräusch hörte sich wie eine Hornisse im Angriffsmodus an. Das unverkennbare akustische Anzeichen für ein hochgetuntes Motorrad im roten Drehzahlbereich.

Dabei war die Landstraße mit Achtzig-Stundenkilometer-Geschwindigkeitsbegrenzungsschildern geradezu gespickt.

Mats fuhr wie vom Blitz getroffen hoch, setzte sich die Dienstmütze korrekt auf den Kopf und eilte hinter die hölzerne Rückwand der Bushaltestelle, um nicht gesehen zu werden. Er richtete die Laserpistole auf die Hügelkuppe, auf der das Bike gleich auftauchen würde.

Der Grund, warum er in Tateinheit mit seinem Kollegen gerade hier auf der Lauer lag, war ganz einfach der, dass diese Landstraße eine beliebte Rennstrecke für Zweiradartisten war, die mal so richtig aufdrehen wollten – falls ihnen nicht aufrechte Männer in Polizeiuniform in aller Entschlossenheit entgegentraten, um dem Gesetz, sprich: der Straßenverkehrsordnung, Geltung zu verschaffen.

Die Polizeihauptmeister Mats und Florian zum Beispiel.

Und siehe da: Auf der Kuppe erschien eine Fusion aus Mensch und Maschine, Schwarz auf Schwarz, und kam mit Formel-1-Geschwindigkeit im flimmernden Hochsommerlicht auf ihn zugebrettert.

Aber es war keine Fata Morgana, es war auch kein apokalyptischer Reiter, obwohl es fast so unwirklich aussah, als käme er geradewegs aus dem Schlund der Hölle. Es war nur ein schlichter Motorradfahrer, den es einen Dreck scherte, die Geschwindigkeitsbegrenzung auch nur annähernd einzuhalten.

Der Laser war punktgenau auf das Zielobjekt gerichtet, und satte hundertsechsundsechzig Stundenkilometer tauchten auf dem Display auf.

Ein glatter Punktsieg für Flensburg.

Alkoholkontrolle, Führerscheinentzug, hohe Geldstrafe, psychologische Tests, Verkehrsschulung – kurz: Mats und Florian hatten die Chance, endlich wieder einmal ihre aufopferungsvolle Dienstauffassung mit Nachdruck unter Beweis zu stellen.

Das war bitter nötig und von eminenter Wichtigkeit, denn schon seit Monaten ging das vage, aber bisher unbestätigte Gerücht um, dass die Polizeidienststelle Thalbach wegen krimineller Ereignislosigkeit im Rahmen der allgemeinen Sparmaßnahmen geschlossen werden sollte. Was für alle Beteiligten – die Polizisten Mats, Florian und Leo sowie die Halbtagssekretärin Monika – in etwa dem gleichkäme, was die Gallier als Einziges fürchteten: dass ihnen der Himmel auf den Kopf fiele. Aber bisher war das eben nur ein Gerücht. Alle hofften, dass es auch dabei blieb.

Aufgeregt wie ein Pubertierender vor der ersten Tanzstunde meldete Mats über Funk, als das Geschoss an ihm vorbeiflog: »Hundertsechsundsechzig! Schnapp ihn dir!«

Als Florian endlich schnallte, dass es pressierte, stellte er die halb leere Coladose leichtsinnigerweise auf der Kante des Beifahrersitzes ab, und als er gleichzeitig seine Schirmmütze aufsetzte und nach der bereitgelegten Stoppkelle griff, stieß er, schusselig wie er war, die Dose herunter, deren Restinhalt sich schäumend auf seine Hose ergoss.

»Himmelherrgottsakramentkruzifix!«, fluchte er, für einen noch längeren Fluch war nicht mehr die Zeit, er hörte schon das aufheulende Motorrad näher kommen.

Er schwang sich aus seinem Wagen, jagte im Spurt um den Holzstapel herum und stolperte mit seiner Stoppkelle mitten auf die Landstraße, um heldenhaft dem heranrasenden Bike die Stirn zu bieten und den Fahrer zum Anhalten zu zwingen.

Er sah Bike und Biker raketengleich auf sich zuschießen, und obwohl er breitbeinig und mit durchnässter Hose mit seiner Kelle winkte, als müsste er einen vollbesetzten Schnellzug vor einer möglichen Entgleisung warnen, registrierte er zu seinem blanken Entsetzen, dass der Motorradfahrer sein Höllentempo nicht im Geringsten verminderte, sondern eher noch beschleunigte.

Das schwarze Monster wurde rasend schnell größer, und Florian blieb nichts anderes übrig, als im wirklich allerletzten Moment zur Seite zu springen, wenn er nicht über den Haufen gefahren werden wollte.

Jetzt lag er im Straßengraben im Dreck und blinzelte dem erbarmungslosen Biker hinterher, der so schnell Fersengeld gab, dass Florian das Kennzeichen nicht einmal mehr annäherungsweise entziffern konnte.

Mühsam rappelte er sich auf und sah Mats auf der Landstraße heranhecheln, der seine letzten Energiereserven mobilisierte und wild mit den Armen rudernd schon aus der Ferne brüllte: »Los, hol den Wagen! Wir müssen ihm nach!«

Schnellstmöglich krabbelte Florian auf allen vieren aus dem Graben, verlor dabei seine Mütze, aber das war jetzt auch schon egal, und hechtete auf den Fahrersitz des Dienstwagens, machte Sirene und Blaulicht an und startete.

In seinem durch übergroße Hektik verursachten Energieüberschuss riss er das Steuer zu stark herum. Prompt landete der Wagen in einer tiefen schlammigen Mulde, die irgendwelche Traktoren bei der Waldarbeit hinterlassen hatten, und in der er sich jetzt mit dem Vorderrad festfraß, weil Florian zu viel Gas gab.

Die Antriebsräder schleuderten Steine und Morast, aber der BMW grub sich nur noch tiefer ein und kam nicht von der Stelle, obwohl es Florian schon mit der berüchtigten Schaukeltechnik probierte, die aber auch nicht funktionierte.

Mats, dem längst jeglicher Stoizismus abhandengekommen war, versuchte verzweifelt, den BMW herauszuschieben, indem er sich keuchend und aus allen Poren schwitzend gegen das Heck stemmte.

Aber es gelang ihm nicht, den Wagen freizukriegen, egal wie sehr er sich auch abmühte. Auch er hatte die Mütze inzwischen verloren und gab schließlich auf, weil er zusätzlich noch ausrutschte und sich im Schlamm flachlegte. Er war schmutzig und schweißgebadet, während Florian immer weiter verzweifelt Gas gab und dadurch nur noch mehr Dreck nach hinten und auf Mats schaufelte.

Der Motor jaulte hoch, die durchdrehenden Reifen wimmerten, das Blaulicht zuckte, und die Sirene heulte.

»Stopp! Hör auf!«, schrie Mats im Liegen, doch Florian hörte ihn nicht.

Das Chaos war perfekt.

Endlich gab Florian seine fruchtlosen Bemühungen auf und ließ den Kopf in tiefster Resignation auf das Lenkrad fallen. Was zu guter Letzt auch noch die Hupe auslöste.

Mühsam rappelte sich Mats auf, klopfte sich die Uniform ab, obwohl es vollkommen zwecklos war, verspritzt und verschwitzt wie er aussah, steckte seinen hochroten und schlammverdreckten Kopf durch das heruntergelassene Seitenfenster ins Auto und sagte mit einer gekünstelten Bierruhe, die anzeigte, dass er kurz vor der emotionalen Kernschmelze war: »Herrgott, Flo, mach um Gottes willen endlich die Scheißsirene aus!«

Florian reagierte, nahm den Kopf vom Lenkrad und schaltete alles aus, was noch an war.

Motor, Blaulicht, Sirene.

Schlagartig trat himmlische Ruhe ein.

Jetzt war nur das Schnaufen der beiden Polizisten zu hören.

Und, als wäre es ein spöttischer Kommentar, der Ruf eines Kuckucks, der sich anscheinend über die unfreiwillige Slapstickszene, deren Zeuge er soeben geworden war, köstlich zu amüsieren schien.

Kuckuck. Kuckuck.

Wenn er den Mistvogel entdeckt hätte, wäre Mats in diesem Moment glatt in der Lage gewesen, ihn mit seiner Dienstwaffe vom Baum zu schießen.

Obwohl er ein miserabler Schütze war.

Aber Kuckucke hörte man nur, man sah sie fast nie.

2

Zwei Tage später. Mats betrachtete sich kritisch im Badezimmerspiegel und stutzte seinen Oberlippenbart. Er fragte sich schon eine ganze Weile, ob er ihn nicht ganz abnehmen sollte. Er hätte Conny damit überraschen können, sie nörgelte schon seit Wochen daran herum, weil sie es einfach nicht mochte, wenn er beim Küssen kitzelte.

Als sie sich kennenlernten, hatte er noch keinen Schnäuzer gehabt. Wie auch – er war erst fünfzehn, und außer Flaum war da nichts.

Später hatte er sich den Bart zugelegt, damit er älter aussah, was reine Einbildung war.

Er zupfte daran herum, war unschlüssig.

Von draußen, durchs offene Fenster, kamen lautes Lachen und Musik herein, »My Sharona« von The Knack. Kollege Leo Hochreiter war der DJ bei der allmählich anlaufenden Grillparty und Hardcorefan der Musik aus den 1980er und 1990er Jahren. Diese Macke akzeptierten alle achselzuckend. Es war nicht seine einzige.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Conny kam ins Bad.

»Wo bleibst du denn? Alle warten schon auf dich«, sagte sie vorwurfsvoll.

Sie hatte sich aufgebrezelt, war extra beim Friseur gewesen und hatte ihr bestes Kleid angezogen. Leider trug sie dazu ihre Birkenstocksandalen, weil sie bequemer waren. Bei einer Gartenparty mit High-Heel-Absätzen ständig im Boden stecken zu bleiben – das ging gar nicht. Mats mochte die Dinger nicht, aber das behielt er diesmal lieber für sich, weil Conny sowieso schon geladen war, wie er wusste. Erstens durch den Stress mit der tagelangen Vorbereitung der Housewarmingparty, und zweitens hatte sie erst gestern erfahren, dass sie ihren Job als Kassiererin in der einzigen Tankstelle vor Ort aufgeben musste. Einsparmaßnahme. Es wurde gemunkelt – Gerüchte verbreiteten sich in Thalbach mit Lichtgeschwindigkeit –, dass die Tanke schon seit Langem unrentabel war, der Pächter Sepp Eichinger hatte außerdem inzwischen das Rentenalter erreicht und verlauten lassen, dass er keinen Bock mehr hatte, ausschließlich betagte Autos zu reparieren und unter ihnen herumzukriechen, denn Kunden mit Neuwagen kamen nicht mehr. Zumal sein Sohn schon lange weggezogen war, und einen anderen Nachfolger gab es nicht.

Die Kündigung war für Conny ein schwerer Schlag ins Kontor. Ihr Verdienst war ein wesentlicher Bestandteil, um die Hypothekenraten für das neue Haus bezahlen zu können. Diese Hiobsbotschaft hatten sie vorerst noch für sich behalten. Aber das konnte nicht allzu lange gut gehen. Trotzdem wollte sich Conny dadurch nicht die Laune verderben lassen. Sie hatte sich so auf dieses Fest gefreut und im Vorfeld alles dafür getan, um es zu einem glanzvollen Ereignis werden zu lassen: Einladungen entworfen, geschrieben und verschickt, Deko gekauft und gebastelt, Biertische und Sitzbänke vom Getränkemarkt ausgeliehen und ein großes Partyzelt von der freiwilligen Feuerwehr besorgt, falls es regnen sollte.

»Was ist? Kommst du jetzt?«, insistierte Conny.

»Ist mein Schwager auch schon da?«, fragte Mats.

»Seit einer Viertelstunde. Er kümmert sich bereits um den Grill, was eigentlich dein Job wäre.«

Mats seufzte. »Ist er mit oder ohne?«

»Wenn du seine neue Freundin meinst: Natürlich hat er Maja mitgebracht.«

Mats verzog das Gesicht, ohne dass er es eigentlich wollte. »Biene Maja. Mir bleibt auch nichts erspart.«

Conny, der immer daran gelegen war, eine gute Gastgeberin zu sein, selbst wenn ihr angesichts ihrer prekären ökonomischen Lage eigentlich nicht danach war, sorgte sich auch diesmal darüber, dass der Schein gewahrt wurde. Sie versuchte es auf die sanfte Tour.

»Jetzt komm schon. Du kannst nicht bei deiner eigenen Housewarmingparty der Partycrasher sein.«

Sie schlang die Arme um seinen Hals und hatte ihren waidwunden Rehblick aufgesetzt, das war ihre Geheimwaffe, wenn sie Mats zu etwas überreden musste. Es funktionierte fast immer, so auch dieses Mal.

Er sah ihr in die graublauen Augen, die im Zusammenspiel mit ihrem Lächeln unwiderstehlich waren, wie er fand, und nickte schließlich.

»Aber ich muss dich vorwarnen«, sagte sie und ließ ihn noch nicht los. »Bitte nicht gleich ausrasten: Mein Bruder hat einen neuen Grill mitgebracht. Als Einstandsgeschenk. Weil deiner auf den Schrott gehört, meint er.«

Mats schloss die Augen, atmete tief durch und zählte langsam bis drei. Schließlich war er ein Stoiker. Es war nicht das erste Mal, dass sein Schwager ihm auf die eine oder andere Art zeigte, was er vom Mann seiner Schwester und dessen Fähigkeiten hielt: nämlich gar nichts.

Das beruhte auf Gegenseitigkeit, nur hatte Mats nichts, womit er seinem impertinenten Schwager zeigen konnte, wo der Bartel den Most holt.

Wenn sie beide ein Wettrennen gemacht hätten und Mats wäre als Erster durchs Ziel gekommen, hätte Gustav Wildbieler hinterher garantiert noch verkündet: »Ich bin hervorragender Zweiter geworden, mein bedauernswerter Schwager Mats Behringer ist leider nur Vorletzter.«

Conny spielte an seinen Ohren. »Kein böses Wort«, sagte sie. »Versprichst du mir das?«

Als er schicksalsergeben nickte, deutete sie einen Kuss nur an, weil sie sich um ihren Lippenstift sorgte.

Was blieb Mats anderes übrig, als wie üblich gute Miene zum abgekarteten Spiel zu machen? Ohne das Privatdarlehen, das Conny ihrem Bruder mit Engelszungen abgerungen hatte, hätten sie es nie geschafft, sich so ein Haus hinzustellen, wie sie es sich gewünscht hatte. Es war zwar von außen noch nicht verputzt, aber es war ihr Haus. Obwohl es eigentlich der Bank und Wildbieler gehörte, wie Mats immer dachte.

Eigentlich wollte er sich nie so verschulden, aber Conny konnte sehr durchsetzungsfähig sein, wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hatte. Ein eigenes Haus in der Neubausiedlung am Rand von Thalbach, hinter der St.-Josefs-Kirche und dem Friedhof, Kinder, eine Familie eben. In dieser Reihenfolge, die auf dem Land immer noch in Stein gemeißelt war. Sein Freund Florian war wie Mats Anfang dreißig, er hatte mit seiner Frau Annalena aber schon drei Kinder wie die Orgelpfeifen. Toni, Leni und Benny, sechs, vier und zwei Jahre alt.

Nummer eins auf der Agenda der Behringers war nun fast ganz verwirklicht – wenn auch mit zwei dicken Hypotheken und einem Privatdarlehen, wofür Mats seinem Schwager für alle Zeiten dankbar sein musste, aber er hatte die bittere Pille geschluckt. Wie weit konnte man gehen, bis man seine Selbstachtung auf dem Altar der Abhängigkeit geopfert hatte?

Nachts, wenn Conny schlief und er nicht, weil ihm alle Knochen wehtaten, wenn er, was selbstverständlich war, anderen Freunden und Nachbarn beim Hausbau mitgeholfen hatte, fragte er sich das. Mats wusste nicht mehr, wie viele Wochenenden und Stunden nach Feierabend er auf irgendwelchen Baustellen verbracht hatte, nicht nur auf der eigenen, im Turnus selbstverständlich auch bei Florian und anderen Mithelfern. Nur Leo wohnte noch zu Hause bei seinen Eltern, die einen Bauernhof hatten. Aber auch er war immer tatkräftig dabei.

Das gegenseitige Aushelfen war die Kehrseite der Medaille, das zählte zu den unausgesprochenen Regeln, an die man sich halten musste. Und wer sollte das in Frage stellen?

Ausgerechnet er, Mathias Behringer?

Nein, wenn er in Frieden hier leben wollte, und das wenigstens wusste er genau, dann war dieser ungeschriebene Gesellschaftsvertrag unbedingt einzuhalten. Koste es, was es wolle. Und wenn es die Selbstachtung war.

Seine Frau führte ihn aus dem Bad und zog ihn nach unten die Treppe hinunter und vom Wohnzimmer auf die Terrasse ins Freie hinaus, wo bei Kaiserwetter schon alle versammelt waren, die irgendwie mit den Behringers freundschaftlich, nachbarschaftlich oder verwandtschaftlich verbandelt waren – und das waren eine Menge Leute, halb Thalbach, um genau zu sein, dachte Mats.

Grundstücke wie das, auf dem sie gebaut hatten, stellten Bürgermeister und Gemeinderat Einheimischen zu Sonderkonditionen günstig zur Verfügung. Und wer war der Bürgermeister?

Sein Schwager Wildbieler natürlich.

Den Mats mit aufgesetzter Freundlichkeit begrüßte, weil ihm seine Gattin noch einen letzten Schubs gegeben hatte, nachdem er die Glückwünsche der Gäste für den gelungenen Hausbau entgegengenommen und alle Honneurs absolviert hatte, vom Chef der Kreissparkasse Dominik Fröhlich bis zu den Kameraden der freiwilligen Feuerwehr, seinen Mitspielern des FC und allen dazugehörigen Ehefrauen und Freundinnen und sämtlichen Kindern. Sogar der Pfarrer schaute auf ein Bier und einen Grillteller vorbei.

Seine besten Freunde Florian und Leo hatten sich erst einmal sicherheitshalber im Hintergrund gehalten. Sie wussten um seine Abhängigkeit von Wildbieler und taten alles, um der Party den festlichen und ungezwungenen Rahmen zu geben, der erwartet und erwünscht war.

Leo drehte seine Musik- und Lichtanlage, die er mit Florians Hilfe mitgebracht und aufgebaut hatte, voll auf und gab den DJ, Musik und Technik waren seine großen Leidenschaften. Er, der normalerweise eher schüchtern und verdruckst war, konnte dabei hinter dem Schutzwall seines DJ-Pults völlig aus sich herausgehen und die Stimmung im Publikum manipulieren und steuern, was ihm instinktiv auch meistens gelang. Für den Abend hatte er einen geheimen Pakt mit Wildbieler geschlossen, aber das wusste noch niemand außer den beiden. Sie hatten eigentlich gar nichts gemeinsam, außer dass sie sich äußerlich ungemein ähnlich sahen, wie zwei Brüder unterschiedlichen Alters. Es gab nur einen prägnanten Unterschied: Leo hatte dichte brünette Locken, Gustav Wildbieler hingegen eine Vollglatze, die in der Sonne glänzte wie eine polierte Billardkugel.

Der Höhepunkt der Party sollte von Leo mit einer ganz bestimmten Nummer eingeläutet werden, wenn er von Wildbieler das Zeichen bekam, und das würde erst kurz vor Mitternacht passieren.

Er hatte inzwischen Van Halen aufgelegt, »Jump«.

Die bestens aufgelegten Gäste sangen und sprangen mit, den Kindern gefiel es. Bei jedem »Jump!« hüpften sie wie Frösche, wenn man an einem Tümpel vorbeikam und auf den Boden stampfte.

Wildbieler stand breitbeinig hinter seinem Gastgeschenk, dem protzigen Grill. Die Schweißperlen glänzten auf seiner Glatze wie funkelnde Diamantsplitter. Er war ganz in seinem Element und wartete schon darauf, dass Mats nicht nur seine Dankbarkeit zum Ausdruck brachte, sondern auch mindestens einen angemessenen Anflug von Begeisterung zeigte, das konnte Mats von seinem Gesicht ablesen.

Er fügte sich also schicksalsergeben und zu Connys Zufriedenheit, bewunderte den neuen, überdimensionalen Grill; lachte pflichtgemäß über die Grillschürze seines Schwagers mit der Aufschrift »Frauen stehen auf Männer mit Kohle«, obwohl das Monstrum von Grill, den Wildbieler bereits auf Hochtouren laufen ließ, ein Gas- und kein Kohlengrill war; lobte die angekokelten Steaks und die angebrannten Würstchen; überdeckte den schlechten Geschmack mit viel Senf; staunte über die speziellen abertausend Möglichkeiten des Grills, die sein Schwager ausführlich erläuterte, Ober-, Mittel- und Unterhitze, Temperaturanzeige, Zündsystem, Fleischruhezone und so weiter, obwohl Wildbieler insgeheim davon ausging, dass Mats die Feinheiten und Raffinessen sowieso nicht verstand; probierte von allem; lobte die Salate und Nachspeisen, die mitgebracht worden waren, das kalte Bier, die bunten, eisgekühlten Cocktails, die Musik, und überhaupt kam er aus dem Loben nicht mehr heraus.

Leicht schwankend stellte er nach einer Weile mit einem Rundblick fest: Es musste alles in allem eine gelungene Housewarmingparty sein, die da über die Bühne ging. Irgendwie kam er sich allmählich so vor, als würde er sich selbst zusehen. Oder seinem Avatar. Ein seltsames Gefühl, das er mit Müh und Not wieder wegblinzelte.

Er war nun mal der Gastgeber, konnte sich keine Blöße geben und steigerte sich in seine Rolle hinein, bis er sich nach mehreren Cocktails fühlte wie Hugh Hefner, der eine Häschenparty im Playboy-Mansion gab. In Hollywood, Los Angeles. Irgendwo hatte er mal davon gelesen. Nur dass sie hier in Thalbach, Niederbayern, waren. Und ohne Häschen.

Mats drehte sich um sich selbst und fand: Gott und die Welt und sogar der Pfarrer waren da, und alles war nahezu perfekt.

Sein Schwager war der Oberzeremonienmeister. Eben der fleischgewordene Entertainer, Politiker und Autoverkäufer. Die Dreieinigkeit in Person. War das jetzt blasphemisch? Sollte er den Pfarrer fragen?

Aber es war doch ihre Party, Mats’ und Connys Party! Oder etwa nicht?

Da konnte etwas nicht stimmen.

Er studierte sein Cocktailglas in der Hand. Es war schon wieder leer.

Er hätte beim Weißbier bleiben sollen. Wie die meisten anderen auch.

Ob seine zunehmende geistige Orientierungslosigkeit an den Drinks lag, denen er fleißig zugesprochen hatte?

Die Drinks, die »Biene« Maja, die neue Flamme seines Schwagers, mixte wie am Fließband? Dafür hatte sie ein Händchen, sie hatte ein paar Jahre in einer Bar gejobbt.

Wie viele hatte er intus? Er hatte nicht mitgezählt.

Aber sie waren ihm inzwischen ganz schön zu Kopf gestiegen.

Maja hielt ihm schon wieder einen »Screwdriver« oder »Sex on the Beach« oder was auch immer es war vor die Nase. Automatisch griff er zu und nahm einen großen Schluck.

Maja war ganz die Sorte Frau, auf die sein Schwager, der zweimal geschieden war, stand.

Halb so alt wie Wildbieler, attraktiv auf eine schräge Art, wasserstoffblonde Haare und, bildlich gesprochen, Haare auf den Zähnen, sie mischte sich in jedes Gespräch ein, war durchaus schlagfertig, um nicht zu sagen vorlaut, das hatte sie wohl in ihrer Zeit als Bardame gelernt, flirtete unverhohlen, lachte zu kreischend, tanzte zu eng mit jedem, der ihr in den Weg kam, aber seinem Schwager schien genau das alles zu gefallen.

Eifersucht war offenbar etwas, das seine Libido für Maja am Köcheln hielt.

Auch ein interessanter sexueller Aspekt in LSBTIQ-Zeiten, eine wahre Fundgrube für Sigmund Freud, dachte Mats, der zunehmend die Kontrolle über sich selbst verlor.

Er nahm noch einen großen Schluck von was auch immer Maja da Azurblaues zusammengemixt hatte, als Florian kam und ihn beiseitezog.

»Meinst du nicht, du solltest ein bisschen kürzertreten?«, meinte er fürsorglich und zeigte auf den Drink.

Mats wollte sich verteidigen, aber ihm fielen nicht mehr die richtigen Worte ein. Er sah nur noch wie durch einen Nebel, aber im Grunde genommen war ihm eines klar: Er hatte sich übernommen, sich mit dem Haus und mit allem zu etwas überreden lassen, das ihn über kurz oder lang Kopf und Kragen kosten würde.

Dann erinnerte er sich in einem Winkel seines Gehirns wieder daran, dass er als Stoiker durch die Welt gehen wollte.

»Na und?«, sagte der Stoiker in ihm.

Als DJ Leo auch noch »The Winner Takes It All« von ABBA auflegte und so aufdrehte, dass die ganze angeheiterte Gesellschaft mitzugrölen begann, wurde ihm schlagartig klar, dass er nicht Hugh Hefner war. Er hatte keinen Morgenmantel an und war nicht im Pyjama. Und vor allem: Er war kein Millionär. Ganz im Gegenteil.

Die Erkenntnis war wie ein Schock und hätte ihn beinah umgenietet, wenn ihn nicht Florian gerade noch gehalten hätte.

Florian war einigermaßen nüchtern geblieben und hatte ein Einsehen, dass er sich um seinen Freund kümmern musste, weil Conny zu sehr mit den anderen Gästen beschäftigt war. Er führte den sichtlich angeknockten Mats weg vom Trubel auf der Terrasse und im Garten, und nach einer nötigen Zwischenrunde auf der Toilette ging es in den Keller, in dem Mats seinen Hobbyraum einrichten wollte, weil er sich im Grunde genommen für einen verkannten Ingenieur und begnadeten Bastler hielt, so wie es das Selbstverständnis von allen hier in Thalbach war. Diese Meinung hatte er allerdings exklusiv.

Ausgestattet war der Raum bisher nur mit einem verschlissenen Sofa und einer großen, alten Werkbank, was das Einzige war, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Sein Vater war Schreiner gewesen und hatte nichts als Schulden hinterlassen.

»Hey, Alter – leg dich erst mal hin!«, sagte Florian und bugsierte ihn auf das Sofa.

Mats machte es sich bequem, und Florian ging, um Kaffee aufzutreiben, wie er versprach, damit er seinen Freund wieder einigermaßen einsatzfähig machen konnte.

Mats drehte sich um und war sofort eingeschlafen.

3

Wumm – wumm – wumm.

Es dröhnte in Mats’ Schädel. Als er davon aufwachte, war weder Florian noch Kaffee da. So war das meistens mit dessen Versprechen – er vergaß sie schlicht und einfach. So auch in diesem Fall, wahrscheinlich weil ihm in der Küche irgendein Bekannter über den Weg gelaufen war, den er schon seit ewigen Zeiten nicht mehr getroffen hatte und mit dem er sich rege austauschen musste.

Mats fand sich also allein auf dem Sofa in seinem zukünftigen Hobbykeller wieder, setzte sich mühsam auf und blinzelte. Es war dunkel, und etwas wummerte in seinem Schädel. Draußen musste es wohl inzwischen Nacht geworden sein.

Er stellte fest, dass der Lärm nicht in seinem Kopf war, er stammte aus dem Garten. Mats musste sich konzentrieren, um dahinterzukommen, wo er war und was zum Teufel da vor sich ging.

Jetzt fiel es ihm wieder ein: seine eigene Housewarmingparty!

Anscheinend hatte ihn bei dem ganzen Trubel niemand vermisst. Nicht mal seine Frau.

Er bekam einen Schwindelanfall und war eigentlich ganz froh, in seinem immer noch nicht ganz zurechnungsfähigen Zustand Conny nicht gegenüberstehen zu müssen.

Er als Gastgeber war als Erster betrunken!

Ein Ehestreik von mindestens vierzehn Tagen wäre die Folge. Er durfte gar nicht daran denken, wobei ihm das Denken mit seinem Brummschädel sowieso schwerfiel. Und dann auch noch dieses rhythmische Getöse! Was war das nur?

Schließlich erkannte er, was da so einen Höllenlärm verursachte: die Technoversion von »YMCA«, einem Song der Village People, den er hasste wie keinen anderen auf der Welt.

Was war denn da draußen bloß los?

Er beschloss, trotz seines derangierten Zustands der Sache auf den Grund zu gehen, und tastete sich an der Wand entlang vor bis zur Treppe nach oben – ein Licht war noch nicht angeschlossen, der gesamte Kellertrakt war im Rohbauzustand.

Je höher er kam, desto lauter wurde es.

DJ Leo an seinem Mischpult gab offenbar Vollgas, er musste mit seiner Musikanlage ganz Thalbach beschallen, aber deswegen durfte es wohl kaum Beschwerden geben, weil die meisten Thalbacher vorgewarnt oder sowieso auf der Party waren. Die Polizeiwache war unbesetzt – ausnahmsweise und mit stillschweigender Kenntnisnahme des Bürgermeisters. Eingehende Anrufe wurden an das nächstgelegene Revier umgeleitet.

Als Mats den Flur betrat und das Wohnzimmer durchquerte, erkannte er mit einem Blick durch die Panoramafenster das ganze Ausmaß dessen, was da auf der Terrasse und im Garten unter einem Stroboskopgewitter vor sich ging, das synchron zum pulsierenden Sound von Leos Lichtanlage produziert wurde. Leo war ein Technikfreak und hatte in der elterlichen Scheune nicht nur einen ganzen Fuhrpark von halb und ganz renovierten Oldtimern untergebracht – darunter auch ein alter Porsche-Traktor –, sondern gab sein sauer verdientes Gehalt für allerlei technischen Kram aus, von dem nur er wusste, was man damit anstellen konnte. Eine Freundin hatte er nämlich keine, jedenfalls soviel Mats und Florian wussten, trotzdem war er immer schon am 20. jedes Monats pleite.

Mats traute seinen Augen nicht, als er schließlich fassungslos auf die Terrasse trat – war es die Lightshow, oder waren das die Nachwirkungen seines übertriebenen Alkoholkonsums, waren es die frenetisch klatschenden und johlenden Gäste oder alles zusammen? Jedenfalls sah es ganz danach aus, als wäre im Zentrum des ausgelassenen Geschehens eine Männertanzgruppe dabei, eine Stripteaseshow abzuziehen.

Wer um Gottes willen hatte das denn ohne Rücksprache mit ihm hinter seinem Rücken arrangiert? Etwa seine Frau?

Er griff sich an den Kopf – so ähnlich perplex musste sich Moses gefühlt haben, als er mit seinen Gesetzestafeln vom Treffen mit Gott auf dem Berg Sinai zurückkam, sich nichts Böses dachte, im Gegenteil, er war noch ganz von seiner heiligen Mission erfüllt, und sein Volk beim Tanz um das Goldene Kalb erwischte. Mats war nicht unbedingt religiös, aber so viel war bei ihm doch vom Religionsunterricht hängen geblieben, dass er sich an das entsprechende Bild aus seiner Kinderbibel erinnerte.

Eine dunkle Stimme sprach ihn unvermutet von der Seite an, und jemand klopfte ihm auf die Schulter. Mats zuckte bis ins Mark erschreckt zusammen, aber es war nicht Gott, sondern sein Schwager Gustav Wildbieler, der eine dicke Zigarre zwischen den Zähnen hatte und vor lauter Stolz darüber, was er anscheinend zur Überraschung aller zu verantworten hatte, schier platzte.

»Na, wie findest du das? Mein Extrageschenk für die Ladys! Scheint bombig anzukommen, was?«

Tatsächlich stellte Mats zu seinem Erstaunen fest, dass die männlichen Gäste etwas abseits und mit verklemmten Mienen einen großen Kreis gebildet hatten, während ihre besseren Hälften im Zentrum des Geschehens in die Hände klatschten, »Ausziehen! Ausziehen!« skandierten und ihre helle Freude daran hatten, was da vier halb nackte, mehr oder weniger muskulöse Männer im grellen Scheinwerferlicht und mit synchronen Tanzbewegungen aufführten.

»Was ist das?«, traute Mats sich schließlich zu fragen, obwohl er im selben Augenblick wusste, dass es eine selten dämliche Frage war.

Wildbieler überging das großzügig. »Na ja, es sind nicht gerade die Chippendales«, erläuterte er. »Sie nennen sich ›YMCA-Gang‹. Ich habe sie aus Tschechien herkommen lassen. Bringen ein bisschen Leben in die Bude.«

»Aus Tschechien …«, wiederholte Mats überflüssigerweise.

»Die Jungs sind einfach froh, wenn sie mal aus ihrem Rotlichtbezirk rauskommen, und machen das für ’nen Appel und ’n Ei.«

Mats erkannte in der vordersten Reihe seine Frau Conny, natürlich Maja und sogar Monika, die sonst so zurückhaltende Sekretärin seines Reviers, die alle auf Einladung der YMCA-Boys die Hüften kreisen ließen. Einige Frauen schienen völlig enthemmt zu sein, aufgepeitscht von Musik, Stimmung und Alkohol, und Mats fragte sich, wie weit sie noch gehen würden. Die Jungs von der tschechischen Tanzgruppe in ihren schwarzen Lederhosen hatten jedenfalls schweißnasse nackte Oberkörper und wedelten mit ihren Unterhemden über ihren Köpfen herum.

Gott sei Dank ist der Pfarrer schon heimgegangen, dachte Mats.

Aber da wurde er von Wildbieler bereits weg- und zurück ins Haus gezogen.

4

Sein Schwager schloss die Tür zur Terrasse und schlug einen vertraulichen Ton an.

»Mats – ich muss ein ernstes Wort mit dir reden«, sagte er, legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn weiter in die Küche, wo er ebenfalls die Tür hinter sich zumachte, was den infernalischen Lärm draußen im Garten einigermaßen aussperrte.

»Setz dich.« Er deutete auf einen Stuhl, als wäre er der Gastgeber, während er sich lässig an die Küchenzeile lehnte und weiterhin genüsslich seine Zigarre paffte, deren Asche er in die Spüle abstreifte.

Es war, vermutete Mats, wie immer eine teure Cohiba aus Kuba.

»Was ist los?«, fragte er schließlich, weil es sein Schwager gar so spannend machte. Eine böse Vorahnung hatte von ihm Besitz ergriffen. Vielleicht war es doch angebracht, besser Platz zu nehmen. Er fühlte sich auf einen Schlag wieder stocknüchtern und zog sich einen Stuhl heran.

»Wie du vielleicht weißt«, sagte sein Schwager von seiner hohen Warte herab, »habe ich als nebenberuflicher Bürgermeister dieses schönen Städtchens Zugang zu Vorgängen, die nicht unbedingt für jedermanns Ohren bestimmt sind. Man könnte auch sagen, sie sind vertraulicher Natur.«

»Topsecret, meinst du?«, plapperte Mats los und ärgerte sich im selben Augenblick, dass er dem Wichtigtuer auch noch nach dem Mund redete.

»Sozusagen. In diesem besonderen Fall trifft es die Sachlage ganz gut.« Er griff in die Innentasche seines Sakkos und zog einen Zettel heraus, den er in die Höhe hielt wie ein Priester die Hostie bei der Konsekration.

»Was ist das?«, fragte Mats verunsichert.

»Das ist ein Rundschreiben an alle Bürgermeister und Gemeindeämter im Umkreis. Ist mir gestern auf den Schreibtisch geflattert. Es betrifft insbesondere die Zuständigkeiten für die Polizeireviere hier im Grenzgebiet zu Tschechien.«

»Die Polizeireviere …?« Mats schluckte.

»Allerdings. Und damit auch dich und deine Kollegen.«

Eine beschwingte Maja riss die Tür auf – draußen hatte DJ Leo inzwischen »Who Let The Dogs Out« aufgelegt, und die Gäste bellten dazu, das Gejaule der menschlichen Hundemeute war bis in die Küche zu hören. Wildbieler wartete ab, bis sie alkoholischen Nachschub aus dem Kühlschrank geholt und ihm eine Kusshand zugeworfen hatte, die er erwiderte.

»Amüsiert ihr euch?«, fragte er sie.

»Und wie! Diese Jungs aus Tschechien sind der absolute Hammer«, antwortete sie und verschwand wieder.

Wildbieler schloss die Tür hinter ihr, entledigte sich endlich seiner albernen Grillschürze, warf sie sich über die Schulter und fuhr dabei mit seiner Predigt fort. »Im Zuge einer anstehenden grundsätzlichen Gebietsreform und der damit einhergehenden dringend erforderlichen Sparmaßnahmen, über die wir und das Innenministerium schon seit Längerem debattieren, wird es notwendigerweise zu gewissen Änderungen kommen, die eventuell auch Thalbach betreffen.«

Er machte eine Kunstpause, brachte seine Zigarre wieder zum Glühen und fasste seine Gedanken zusammen: »Kurz und gut: Ich wollte dich nur vorwarnen. Früher oder später wird es eine Überprüfung der Rentabilität aller Reviere geben. Eher früher.«

»Rentabilität? Seit wann ist ein Polizeirevier rentabel?«

Wildbieler verdrehte die Augen. »Ich habe mich deinetwegen etwas volkstümlich ausgedrückt, Mats, damit du auch verstehst, um was es geht bei den Bürokraten im Ministerium da oben, verstehst du?«

»Ja, ich denke schon.«

»Nein, du kapierst den Ernst der Lage nicht«, widersprach er. »Lass es mich dir erklären. Es gibt Statistiken, was die Zahl der Straftaten im Land angeht, okay? Die fallen in jeder Region nun mal verschieden aus, je nachdem, ob es sich um eine Großstadt, eine Kleinstadt oder um ein Kaff im Hinterland handelt.«

»Du meinst Thalbach«, konstatierte Mats mit bedrückter Miene.

»Das würde ich nie über eine Stadt sagen, deren Bürgermeister ich bin«, entgegnete Wildbieler eingeschnappt.

»Also – was ist jetzt mit diesen Statistiken?«, insistierte Mats.

Wildbieler hob die Arme. »Statistische Erhebungen sind nun mal eine objektive Grundlage für jede kommunalpolitische Entscheidungsfindung, habe ich recht, oder habe ich recht?«

»Ja, sicher.«

»Na also. Und nun gibt es sogar Statistiken, in denen Delikte und Straftaten pro Revier ausgerechnet werden. Wie viele Anzeigen, Verbrechen, Diebstähle, Einbrüche, wie viele Verkehrsverstöße, Notrufe, Einsätze et cetera, et cetera. Kannst du mir noch folgen?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Worauf ich hinauswill? Herrgott, Mats – bist du wirklich so schwer von Begriff? Du leitest nun mal ein sogenanntes Zwergenrevier.«

»Zwergenrevier?«

»So heißt das beim Innenministerium. Tatsache ist: Jedes Revier, ob groß oder klein, von Schwaben über Franken, Ober- und Niederbayern bis hin zur Oberpfalz, wird unter die Lupe genommen, ob es noch rentabel ist oder ob man es schließt. Synergieeffizienz, schon mal davon gehört?«

»Nein. Was soll das sein? Eine ansteckende Krankheit?«

Wildbieler seufzte ostentativ über so viel Ignoranz und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Zusammenlegung, Zentralisierung und Verdichtung nennt sich das. Habe ich mich jetzt klar und deutlich ausgedrückt?«

Mats kam sich vor, als wäre ihm in diesem Moment tatsächlich der Himmel auf den Kopf gefallen. »Glasklar. Die wollen Thalbach plattmachen …«

Wildbieler steckte seinen Zettel wieder weg. »Das ist noch nicht spruchreif, aber es wird wohl überprüft und in Erwägung gezogen, ja.«

»Danke«, sagte Mats erschöpft.

»Wofür?«

»Dass du mich vorgewarnt hast.«

»Keine Ursache. Bin ich meiner Schwester schuldig. Willst du einen Rat?«

»Wenn du einen hast und er nichts kostet …«

»Der ist ausnahmsweise gratis. Ihr müsst aufpassen in eurem Zwergenrevier. Euch im besten Licht zeigen. Das ist wie mit dem ›Guide Michelin‹.«

»Dem was?«

»Na ja, dem ›Guide Michelin‹. Dem Restaurantführer. Drei Sterne. Zwei Sterne. Ein Stern. Wenn eine Inspektion kommt, um euch zu überprüfen. Wie ein Tester bei einem Sternekoch. Die kommen entweder offiziell oder inkognito. Beides ist möglich. Dann schauen sie sich um, wie es bei euch zugeht. Wie professionell ihr eure Arbeit macht. Ob ihr genügend zu tun habt.«

»Und wenn nicht?«, fragte Mats.

»Ganz einfach. Dann machen sie den Laden dicht. So läuft das.«

»Bist du sicher?«

»Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Also, Mats – Augen auf! Ich möchte nicht, dass unser Thalbach auf einmal ohne Zwergenrevier dasteht. Ein Polizeirevier in der Stadt ist ein Zeichen von Sicherheit und Stabilität für unsere Bürgerinnen und Bürger. Und die sind nun mal meine Wähler. Eine Hand wäscht die andere. Du weißt, was du zu tun hast.«

Er drehte den Wasserhahn an der Spüle auf und löschte mit dem Wasserstrahl die Glut seiner Zigarre, den nassen Stummel warf er in den Abfall.

»Bis zum nächsten Mal, Schwager. War ’ne gelungene Party. Ich schicke die Jungs von der YMCA-Gang jetzt wieder nach Tschechien zurück, bevor sie noch auf dumme Gedanken kommen. Unsere Frauen, meine ich!« Er lachte. »Das war’s dann für heute. Hasta la vista!«

Damit drückte er Mats die Grillschürze in die Hand und verschwand.

Mats blieb rat- und reglos auf seinem Stuhl zurück, dann feuerte er die Schürze wütend in den Abfall.

Es dauerte nicht lange, und die Musik draußen brach ab. Ebenso die Lightshow.

Als Rausschmeißer legte DJ Leo noch »Such A Shame« von Talk Talk auf.

Sehr passend, dachte Mats. Er blieb immer noch sitzen und starrte ins Nichts. Weil er daran zu kauen hatte, was sein Schwager alles von sich gegeben hatte. Wenn das Zwergenrevier Thalbach dichtgemacht wurde, hatten sie alle – er, Florian und Leo – ein Problem.

Ein riesengroßes Problem.

Sie würden versetzt werden. Nach Deggendorf. Nach Passau. Oder vielleicht sogar nach München. Niemand aus seinem ganzen Kollegenkreis wollte freiwillig in die Landeshauptstadt. Die Mieten waren unbezahlbar, der Job war superstressig, die Scheidungsrate bei Kollegen, die über die Woche Dienst in München schoben und nur am Wochenende nach Hause kamen, war unverhältnismäßig hoch.

Statistikmäßig.

Es war nicht so, dass er keine Statistiken kannte. Die jedenfalls hatte er gelesen.

Ein einziger Alptraum.

Er stand auf, öffnete den Kühlschrank – im selben Moment blitzte es vor dem Fenster – und suchte nach dem Wodka. Aber den hatte Maja mitgenommen. Ihm blieb nichts anderes übrig als ein Schluck aus der Wasserflasche.

Da folgte der Donnerschlag. Er war heftig.

Mats zuckte zusammen.

Er warf einen Blick auf die Küchenuhr. Halb zwei. Dann sah er zum Fenster hinaus.

Ein dramatisches Wetterleuchten erhellte den wolkenverhangenen Himmel.

Hätte nach Bayreuth gepasst, dachte Mats. Wagner, »Götterdämmerung«.

Regen setzte schlagartig ein und klatschte gegen das Fenster. Dazu prasselte es. Hagelkörner waren also auch dabei.

Murphys Gesetz.

Wenn du denkst, schlimmer kann es nicht mehr kommen, kommt es noch schlimmer.

Wenigstens etwas Gutes hatte es: Das Gewitter inklusive Starkregen machte dem Fest ein abruptes Ende.

Genau zum richtigen Zeitpunkt.

Trotz Partyzelt flüchteten die Gäste. Bei den Regenmengen, die da herunterkamen, hätte es auch nichts mehr genutzt, sich dort unterzustellen.

Es ging schneller, als Mats es sich gedacht hatte. Die Verabschiedungen waren kurz und die Versprechungen, am nächsten Tag beim Aufräumen zu helfen, zahlreich.

Als auch der letzte Gast gegangen war, setzte Mats sich auf eine Bierbank und sah niedergeschlagen unter der noch halb herausgelassenen Markise zu, wie der Regen, vermischt mit erbsengroßen Hagelkörnern, auf die Markise, das Partyzelt, auf die Sitzbänke, die Tische, die Gläser, die Teller, den Grill prasselte.

In diesem Moment wünschte er sich, das Unwetter würde alles wegwaschen. Den Dreck, die Zukunft, die Gegenwart, die Existenzangst, die gottverdammten Statistiken – überhaupt alles.

Aber Wünsche dieser Art, das wusste er mit Bestimmtheit, gingen nie in Erfüllung.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das bestürzende Gefühl, richtig erwachsen geworden zu sein, alleinverantwortlich für alles, was er tat, ohne einen Fehler auf irgendjemanden abwälzen zu können, ohne Absolution für seine Sünden. Egal ob er welche begangen hatte oder nicht. Da konnte nicht mal der Pfarrer helfen. Nur er selbst musste eine Lösung dafür finden, dass ihm sozusagen der Boden unter den Füßen weggezogen worden war. Oder der Himmel auf den Kopf gefallen.

Jetzt wusste er, warum Wildbieler »Hasta la vista!« gesagt hatte, bevor er gegangen war. Wie Arnold Schwarzenegger im Film. Weil er sich anscheinend für die Inkarnation des ehemaligen Gouverneurs von Kalifornien hielt. Eines entschlossenen Mannes, der die Chose kraft seines Amtes und seiner Autorität zusammenhielt. Oder sich zumindest einbildete, er wäre ebenso cool, weltmännisch und einflussreich wie Arnie in seinen besten Zeiten.

War das Hybris oder Realität?