Räume - Susanne Rau - E-Book

Räume E-Book

Susanne Rau

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Beschreibung

Was versteht man in der Geschichtswissenschaft unter "Räumen"? Und wie kann man sie historisch untersuchen? Dieses Buch gibt einen hervorragenden Überblick über die Geschichte abendländischer Raumkonzepte und die Geschichte des Begriffs "Raum". Mit ihm liegt erstmals eine Einführung in die Theorie und Praxis der historischen Raumanalyse vor. "Susanne Rau gelingt es, einen Leitfaden für Historikerinnen und Historiker zu entwerfen, der sicher über die verschlungenen Wege des ›spatial turn‹ führt." Sehepunkte "Das Buch eignet sich gut für die Lehre und ermöglicht einen schnellen Zugriff auf den aktuellen Forschungsstand - mehr kann eine Einführung kaum leisten." H-Soz-und-Kult

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Cover for EPUB

Susanne Rau

Räume

Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Auch Räume haben eine Geschichte. Geschichte findet zudem immer auch in Räumen statt. Was versteht man aber in der Geschichtswissenschaft unter »Räumen«? Und wie kann man sie historisch untersuchen? Susanne Rau gibt einen Überblick über die Geschichte abendländischer Raumkonzepte, vermittelt interdisziplinäre Zugänge zum Phänomen »Raum« – von der Physik und der Geographie bis hin zur Philosophie und Soziologie – und erläutert, wie sich historische Raumanalysen methodisch-theoretisch konzipieren und praktisch durchführen lassen. Mit diesem Buch liegt erstmals eine Einführung in die Theorie und Praxis der historischen Raumanalyse vor.

Susanne Rau gelingt es, einen Leitfaden für Historikerinnen und Historiker zu entwerfen, der sicher über die verschlungenen Wege des »spatial turn« führt.

Sehepunkte

Eignet sich (…) gut für die Lehre und ermöglicht einen schnellen Zugriff auf den aktuellen Forschungsstand – mehr kann eine Einführung kaum leisten.

H-Soz-und-Kult

Weiterführende Materialien zum Buch unter http://www.campus.de/spezial/historische-einfuehrungen

Vita

Susanne Rau ist Professorin für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit an der Universität Erfurt.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Was ist historische Raumforschung? Eine Einleitung

Warum die historische Raumforschung nicht neu ist

Warum die historische Raumforschung doch neu ist

1. 

Historische und systematische Annäherung

1.1 

Vorgeschichte

Zur Geschichte abendländischer Raumkonzepte

Raum: Zur deutschen Karriere eines Konzepts

Europäische Alternativwege: Febvre – Braudel – Lefebvre

1.2 

Begriffe

Alltagsweltliche und wissenschaftliche Raumkonzepte: Kein Widerspruch

Begriffsgeschichte

Analytische Begriffe

2. 

Disziplinäre Zugänge

2.1 

Geographie

2.2 

Kulturanthropologie, postkoloniale Studien

2.3 

Soziologie

2.4 

Räume und Räumlichkeiten als neues geschichtswissenschaftliches Thema

3. 

Raumanalyse

3.1 

Raumkonstitution und Konfigurationen

Makrohistorische Prozesse

Raumtypen, Raumformationen

Global Spaces: räumliche Transformationen im Zuge von Globalisierungsprozessen

Die Stadt: Eine räumliche Konfiguration im Wandel

Der Handel: Interaktionsbeziehungen, die Räume hervorbringen

3.2 

Raumdynamiken: Entstehung – Wandel – Auflösung

3.3 

Die subjektive Konstruktion von Räumen: Wahrnehmungen – Erinnerungen – Repräsentationen

Vorstellungs- und andere Räume

Spatial stories – spatial media – mental maps

3.4 

Raumpraktiken – Raumnutzungen

4. 

Fazit und Ausblick

Auswahlbibliographie

Literatur

Internet-Ressourcen und -Portale

Zeitschriften oder Sonderhefte von Zeitschriften

Lexikoneinträge

Glossar

Dank

Nachwort zur 2. Auflage

Personen- und Sachregister

Was ist historische Raumforschung? Eine Einleitung

Versuche ich Freunden, Bekannten oder Verwandten mein derzeitiges Forschungsfeld zu beschreiben, und verwende dabei, der Einfachheit halber, den Begriff der Raumforschung, dann reichen die Reaktionen vom Staunen bis zum Schmunzeln. Das sei doch das Feld der Architekten oder Stadtplaner, wird mir entgegengehalten. Ob dies etwas mit Weltraumforschung zu tun habe, wird gefragt. Diese Art von Begriffstest an einer nicht-akademischen, jedenfalls nicht sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Öffentlichkeit hat einiges für sich. Daran wird einerseits deutlich, dass diese neuere Richtung in unseren Disziplinen in einer breiteren Öffentlichkeit zumindest im ersten Moment eher nicht mit Anthropologie, Geschichte oder Kultur verbunden wird. Andererseits lässt sich erkennen, dass Raum vor allem dreidimensional begriffen wird: Räume werden primär auf Landschaften, Städte, Häuser, Wohnungen etc. bezogen, gelegentlich auch auf die gesamte Welt oder das Weltall. Diese Assoziationen mögen im Zeitalter von satellitengestützter Kommunikation naheliegend sein; und auch die Stadt- und Raumplanung ist ja eine längst etablierte Disziplin, die den Raumbegriff in ihrer Bezeichnung trägt und für die es Studiengänge wie auch Landes- und Bundesinstitutionen gibt, beispielsweise das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR).

Die einseitige Verortung des wissenschaftlichen Feldes zwischen Stube und Weltall ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich: Sie zeugt von der Mehrdeutigkeit des Raumbegriffs, zugleich aber von der Notwendigkeit, diese anderen Dimensionen, die bei Räumen berücksichtigt werden müssten, nämlich ihre Konstruiertheit, ihre Wandelbarkeit, ihre Imaginiertheit, ihre Virtualität und ähnliche Modalitäten, deutlicher herauszuarbeiten und sie über die Fachdisziplinen hinaus in einen breiteren Diskurs einzuführen. Weil es verschiedene Modi gibt, die Räume – gleichzeitig oder zeitlich nacheinander – annehmen können, und weil Räume letztlich nur als soziale Konstruktionen individuelle oder gesellschaftliche Relevanz besitzen, sollte man nur mit Vorsicht von (historischer) Raumforschung sprechen. Mein Vorschlag wäre, die etwas umständlich klingende Formulierung der ›Analyse räumlicher Dimensionen der Gesellschaft‹ zu wählen. Sie kann sich auf gegenwärtige wie auf historische Gesellschaften beziehen. Dabei geht es um die Vermittlung einer Einsicht, die uns alle betrifft: nämlich dass wir zugleich in dreidimensionalen und anderen, nicht-euklidischen, beispielsweise virtuellen Räumen leben.

Warum die historische Raumforschung nicht neu ist

Dass Geschichte in Zeit und Raum stattfindet, ist gewiss keine Einsicht, die wir dem sogenannten spatial turn, also der ›Raum-Wende‹ des späten 20. Jahrhunderts zu verdanken haben. Von den schon älteren Gattungen der Kosmographien oder Topographien, deren Texte nach geographischen oder ortsbezogenen Gesichtspunkten organisiert sind, einmal abgesehen, meldeten sich in der Geschichtswissenschaft und in angrenzenden Fächern seit dem späten 19. Jahrhundert Stimmen zu Wort, die sich immer wieder auch für eine Erforschung der räumlichen Aspekte von Geschichte einsetzten. Das Auftauchen dieser frühen Stimmen wird in diesem Buch nachgezeichnet, nicht zuletzt, um die bisweilen politische Instrumentalisierung zu verfolgen, die in deterministischen Ansätzen dieser Zeit angelegt ist. Auch andere ältere Ansätze werden in Erinnerung gerufen, etwa die der Annales-Schule, die der Sozialgeographie seit der Nachkriegszeit sowie die Arbeiten einiger raumanalytisch denkender Stadtforscher, insbesondere Henri Lefebvres. Sie spielen in der derzeitigen Debatte über Raum erstaunlicherweise kaum eine Rolle. Wer diese Arbeiten kennt, darf über den in den letzten rund 20 Jahren permanent ausgerufenen spatial turn seinerseits schmunzeln – wobei das Verschweigen älterer und keineswegs einflussloser Traditionen durchaus ein wissenschaftliches Ärgernis ist.

Allerdings sind nicht alle älteren Arbeiten in gleichem Maße brauchbar. Häufig werfen sie geographische, kulturell konstruierte und metaphorische Raumbegriffe durcheinander und stellen kein Instrumentarium zur Raumanalyse bereit. Der uneinheitliche und zuweilen etwas unreflektierte Begriffsgebrauch setzt sich freilich in manchen neueren Arbeiten fort, wenn zum Beispiel einfach nur Ereignisse, Institutionen oder soziale Gruppen lokalisiert werden, über den Zusammenhang von Orten, Menschen und Handlungen hingegen nicht weiter nachgedacht wird. Deshalb scheint es an der Zeit, die in den letzten Jahren herausgearbeiteten analytischen Zugriffe und Reflexionen zusammenzutragen und etwas Ordnung in dieses Feld zu bringen.

Warum die historische Raumforschung doch neu ist

Die gesteigerte Aufmerksamkeit, die dem ›Raum‹ in den letzten Jahren auch in der Geschichtswissenschaft zuteilwurde (Schlögel 2007: 33; Bachmann-Medick 2007: 288), lässt sich unter anderem an Großkongressen sowie einer Reihe von Zeitschriften-Sonderheften ablesen, die sich der räumlichen Thematik und der Frage ihres innovativen Potentials gewidmet haben: der Historikertag in Trier (1986), der sich unter dem Motto »Räume der Geschichte – Geschichte des Raums« versammelte und starke Impulse aus der mediävistischen Landesgeschichte bekommen hatte; dann derjenige in Kiel (2004) mit dem Obertitel »Kommunikation und Raum«; ferner der Kongress des französischen Mediävistenverbandes (2006) zur »Konstruktion von Raum im Mittelalter: Praktiken und Repräsentationen«. Zeitschriften wie Geschichte und Gesellschaft, die Quaderni storici, das German Historical Institute Bulletin, die Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, die Revue d’Histoire des Sciences Humaines, die Social Science History, die online-Zeitschrift MOSAIKjournal, History, History and Theory, Historical Social Research oder Material Religion haben raumbezogene Themenhefte herausgebracht. Hinzu kommen Tagungen und Tagungsbände mit häufig interdisziplinärer Ausrichtung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert ein raumwissenschaftliches Exzellenz-Cluster, das den Titel »TOPOI. The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations« trägt, in dem Vertreter verschiedener Disziplinen (Archäologen, Geographen, Historiker, Philologen, Philosophen etc.), vor allem jedoch aus den Altertumswissenschaften, kooperieren (Märtin 2012); außerdem Sonderforschungsbereiche wie etwa den 2016 neu eingerichteten SFB »Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen« in Leipzig.

Das Spektrum der Bedeutungen, die mit dem Begriff spatial turn bezeichnet werden, ist relativ breit. Die Definitionen reichen vom Etikett zur Legitimierung einer neuen Forschungsfrage und der schon angesprochenen gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber den räumlichen Dimensionen gegenwärtiger wie historischer Gesellschaften über die Positionierung der Geographie als Leitwissenschaft einer neuen gesellschaftskritischen Raumwissenschaft (Soja 1989; Lévy 1999) bis zum Plädoyer für die Ausbildung eines kritischen wissenschaftlichen Raumverständnisses (Bachmann-Medick 2007: 289). Andere möchten die »Ortlosigkeit der Geschichtsschreibung« überwinden (Dipper/Raphael 2011: 40) oder halten den spatial turn für ein Paradigma der Sozialwissenschaften (Jacob 2014). Nach wie vor aber lässt sich beobachten, dass es sich bei der theoretisch-methodischen Neuorientierung nicht nur um eine, sondern um mehrere ›Wenden‹ handelt und dass verschiedene Disziplinen recht unterschiedliche Dinge darunter verstehen und unter diesem Label erforschen (vgl. Tiller/Mayer 2011). Schließlich reagieren die nationalen Wissenschaftskulturen in unterschiedlicher Weise darauf (und bisweilen auch überhaupt nicht).

Selbst innerhalb der Disziplinen variieren die Zugänge, was auch für die Geschichtswissenschaft gilt. Angesichts der Reichweite des thematischen Feldes ist dies nicht weiter verwunderlich. Und die Methodenvielfalt ist grundsätzlich auch zu begrüßen. Allerdings gibt es auch Studien, die in einem theoretischen Gegensatz zu dem kritischen Trend stehen, der durch die Sozial- und Kulturgeographie, die Kulturanthropologie und die Soziologie in den letzten Jahren neu in Gang gebracht wurde. Es lassen sich nämlich auch schon die ersten Re-Essentialisierungen, Reifizierungen und Re-Territorialisierungen beobachten: Räume werden dort als gegeben betrachtet, der Raum wird eher als Objekt statt als Methode begriffen, und politische oder kulturelle Räume beziehungsweise Regionen werden allzu reduktionistisch nur im Hinblick auf ihre territoriale Komponente untersucht. Angesichts dieser Situation ist der Aussage zweier Kollegen, es sei eine falsche Vorstellung, dass der spatial turn in der Geschichtswissenschaft inzwischen Fuß gefasst habe, voll zuzustimmen (Dipper/Raphael 2011: 28). Eine kritische historische Raumforschung sollte sich nicht darauf beschränken, Räume als Orte oder Rahmungen von Ereignissen oder gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten. Ferner sollte sie Räume auch nicht verabsolutieren, weil sie uns weder den einzigen noch einen wirklicheren Zugang zur Geschichte verschaffen, wie dies die schönen, essayistischen Stadtporträts Karl Schlögels manchmal suggerieren. Ein Missverständnis wäre es ferner anzunehmen, mit dem spatial turn sollten die ältere Landesgeschichte, die Erdkunde oder die historische (Städte-)Bauforschung mit ihrem dreidimensionalen, territorialen Raumbegriff für die Geschichte wiederbelebt werden. Dies brächte uns nicht wirklich weiter.

Die Chance einer historischen Raumforschung, die mit einem analytischen Raumbegriff arbeitet, besteht darin:

die Prozesse der Produktion und Konstruktion von Räumen zu beleuchten,

auf räumliche Praktiken einzugehen,

Differenzen und Koexistenzbeziehungen von Raumvorstellungen herauszuarbeiten,

Verortungen und Verräumlichungen sozialer Beziehungen zu beobachten,

räumliche Selbstbilder und Ordnungsarrangements von Gruppen und Gesellschaften zu analysieren und ihre Auswirkungen zu verfolgen

sowie auf die raumzeitlichen Veränderungen sozialer Prozesse hinzuweisen.

All dies lässt sich nur mit einem begrifflich reflektierten und methodisch kontrollierten Zugang zum Raum erreichen – und dafür soll mit diesem Buch ganz entschieden plädiert werden.

Wenn also der spatial turn mehr sein soll als nur ein Label, eine wissenschaftspolitische Strategie zur Legitimierung einer neuen Forschungsfrage, dann muss auch eine genaue Methode beschrieben werden. Es muss aufgezeigt werden können, worin der Mehrwert liegt: gegenüber den älteren Raumbegriffen, aber auch der mögliche neue Erkenntnisgewinn. Das Ziel dieser Einführung ist es daher, analytische Raumkonzepte und Methoden zur Untersuchung von Räumen beziehungsweise Räumlichkeiten vorzustellen und sie dadurch in der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Dazu müssen wir verschiedene Raumbegriffe (physikalische, astronomische, theologische, psychologische, kulturelle etc.) unterscheiden lernen und die Vorteile des interdisziplinären Arbeitens erkennen und umsetzen. Wir dürfen dabei das Aufeinander-bezogen-Sein von Zeit und Raum, von Zeitlichkeit und Räumlichkeit ebenso wenig vergessen wie die Historizität (also Kontingenz und Vergänglichkeit) der Raumtheorien und Raumkonzepte. Genau in diesen Aspekten besteht auch der Mehrwert einer historischen Betrachtung und Analyse von Raum und Räumlichkeit, die in anderen Büchern mit einführendem Charakter nicht immer zu finden sind. Die Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie von Löw/Steets/Stoetzer (2007) ist eine gute Einführung für Soziologen und Urbanisten beziehungsweise (angehende) Raumplaner. Für Historiker/innen jedoch, die zu früheren Epochen arbeiten, stellt sie sich schnell als unzulänglich heraus. Bei dem Raumtheorie-Buch des Suhrkamp-Verlags handelt es sich de facto um eine Anthologie mit Auszügen – mehr oder weniger klassischer – literarischer, philosophischer oder historischer Texte über Raumbegriffe und Raumkonzepte (Dünne/Günzel 2006), die zum Einstieg auch für Historikerinnen und Historiker eine wunderbare Lektüre darstellen. Für das wissenschaftliche Arbeiten mit den Texten aber sollte man den Blick ins Original oder – besser noch – in eine kritische Edition nicht scheuen. Das Dictionnaire de la géographie et de l’espace des sociétés (Lévy/Lussault 2003) ist ein äußerst hilfreiches Lexikon, primär von und für Geograph/innen, das eine Reihe von Artikeln enthält, die auch für die Geschichts- und Kulturwissenschaftler/innen interessant sind: espace, espace public, lieu, spatialité, urbain, urbanisation etc. Jedoch handelt es sich um ein Lexikon (eine Art Synthese), das weithin gegenwarts- oder allenfalls zeitgeschichtsorientiert ist und andere Ziele als eine monographische Einführung verfolgt. Mit dem Dictionary of Human Geography (Johnston u. a. 2009) liegt ein weiteres Lexikon in erster Linie von und für Humangeographen und Kulturanthropologen vor, muss aber in seiner fünften Auflage konsultiert werden. Jüngeren Datums sind das Handbuch Raum des Metzler-Verlags (Günzel 2010) sowie das Lexikon der Raumphilosophie (Günzel 2012). Bei dem Handbuch handelt sich um eine Einführung in die wichtigsten Konzepte und Theorien vor allem der Philosophie und Soziologie durch entsprechende Expertinnen und Experten. Es ist aber ebenfalls wenig historisch ausgerichtet und geht kaum auf Umsetzungsmöglichkeiten oder Untersuchungsbeispiele ein. Schließlich ist in den Kultur- und Sozialwissenschaften vor allem in den letzten rund zehn Jahren eine Reihe von Sammelbänden mit raumbezogenen Einzelstudien erschienen (Dartmann u. a. 2004; Hochmuth/Rau 2006; Döring/Thielmann 2009; Glasze/Mattissek 2009; Stock/Vöhringer 2014; Friedrich 2014), welche häufig in ihren Einleitungen Raumkonzepte diskutieren oder dann in den Beiträgen vorführen, wie sich diese operationalisieren lassen.

Die vorliegende Einführung beginnt mit einer kleinen Geschichte der Raumkonzepte (Kap. 1.1). Im Anschluss daran werden alltagsweltliche, wissenschaftliche und analytische Raumbegriffe diskutiert (Kap. 1.2). Kapitel 2 gibt einen Überblick über ausgewählte Ansätze in Geographie, Kulturanthropologie, Soziologie und in der Geschichtswissenschaft. Den Hauptteil der Einführung bildet das dritte Kapitel. In ihm spiegelt sich das vorgeschlagene Raster wider, nach welchem sich Räume und räumliche Praktiken analysieren lassen:

Bestimmung von Raumtypen und Konfigurationen (Kap. 3.1)

Analyse der Raumdynamiken wie Entstehung, Wandel und Auflösung (Kap. 3.2)

Analyse der subjektiven Konstruktion von Räumen: Wahrnehmungen, Erinnerungen und Repräsentationen (Kap. 3.3)

Analyse der Raumpraktiken, insbesondere der Raumnutzungen (Kap. 3.4).

Sowohl die dynamischen Aspekte als auch die subjektbezogenen Ansätze weisen auf die notwendige Berücksichtigung des Zeitfaktors bei der Raumanalyse hin: Erst dadurch lassen sich Konstitutionsprozesse, Dauer, Nutzungsrhythmen und Veränderungen verstehen und erklären. Nicht jedes geschichtswissenschaftliche Thema wird sich anhand dieses Rasters analysieren lassen; nicht immer werden die Quellen zu allen Aspekten vorhanden sein, nicht immer interessiert man sich für all diese Aspekte, sondern vielleicht bewusst nur für einen. Insofern soll das Raster auch eine Hilfe zur Differenzierung der verschiedenen Ebenen und Modi von Raum sein.

Anwendungsfelder

Der Anwendungsbereich der historischen Raumanalyse ist demnach weit: Er reicht von der Geschichte der Körper, die durch ihre Bewegungen Räume konstituieren, über die Geschichte öffentlicher oder sakraler Räume oder die Geschichte der Siedlungen und Regionen (beziehungsweise areas) bis zur Geschichte der Globalisierungen; er schließt Religionsgeschichte, politische Geschichte, Mediengeschichte, Wissensgeschichte, Handels- oder Wirtschaftsgeschichte ebenso ein wie Agrargeschichte, Stadtgeschichte oder Globalgeschichte. Es lässt sich nach der Konstitution von Räumen – ob Mikro-Räumen (wie Zimmer und Kaffeehäuser) oder Makro-Räumen (wie Territorien und Regionen) – fragen, aber auch danach, wie sich Menschen durch Räume bewegen und wie sich Räume selbst bewegen oder verändern. Sich für die räumlichen Dimensionen historischer Gesellschaften zu interessieren, heißt ferner, danach zu fragen, welche Bedeutung die Menschen ihrer räumlichen Umwelt beimessen, ob sie eine gute oder schlechte Beziehung zu den erfahrenen Räumen aufbauen und welche Auswirkungen die sozial konstruierten Räume wiederum auf die Konstituierung von Subjekten oder Gruppen haben. Von der Metaebene aus lässt sich fragen, mit Hilfe welcher Medien (etwa in Texten, Bildern, Karten, Atlanten) Räume repräsentiert werden, was diese uns über die Selbstbilder von Gesellschaften sagen oder welche Machtinteressen hinter ihrer Fertigung oder ihrem Einsatz stecken. Schließlich kann sich auch die Geschlechtergeschichte der Kategorie Raum bedienen, indem sie nach der Rolle der Akteurinnen und Akteure im Prozess der Konstitution und Nutzung von Räumen fragt; nach Mechanismen der Inklusion und Exklusion (in der Verschränkung nicht nur von Raum und Rasse oder Klasse, sondern eben auch von Raum und Geschlecht); oder nach geschlechtlich konnotierten Allegorisierungen räumlicher Repräsentationen, etwa bei der Darstellung des Kontinents Europa als Reichskönigin im 16. Jahrhundert (vgl. hierzu die Quelle Nr. 20 unter www.campus.de). Der einzelne Begriff Raum spiegelt also in analytischer Hinsicht ein breites heuristisches Spektrum und eine Vielfalt an Untersuchungsmöglichkeiten wider.

Wenn wir die semantische Unterbestimmtheit des Raumbegriffs sowohl durch ein theoretisches und methodisches Instrumentarium als auch durch die genaue Beobachtung und Beschreibung sozialer Praktiken überwinden könnten, kämen wir nicht nur von einem simplen erdräumlichen Raumverständnis weg, sondern würden Differenzen, Überlagerungen, Gleichzeitigkeiten und Brüche erkennen, die die Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge sichtbar machen. In der differenzierten Analyse räumlicher Ordnungen und zeitlicher Verläufe gleichermaßen, in der Analyse der damit verbundenen Diskurse wie Praktiken liegt das Potential einer Geschichtswissenschaft als kritischer Gesellschaftswissenschaft.

1. Historische und systematische Annäherung

Um die Argumente der gegenwärtig diskutierten Raumtheorien und die theoretische Basis der räumlich orientierten historischen Studien verstehen und beurteilen zu können, ist es ratsam, einen Blick in die Geschichte der Raumkonzepte und -theorien zu werfen. In dem Kapitel über die »Vorgeschichte« werden ganz kurz die wichtigsten abendländischen Raumtheorien seit der Antike angesprochen, weil auf sie auch später immer wieder Bezug genommen wurde und wird. Beleuchtet werden muss außerdem die heikle Vergangenheit mancher Raumbegriffe: insbesondere biologistische und deterministische Konzepte, die politisch instrumentalisiert wurden und damit diskreditiert sind. Da diese Konzepte in neuem Gewand bisweilen auch in den aktuellen Diskurs über Raum zurückkehren, sollte man eine Sensibilität dafür entwickeln, sie zu erkennen. Die Raumtheorien, die im Laufe der Geschichte gedacht wurden, sind so vielfältig und verschieden, dass eine Bündelung sinnvoll erscheint, deren Bezeichnungen teilweise von den historischen Raumtheoretikern selbst vorgeschlagen wurden (Kap. 1.1). Wie sind wissenschaftliche und alltagsweltliche Raumkonzepte vereinbar? Und was bedeutet genau absolutes, relatives oder relationales Raumkonzept (Kap. 1.2)? Diese Fragen sollen im ersten Kapitel geklärt werden. Aufgrund der gewählten Perspektive wird hier vor allem auf die philosophischen und physikalischen Theorien eingegangen. Die vormodernen Geographien oder Kartographien – und deren Welt- und Raumverständnis – wären einer eigenen Betrachtung wert (vgl. dazu Brodersen 1995; Dueck 2012; Harley/Woodward 1987–2007; Lestringant 1994; Besse 2003a; Schleicher 2014).

1.1 Vorgeschichte

Zur Geschichte abendländischer Raumkonzepte

Die Vielfalt der Raumbegriffe in der Antike, die von mythischen Vorstellungen über Definitionsversuche bis zu ausgereifteren theoretischen Ansätzen reichen, zeigt sich allein schon an der relativ großen Anzahl von Termini, die das Altgriechische für Ort und Raum bereithält. Das Historische Wörterbuch der Philosophie führt immerhin sechs verschiedene Wörter dazu auf. Die Reduktion der griechischen Raumdenker auf Platon (427–347 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) ist also eine radikale Verkürzung, aber insofern gerechtfertigt, als sie die am meisten zitierten antiken Theoretiker waren, bis sich im Laufe der Neuzeit die Vorstellung durchsetzte, der Kosmos sei unendlich und der physikalische Raum vielleicht gar nicht so homogen und gleichförmig wie lange angenommen. Auch in der Antike haben viele über Raum geredet und geschrieben, aber nur wenige haben eine konsistente Theorie entwickelt. Laut Aristoteles soll Platon der Erste gewesen sein, der eine klare Begriffsbestimmung geliefert habe (Zekl/Breidert u. a. 1992: 68). Eingebettet sind Reflexionen zum Raum in der Antike meist in allgemeinere Überlegungen zum Kosmos oder in Welterklärungsmodelle.

Aristoteles, der seine Überlegungen zum Raum vor allem in der Kategorienlehre und in der Physik darlegte, setzte sich mit Platons Raumverständnis auseinander, welches er im Timaios darlegte und auf den Überlegungen Pythagoras‹ und Demokrits aufbaute. Zudem bekam der Raum eine Stelle in Platons Ideenlehre zugewiesen: Als »dritte Gattung« zwischen Idee und Empirie vermittelt der Raum (χώρα) zwischen diesen beiden Feldern.

Der Raum ist, Platon zufolge, die »Amme des Werdens«. Sie erst lässt Veränderung zu. Mit Platon teilte Aristoteles weiterhin einige Ansichten wie zum Beispiel, dass es sich um eine Kategorie1 handeln müsse, dass es keinen leeren Raum gebe und dass die Himmelsgestalt einer Kugel ähnele, weil diese die vollkommenste Form darstelle. Aristoteles führte die Frage, ob die Welt unendlich oder endlich ist, auf die physikalische Ebene zurück, weil sie ihm hier beantwortbar erschien. Da der Versuch, Körper unbegrenzt ausdehnbar zu denken, an Grenzen stoße, sei der Raum im physikalischen Bereich endlich. Dagegen konnte er in der atomistischen Physik, vertreten durch Leukipp und Demokrit, durchaus unendlich sein (Zekl/Breidert u. a. 1992: 72–75). Das Universum bestand ihnen zufolge aus kleinsten Teilchen, die sich im unbegrenzten Raum bewegen.

Aristoteles‹ Raumtheorie ist genau genommen eine Ortstheorie, denn seine Frage zielt auf die »natürlichen Örter«2 der Körper und deren Bewegungen ab. Dabei geht er davon aus, dass sich nur Lebewesen aus eigenem Antrieb bewegen und dass für Bewegung eine bewegende Kraft – oder ein Widerstand dagegen – notwendig sei (Gosztonyi 1976, Bd. 1: 90–110). Gegen diese eindeutige Definition wandte sich kürzlich der Theologe Ulrich Beuttler, der der Ansicht ist, Aristoteles habe kein geschlossenes Lehrsystem einer Raumtheorie vorgelegt (Beuttler 2010: 74–82, bes. 76). Wie auch immer man dies sehen mag, Aristoteles hat einige differenzierende Kategorisierungen vorgenommen, die die weitere Debatte mit bestimmt haben und die mit einer gewissen Abstraktion vom damaligen Kontext bis heute nützlich sind:

Aristoteles unterschied zwischen Ort und Körper. (Dies impliziert: Die Dinge können ihren Platz wechseln, und derselbe Platz kann – nebeneinander oder nacheinander – von verschiedenen Dingen eingenommen werden.)

Er unterschied zwischen Raum und Ort. (Ort steht für die Lokalisierbarkeit von Dingen oder Körpern. Dagegen ergibt sich der Raum aus der Bewegung dieser Körper von einem Ort zu einem anderen. Wäre Raum identisch mit den Körpern, so würde Raum bei der Bewegung mit bewegt. Die Kontinuität des Raums wird durch die Kontinuität der Körper garantiert, denn nach Aristoteles kann es leeren Raum ja nicht geben.)

Das Konzept der unbegrenzten Ausdehnung des Raums, das es in der Antike durchaus auch gab (zum Beispiel bei den Atomisten Leukipp und Demokrit), kollidierte allerdings mit dem biblischen Schöpfungsbericht. Diesen berücksichtigend hielt Augustinus (354–430 n. Chr.) fest, dass es außerhalb der Welt keinen anderen Raum, also keine andere Welt gebe. Wenngleich Philosophen der christlichen wie der arabischen Welt weitere Unterscheidungen einführten und die mittelalterliche Theologie über viele verschiedene Fragen nachdachte (zum Beispiel über die Beziehung des Raums zu Dingen, seine Veränderbarkeit und Beweglichkeit, seine geometrische Struktur oder auch seine Wahrnehmbarkeit und Wirkungsfähigkeit), blieb die Unmöglichkeit der unendlichen Ausdehnung doch weitgehend cutting edge der mittelalterlichen Raumvorstellung. Untermauert wurde das christliche Denken zudem durch die spätmittelalterliche Rezeption der Theorien des Aristoteles, der dem Raum keine Ausdehnung zuerkannte und der die Leere in der Natur wie auch logisch für unmöglich hielt (Zekl/Breidert u. a. 1992: 82–88; Breidert 1995).

Diese Situation änderte sich erst allmählich durch einige Aristoteles-Kritiker, die im leeren Raum keine logische Unmöglichkeit mehr sahen. Einer von ihnen war Hasdai Crescas (um 1340 – um 1410), ein spanischer Jude, der auf die Rolle und Notwendigkeit eines Vakuums hinwies, den physischen Raum über dessen Volumen definierte (und nicht über die Begrenzung eines Körpers) und der aufgrund der Möglichkeit der Ausdehnung den Raum sogar unendlich denken konnte. Es scheint kein Zufall zu sein, dass die Verbindung von Gott und unendlichem Raum gerade von einem jüdischen Gelehrten formuliert wurde. Denn im Hebräischen ist das Wort für Ort (makôm) auch eine der vielen Gottesbezeichnungen; insofern ist es bis zu dem Gedanken, dass sich die Allgegenwart Gottes auch im Raum ausdrücken kann, kein weiter Weg mehr. Ein anderer wegweisender Kritiker war Nicole Oresme (um 1325–1382), der die Existenz eines außerkosmischen, ausgedehnten Raumes mit der Allmacht Gottes begründete, welche in der Vorstellung eines geschlossenen Raumes (wie in der aristotelischen Theorie) eingeschränkt wäre (Jammer 1980; Breidert 1995; Wertheim 2000: 102–125). Diese beiden und andere Kritiker wurden jedoch nicht sofort rezipiert. Bis zur Überwindung der Vorstellung, das Universum sei gefüllt, unbeweglich und begrenzt, und bis zur Anerkennung einer dreidimensionalen Leere verging noch viel Zeit. Auch der italienische Physiker und Astronom Galileo Galilei (1564–1642) hatte es mit seinen Überlegungen, dass die Bewegungen der Körper nur in Relation zu anderen festgestellt werden können, schwer und fand für seine Ansicht vom physikalischen Raum als formloser dreidimensionaler Leere nicht viel Beifall.

Nach Margaret Wertheim waren es aber auch gar nicht die theologischen Physiker, die die Revolution im Raumdenken hätten ausreichend begründen und bewirken können (Wertheim 2000: 110, 122 f.). Der Weg dahin verlief vielmehr über die Malerei und die Entdeckung der Linearperspektive (vgl. auch Edgerton 2009; Belting 2008). Die Maler der Renaissance entwarfen zwar keine Raumtheorie, doch einige theoretisch Ambitionierte unter ihnen (wie Leon Battista Alberti, Piero della Francesca oder Leonardo da Vinci) entwickelten Theorien der Darstellung, die unter anderem auf der Optik und der Geometrie beruhten. Diese Überlegungen ermöglichten eine nie zuvor dagewesene Raumtiefe in den Bildern, die nun wie von einem bestimmten Ort als Betrachterstandpunkt aus gemalt wurden. Die Maler fanden also in der Praxis einen Weg, um der Vorstellung von einer ausgedehnten physikalischen Leere Sinn und Bedeutung zu geben, und leisteten dadurch einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des physikalischen Raumkonzepts in der Neuzeit. Für die Kulturwissenschaftlerin Annette Vowinckel ist die Konstruktion von Bildräumen in engem Zusammenhang mit der relationalen Individualität in der Renaissance zu sehen (Vowinckel 2011).

Während Platons Raumbegriff bei den Cambridge-Philosophen rezipiert und die atomistische Raumauffassung (von Demokrit und Leukipp) noch von den Theologen des frühen 17. Jahrhunderts gelesen wurde, fand Aristoteles‹ Ortstheorie bei Isaac Newton (1643–1727) Gehör und damit Eingang in die klassische Mechanik. Die Grundlage der klassischen Mechanik war nämlich ein räumliches Bewegungsgesetz, welches ein absolutes räumliches Bezugssystem voraussetzt. Darunter ist ein physikalischer Raum zu verstehen, der sowohl vom Beobachter als auch von den darin stattfindenden Bewegungen von Körpern oder Objekten unabhängig ist. Für den in Cambridge lehrenden, dem Arianismus zugeneigten Wissenschaftler, der die kosmologischen Einsichten des 16. und 17. Jahrhunderts in einer großartigen Synthese zusammenfasste, war der Raum nicht außerhalb eines theologischen Systems zu verstehen, sondern bildete geradezu die Schnittstelle zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Durch Beobachtung nicht wahrnehmbar, bekam der Raum bei Newton die Rolle einer ontologisch notwendigen Bedingung für die Möglichkeit des ersten Bewegungsgesetzes zugewiesen. In den Mathematischen Prinzipien der Naturlehre, kurz Principia, hat Newton die drei Grundgesetze der Bewegung formuliert. Das erste besagt, dass ein Körper nur durch das Einwirken von Kräften seinen Zustand der Ruhe oder der Bewegung verändern kann (Zekl/Breidert u. a. 1992: 87; Gosztonyi 1976, Bd. 1: 329–354). Der absolute Raum, bei Newton immer zugleich ›wahrer Raum‹, da unveränderlich, und Attribut Gottes, wurde als unendlich, homogen und absolut, das heißt unabhängig von Körpern konzipiert.

Mit Newton hatte sich damit nicht nur die Vorstellung vom unendlich leeren Raum durchgesetzt, sondern der gesamte Kosmos wurde vereinheitlicht: Wo die Gravitationskraft wirkt, herrscht Materie, das heißt überall im Kosmos, im irdischen wie im himmlischen Bereich (zu den Folgen dieser Konzeption: Wertheim 2000: 162 f.). Widersprüchlich an seiner Konzeption war jedoch – und dies wurde bereits von Zeitgenossen kritisiert –, dass Newton diesem absoluten Raum auch bewegliche Teile zugestand, dass er also eigentlich die Relativität räumlicher Bezugssysteme erkannt hatte, ohne sie gelten zu lassen.

Gegen die Newton’sche (absolute) Raumkonzeption argumentierte unter anderen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716).3 Ihm ging es wie Aristoteles um die genaue Bestimmung der (geometrischen) Örter, über deren Verbindung untereinander er Raum definierte. Raum geht bei Leibniz schließlich in einer Relationsordnung auf. Für eine genauere Wesensbestimmung interessiert er sich nicht, sondern hält den Relationsbegriff – die Lagen verschiedener in Beziehung zueinander stehender Körper – als Charakterisierung für ausreichend. In den wesentlichen Zügen lässt sich sein Konzept aus seinem Briefwechsel mit dem Theologen Samuel Clarke, der die Newton’sche Position vertrat, herauslesen. Der 1717 publizierte Briefwechsel ist insofern auch ein historisch interessantes Dokument, als er erkennen lässt, wie kontrovers damals die Raumkonzepte diskutiert wurden und in welchem Gegensatz sich Theologen und Naturwissenschaftler beziehungsweise Philosophen befanden. Hier ein Auszug aus dem letzten Brief, den Leibniz am 18. August 1716 an Clarke schrieb (5. Briefwechsel, § 47).

Leibniz‹ relationales Raumkonzept

»Das, was alle diese Orte umfaßt, nennt man Raum. Dies zeigt: um vom Ort und folglich auch vom Raum einen Begriff zu haben, genügt es, jene Beziehungen und die Regeln für ihre Veränderungen zu betrachten, und zwar ohne daß man sich hierfür noch irgendeine absolute Realität zusätzlich zu den Dingen vorstellen muß, deren Lage man betrachtet. […] Man könnte auch […] sagen: Ort ist das, was zu den verschiedenen Zeitpunkten für verschiedene existierende Dinge dann dasselbe ist, wenn deren Beziehungen des Nebeneinanderbestehens mit gewissen existierenden Dingen, die von dem einen dieser Zeitpunkte bis zu dem anderen Zeitpunkt als fest vorausgesetzt werden, miteinander völlig übereinstimmen. […] Raum ist kurzum das, was sich aus den Orten ergibt, wenn man sie zusammennimmt.«

Schüller (Hg.) 1991: 93

Die Positionen, die sich aus dem Briefwechsel zwischen Clarke und Leibniz rekonstruieren lassen (Raum/Zeit als absolute oder relationale Größen), sind für die aktuelle Grundlagendebatte fundamental. Eine neue Aufmerksamkeit hat Leibniz sowohl in der Geschichte der Naturwissenschaften erhalten (Linhard 2008) als auch bei Kunsthistorikern, die sich mit Raumkonzepten des Barockzeitalters beschäftigen (Leonhard 2006).

Eine andere neuzeitliche, nicht mehr physikalische, sondern erkenntnistheoretische Raumkonzeption findet sich bei Immanuel Kant (1724–1804). Kant unterscheidet bei Raum (wie auch bei Zeit) eine empirische Realität von einer transzendentalen Idealität. In einem transzendentalen Sinn ist Raum nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern eine a priori gegebene und notwendige Voraussetzung für die Sinneswahrnehmung – in seinen eigenen Worten: eine Anschauungsform des erkennenden Subjekts (Gosztonyi 1976, Bd. 1: 400–456). Kants Raumkonzeption wird in der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskussion häufig abgelehnt, de facto aber beeinflusste der transzendentalphilosophische Ansatz4 die idealistische Philosophie und die Wahrnehmungspsychologie des 19. Jahrhunderts. Darauf wiederum bauen die subjektbezogenen konstruktivistischen Ansätze des 20. Jahrhunderts auf, die davon ausgehen, dass die Räumlichkeit der Wirklichkeit abhängig vom erfahrenden Subjekt ist. Diese subjektbezogenen Ansätze wurden in der Philosophie (vor allem in der Phänomenologie und der Existentialphilosophie) seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet. Doch auch die Anthropologie, die Sozial- bzw. Humangeographie und die Umweltpsychologie ließen nicht lange auf sich warten, um den Wahrnehmungen und Deutungen des Raums höhere Priorität als dem mathematischen oder objektiven Raum einzuräumen. Erkennbar sind diese Konzepte an Begriffen wie Wahrnehmungsraum, Vorstellungsraum, gelebter Raum und Handlungsraum.

Eine interessante Position vertritt Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), der einen Raumbegriff im Kontext der Naturrechtslehre formuliert. Raum definiert sich im Grunde über die Sphäre des Handelns eines Menschen. Diese setzt im Leib eines jeden vernünftigen Wesens an, das in der Welt tätig ist. Die Sphäre des Handelns ist also ein Produkt seines Tuns, dessen Ausdehnung durch »Linienziehen«, durch das Setzen von Unterscheidungen bestimmt ist: »Ebenso geschieht in Linien die Production der Sphäre, von welcher hier die Rede ist, und sie wird dadurch ein Ausgedehntes.« (Fichte 1991: 58). Eine Grenze wird dem Handlungsraum ferner dort gesetzt, wo der Handlungsraum – und damit die Freiheit – eines Anderen eingeschränkt wird. Dort ist der eigene Handlungsanspruch nicht mehr legitim. Wo die Grenze im Konfliktfall gezogen wird, ist dadurch nicht geklärt. Die absolute Grenze aber ist der Leib des Anderen: auf ihn darf ich meine Freiheit nicht ausdehnen (Fichte 1991: 123 f.).

Trotz der Kritik an Newton einerseits und den Arbeiten des Mathematikers Bernhard Riemann an einer höherdimensionalen Geometrie im 19. Jahrhundert andererseits wurde der absolute Raumbegriff in der Physik und Kosmologie endgültig erst durch die Relativitätstheorie Albert Einsteins (1879–1955) aufgehoben. Durch die Integration des Raumbegriffs in ein Raum-Zeit-Materie-Konzept verlor der Raum eigentlich an Bedeutung, das heißt, er wurde dem Feldbegriff untergeordnet. Eine wichtige experimentelle Voraussetzung für Einsteins Relativitätstheorien war die Entdeckung des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, welche mit ca. 300.000 Kilometern pro Sekunde zugleich die maximale Geschwindigkeit überhaupt darstellt. Dass sich Licht mit derselben Geschwindigkeit relativ zu allem ausbreitet, war in dem Moment kein Problem mehr, als Einstein entdeckte, dass auch Raum und Zeit relative Phänomene sind und sich je nach Geschwindigkeit des Betrachters ändern. Die Spezielle Relativitätstheorie (SRT) besagt, dass alle physikalischen Gesetze eines Inertialsystems – das heißt eines Koordinatensystems, in dem sich Körper gleichförmig bewegen – in einem anderen Bezugssystem auch gelten müssen. Diese Invarianz gilt allerdings nur dann, wenn sich die physikalischen Größen nicht auf einen absoluten Raum oder eine absolute Zeit beziehen, sondern immer auf eine Raum-Zeit-Einheit oder deren Relation.

Erst die Allgemeine Relativitätstheorie (ART), welche die Einflüsse inhomogener Gravitationsfelder auf Massen durch die Krümmung einer Raum-Zeit-Geometrie beschreibt, hob die Beschränkung auf die Inertialsysteme und damit auf die gleichförmige Bewegung auf. Der ART zufolge ist die Gravitation durch die geometrische Struktur der Raumzeit (also den Raum mit vier Dimensionen) bedingt. Damit wird zu beschreiben versucht, welche Wirkung die Materie auf die Raumzeit hat, und umgekehrt, welche Auswirkungen die Raumzeit auf die Bewegung der Materie hat. Diese Konzeption der Einheit von Raum (drei Dimensionen), Zeit und Materie war erst auf der Basis des Begriffs des Feldes möglich, der nämlich Raum, Zeit und Materie nicht als nebeneinander existierend voraussetzt, sondern sie erst konstituiert (Gosztonyi 1976, Bd. 1: 595–635; Wertheim 2000: 178–192). Einstein fügte damit dem Sein gewissermaßen eine Zeitkoordinate hinzu. Was er mit seinen Gleichungen zur Relativität zunächst gar nicht beabsichtigte, aber gewissermaßen noch mitlieferte, war eine Theorie für die galaktische Expansion, das heißt den theoretischen Beweis für die Entdeckung Edwin Hubbles, dass sich die Sterne von uns entfernen und dass sich deshalb das Universum ausdehnen müsse.

Was die ART im Detail besagt, ist wahrscheinlich nur für die wenigsten Menschen verständlich, so dass die Raumzeit, also der gekrümmte, vertiefte Raum des Universums, kaum vorstellbar ist. (Die Physiker verwenden dafür häufig das Bild eines Gummituchs, in das eine Massekugel fällt.) Entscheidend für das Raumdenken aber ist, dass damit die Vorstellung von Raum als eines ›Containers‹, in dem sich materielle Elemente befinden, widerlegt werden konnte. Der physikalische wie der kosmische Raum waren keine passive Bühne mehr, sondern ein aktiver Bestandteil des kosmologischen Projekts, auf alle Veränderungen der Materie reagierend – und umgekehrt kann es ohne die Membran des Raums gar keine Materie geben: Raum ist dynamisch, aktiv, expansiv und gekrümmt (das heißt: tief). Die direkten Auswirkungen der Einstein’schen Theorien auf das Alltagsleben sind eher gering einzuschätzen, auf die Physik (nach anfänglichem Zaudern), die Astronomie und die Kosmologie dafür umso größer. Mittelfristige Folgen hatte das neue Raum- und Weltbild schließlich auch für die Produktion von Romanen und Filmen, die im Universum oder in extraterrestrischen Welten spielen. Man sollte aber auch nicht vergessen, dass die Hervorbringung dieser Theorien in eine Zeit fiel, in der sich die Malerei von dreidimensionalen Räumen abwendete und die abstrakte Malerei erfunden wurde.

Die philosophische Konsequenz der Relativitätstheorie aber ist jene, dass in dem unendlichen Raum kein Ort mehr spezieller als der andere ist. Da sich der Raum unendlich ausdehnt, gibt es kein Ziel und keinen Ort, nach dem man streben könnte. Nur im Anfangsmoment des Big Bang steckt so etwas wie ein kosmischer Schöpfungsakt. Ernst Cassirer (1874–1945) hat in seiner Studie zur Einstein’schen Relativitätstheorie schon 1921 gefordert, daraus die Konsequenzen für die Erkenntnistheorie und für die Geschichte zu ziehen (Cassirer 2001: 123 f.). Der russische Altphilologe Michail Bachtin hat mit dem Begriff des Chronotops vorgeschlagen, die Kategorien von Raum und Zeit stärker in der Romananalyse zu berücksichtigen (Bachtin 2008; vgl. dazu Meyer/Rau/Waldner 2017). Auf der Systemebene könne mit dem Begriff erklärt werden, wie in jeder literaturwissenschaftlichen oder kulturellen Epoche Poetik und Ästhetik in einem bestimmten raumzeitlichen Beziehungsrahmen herausgebildet werden. Die Übertragung beruht freilich im Wesentlichen auf einer Analogiebildung zwischen Kosmos und sozialer Welt. Doch in der Regel dürfte auch gelten, dass Nicht-Physiker durch die Lektüre von Romanen besser sehen lernen können (als durch die Lektüre von Einsteins Schriften oder eines Physikbuches), wie Raum und Zeit lebensweltlich zusammenhängen und erst für analytische Zwecke in räumliche und zeitliche Bestimmungen getrennt werden. In der Untersuchung historisch-anthropologischer Konzepte und Praktiken von Raumzeitlichkeit liegt jedenfalls noch ein großes Potential.

Die Geschichte der philosophischen und physikalischen Raumtheorien, die fast immer auch die großen Fragen zur Entstehung der Welt und zur Beschaffenheit von Himmel und Erde, also des Universums betreffen, ist freilich nur eine von vielen Raumgeschichten, die sich erzählen lassen. Erst wenn andere Wissensfelder und vor allem die Praktiken der Akteure – mit ihren oft nicht expliziten Theorien – einbezogen werden, entfaltet sich das ganze mögliche Spektrum der spatial stories.

Raum: Zur deutschen Karriere eines Konzepts

Die Geschichte nur räumlich zu betrachten ist so einseitig, wie sie nur zeitlich zu betrachten. Dass Geschichte in Raum und Zeit stattfindet, wird auch in der Geschichtswissenschaft spätestens nach der Erkenntnistheorie Kants und der Geschichtsphilosophie Herders betont. Zudem spiegelt sich die Einsicht in der praktischen Umsetzung, also in Geschichtsdarstellungen, wider. Es waren freilich vor allem die Weltgeschichten, welche – trotz der zunehmend nationalstaatlichen Engführung, die sich im 19. Jahrhundert ebenso beobachten lässt – geographische oder Weltreiche-Gliederungen vornahmen. Diese lassen sich in der Geschichte beider Indien des Guillaume-Thomas Raynal (1713–1796) ebenso finden wie in Leopold von Rankes (1795–1886) Weltgeschichte in 14 Bänden. Wenn heute – oft im Rückgriff auf Michel Foucault – betont wird, das 19. Jahrhundert sei das Jahrhundert der Zeit gewesen (Foucault 2005: 931), um damit auf den Vorrang zu verweisen, den man angeblich der Zeit vor dem Raum gegeben habe, wird meist übersehen, dass sich dies de facto vor allem auf die Evolutionstheorie und auf geschichtsphilosophische Traktate bezieht oder, eine Stufe tiefer, auf in Lehrbüchern vermittelte Grundsätze.

Lehrbuchmeinung: Ereignisse als Veränderungen in der Zeit

Ernst Bernheim (1850–1942), der teils noch die Einführungsbücher des späten 20. Jahrhunderts prägte, definierte Ereignisse als Veränderungen in der Zeit.

»Es liegt in der Natur des geschichtlichen Stoffes, dass er eine systematische Einteilung nicht ermöglicht. Die charakteristische und allgemeinste Erscheinungsform desselben ist die in zeitlicher Folge, die Ereignisse sind Veränderungen in der Zeit; auf diese Veränderungen lässt sich eine allgemeine, aber keine systematische Einteilung gründen. Die Erscheinungsform im Räumlichen hat für die wissenschaftliche Betrachtung so viel weniger Bedeutung, dass man keine allgemeine Einteilung darauf zu begründen pflegt, sondern sie dem Zeitlichen unterordnet; gewiss kann man unterscheiden Geschichte Europas, Asiens etc. oder Geschichte der alten und der neuen Welt, aber das entspricht sowenig dem wesentlichen Verlauf der Geschichte, der sich nicht in den Grenzen der Erdteile und Volksgebiete hält, dass es einer willkürlichen, lediglich thematischen Begrenzung gleichkommt, wenn man derart scheidet.«

Bernheim 1889: 37

Bernheim sagt hier allerdings keineswegs, dass eine Einteilung nach »Erdteilen« oder »Volksgebieten«, wie dies damals genannt wurde, unmöglich sei; ganz im Gegenteil, denn im weiteren Verlauf führt er aus, dass die Einteilung des Stoffes immer von der Themenwahl abhängig sei. Allerdings geht er davon aus, dass die allgemeinste Einteilung am besten dem zeitlichen Ablauf folge, weil sich Geschichte in dieser Weise ereigne und Historiker den Veränderungen nachgehen sollten.

Parallel zur Etablierung eines zeitlichen Narrativs ist freilich durchaus auch der Raumbegriff beachtet worden – dies allerdings stärker in der Geographie, die sich damals als Disziplin etablierte, als in der Geschichtswissenschaft.

Carl Ritter: Mensch-Natur-Verhältnis

Neben Ortstheorien, Bewegungsräumen und Handlungsräumen bietet die Geschichte der Raumkonzepte auch noch das Konzept des Erdraums oder der sogenannten natürlichen Umwelt, die mit der Entstehung der Geographie als Wissenschaft im 19. Jahrhundert verbunden ist. Die Erfindung des Konzepts fällt in die Zeit der Vermessung der Erdoberfläche, wie sie in geographischen Forschungsreisen sowie in geographischen Anstalten und Verlagen (zum Beispiel Bertuchs »Landes-Industrie-Comptoir« in Weimar oder dem Perthes Verlag in Gotha) zum Ausdruck kam. Die allmähliche Vermessung der Erdoberfläche wie auch die Erforschung des Inneren der nicht-europäischen Kontinente zogen eine metrische Verräumlichung des Weltbildes nach sich (vgl. Lentz/Ormeling 2008; Weigel 2011; Christoph/Breidbach 2011).

Als Gründervater der Erdkunde wird neben Alexander von Humboldt (1769–1859) für den deutschen Sprachraum meist Carl Ritter (1779–1859) genannt. Er hatte ab 1820 bis zu seinem Tod den ersten Lehrstuhl für moderne Geographie an der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin inne. Hier prägte er die Geographie in einer ganz neuen Weise. Um das Tätigkeitsfeld der geographischen Wissenschaft von der Geographie als reiner Beschreibung der Erde, wie sie seit dem 16. Jahrhundert üblich war, abzugrenzen, führte er den Namen »Erdkunde« ein. Was er darunter verstand, deutet sich schon im Titel seines 1817 erstmals erschienenen und in den folgenden 40 Jahren mehrfach überarbeiteten und stark erweiterten Hauptwerks an: Die Erdkunde im Verhältniß zur Natur und zur Geschichte des Menschen, oder allgemeine, vergleichende Geographie, als sichere Grundlage des Studiums und Unterrichts in physikalischen und historischen Wissenschaften (Ritter 1817/1818). Die Erdkunde begriff er physikalisch (vermessend) wie historisch (als Geschichte des Wissens von der physischen Beschaffenheit der Erde und deren Veränderungen). Darüber hinaus solle sich die Geographie aber auch für die Beziehungen zwischen beiden Seiten – in der damaligen Terminologie: zwischen Natur und Kultur – interessieren, also die Einflüsse der physischen Umwelt auf menschliche Aktivitäten untersuchen.

Demnach war Erdkunde zum einen das Studium der Erdoberfläche. Dieses solle sich aber nicht in der Inventarisierung der Orte und lokalisierten Ereignisse erschöpfen, sondern auch das Studium ihrer Verbindungen untereinander einschließen. Das gesamte Programm beruhte vor allem auf empirischer Arbeit, aber Ritters Interesse an räumlichen Beziehungen zeigt auch, dass er den Raum nicht atomistisch konzipierte. Die Erdoberfläche betrachtete Ritter als den großen Referenzrahmen, in welchem sich die Orte ausdifferenzieren und miteinander in Verbindung stehen (Schultz 1980; Werlen 2009: 148 f.). Zum anderen gehörte zu Ritters Verständnis von Erdkunde ein Element, welches in der Folgezeit aus vielen geographischen Schulen verschwand: ihre Verbindung mit der Geschichte. Da sich die Geographie für die Dynamiken der Orte interessieren müsse, für ihre wechselnde Zugänglichkeit und für die relativen Positionen der Orte, gehörten Geschichte und Geographie für ihn eng zusammen; er nahm sogar an, die Geographie sei immer auch eine Geschichte des Raums.

Auf dem Weg zur Universal-Geographie des 19. Jahrhunderts: Physikalische, allgemeine und vergleichende Geographie

Carl Ritter selbst ordnete seine Erdkunde dem Gebiet der historischen oder der »Erfahrungs-Wissenschaften« zu (Ritter 1817, Bd. 1: 20). Das von ihm versammelte Wissen über die Erde ist eine Sammlung von Beobachtungen durch die Zeit, die von den folgenden Generationen immer weiter ergänzt werden müsse.

»Physicalisch wird diese Wissenschaft genannt, weil in ihr von den Naturkräften die Rede ist, in sofern sie im Raume wirken und bestimmte Formen bedingen und Veränderungen hervorbringen. Indeß kann hier nicht bloß von den Wirkungen mechanischer und chemischer, sondern auch von organischen und minder berechneten Kräften und Wirkungen die Rede seyn, die nur in der Zeit sich offenbaren, und auch in verständige und sittliche Naturen eingehen. Darum ist der herkömmliche Ausdruck, physicalische Geographie, als eine zu enge Sphäre des Begriffs, der ungebräuchliche sich ihr mehr annähernde, physiologische Geographie, als zu fremdartig und vielsinnig weggelassen, das Wesen derselben aber durch zwei bezeichnende Ausdrücke angedeutet worden.

Allgemein wird diese Erdbeschreibung genannt, nicht, weil sie Alles zu geben bemühet ist, sondern weil sie ohne Rücksicht auf einen speciellen Zweck, jeden Theil der Erde und jede ihrer Formen, liege sie im Flüssigen oder auf dem Festen, im fernen Welttheil oder im Vaterlande, sey sie der Schauplatz eines Culturvolkes oder eine Wüste, ihrem Wesen nach mit gleicher Aufmerksamkeit zu erforschen bemühet ist: denn nur aus den Grund-Typen kann ein natürliches System hervorgehen.

Vergleichend wir sie zu nennen versucht, in demselben Sinne, in welchem andre vor ihr zu so belehrenden Disciplinen ausgearbeitet worden sind, wie vor allen z. B. die vergleichende Anatomie.

Wir stehen in unserer Kenntniß der einzelnen Stellen des Erdenrunds, wenigstens schon hie und da auf demjenigen Puncte, von welchem aus die Vergleichung analoger Formen und Wirkungsarten derselben möglich und / rathsam ist. Der anschauungsreiche, vielgewanderte Herodotus war es, der diese Idee für die Geographie zuerst angedeutet (II. c. 33), und an derselben Stelle auf das großartigste zur Vergleichung von Libyen und Europa durch den Niger und den Ister [auch: Hister, Unterlauf der Donau, S. R.] angewendet hat.

Mehr belehrend kann so die Anordnung auch des Wenigern werden, als die rastlose Zusammenraffung des Einzelnen, Unverbundnen, das unser Gedächtniß nicht mehr zu behalten vermag, wenn es sich nicht gegenseitig durchdringend in großen Gesetzen und Gruppen, zu Ideen und Anschauungen zusammendrängt. Welcher Gewinn hieraus für die Wissenschaft nach allen Richtungen hervorgehen kann, hat in vielen derselben der Weltbeobachter A. von Humboldt gezeigt, der neue Begründer der vergleichenden Erdbeschreibung. Mit ihr ist für diese Wissenschaft überhaupt ein neues Feld eröffnet, das hier nach schwachen Kräften anzubauen versucht wird. Die spät erst reifende Frucht kann die Universal-Geographie sein.«

Ritter 1817, Bd. 1: 21 f.

In Ritters geographischem Europaentwurf von 1804/07 zeigt sich schon der Übergang von einer beschreibenden zu einer messenden Wissenschaft mit teils detailverliebter Exaktheit, so die Historikerin Iris Schröder (2007). Zum Studium der Erdoberfläche habe für Ritter bereits die genaue Betrachtung der auf der Erdoberfläche agierenden Menschen und der von ihnen geschaffenen »Producte« gehört (ebd.). Zwar ist es noch ein weiter Weg bis zu einer Sozialgeographie des späten 20. Jahrhunderts, aber ein Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur/Umwelt/Raum ist bei Ritter auf jeden Fall schon vorhanden (vgl. auch Goßens 2011).

Im 20. Jahrhundert wurden Ritters Ansatz einer Geo-Geschichte sowie sein Plädoyer für eine Sichtweise von Orten als menschlichen Produkten von den frühen Annales-Historikern, insbesondere Lucien Febvre und Fernand Braudel, aufgegriffen (ebd.; ausführlicher zu geographischen Protagonisten und globalen Geographien des 19. Jahrhunderts: Schröder 2011). Die Weiterentwicklung vom Studium der Erdoberfläche zu einer Frühform gesellschaftlicher Raumforschung finden wir jedoch bereits bei Friedrich Ratzel (1844–1904), dem Begründer der Anthropogeographie.

Friedrich Ratzels Lebensraum

Ratzel, der sich nach einem Studium der Geologie und Zoologie erst langsam der Geographie annäherte (1876 erhielt er eine außerordentliche Professur an der TH München, 1886 den Lehrstuhl für Geographie an der Universität Leipzig), hat ähnlich wie Ritter in ›Wechselwirkungen‹ gedacht, doch ersetzte er den Naturbezug durch den Raumbezug. So wurde nicht zu Unrecht festgestellt, Ratzel sei der erste konsequente Raumdenker in der Geographie gewesen (Mathis Stock: Friedrich Ratzel, in: Lévy/Lussault 2003: 763–765). Betrachten wir seinen Raumbegriff, den er erstmals in dem zweibändigen Werk Anthropogeographie