Räume, Denken - Tim Schuster - E-Book

Räume, Denken E-Book

Tim Schuster

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Beschreibung

Sie gelten häufig als zwei Antipoden des deutschsprachigen Gegenwartstheaters: René Pollesch und Laurent Chétouane. Das Theater des einen ist trashig, popkulturell, bildreich und schnell, es bedient sich aus allen Diskursen und schreibt diese in der Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Fragen der Gegenwart weiter; das Theater des anderen ist minimalistisch und schöpft seine Kraft aus der Reduktion, ist ganz auf das einzelne Wort, die einzelne Bewegung bedacht, die auf der Bühne erscheint.

In dem Bestreben, die Bühne zum Denkraum zu machen, sieht Tim Schuster allerdings eine entscheidende Gemeinsamkeit des Theaters von Pollesch und Chétouane, die ihn in Räume, Denken zu einem Vergleich ihrer so unterschiedlichen Theaterästhetiken führt. Ausgehend von einer theoretischen Eröffnung zu Raumdenken, Verräumlichung und dem relationalen Entstehen von Theaterräumen zeigt Schuster an ausgewählten Inszenierungen der beiden Theatermacher die parallele Auseinandersetzung mit dem Denken der Bühne, von Text, Körper und Raum auf. Er analysiert anhand ihrer Arbeiten unterschiedliche Formen, den Raum zu denken, vorzustellen und als einen Raum gemeinsamer Erfahrung zu gestalten.

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Tim Schuster

Räume, Denken

Das Theater René Polleschs und Laurent Chétouanes

Tim Schuster ist Theatermacher und setzt sich in verschiedenen Zusammen­hängen für politische und künstlerische Freiräume ein. Er ist Mitbegründer des Frankfurter Performancekollektivs Arty Chock. Schuster studierte Politologie, Geschichte, Germanistik und Volkswirtschaftslehre an der Goethe-Universität Frankfurt und promovierte dort 2013 mit Räume, Denken in Theater-, Film- und Medienwissenschaft.

Tim Schuster

Räume, Denken

Das Theater René Polleschs und Laurent Chétouanes

Neofelis Verlag

D.30

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Neofelis Verlag UG (haftungsbeschränkt), Berlin

www.neofelis-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Marija Skara

E-Book-Format: epub, Version 2.0

ISBN: 978-3-943414-71-4

Inhalt

Einleitung

Theoretische Grundlagen

1. Präsenz

1.1 Text

1.2 Verräumlichung

2. Raum

2.1 Vom ‚Container‘ zum relationalen Raum

2.2 Die Neuentdeckung des Raums im postdramatischen Theater

2.3 Entwurf einer Topologie des Theaters

2.4 Räumliche Transformationen

2.5 Die Politik der Sprache und die Aufteilung der Körper

2.6 Die ‚Übersetzbarkeit‘ räumlicher Relationen

René Pollesch

1. Einleitung

2. Der Raumdiskurs in den Texten Polleschs

2.1 Chronotopos Globalisierung: Die www-slums

2.2 Zusammenbruchsräume

2.3 Heterotopische Räume und die Verortung des Theaters

3. Die Aufführung als diskursiver Raum

3.1 Das Spiel mit Rahmungen: Cinecittà Aperta

3.2 Die Wirklichkeit bearbeiten

3.3 Die Produktion des diskursiven Raums

3.4 Diskursive Zusammenbruchsräume

3.5 „Das hier! Und das!“ – Das Spiel der Analogien in der Ansprache

3.6 „Dieses Hotel oder Bordell oder Dingsda“

3.7 Orientierung an der Alltagspraxis

4. Die Topographie der Körper und das Dispositiv des Theaters

4.1 Geschichten und verortete Praxis: Tod eines Praktikanten

4.2 Die theatrale Topographie der Körper

4.3 Die Theatermaschine abschalten: Cappuccetto Rosso

4.4 Denkmaschinen

5. Die Topologie der Bühne

5.1 Heterotopische Bühnenräume

5.2 Liebe ist kälter als das Kapital

5.3 Aus der Szene herausfallen

5.4 „Liebling! Was ist denn mit der Realität passiert?“

5.5 Den Zusammenbruchsraum denken

5.6 Aus-Üben und Distanznahme

Laurent Chétouane

1. Entwicklungslinien

1.1 Exposition. Auftritt.

1.2 Die Wiederholung exponieren

1.3 Gänge durch Text und Raum

1.4 Die Verkörperung eines Abwesenden: Lenz

1.5 Bild- und Raum-Werden (Das Begehren und die Bewegung)

1.6 Rekonstruktion der Präsenz und Verräumlichung

1.7 Eine winzige Verschiebung der Wahrnehmung – die Bühnenräume

2. Den Blick aufs Spiel setzen: Tanzstück #1: Bildbeschreibung

2.1 Ein Raum heterogener Rahmungen

2.2 Positionen im Text

2.3 Das Spiel der Inszenierung mit dem Raum

2.4 Die Lücke im Sprechen und das Raum-Werden der Sprache

2.5 Die Artikulation des Raums in der Bewegung

2.6 Eine Landschaft der Abwesenheit

2.7 Ähnlichkeit und Konkretion

2.8 Die Re-Exponierung des Theaterraums

3. Die Transformation des Raums: Empedokles//Fatzer

3.1 Ein Raum der Potentialität

3.2 „Da ist nicht viel Platz hier“ – Die räumliche Ordnung

3.3 „So halluzinativ wie gestellt“ – Marie Holzers Bühne

3.4 Zwischenräume

3.5 Die Transformation des Raums im Tanz

3.6 Raum der Unordnung

4. Der Raum des Miteinanders: Dantons Tod

4.1 „Do you know what time it is?“

4.2 „Das ist sehr langweilig“ – Die Wiederholung des Theaters

4.3 Raum nach dem Drama

4.4 Die Geschichte der Körper

4.5 Raum teilen

4.6 Raum in Bewegung

Denken, Raum

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Danksagung

Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Menschen bedanken, die mich beim Verfassen dieser Arbeit unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Hans-Thies Lehmann für die Betreuung der Dissertation und viele wertvolle Anregungen. Prof. Dr. Nikolaus Müller-Schöll danke ich dafür, dass er das Zweitgutachten übernommen hat und in der Endphase der Arbeit mit kritischen Anmerkungen und wertvollen Hinweisen zur Seite stand.

Laurent Chétouane danke ich für den Einblick in seine Arbeit und viele inspirierende Gespräche, die die vorliegende Studie erst angeregt und schließlich begleitet haben. René Pollesch und seinem Team danke ich für die mehrfache Möglichkeit zum Probenbesuch.

Ich danke dem Cusanuswerk für die finanzielle Förderung der Arbeit und für die Möglichkeit zur Teilnahme an den begleitenden Graduiertentagungen. Zu großem Dank verpflichtet bin ich außerdem Matthias Naumann und Frank Schlöffel vom Neofelis Verlag für das äußerst fachkundige Lektorat und das große Engagement bei der Publikation der vorliegenden Arbeit. Marija Skara danke ich für die Gestaltung des Einbands; Thomas Aurin, Oliver Fantitsch und David Graeter dafür, dass sie mir ihre Aufführungsfotografien zur Verfügung gestellt haben.

Die sorgfältigen Korrekturen des Manuskripts durch Sandra Kombolcha, Tina Schuster, Niels Schuster, Leon Gabriel und Stefan Militzer waren mir in einem entscheidenden Moment eine große Hilfe, für die ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchte.

Nicht zuletzt danke ich allen meinen Freundinnen und Freunden für die Geduld, die sie über den langen Zeitraum des Verfassens dieser Arbeit mit mir hatten. Mein ganz besonderer Dank gilt schließlich meinen Eltern für die große Unterstützung und das Vertrauen, das sie mir in den Jahren meines Studiums und der Promotion haben zuteil werden lassen.

Einleitung

Das Theater René Polleschs und Laurent Chétouanes vergleichen – geht das überhaupt? Eine gewisse Skepsis gegenüber dem hier unternommenen Versuch ist sicherlich angebracht, lassen sich doch gleich eine Fülle möglicher Einwände dagegen benennen: Einem flüchtigen Blick stellen sich die Arbeiten der beiden Regisseure in beinahe antagonistischer Weise als gegensätzlich dar. Während das „Pollesch-Theater“ in der öffentlichen Wahrnehmung häufig als der zur Marke geronnene Inbegriff eines vor schrillen Mitteln und Effekten überbordenden Pop-Theaters gilt, das in rasender Geschwindigkeit und unter Einsatz von Videoleinwänden bunte Bilder produziert, vollziehen Chétouanes Inszenierungen die minimalistische Reduktion aller theatraler Mittel und gelten damit bis heute vielen Kritikern als bildfeindliche Zelebrationen eines allzu puristischen Theaterverständnisses.

Während sich dieser allgemeine Eindruck vielleicht noch als rein äußerlicher Unterschied im Erscheinungsbild relativieren ließe, scheinen Herkunft und Funktion der Texte bei beiden Regisseuren auch bei genauerem Hinsehen gänzlich anderer Natur zu sein: Während Pollesch als ‚Autor‘ seiner eigenen Texte die unterschiedlichsten, postmoderner Theorie entliehenen Diskurse aneinander montiert und sie in wilder Assoziation mit Pop-Zitaten mischt, beschränkte sich Chétouane lange Zeit in geradezu konservativ wirkender Geste auf die Inszenierung dramatischer Theatertexte, und zwar überwiegend aus der klassischen deutschen Tradition von Schiller über Goethe bis Hölderlin, Büchner und Brecht. Am allerwenigsten scheint schließlich die Räume ihrer Arbeiten miteinander zu verbinden: Im Vergleich mit den überbordenden, meist im Retro-Stil gehaltenen Bühnenräumen, die Bert Neumann, Janina Audick und andere für Polleschs Arbeiten einrichten, die mit ihren bunten Insignien und blinkenden Lichtern wahlweise an Jahrmärkte, Hotelzimmer oder verkitschte Filmkulissen erinnern, wirken die in der Mehrzahl von Patrick Koch eingerichteten Räume Chétouanes zunächst einfach nur leer.

Diese öffentliche Wahrnehmung hat sich in letzter Zeit etwas relativiert: Spätestens seit Fabian Hinrichs, der nach einigen Jahren Absti­nenz vom Polleschtheater und einer intensiven Zusammenarbeit mit Chétouane in Polleschs Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! stapelweise Reclam-Hefte von Goethes Iphigenie ins Publikum schleuderte und dabei „typische Chétouane-Gestik“1 vollführte, werden beide Ästhetiken vermehrt in Zusammenhang gebracht. Dass es sich dabei nicht allein um eine über die Schauspielerbiographie Hinrichs vermittelte Verbindung handelt, welche die Brücke zwischen diesen beiden Regisseuren schlägt, sondern sich hier Elemente des einen Theaters auf spannende Weise im anderen wiederfinden, ist offensichtlich. „Pollesch meets Chétouane“ ließ sich damals denn auch der Tenor vieler meist ungewöhnlich begeisterter Kritiken zusammenfassen.2 Einmal davon abgesehen, dass solche eher schlagwortartigen Formulierungen naturgemäß an der Oberfläche bleiben und nicht erklären, was sich hier genau trifft und was daraus eigentlich entsteht, wäre es dennoch irreführend, in den drei Produktionen, welche diese neue Zusammenarbeit bislang währt, so etwas wie die Synthese der Arbeit beider Regisseure zu sehen.3 Auch wenn die über Hinrichs vermittelte Konstellation des wechselseitigen Austauschs zweier Ästhetiken sicherlich kein Zufall ist, gilt doch: Eine bestimmte schauspielerische Darstellungsweise steht im Zusammenhang mit allen anderen Elementen einer Arbeit und kann in verschiedenen Kontexten zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen führen.

Wenn es also ein Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, einige der Pauschalisierungen und Missverständnisse, denen die Arbeit beider Regisseure in der öffentlichen Wahrnehmung ausgesetzt ist, auszuräumen, kann es andererseits nicht darum gehen, die dennoch großen Unterschiede zwischen ihnen einfach zu leugnen. Wenn die beiden Positionen hier aller Differenzen zum Trotz daher zwar nicht gemeinsam, aber doch nacheinander untersucht werden, liegt dem die These zugrunde, dass beide tatsächlich weit mehr verbindet als gemeinhin wahrgenommen. Die Unterschiede relativieren sich nämlich erheblich, wenn man sie auf das in ihnen zum Ausdruck kommende Verständnis von Darstellung befragt und dieses dem auf deutschsprachigen Bühnen immer noch bei weitem vorherrschenden Theater gegenüberstellt. Vor der Negativfolie eines auf die Repräsentation eines dramatischen Textes durch psychologisch agierende Schauspieler in einem weitgehend abgeschlossenen Raum setzenden Theaters heben sich die hier untersuchten Arbeiten deutlich ab. Schon ihre Ausgangsfrage ist eine grundsätzlich andere: Sowohl Pollesch als auch Chétouane suchen nicht nach der passenden Form der Darstellung für eine Vorlage, sondern hinterfragen radikal die geläufigen Mechanismen der Darstellung selber.

Damit stellen sie den Raum des Theaters in seiner Verstrickung in gesellschaftlich wirksame Repräsentationsmechanismen in Frage. Entgegen der dort immer verdeckt mitschwingenden Transzendenz versuchen beide Künstler, das Theater als Raum der Immanenz zu begreifen. Darstellung ist für sie weniger die Repräsentation eines woanders existierenden Sinngehaltes als vielmehr ein Akt, der Bedeutung in seinem Vollzug überhaupt erst entstehen lässt. Derart des repräsentierenden Bezugs zu einem ihn transzendierenden Außen entledigt, muss der Theaterraum aus seinem eigenen Inneren heraus gedacht und strenggenommen in jeder Aufführung überhaupt erst erzeugt werden. Dieser Anspruch, der, wie sich zeigen wird, eher eine Grenze der Darstellung markiert, als dass er tatsächlich eingehalten werden könnte, markiert nichtsdestotrotz einen radikalen Bruch mit einer jahrhundertealten Tradition, welche das vorherrschende Theaterverständnis bis heute beinahe wie selbstverständlich prägt. Die Bühne markiert ihm nicht mehr, wie es die geläufige Redensart auf den Punkt bringt, die „Bretter, die die Welt bedeuten“. Statt der Wirklichkeit den Spiegel vorzuhalten, erweist sie sich selber als ein hervorgehobener Teil ebendieser Wirklichkeit, oder, um es mit einer Formulierung René Polleschs auszudrücken: Sie ist der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt.4

Die Arbeiten René Polleschs und Laurent Chétouanes sind in diesem Sinn Teil einer Entwicklung in der zeitgenössischen Theaterpraxis, die man als Neuentdeckung des Raums bezeichnen kann. Der Theaterraum reduziert sich nicht länger auf die weitgehend unabhängig von dem sich hier abspielenden Geschehen bestehende black box, vielmehr werden Körper, Bewegung, Raum und nicht zuletzt Sprache als wechselseitig abhängig voneinander erfahrbar.5 Dass dies voraussetzungsreicher ist, als es zunächst erscheinen mag, liegt daran, dass der Wahrnehmbarkeit dieser Interdependenzen sich als „natürlich“ tarnende Dispositive entgegenstehen, die drohen, die Körper und mit ihnen den Raum auf ihre Bildhaftigkeit und ihren Zeichencharakter zu reduzieren. Da das Theater zutiefst verstrickt ist in diese Dispositive, die daran arbeiten, „die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern“6, ist es zugleich ein Ort, an dem ihre Macht besonders gut in Frage gestellt werden kann. Dazu bedarf es jedoch einer szenischen Praxis, die ihre Funktionsweise reflektiert. Sowohl im Theater René Polleschs als auch Laurent Chétouanes agieren die Schauspieler*innen den Konflikt mit dem Rahmen des Theaters aus, der droht, sie körperbildlich zu isolieren und auf ihre Lesbarkeit zu reduzieren. Gemeinsam ist beiden Regisseuren, dass sie die Auseinandersetzung mit der Institution und dem Dispositiv Theater dorthin tragen, wo sie den größten Widerstand, aber auch die stärkste Reibungsenergie zu erwarten hat, nämlich in die auf Repräsentation eingestellten Stadttheater. Daher wäre es irrig, anzunehmen, dass sie dessen Konventionen und Rezeptionsgewohnheiten gänzlich hinter sich lassen. Vielmehr übernehmen sie mit seinem Raum auch dessen Mechanismen und Dispositive – jedoch nur, um sie konsequent einer Befragung zu unterziehen und einem neuen Gebrauch zugänglich zu machen.

Beiden Ansätzen gemein ist eine hartnäckige Auseinandersetzung mit Bildern und Vorstellungen. Sie sind jedoch keineswegs bilderfeindlich in einem ikonoklastischen Sinne, vielmehr stellen sie sich den vorgefertigten Bildern (Klischees) entgegen, welche die Körper im Theater wie auch im Alltag zu überformen drohen. Ihre Antwort ist die Suche nach größtmöglicher Konkretheit, also die Rückbindung allen Darstellens an das konkret und materiell im Akt und im Raum der Darstellung Gegebene. Dabei lassen sich durchaus Parallelen in der künstlerischen Entwicklung entdecken: Während für beide zunächst die Konfrontation konkreter Körper mit einem Text im Vordergrund stand, hat sich der Fokus im Laufe der Jahre erweitert hin zu einer Auseinandersetzung mit den spezifischen Elementen des dramatischen Dispositivs wie etwa der Verkörperung von Rollen oder der Zentralperspektive. Dabei lässt sich diese Aus-einander-Setzung ganz konkret in dem im Wort enthaltenen räumlichen Sinn verstehen. Durch die Distanz, welche zwischen die einzelnen Elemente eingeführt wird, gewinnt das von ihnen konstituierte Gefüge einer Aufführung an räumlicher Dimension.

Am Beginn der Auseinandersetzung mit den Konventionen des Theaters steht für René Pollesch der eingestandene Zweifel, eigentlich nicht zu wissen, „warum ich mit meinem Theater auf einen anderen Raum verweisen soll“7. Seine Abende artikulieren die Verunsicherung eines Theaters, dem die eigene Verortung fragwürdig geworden ist und das sich angesichts der Diagnose einer zunehmenden Instabilität gesellschaftlicher Räume neu orientieren möchte, um überhaupt erst wieder einen Raum der Reflexion und Kritik zu (re-)konstruieren. Sie suchen nach einem Raum, um die in der Gesellschaft herum‚geisternden‘ Vorstellungen, welche die Einzelnen von ihrem konkreten Leben trennen, in der konkreten Alltagspraxis zu verorten und einer Bearbeitung mit Theorie zugänglich zu machen. Statt allgemeingültige Wahrheiten darzustellen, zielen sie auf den Punkt, wo ein Thema mit der konkreten Alltagspraxis der an einer Produktion Beteiligten zu tun hat. Die „Utopie von Wirklichkeit“8, als die Pollesch sein Theater versteht, meint dabei gerade nicht das unter geschlossener Perspektive konstruierte Idealbild eines der vermeintlich äußeren Wirklichkeit entgegengesetzten Weltentwurfs, sondern im Gegenteil eine polyperspektivische Bearbeitung von Wirklichkeitsfragmenten. Das Theater wird ihm so zur Sehhilfe für die Wirklichkeit, welche einer vermeintlich allgemeingültigen Wahrheit die vielfach gebrochene und bewusst partiale Perspektive eines verorteten Wissens (Donna Haraway) gegenüberstellt. Gegen den Universalitätsanspruch und die damit verbundene Identitätsforderung des Repräsentationstheaters, das dazu neigt alles auf seine Lesbarkeit unter allgemeingültiger Perspektive zu reduzieren, sucht Pollesch nach dem Singulären, dem Konkreten und der partialen Perspektive.

Chétouanes Arbeit wiederum fragt in ihrer radikalen Reduktion der Mittel zunächst nach den Grundgegebenheiten des Theaters: Wie ist es möglich, auf einer Bühne zu sprechen, wenn es keinen stabilen und selbstverständlichen Standpunkt für einen Sprecher gibt? Wie lassen sich im Theater Räume erzeugen, in denen das Unerhörte der Sprache verlauten und das Undarstellbare des singulären Körpers zur Darstellung gelangen kann? Dabei stand auch für ihn – wenn auch auf ganz andere Weise als für Pollesch – lange die Konfrontation zwischen dem konkreten Körper eines Darstellers und dem aufgeführten Text im Vordergrund. Mit der Zeit hat sich dies auch hier hin zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Rahmen und der Perspektive des Theaters verschoben. Anschaulich wird das spätestens seit der Inszenierung von Heiner Müllers Text Bildbeschreibung, die der Produktion von Bildern eine fragmentierte, sich dem Sistiert-Werden im Bild entziehende Körperlichkeit entgegenstellt und so die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Text und Körper zugespitzt und um eine perspektivische Brechung erweitert hat.

In den nun folgenden beiden Kapiteln werde ich mich diesen Themen aus zwei unterschiedlichen, aber letztlich zusammenhängenden Perspektiven nähern, um damit die theoretischen Grundlagen für die anschließenden Inszenierungsanalysen zu erarbeiten. Zunächst möchte ich das Feld der Darstellung zwischen Präsenz und Repräsentation ausgehend von der Rolle des Textes im Theater erkunden, um von dort zu einer Annäherung an einen aus seinem eigenen Inneren erzeugten Raum zu gelangen. Im Anschluss wende ich mich dann der Frage des Raums noch einmal direkter zu: Ausgehend von unterschiedlichen Raumvorstellungen und in Bezugnahme auf das Dispositiv des dramatischen Theaters möchte ich eine topologische Raumbeschreibung als Instrumentarium zur Beschreibung des postdramatischen Raums vorschlagen. Dieser erweist sich als ein Ort, der anstelle des Nacheinanders der Darstellung von Räumen, wie sie das dramatische Theater bevorzugt, deren Nebeneinander in Szene setzt und das Theater somit überhaupt erst in einer im eigentlichen Sinne räumlichen Dimension erschließt. Diese Vorgehensweise wird sich, wenn auch weniger systematisch, in den jeweiligen Inszenierungsanalysen wiederfinden: Diese gehen zum einen von der Frage nach Präsenz und Repräsentation aus, zum anderen beschreiben sie die Theaterräume Polleschs wie auch Chétouanes als solche, in denen ein Nebeneinander verschiedener Räume und Perspektiven zum Zuge kommt und der Bezug des Theaters zu seinem Außen einer szenischen Reflexion zugänglich gemacht wird.

Anmerkungen

1 Anne Peter: Um Kopf und Körper. Ich schau dir in die Augen … – René Pollesch stellt die alten Fragen neu. http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=3771 (Zugriff am 13.01.2010).

2 Kommentar zur Inszenierung siehe ebd. Vgl. Dirk Pilz: Frisch aus dem Predigerseminar. Ein tollkühner Priester. Fabian Hinrichs in Polleschs Solo-Show an der Volksbühne. In: Berliner Zeitung, 16.01.2010, S. 36; Tom Mustroph: Der Universalmensch. Der Schauspieler Fabian Hinrichs bringt in der Berliner Volksbühne René Polleschs „Ich schau dir in die Augen gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang“ zum Glühen. In: Theater der Zeit 3/2010, S. 8–10.

3Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!, Volksbühne Berlin, UA: 13.01.2010; Der perfekte Tag (Ruhrtrilogie III), Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr, UA: 18.06.2010; Kill your Darlings! Streets of Berladelphia, Volksbühne Berlin, UA: 18.01.2012.

4 Der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt. René Pollesch über den Künstler als Vorzeigesubjekt und das Grauen im Theater, befragt von Cornelia Niedermeier. In: René Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke, Texte, Interviews, hrsg. v. Corinna Brocher / Aenne Quiñones. Reinbek: Rowohlt 2009, S. 313–318, hier S. 317.

5 Vgl. Nikolaus Müller-Schöll: Der gesprengte Rahmen. Den Raum neu denken: Zwei Neuerscheinungen entdecken die Aktualität von Adolphe Appias Impulsen vom Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Theater Heute 4/2012, S. 54 –57; Gabriele Brandstetter / Birgit Wiens (Hrsg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias:Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater. Berlin: Alexander 2010.

6 Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv? Zürich / Berlin: Diaphanes 2008.

7Das Material fragt zurück. Ein Gespräch zwischen Jochen Becker, Walther Jahn, Brigitta Kuster, Stephan Lanz, Isabell Lorey, Katja Reichard, Bettina Masuch und René Pollesch. In: René Pollesch:Wohnfront 2001–2002, hrsg. v. Bettina Masuch. Berlin: Alexander 2002, S. 221–236, hier S. 222.

8Der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt, S. 317.

Theoretische Grundlagen

1. Präsenz

1.1 Text

Text jenseits der Repräsentation

Postdramatisches Theater ist, entgegen einem immer noch verbreiteten Missverständnis, keineswegs ein Theater ohne Text. Vielmehr verweist schon sein Begriff, worauf bereits Hans-Thies Lehmann in seinem grundlegenden Essay aufmerksam gemacht hat, auf „den fortbestehenden Zusammenhang und Austausch zwischen Theater und Text“1. Gegenüber dem dramatischen Theater entscheidend verändert hat sich jedoch der Status dieses Textes: Er ist nicht mehr das die Szene beherrschende und alle anderen Theatermittel kontrollierende Element, sondern nur noch ein Element der Aufführung neben anderen. Diese Verschiebung bedeutet einen Unterschied ums Ganze, denn sie entreißt den Text der Kette der Repräsentationen und setzt damit die Repräsentationsfunktion des Theaters aufs Spiel. Sie ist jedoch keineswegs ein einfaches Unterfangen: Ebenso wenig wie dem zugrunde liegenden Problem über einen bloß ‚originellen‘ Umgang mit den Theatermitteln beizukommen ist, lässt es sich auf die Ebene der Textvorlagen verlagern.2 Es bedarf vielmehr eines gegenüber der Konzeption des klassisch dramatischen Theaters gänzlich veränderten Textbegriffs. Während dieses den Text von seinem Status als literarisches Kunstwerk her begreift, das es zur Aufführung zu bringen gilt, geht es jenem darum, ihn konsequent von seinem Vollzug in der Aufführung her zu denken.

Die Arbeiten René Polleschs wie auch Laurent Chétouanes setzen auf je eigene Weise einen gegenüber der Tradition des dramatischen Theaters radikal anderen Umgang mit Text in Szene. Auch wenn es bei beiden Regisseuren eine textliche Grundlage gibt, die den Schauspieler*innen in gedruckter Fassung vorliegt und die im Fall Chétouanes meist sogar eine dramatische Form hat, ist damit keine der Inszenierung und dem darin sich vollziehenden Akt des Sprechens vorausgehende Bedeutung festgeschrieben. Vielmehr ergibt sich Bedeutung erst als ein im Vollzug der Aufführung produzierter nachträglicher Effekt. Der Text in diesen Arbeiten soll hier daher nicht als eigenständiges literarisches Kunstwerk verstanden werden, sondern als der sprachliche Teil eines Aufführungstextes. Eine solche Konzeption, die sich unabdingbar aus der Theaterpraxis beider Regisseure ergibt, setzt einen Begriff von Text jenseits von „Werk“ und „Drama“ voraus, d. h. jenseits eines „fixierten Kernbestands von Bedeutungen“, der in der Inszenierung lediglich in einer bestimmten Weise umgesetzt wird.3 Ihr zugrunde liegt demgegenüber ein Verständnis des Textes als „Skript“, also eines Bündels von Sprachhandlungen, das zur Aufführung gelangt und das selber wiederum Teil eines die Gesamtheit der Aufführung umfassenden Performance Scripts ist.4

Die Bühne dient unter dieser Perspektive nicht mehr wie jene des klassischen dramatischen Schauspiels der Repräsentation eines textlich festgeschriebenen Sinngehalts, der dort auf eine bestimmte Weise dargestellt und interpretiert werden würde. Ein solches „Theater der Interpretation […], der Aufnahme und Übersetzung, der Ableitung aus einem vorgefertigten Text“5, das bereits Antonin Artaud als das Wesen der klassisch-okzidentalen Bühne bekämpft hatte, wird vielmehr radikal in Frage gestellt. Es erweist sich als die „Repräsentation all jener Repräsentationen, die die metaphysische Tradition ausmachen“, deren Kern das „Modell einer Sprache [ist], die ein klares und fertiges Denken repräsentiert“.6 Demgegenüber geht es dem hier untersuchten Theater gerade um die Enthierarchisierung jener metaphysischen Rangordnungen, in denen der Text das fertig vorliegende Ergebnis der Sinnproduktion eines Autors ist und der Schauspieler als das Werkzeug eines Regisseurs dient, um diesen Text gemäß seiner interpretierenden Autorität in eine Inszenierung zu übersetzen. Dabei verliert die „tragende Säule des klassischen Dramas“, nämlich die „Fabel im Sinne einer Geschichte von allegorischer Bedeutsamkeit, die auf der Bühne eine Totalität und ein Äquivalent für den Begriff, ein Wissen, eine Wahrheit bietet“, ihre Macht zur Beherrschung der Szene.7

Diese Emanzipation der Szene vom dramatischen bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht die Ermächtigung eines Schauspielers, der nun seinerseits zum Subjekt der Bedeutungsproduktion erhoben würde, indem er über die Mobilisierung eigener Erfahrungen zum Interpreten „seiner“ Rolle wird oder gar aus einer vermeintlich spontanen Improvisation unabhängig von einem gegebenen Text zum autonomen Produzenten von Bedeutung würde. Eine solche Praxis hätte nur die Reproduktion der alten Hierarchien unter veränderten Vorzeichen zur Folge. Vielmehr geht es um den viel radikaleren Anspruch, dass überhaupt kein vorgefasster Sinn und keine die Aussage kontrollierende Intention dem szenischen Akt des Darstellens vorausgehen solle. Dies impliziert auf allen Ebenen der Aufführung eine Produktion, die „nichts zu sagen hat“, also „nichts, was dem oder der des Schreibens, des Denkens oder des

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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