Raumstation auf der Erde - Clifford D. Simak - E-Book

Raumstation auf der Erde E-Book

Clifford D. Simak

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Beschreibung

Auf der Durchreise

Enoch Wallace ist anders als seine Mitmenschen. Er führt ein zurückgezogenes Leben auf einer einsamen Farm in Wisconsin, trägt ein Gewehr aus dem 19. Jahrhundert mit sich herum und scheint nicht zu altern – ein Umstand, der die Regierung auf ihn aufmerksam werden ließ. Tatsächlich ist Enoch der letzte Überlebende des Amerikanischen Bürgerkriegs – und leitet seit gut einhundert Jahren eine Durchgangsstation, in der Aliens auf ihren Reisen zwischen den Sternen Halt machen. Doch die Unsterblichkeit ist alles andere als ein Geschenk: Enoch hat längst erkannt, dass der Menschheit nicht mehr viel Zeit bliebt, um ihrer drohenden Vernichtung zu entgehen. Zwar besteht noch eine kleine Chance auf Rettung, doch die könnte sich ebenso gut als Todesstoß erweisen …

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Seitenzahl: 261

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CLIFFORD D. SIMAK

RAUMSTATION

AUF DER ERDE

Roman

Das Buch

Enoch Wallace ist anders als seine Mitmenschen. Er führt ein zurückgezogenes Leben auf einer einsamen Farm in Wisconsin, trägt ein Gewehr aus dem 19. Jahrhundert mit sich herum und scheint nicht zu altern – ein Umstand, der die Regierung auf ihn aufmerksam werden ließ. Tatsächlich ist Enoch der letzte Überlebende des Amerikanischen Bürgerkriegs – und leitet seit gut einhundert Jahren eine Durchgangsstation, in der Aliens auf ihren Reisen zwischen den Sternen Halt machen. Doch die Unsterblichkeit ist alles andere als ein Geschenk: Enoch hat längst erkannt, dass der Menschheit nicht mehr viel Zeit bliebt, um ihrer drohenden Vernichtung zu entgehen. Zwar besteht noch eine kleine Chance auf Rettung, doch die könnte sich ebenso gut als Todesstoß erweisen …

Der Autor

Clifford D. Simak, geboren 1904 in Millville, Wisconsin, arbeitete nach dem Studium bis zu seiner Rente 1976 als Zeitungsjournalist. Seit er als Kind die Romane von H. G. Wells gelesen hatte, interessierte Simak sich für die Science-Fiction. Er begann Anfang der Dreißigerjahre, seine ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten in den Magazinen von Hugo Gernsback, vor allem in Wonder Stories und später in Astounding

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Titel der Originalausgabe

WAY STATION

Aus dem Amerikanischen von Tony Westermayr

Überarbeitete Neuausgabe

© der Originalausgabe 1963 by Clifford D. Simak

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

1

Der Lärm hatte endlich aufgehört. Gleich dünnen, grauen Nebelschleiern trieben Rauchfetzen über der gequälten Erde, über den zerschlagenen Zäunen, den Birnbäumen dahin, die das Geschützfeuer zu Zahnstochern abgespant hatte. Für einen Augenblick senkte sich Stille, wenn schon nicht Frieden, auf diese Landschaft, wo kurz zuvor noch Menschen mit der Wildheit alten Hasses übereinander hergefallen waren, um endlich erschöpft voneinander abzulassen.

Eine Ewigkeit lang, so schien es, war der Donner von Horizont zu Horizont gerollt, die gichtige Erde hatte sich dem Himmel entgegengeworfen, Schreie von Pferden, heiseres Brüllen der Menschen, sirrendes Metall, dumpfer Aufprall und abrupt verstummendes Pfeifen, hochzuckende Flammen, glitzernder Stahl, knatternde Fahnen im Wind der Schlacht.

Dann war alles zu Ende, und es wurde still.

Aber auch das Schweigen hatte an diesem Tag, auf diesem Feld, nichts zu suchen; Wimmern und Stöhnen, der Schrei nach Wasser, das Gebet um den Tod herrschten – Weinen, Rufen und Jammern, stundenlang – unter der Sommersonne. Später würden die kauernden Gestalten verstummen, und ein Geruch sollte sein, den keiner vergessen konnte, und die Gräber würden flache Gräber sein.

Da war Weizen, den keiner erntete, da waren Bäume, die auch im nächsten Frühling nicht blühen würden, und auf dem Hangland die unausgesprochenen Worte, die ungeschehenen Taten und die triefenden Bündel, Leere und Verschwendung des Todes hinausschreiend.

Da waren stolze Namen, stolzer klingend als zuvor, nicht mehr als Namen jetzt, hallend durch die Zeiten – die Eiserne Brigade, das 5. Regiment von New Hampshire, das 1. von Minnesota, das 2. von Massachusetts, das 16. von Maine.

Und da war noch Enoch Wallace.

Er hielt die zerschossene Muskete, seine Hände waren übersät mit Blasen. Sein Gesicht pulvergeschwärzt. Die Schuhe bedeckt mit Staub und Blut.

Er war noch am Leben.

2

Dr. Erwin Hardwicke rollte den Bleistift zwischen den Handflächen hin und her, eine störende Angewohnheit. Er sah den Mann vor seinem Schreibtisch forschend an.

»Ich verstehe nur nicht, warum Sie zu uns kommen«, sagte er.

»Na ja, immerhin seid ihr die Nationalakademie, und ich dachte …«

»Und Sie gehören zum Geheimdienst.«

»Hören Sie, Doktor, wenn es Ihnen so lieber ist, betrachten wir diesen Besuch als inoffiziell. Tun wir so, als sei ich ein verwirrter Mann von der Straße, der sich bei Ihnen Aufklärung erhofft.«

»Ich würde Ihnen ja gerne behilflich sein, sehe aber keinen Weg. Die ganze Geschichte ist so nebelhaft und hypothetisch.«

»Menschenskind«, sagte Claude Lewis, »Sie können doch mein Beweismaterial nicht widerlegen – das bisschen, was ich habe.«

»Na schön«, sagte Hardwicke, »fangen wir noch einmal von vorne an und nehmen wir alles langsam durch. Sie sagen, Sie haben diesen Mann …«

»Er heißt Enoch Wallace«, unterbrach ihn Lewis. »Chronologisch ist er hundertvierunddreißig Jahre alt. Er wurde am 22. April 1840 auf einer Farm, wenige Kilometer von Millville, Wisconsin, geboren und ist das einzige Kind von Jedediah und Amanda Wallace. Als Abraham Lincoln die Freiwilligen aufrief, meldete er sich als einer der ersten. Er diente bei der Eisernen Brigade, die in der Schlacht von Gettysburg 1863 nahezu völlig aufgerieben wurde. Aber Wallace gelang es irgendwie, sich zu einer anderen Einheit versetzen zu lassen, und er kämpfte unter General Grant in ganz Virginia. Bei Appomatox erlebte er das Ende mit …«

»Sie haben ihn überprüft.«

»Ich habe mir seine Unterlagen herausgesucht. Den Eintrag über seine Meldung im Kapitol in Madison. Das übrige, einschließlich der Entlassungsverfügung, hier in Washington.«

»Sie sagten, er sähe aus wie Dreißig.«

»Keinen Tag älter. Vielleicht nicht einmal so alt.«

»Aber Sie haben nicht mit ihm gesprochen.«

Lewis schüttelte den Kopf. »Das dachte ich auch, als ich den Auftrag erhielt.«

»Wieso kam es eigentlich dazu? Wie wird der Geheimdienst auf solche Dinge aufmerksam?«

»Ich gebe zu, dass es ein bisschen ungewöhnlich ist«, erwiderte Lewis. »Aber bei den vielen Konsequenzen …«

»Unsterblichkeit, meinen Sie.«

»Daran haben wir vielleicht auch gedacht. An die Chance. Aber nur nebenbei. Es gab noch andere Überlegungen. Eine höchst eigenartige Geschichte, um die man sich kümmern musste.«

»Aber der Geheimdienst …«

Lewis grinste. »Sie meinen, warum kein wissenschaftliches Institut? Vom Standpunkt der Logik aus haben Sie vielleicht recht. Aber es war einer von unseren Leuten, der auf die Sache stieß. Er machte Urlaub bei Verwandten in Wisconsin. Nicht in der bewussten Gegend, aber fünfzig Kilometer entfernt. Er hörte ein Gerücht – nur eine beiläufige Bemerkung. Er fragte ein bisschen herum. Viel bekam er nicht heraus, aber es war immerhin genug, um ihn glauben zu lassen, an der Sache könne etwas dran sein.«

»Das ist es ja, was ich nicht begreife«, sagte Hardwicke. »Wie kann ein Mann in ein und derselben Gegend hundertvierunddreißig Jahre leben, ohne eine Berühmtheit zu werden, aller Welt bekannt? Können Sie sich vorstellen, was die Zeitungen daraus machen würden!«

»Mir wird übel, wenn ich nur daran denke«, gestand Lewis.

»Sie haben mir noch nicht erklärt, wie so etwas möglich ist.«

»Es lässt sich schwer erklären«, gab Lewis zu. »Sie müssten das Land und seine Bewohner kennen. Die südwestliche Ecke Wisconsins wird von zwei Flüssen begrenzt, dem Mississippi im Westen und dem Wisconsin im Norden. Dazwischen flaches, weites Prärieland, fruchtbares Land mit wohlhabenden Farmen und Städten. Aber das Land ist rau und unfreundlich; hohe Berge, tiefe Schluchten und gewisse Gegenden, die Buchten oder Taschen bilden und isoliert sind. Die Straßen sind kaum ausgebaut, und die kleinen Farmen gehören Leuten, die den Pioniertagen des vergangenen Jahrhunderts vielleicht näherstehen als dem zwanzigsten. Sie haben natürlich Autos und Radios und eines Tages vielleicht sogar Fernsehen. Aber ihre Einstellung ist konservativ und familienbewusst – gewiss, das gilt nicht für alle, nicht einmal für sehr viele, sondern nur für diese kleinen isolierten Bezirke.

Früher gab es in diesen abgelegenen Tälern viele Farmen, aber heutzutage kann man sich dort kaum sein Brot verdienen. Die Leute werden durch die wirtschaftlichen Umwälzungen langsam vertrieben. Sie verkaufen ihre Farmen für das, was sie gerade dafür bekommen, und ziehen fort, zumeist in die Großstadt, wo es mehr zu verdienen gibt.«

Hardwicke nickte. »Und die Zurückbleibenden sind natürlich die Konservativsten und Halsstarrigsten.«

»Richtig. Das Land gehört jetzt zum größten Teil Leuten, die gar nicht dort wohnen und es auch nicht bebauen. Sie lassen vielleicht ein paar Rinder dort weiden, aber das ist auch alles. Für Abschreibungen bei der Steuer mag das ganz gut sein.«

»Sie wollen mir weismachen, dass diese Hinterwäldler – so nennt man sie doch wohl? – eine Verschwörung des Schweigens beschlossen haben?«

»So krass kann man das nicht sehen«, meinte Lewis. »Es gehört einfach zu ihrer Art, als Überbleibsel der alten, nüchternen Denkweise. Sie kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Sie wünschten nicht, dass man sie belästigte, und sie ließen ihre Mitmenschen in Ruhe. Wenn jemand Lust hatte, tausend Jahre alt zu werden, dann konnte man das vielleicht bestaunen, aber es war seine Sache. Und wenn er alleine leben und in Ruhe gelassen werden wollte, während er sich damit abplagte, dann war das gleichfalls seine Sache. Sie besprachen das vielleicht untereinander, aber vor Fremden erwähnte man das Thema nicht. Sie hätten jeden Außenseiter scheel angesehen, der davon anfangen wollte.

Nach einer Weile fand man sich wohl damit ab, dass Wallace jung blieb, während alle anderen alt wurden. Der Reiz der Neuheit verlor sich, und man sprach kaum noch darüber, auch dann nicht, wenn man unter sich war. Neue Generationen akzeptierten es, weil die Älteren darin nichts allzu Ungewöhnliches erblickten – und im Übrigen sah man Wallace kaum, weil er ganz für sich blieb.

Und in der weiteren Umgebung galt das Ganze, wenn man überhaupt daran dachte, als Legende – als verrückte Geschichte, um die zu kümmern sich nicht lohnte. Vielleicht war das Ganze nur ein Spaß von den Leuten, ohne jeden Wahrheitskern. Man hätte sich lächerlich gemacht, wäre man der Sache nachgegangen.«

»Aber Ihr Kollege hat doch auch nachgeforscht.«

»Ja. Fragen Sie mich nicht nach dem Grund.«

»Er wurde aber nicht beauftragt, sich weiter darum zu kümmern.«

»Man brauchte ihn anderswo. Außerdem kannte man ihn dort.«

»Und Sie?«

»Es hat zwei Jahre Arbeit gekostet.«

»Aber jetzt kennen Sie die Geschichte.«

»Nicht alles. Jetzt sind viel mehr Fragen offen als am Anfang.«

»Sie haben den Mann gesehen.«

»Oft«, sagte Lewis. »Aber ich habe nie mit ihm gesprochen. Ich glaube nicht einmal, dass er mich je gesehen hat. Er macht jeden Tag einen Spaziergang, bevor er die Post holt. Er verlässt die Gegend nie, verstehen Sie? Der Postbote bringt, was er braucht. Einen Sack Mehl, ein Pfund Speck, ein Dutzend Eier, Zigarren und gelegentlich Alkohol.«

»Das verstößt doch gegen die Postvorschriften.«

»Sicher. Aber die Postboten treiben das schon immer so. Es tut keinem weh, bis sich jemand aufregt. Und das wird niemand wollen. Die Postboten sind vermutlich die einzigen Bekannten, die er je gehabt hat.«

»Mit dem Boden gibt sich dieser Wallace wohl nicht sehr viel ab?«

»Überhaupt nicht. Er hat einen kleinen Gemüsegarten, mehr bebaut er nicht. Das Ganze ist ziemlich verwildert.«

»Er muss aber doch leben. Er muss irgendwoher Geld bekommen.«

»Das tut er«, sagte Lewis. »Alle fünf oder zehn Jahre schickt er eine Handvoll Edelsteine an eine Firma in New York.«

»Gesetzlich?«

»Wenn Sie damit meinen, ob die Steine gestohlen sind, nein, das glaube ich nicht. Natürlich entspricht nicht alles dem Buchstaben der Bestimmungen, wenn man es genau nimmt. Zu Anfang, als er die ersten schickte, war noch alles in Ordnung. Aber die Gesetze wurden geändert, und ich nehme an, dass er und der Käufer gegen eine ganze Reihe davon verstoßen haben.«

»Und das stört Sie nicht?«

»Ich habe die Firma überprüft. Man war reichlich nervös«, erklärte Lewis. »Sie hatten Wallace maßlos übers Ohr gehauen, das ist ein Punkt. Ich wies sie an, weiterhin zu kaufen. Falls jemand auftauchen und Nachforschungen anstellen sollte, werden sie diese Person direkt an mich verweisen. Ich verlangte im Übrigen, man möge den Mund halten und alles beim alten lassen.«

»Sie wollen vermeiden, dass ihn jemand erschreckt«, sagte Hardwicke.

»Da haben Sie recht, das will ich vermeiden. Ich möchte, dass der Postbote weiterhin den Lieferjungen spielt und die New Yorker Firma Edelsteine kauft. Alles soll bleiben, wie es ist. Und bevor Sie mich fragen, woher die Steine stammen, will ich Ihnen gleich sagen, dass ich das nicht weiß.«

»Vielleicht hat er eine Mine.«

»Selbst bei den mäßigen Preisen, die man ihm dafür bezahlt, müsste er ein anständiges Einkommen erzielen.«

Lewis nickte. »Anscheinend schickt er nur eine neue Lieferung, sobald ihm das Bargeld ausgeht. Er braucht sicher nicht viel. Er lebt recht einfach, nach den Nahrungsmitteln zu schließen, die er einkauft. Aber er hat eine Menge Tageszeitungen, Nachrichtenmagazine und Dutzende von wissenschaftlichen Zeitschriften abonniert und kauft viele Bücher.«

»Technische Werke?«

»Zum Teil sicher, aber er unterrichtet sich vor allem über die neueste Entwicklung. Physik, Chemie, Biologie – in dieser Richtung.«

»Aber ich verstehe nicht …«

»Klar. Ich auch nicht. Er ist kein Wissenschaftler. Zumindest hat er kein Studium hinter sich. Damals, als er noch zur Schule ging, wurde nicht sehr viel geboten – nicht im Sinn der heutigen wissenschaftlichen Ausbildung. Und was er da auch gelernt haben mag, wäre jetzt so ziemlich wertlos. Er besuchte die Volksschule – einklassig, wie es damals auf dem Land üblich war – und brachte einen Winter an einer sogenannten Akademie zu, die in Millville ein oder zwei Jahre lang bestand. Für den Fall, dass Sie nicht Bescheid wissen: das war in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine ganze Menge. Anscheinend war er ein recht intelligenter Bursche.«

Hardwicke schüttelte den Kopf. »Klingt unglaublich. Sie haben alles nachgeprüft?«

»So gut es ging. Ich musste vorsichtig sein. Schließlich sollte niemand dahinterkommen. Übrigens, beinahe hätte ich es vergessen – er schreibt sehr viel. Er kauft große, gebundene Bücher im Dutzend und Tinte literweise.«

Hardwicke stand auf und begann hin und her zu gehen.

»Lewis«, sagte er, »wenn Sie mir nicht Ihre Ausweise gezeigt hätten, müsste ich das Ganze für einen schlechten Witz halten.«

Er ging zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. Er nahm den Bleistift und begann ihn wieder zwischen den Handflächen hin und her zu rollen.

»Sie bearbeiten den Fall jetzt seit zwei Jahren«, meinte er. »Sie haben keine Ahnung?«

»Nichts«, sagte Lewis. »Ich verstehe nicht das geringste. Deswegen bin ich ja hier.«

»Erzählen Sie mir mehr von ihm. Aus der Zeit nach dem Krieg.«

»Seine Mutter starb während seiner Abwesenheit«, berichtete Lewis. »Sein Vater und die Nachbarn begruben sie im privaten Friedhof. Das war damals so üblich. Der junge Wallace bekam Heimaturlaub, traf aber nicht rechtzeitig ein. Die Einbalsamierung war damals nicht sehr weit verbreitet, und das Reisen ging langsam. Nachher kehrte er in den Krieg zurück. Soweit ich feststellen konnte, war das sein einziger Urlaub. Der Vater lebte allein und bestellte die Farm. Soweit sich das noch klären lässt, muss er ein guter, für die damalige Zeit sogar ausgezeichneter Farmer gewesen sein. Er ließ sich Agrarzeitschriften kommen und hatte moderne Ansichten. Er befasste sich mit Dingen wie Mehrfelderwirtschaft und Erosionsverhütung. Die Farm war nach modernen Gesichtspunkten nichts Besonderes, aber er konnte davon leben und sogar ein bisschen beiseitelegen.

Dann kam Enoch vom Krieg zurück, und sie betrieben die Farm ungefähr ein Jahr lang gemeinsam. Der alte Mann kaufte einen Mäher – einen dieser von Pferden gezogenen Apparate mit einer Sichelschneide für Heu oder Korn. Das war sehr fortschrittlich. Eine Sense kam dagegen nicht auf.

Eines Nachmittags fuhr der Alte hinaus, um ein Feld abzumähen. Die Pferde gingen durch. Irgendetwas muss sie erschreckt haben. Enochs Vater wurde vom Sitz geworfen, unmittelbar vor die Sichel. Kein schöner Tod.«

Hardwicke schnitt eine Grimasse. »Scheußlich«, sagte er.

»Enoch ging hinaus und trug die Leiche ins Haus. Dann ergriff er ein Gewehr und suchte die Pferde. Er fand sie am Feldrain, schoss sie nieder und ließ sie liegen. Buchstäblich. Jahrelang lagen ihre Skelette dort, wo er sie umgebracht hatte, an den Mäher angeschirrt, bis das Leder verrottete.

Dann ging er ins Haus zurück und bahrte seinen Vater auf. Er wusch ihn, zog ihm den guten schwarzen Anzug an, legte den Toten auf ein Brett und schreinerte in der Scheune einen Sarg. Schließlich hob er neben dem Grab seiner Mutter ein neues Grab aus. Er wurde bei Laternenlicht fertig, ging ins Haus zurück und hielt bei seinem Vater Totenwache. Als der Morgen kam, machte er sich auf den Weg, um den nächsten Nachbarn zu verständigen, dieser sagte den anderen Bescheid, und man holte einen Geistlichen. Am späten Nachmittag fand das Begräbnis statt, und Enoch kehrte ins Haus zurück. Seither lebt er dort, aber das Land bestellt er nicht mehr. Das heißt, wenn man vom Garten absieht.«

»Sie sagten vorhin, die Leute sprechen nicht mit Fremden. Sie scheinen mir aber sehr viel herausgefunden zu haben.«

»Hat auch zwei Jahre gedauert. Ich musste mich heranarbeiten. Ich kaufte mir ein schäbiges Auto, streunte durch Millville und ließ durchblicken, dass ich ein Ginseng-Jäger sei.«

»Ein was?«

»Ein Ginseng-Jäger. Ginseng ist eine Pflanze.«

»Ja, das weiß ich. Aber seit Jahren gibt es keinen Markt mehr dafür.«

»In kleinem Umfang doch, wenn auch nur von Zeit zu Zeit. Manche Exportfirmen nehmen Ginseng ab. Aber ich suchte auch nach anderen Heilpflanzen und spiegelte ein enormes Wissen über sie und ihre Wirkungen vor. Das heißt, so geschwindelt war das gar nicht. Ich hatte mich eingehend damit befasst.«

»Ein simpler Mensch also«, meinte Hardwicke, »den diese Leute verstehen konnten. So eine Art Wurzelmann. Und harmlos dazu. Vielleicht nicht ganz richtig im Kopf.«

Lewis nickte. »Es klappte sogar besser, als ich erwartet hatte. Ich wanderte herum, und die Leute unterhielten sich mit mir. Ich fand sogar ein bisschen Ginseng. Eine Familie vor allem – die Fishers. Sie wohnt im Flusstal unter der Wallace-Farm, die auf einem Hügel über den Felsen steht. Die Fishers wohnen dort beinahe schon so lange wie die Wallaces, sind aber von ganz anderer Art. Sie sind eine Sippe von Waschbärjägern, Fischern und Schnapsbrennern. Sie fanden eine verwandte Stelle in mir. Ich war genauso unzuverlässig und haltlos wie sie. Ich half ihnen mit dem Schnaps, beim Brennen und beim Trinken und ab und zu beim Verkaufen. Ich ging fischen und jagen mit ihnen, und ich saß herum und erzählte, und sie zeigten mir ein paar Stellen, wo Ginseng zu finden sein musste – ›Sang‹ nennen sie ihn. Ein Soziologe hätte seine Freude an den Fishers. Da gibt es ein Mädchen – taubstumm, aber sehr hübsch, und sie kann Warzen wegzaubern …«

»Ich kenne den Typ«, sagte Hardwicke. »Ich bin im Gebirge geboren und aufgewachsen.«

»Sie erzählten mir von dem Gespann und dem Mäher. Eines Tages stieg ich hinauf zum Weideland Wallaces und grub ein bisschen. Ich fand einen Pferdeschädel und ein paar andere Knochen.«

»Aber keinen Beweis dafür, dass es sich um eines der Pferde von Wallace handelte.«

»Vielleicht nicht«, sagte Lewis. »Ich fand aber auch Reste des Mähers. Viel war nicht übriggeblieben, aber es reichte.«

»Kommen wir wieder zur Geschichte«, meinte Hardwicke. »Nach dem Tod seines Vaters blieb Enoch auf der Farm. Er ging nie weg.«

Lewis schüttelte den Kopf. »Er lebt im selben Haus. Nicht das geringste ist verändert worden. Und das Haus scheint ebenso wenig gealtert zu sein wie der Besitzer.«

»Sie sind im Haus gewesen?«

»Nicht im Innern. Ich will Ihnen erzählen, wie es war.«

3

Er hatte eine Stunde Zeit. Er wusste, dass ihm eine Stunde blieb, denn er hatte Enoch Wallaces Schritte während der letzten zehn Tage mit der Uhr verfolgt. Von der Zeit, da er das Haus verließ, bis er mit der Post zurückkam, war nie weniger als eine Stunde vergangen. Manchmal ein bisschen mehr, wenn sich der Postbote verspätete oder sie ins Plaudern gerieten. Aber auf mehr als eine Stunde, sagte sich Lewis, durfte er nicht rechnen.

Wallace war hinter dem Grat verschwunden, unterwegs zu einem Felsgebilde hoch über der Wand, an der tief unten der Wisconsin-River dahinströmte. Er würde hinaufklettern und stehenbleiben, die Flinte unter dem Arm, um über die Wildnis des Flusstals hinauszustarren. Dann würde er wieder hinuntersteigen und den baumbestandenen Pfad entlanggehen, wo in der richtigen Jahreszeit rosiger Frauenschuh wuchs, und von dort wieder den Berg hinauf zur Quelle, die knapp unter dem seit über einem Jahrhundert brachliegenden Feld hervorsprudelte, und dann den Hang entlang, bis er zu der fast völlig überwachsenen Straße kam; von dort hinunter ging er zum Briefkasten.

In den zehn Tagen, seit Lewis ihn beobachtete, war er von dieser Route nie abgewichen. Es sprach einiges dafür, sagte sich Lewis, dass sie die ganzen Jahre hindurch gleichgeblieben war. Wallace beeilte sich nicht. Er schlenderte dahin, als habe er Zeit im Überfluss. Unterwegs blieb er stehen, um die Bekanntschaft mit alten Freunden zu erneuern – bei einem Baum, einem Eichhörnchen, einer Blume. Er war ein robuster Mann und hatte immer noch einiges vom Soldaten an sich – alte Gewohnheiten, übriggeblieben aus den bitteren Jahren des Kampfes. Er trug den Kopf hoch, hielt die Schultern gerade und bewegte sich mit dem geübten Schritt eines Menschen, der viele harte Märsche hinter sich hat.

Lewis trat aus dem verfilzten Unterholz, das früher ein Obstgarten gewesen war, in dem ein paar Bäume, verkrümmt und knorrig, grau vor Alter, immer noch armselige und bittere Äpfel trugen.

Er blieb am Rand der Waldung stehen, starrte das Haus oben auf dem Grat an, und für einen einzigen Augenblick schien es ihm, als stünde das Haus in einem besonderen Licht, als habe eine seltene und stärker konzentrierte Essenz der Sonne den Abgrund des Weltraums überbrückt, um dieses Haus zu bescheinen und es von allen anderen Häusern in der Welt zu scheiden. Gebadet in diesem Licht, wirkte das Haus irgendwie unirdisch, als stehe es wirklich ganz für sich, etwas Einmaliges und Besonderes. Dann war das Licht, wenn es wirklich existiert hatte, verschwunden, und das Haus teilte sich in das allgemeine Sonnenlicht über Feldern und Wald.

Lewis schüttelte den Kopf und erklärte sich, dass das Albernheit oder eine Sinnestäuschung gewesen sein musste. Denn es gab keinen ›besonderen‹ Sonnenschein, und das Haus war nicht mehr als ein Haus, wenn auch wunderbar erhalten.

Es war ein Haus, wie man es in diesen Tagen nicht allzu oft sah: rechteckig, lang, schmal und hoch, mit altmodischen Ornamenten an Dachrinnen und Giebeln. Es zeigte eine gewisse ›Hagerkeit‹, die nichts mit Alter zu tun hatte; es war schon am Tag seiner Entstehung ›hager‹ gewesen – hager, einfach und stark wie die Leute, die es beherbergte. Trotz seiner Hagerkeit stand es ordentlich und sauber da, nirgends blätterte Farbe ab, nirgends war Verwitterung oder Verfall zu erkennen.

An einer Schmalseite ein kleines Gebäude, nicht mehr als ein Schuppen, wie ein fremdartiges Gefüge, das man von anderswo herangekarrt und an das Haus geschoben hatte, die Eingangstür an der Seite bedeckend. Die Tür zur Küche vielleicht, dachte Lewis. Der Schuppen war sicherlich zum Trocknen von Wäsche, zur Aufbewahrung von Überschuhen und Stiefeln verwendet worden, mit einer Bank für Milchkannen und Eimer, vielleicht auch mit einem Korb für die Eier. Oben ragte ein Ofenrohr heraus, etwa ein Meter lang.

Lewis ging zum Haus, um den Schuppen herum, und dort, in der Seitenwand, stand eine Tür offen. Er trat auf die Schwelle, stieß die Tür weit auf und starrte den Raum entgeistert an.

Das war kein simpler Schuppen, sondern Wallaces Behausung.

Der Ofen, dessen Rohr das Schuppendach überragte, stand in einer Ecke, ein uralter Kochofen, kleiner als die altmodischen Küchenherde. Auf der Platte eine Kaffeekanne, eine Bratpfanne und ein Kuchenblech. Dahinter an einem Brett mit Haken andere Küchenutensilien. Dem Ofen gegenüber, an der Wand, ein kleines Himmelbett, bedeckt mit einer schweren Steppdecke. In einer anderen Ecke Tisch und Stuhl und über dem Tisch an der Wand ein kleiner offener Schrank mit Geschirr. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe, vom langen Gebrauch verbeult, aber mit sauberem Zylinder, als sei sie erst heute früh gewaschen und poliert worden.

Es gab keine Tür, die ins Innere des Hauses führte, kein Anzeichen, dass je eine Tür gewesen war. Die Schindelbretter der Außenwand des Hauses bildeten, ohne Unterbrechung, die vierte Schuppenwand.

Das kann doch einfach nicht sein, sagte sich Lewis, dass da keine Tür war, dass Wallace hier lebte, in diesem Schuppen, obwohl ein Haus zu bewohnen war. Als gäbe es irgendeinen Grund, warum er das Haus nicht betreten durfte, aber doch in seiner Nähe bleiben musste. Vielleicht diente er hier eine Buße ab wie ein Eremit in seiner Höhle.

Lewis stand in der Mitte des Schuppens und schaute sich um, in der Hoffnung, einen Hinweis auf diesen ungewöhnlichen Umstand zu finden. Aber da war nichts außer der nackten, harten Tatsache des Lebens, den einfachsten Lebensnotwendigkeiten – der Ofen, um Essen zu kochen und den Raum warmzuhalten, das Bett zum Schlafen, der Tisch zum Essen und die Lampe für das Licht. Nicht einmal ein zweiter Hut – obwohl Wallace nie Hüte trug, wenn er sich recht erinnerte, oder ein zweiter Mantel.

Kein Anzeichen von Magazinen oder Zeitungen, dabei kam Wallace vom Briefkasten nie mit leeren Händen zurück. Er hatte die New York Times, das Wall Street Journal, den Christian Science Monitor, und den Washington Star abonniert, abgesehen von vielen wissenschaftlichen und technischen Zeitschriften. Aber sie waren nirgends zu sehen, auch keines von den zahlreichen Büchern, die er sich gekauft hatte. Auch die gebundenen Tagebücher waren nicht da. Nichts, worauf man hätte schreiben können.

Vielleicht war dieser Schuppen aus irgendeinem erstaunlichen Grund nicht mehr als ein Schaukasten, sagte sich Lewis, ein sorgfältig ausgestatteter Raum, um den Glauben zu erwecken, hier lebe Wallace. Vielleicht wohnte er doch im Haus. Aber warum dann diese sichtlich erfolglose Mühe, andere glauben zu lassen, dem sei nicht so?

Lewis verließ den Schuppen. Er ging um das Haus herum, bis er die Veranda erreichte, über die man zur Eingangstür kam. An der Holztreppe blieb er stehen, schaute sich um. Es war still. Die Sonne stand halbhoch am Himmel, es wurde warm, und dieser verborgene Erdenwinkel wartete ruhig und schweigend auf die Hitze.

Er sah auf die Uhr. Noch vierzig Minuten. Er stieg die kleine Treppe hinauf und überquerte die Veranda. Er streckte die Hand aus, ergriff den Türknauf und drehte – aber er drehte ihn nicht; der Knauf blieb, wo er war, und seine gekrümmten Finger rutschten in der Drehung halb herum.

Entgeistert versuchte er es wieder, konnte aber auch jetzt den Knauf nicht drehen. Es war, als sei der Knauf mit einem harten, glatten Überzug bedeckt, wie aus sprödem Eis, auf dem die Finger abglitten, ohne Druck auf den Knauf auszuüben.

Er beugte den Kopf zum Knauf herab und versuchte festzustellen, ob sich ein Überzug nachweisen ließ, aber das war nicht der Fall. Der Knauf wirkte ganz alltäglich – zu alltäglich vielleicht. Denn er war sauber, als habe man ihn abgewischt und poliert. Nicht ein Stäubchen zeigte sich, kein Wetterfleck.

Er kratzte mit dem Daumennagel daran, aber der glitt ab und hinterließ keine Spur. Er fuhr mit der Handfläche über die Tür, und das Holz war schlüpfrig glatt. Die Hand verursachte keine Reibung. Sie glitt am Holz entlang, als sei sie eingeschmiert, aber von Öl oder Schmierfett war nichts zu bemerken. Es gab nichts, worauf sich die Schlüpfrigkeit der Tür zurückführen ließ.

Lewis trat zur Wand und versuchte es dort. Auch die Schindelbretter waren eisglatt. Er probierte Handfläche und Daumennagel daran aus, mit demselben Ergebnis. Irgendetwas bedeckte dieses Haus und machte es glatt und schlüpfrig – so glatt, dass der Staub sich nicht hielt, dass das Wetter keine Spuren hinterließ.

Er ging auf der Veranda zu einem Fenster, und als er davorstand, fiel ihm etwas auf, das er vorher nicht bemerkt hatte, etwas, das dieses Haus hagerer erscheinen ließ als es in Wirklichkeit war. Die Fenster waren schwarz. Es gab keine Vorhänge, keine Gardinen, keine Läden; sie waren ganz einfach schwarze Rechtecke.

Er trat näher ans Fenster und presste sein Gesicht an die Scheibe, beschattete die Augen mit den Händen, um das Sonnenlicht abzuwehren. Aber auch so vermochte er nicht in den Raum hineinzusehen. Er starrte in formlose Schwärze, und diese Schwärze spiegelte nichts wider. Er konnte sich im Glas nicht sehen. Er sah nur die Schwärze, als sauge das Fenster alles Licht in sich hinein, um es nie mehr freizugeben.

Er verließ die Veranda und ging langsam um das Haus herum. Alle Fenster waren ausdruckslose schwarze Tiefen, und die Außenwände erwiesen sich als glatt und hart.

Er schlug mit der Faust auf die Bretter, und es war, als schlüge er gegen Fels. Er untersuchte die Steinwände des Kellers, wo sie hervortraten, und auch sie waren glatt und schlüpfrig. Zwischen den Steinen zeigten sich Mörtellücken, und die Ziegel selbst waren uneben, aber die Hand tastete keine Rauheit.

Etwas Unsichtbares war über die Rauheit des Steines gelegt, gerade genug, um die Vertiefungen und unebenen Flächen auszufüllen. Aber man konnte es nicht finden. Es war beinahe, als besitze es keine Substanz.

Lewis richtete sich auf und schaute auf die Uhr. Nur noch zehn Minuten. Er musste sich auf den Weg machen.

Er ging den Hügel hinunter zum Obstgarten. Dort blieb er stehen und schaute sich um. Jetzt wirkte das Haus ganz anders. Es war nicht mehr einfach ein Bau. Es hatte Charakter, ein höhnendes tückisches Aussehen und bösartiges Kichern schien in ihm hochzuquellen.

Lewis tauchte ins Unterholz und arbeitete sich zwischen den Bäumen hindurch. Es gab keinen Weg, Gras und Unkraut wucherten unter den Bäumen hoch. Er duckte sich unter die herabhängenden Äste und umrundete einen Baum, der vor vielen Jahren durch einen Sturm entwurzelt worden war.

Er griff hinauf im Vorbeigehen, pflückte hier und dort einen Apfel, kümmerliche, saure Früchte, biss in jeden einmal hinein, um ihn dann wegzuwerfen; denn keiner war essbar, als hätten sie aus der vernachlässigten Erde nichts als Bitterkeit aufgenommen.

An der anderen Seite des Obstgartens fand er den Zaun und die Gräber, die er umschloss. Hier wuchsen Unkraut und Gras nicht so hoch, und der Zaun war erst kürzlich ausgebessert worden. Vor jedem Grab, den drei grobbehauenen Grabsteinen gegenüber, wuchs ein Pfingstrosenstrauch, jeder eine große, wuchernde Masse von Pflanzen, die sich seit Jahren ungehindert ausbreiten durften.

Er stand vor den verwitterten Pfosten und wusste, dass er auf den Familienfriedhof Wallaces gestoßen war.

Aber da sollten doch nur zwei Grabsteine sein! Was war mit dem dritten?

Er ging am Zaun entlang zum beschädigten Gatter und betrat das Grundstück. Am Fuß der Gräber stehend, las er die Inschriften auf den Steinen. Die Schriftzeichen waren unregelmäßig und eckig, ihre Herkunft aus unsicherer Hand verratend. Es gab keine frommen Worte, keine Verszeilen, keine in Stein gehauenen Engel oder Lämmer oder andere symbolische Figuren, wie sie um 1860 gebräuchlich gewesen waren. Nur Namen und Daten.

Auf dem ersten Stein: ›Amanda Wallace 1821–1863.‹

Und auf dem zweiten: ›Jedediah Wallace 1816–1866.‹

Und auf dem dritten …

4

»Geben Sie mir bitte den Bleistift«, sagte Lewis.

Hardwicke hörte auf, ihn zwischen den Händen zu rollen, und reichte ihn herüber.

»Papier auch?«, fragte er.

»Bitte«, sagte Lewis.

Er beugte sich über den Schreibtisch und begann zu zeichnen.

»Hier«, sagte er und gab das Blatt zurück.

Hardwicke runzelte die Stirn. »Aber das ergibt doch keinen Sinn«, meinte er. »Abgesehen von dem Zeichen darunter.«