Ravenhall Academy 1: Verborgene Magie - Julia Kuhn - E-Book

Ravenhall Academy 1: Verborgene Magie E-Book

Julia Kühn

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Beschreibung

**Willkommen auf der Ravenhall Academy** Mit allem hätte Lilly Campbell gerechnet, aber nicht damit, dass sie eine Hexe ist: Von ihrer Grandma erfährt sie, dass uralte Magie in ihr schlummert – und um diese zu trainieren, soll sie die Ravenhall Academy besuchen. Zwischen Hexensprüchen, mystischen Legenden und sagenumwobenen Wesen muss sich Lilly nun in dieser neuen Welt zurechtfinden. Dabei gerät sie immer wieder mit dem leider viel zu attraktiven Jason aneinander, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Aber schon bald wird klar, dass auf Ravenhall nicht alles so ist, wie es scheint. Denn Lilly kommt einer dunklen Verschwörung auf die Spur, die das Erbe der Hexen tiefgreifend zu verändern droht … Persönliche Leseempfehlung von der Autorin Stefanie Hasse: »Eine romantische Academy-Geschichte in einem zauberhaften Setting, in dem man sich sofort zu Hause fühlt!« Julia Kuhn wurde 1996 in Süddeutschland geboren, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann lebt. Wenn sie nicht gerade an neuen Geschichten schreibt, teilt sie Auf ihrem Instagram- und TikTok Account @july_reads Buchempfehlungen und erzählt über ihren Alltag als Autorin. //Dies ist der erste Band der magischen Romantasy-Dilogie »Ravenhall Academy«. Alle Romane der zauberhaften Academy-Fantasy: -- Band 1: Verborgene Magie -- Band 2: Erwachte Magie//  Diese Reihe ist abgeschlossen.

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Seitenzahl: 502

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Julia Kuhn

Ravenhall Academy: Verborgene Magie

** Willkommen auf der Ravenhall Academy**

Mit allem hätte Lilly Campbell gerechnet, aber nicht damit, dass sie eine Hexe ist: Von ihrer Grandma erfährt sie, dass uralte Magie in ihr schlummert – und um diese zu trainieren, soll sie die Ravenhall Academy besuchen. Zwischen Hexensprüchen, mystischen Legenden und sagenumwobenen Wesen muss sich Lilly nun in dieser neuen Welt zurechtfinden. Dabei gerät sie immer wieder mit dem leider viel zu attraktiven Jason aneinander, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Aber schon bald wird klar, dass auf Ravenhall nicht alles so ist, wie es scheint. Denn Lilly kommt einer dunklen Verschwörung auf die Spur, die das Erbe der Hexen tiefgreifend zu verändern droht …

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Lillys Playlist

Vita

© Selina Marie Photography

Julia Kuhn wurde 1996 in Süddeutschland geboren und lebt auch heute noch dort mit ihrem Ehemann. Wenn sie nicht gerade an neuen Geschichten schreibt oder Welten in Büchern entdeckt, tanzt sie stundenlang durch den Nebel und lauscht dem herunterprasselndem Regen und dem Flüstern des Windes.

Auf ihrem Instagram- und TikTok Account @july_reads teilt sie Buchempfehlungen und erzählt über ihren Alltag als Autorin. Sie ist bekannt für ihre Storys über kalte Herbsttage, Halloween, Vollmond-Vibes und für die Liebe zu ihrer Herzensstadt London.

Für meine Mama.

 

Danke, dass du mir gezeigt hast,

wie wertvoll die Welt der Bücher ist.

Lillys Playlist

Take Me Home – BUNT., Alexander Tidebrink

Someone To You – Banners

It Ain’t Me – Lindsey Stirling, Kurt Hugo Schneider

Witch Woods – Emmy

Princesses Don’t Cry – Carys

Lost In The Wild – WALK THE MOON

There’s Nothing Holdin’ Me Back – Into The Nightcore

Good Vibes – Quintino, Laurell

Close To You – Klaas

Ritual – Tiësto, Jonas Blue, Rita Ora

Heat Waves – Glass Animals

Little Do You Know – Alex & Sierra

Coming Home – Sheppard

You Are The Reason – Calum Scott, Leona Lewis

Still Falling For You – Ellie Goulding

Be Alright – Dean Lewis

Wellerman – Sea Shanty – Nathan Evans

She Looks So Perfect – 5 Seconds of Summer

Devil’s Dance Floor – Flogging Molly

War – Sum 41

Kapitel 1

Bei einem Grimoire handelt es sich um ein Hexenbuch, das magisches Wissen beinhaltet. Ab dem späten Mittelalter wurde darin alles über Hexen und deren Geschichte niedergeschrieben.

– AUSZUG GRIMOIRE, KAPITEL 1 –

Da war er wieder, der Rabe, der mich überallhin verfolgte. Pechschwarzes Gefieder, unheilvoller Blick, durchdringendes Krächzen. Er sah aus wie jeder andere Vogel seiner Gattung, wären da nicht die unterschiedlichen Farben seiner Augen. Violett und Grün. Ich würde sie unter hundert anderen erkennen. Sie begleiteten mich jetzt seit mehreren Wochen. Nachts vor meinem Fenster, wenn ich in unserem Garten las oder mich mit meiner besten Freundin Anny traf. Überall, wo ich war, entdeckte ich früher oder später den Raben. Zu Hause hatte ich mich schon fast daran gewöhnt, aber hier, nach mehreren Stunden Zugfahrt, weit von meinem Heimatort entfernt? Das war wirklich unheimlich.

Einen Schauer unterdrückend holte ich meine Kopfhörer hervor, wählte meine Lieblingsplaylist aus und versuchte den Raben zu ignorieren. Die harmonischen Klänge verschiedener Bands hallten nacheinander durch die In-Ears, doch es dauerte ein wenig, bis sich mein rasender Puls dem Takt der Musik anpasste und ruhiger wurde.

Nachdenklich ließ ich meinen Blick über die leeren Straßen schweifen. Hier saß ich also. Vor dem verlassenen Bahnhof von Watford, einer britischen Stadt mitten im Nirgendwo. Vielleicht ein wenig besser als das Kaff, aus dem ich stammte, aber dort würde ich jetzt zumindest mit einer heißen Tasse Kakao innerhalb der vertrauten quietschgelb gestrichenen Wände unserer Küche sitzen und nicht unter dem notdürftigen Vordach eines geschlossenen Bahnhofskiosks, das den strömenden Regen kaum abhielt. Wenn nicht bald etwas geschah, musste ich mir einen neuen Plan überlegen. Schließlich wartete ich schon über eine halbe Stunde. Dabei wollte ich nicht einmal hier sein.

Genau in dem Moment riss mich ein lautes Hupen aus den Gedanken. Verwirrt schaute ich auf. Direkt vor mir auf der Straße stand ein schwarzes Taxi. Eins der alten Sorte. Solche, die man in London überall sah. Verunsichert stand ich auf und nahm meine Kopfhörer ab. Das schmutzige Fenster der Beifahrertür fuhr ein Stück herunter. Dahinter kam ein älterer Mann mit Vollbart zum Vorschein.

»Zur Academy?« Fragend und mit einem grimmigen Ausdruck in den Augen starrte er mich an.

Academy? Was meinte er? Perplex schüttelte ich den Kopf.

Auf einmal stürmte ein blondes Mädchen an mir vorbei. Wie automatisch fiel mein Blick auf ihre mörderisch hohen und sehr teuer aussehenden Schuhe, die wie durch ein Wunder keinen Tropfen abbekommen hatten. Sie riss die Beifahrertür auf und sprang in einem halsbrecherischen Tempo ins Taxi. Dann beugte sie sich vor und stierte aus dem Auto hinaus ins Freie.

»Pinky, komm her!«, hörte ich sie zischen.

In der Erwartung eines Schoßhündchens schaute ich nach links und rechts und wurde fast zu Tode erschreckt, als etwas in der Luft an mir vorbeisauste und im Wageninneren verschwand. Während ich mich noch fragte, ob ich gerade wirklich etwas gesehen hatte, das eine frappierende Ähnlichkeit mit einer rosafarbenen Handtasche aufgewiesen hatte, schloss sich die Tür und das Taxi brauste davon. Nicht ohne eine Wagenladung kaltes Wasser in meine Richtung zu schicken. Neben mir erklang ein Jaulen.

»O nein, Mrs Blueberry, hat es dich erwischt?«

Meine Golden-Retriever-Hündin, die bis eben noch ruhig unter der Kioskbank gedöst hatte, kroch nun darunter hervor und schüttelte sich. Sie sah zutiefst beleidigt aus und starrte anklagend in Richtung des verschwundenen Wagens.

Ich konnte sie nur zu gut verstehen. Was um Himmels willen war das gerade gewesen? Und hatte diese Tasche wirklich in der Luft geschwebt? Oder war meine Sicht durch den starken Regen getrübt gewesen?

Kopfschüttelnd ließ ich mich wieder auf die hölzerne Bank fallen. Während ich das nasse Hundefell tätschelte, stöpselte ich meine Kopfhörer erneut ein und drehte die Musik lauter.

Die rhythmischen Klänge des Lieblingsliedes meiner Zwillingsschwester drangen an meine Ohren. Unwillkürlich musste ich an Mia und Mum denken. Was würde ich nicht dafür geben, jetzt mit ihnen im Flieger nach Italien zu sitzen. Statt Pampa und Regen wäre ich umgeben von Sonne, Strand und Meer. Aber nein, natürlich musste ich, die untalentierte Erstgeborene, bei meiner Grandma in der Buchhandlung aushelfen. In der wohl regenreichsten Stadt Englands!

Apropos Grandma. Wo steckte sie bloß? Ob sie mich vergessen hatte? Das würde auf jeden Fall zu diesem miserablen Tag passen! Missmutig kuschelte ich mich enger in meinen Hoodie, doch es half nichts. Die Kälte kroch immer tiefer in meine Knochen und ich sah mich bereits zähneklappernd auf dieser blöden Bank sitzen.

Nein, so weit wird es nicht kommen. Vorher buche ich den nächsten Zug zurück nach Wickham, schwor ich mir.

Gerade als ich mich umdrehen und auf die große hölzerne Uhr des Bahnhofes schauen wollte, quietschte es durchdringend und wieder erschien ein Auto vor uns. Aber diesmal kam es mir bekannt vor. Als eine ältere Frau mit einem breiten Grinsen auf den Lippen ausstieg, wusste ich auch wieso. Ihr außergewöhnlicher Kleidungsstil hatte definitiv Wiedererkennungswert. Ihr langes, dunkelrotes Gewand, das mit kleinen, goldenen Monden und Sternen übersät war, schien direkt aus einem Fantasyfilm zu stammen. Und doch passte es irgendwie zu ihr – genauso wie der dunkelblaue Regenschirm, der von der Größe her eher einem Sonnenschirm glich und mit dem sie mir nun zuwinkte.

Eine Flut von Erinnerungen durchströmte mich und mit ihr ein mittlerweile vertrauter Schmerz. Tief durchatmen, Lilly. Du schaffst das. Ich zählte bis drei, nahm meine Kopfhörer heraus und trat ein paar zögerliche Schritte vor.

»Mensch, bist du groß geworden!« Grandma kam auf uns zu und musterte mich von oben bis unten, wobei sie an meinem Hoodie hängen blieb.

Ich folgte ihrem Blick und entdeckte den mir bekannten Aufdruck: Everything you can imagine, is real.

Meine Mum hatte heute Morgen darauf bestanden, dass ich den Pulli anzog. Es war mir ein Rätsel, warum ihr das so wichtig gewesen war, denn Mum und Grandma standen sich alles andere als nah und Weihnachtsgeschenke aus Watford wurden in der Regel so hinter dem Tannenbaum platziert, dass Mia und ich sie erst ganz zuletzt fanden. Eigentlich hatte ich mich weigern wollen, ihn anzuziehen, da ich immer noch wütend darüber war, Grandma in der Buchhandlung aushelfen zu müssen, während Mia und Mum durch Traumstädte wie Venedig und Florenz zogen. Aber da war etwas in Mums Augen gewesen, das mich hatte stutzen lassen. Zweifel und eine unterdrückte Traurigkeit. Ganz anders als das, was ich jetzt in Grandmas Augen aufflackern sah und nicht deuten konnte. War es Erkenntnis? Eine Erinnerung? Ich wusste es nicht.

»Hi, Grandma.«

Sie nahm mich fest in die Arme und ich erwiderte ihre Umarmung zaghaft. Dann wandte sie sich meiner Hundelady zu.

»Na, ist das die berühmte Mrs Blueberry, von der mir deine Mutter schon erzählt hat?« Sie streichelte über ihr Fell und kraulte sie hinter den Ohren.

»Ähm, ja, ich hoffe, es ist okay, dass ich sie mitgebracht habe. Sie ist bereits seit fast drei Jahren bei uns. Wir sind quasi unzertrennlich.«

Ein Schmunzeln umspielte Grandmas Lippen. »Das habe ich gehört. Mein Kater Biscuit wird sich sicher über ein wenig Gesellschaft freuen. Aber nun komm, ihr seid ja ganz durchnässt!« Sie wirbelte herum und bedeutete uns, ihr zu folgen.

Beim Auto angekommen nahm sie mir das Gepäck ab und hievte meinen blauen Koffer ins Wageninnere. »Was hast du da drin? Steine?«

»Wenn ich schon hier sein muss, kann ich zumindest meinen Stapel ungelesener Bücher abarbeiten«, erwiderte ich etwas zu forsch.

Als Grandmas Lächeln für eine Sekunde verrutschte, tat mir mein Tonfall direkt wieder leid. Ganz tief in mir drin wusste ich, dass Grandma nichts für mein Elend konnte. Dennoch ließ ich meine Laune an ihr aus. Aber ich wollte einfach nicht hier sein. An diesem verregneten Samstag im Februar. Während Mum und Mia sich eine schöne Zeit machten. Ich seufzte auf. Meine Stimmung war im Keller.

Als wir im Auto saßen, legte mir Grandma eine Hand auf den Arm und schaute mich mit einem gespielt ernsten Blick an. »Für Bücher kann ein Koffer nie schwer genug sein. Denk nur an all die Welten, die sie in sich tragen.«

Ein längst vergessenes Gefühl der Vertrautheit stieg in mir auf. Es war Grandma gewesen, die mir die Liebe zu Büchern vermittelt hatte, wie konnte ich das bloß vergessen?

Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, nickte sie mir wissend zu. »Übrigens tut mir die Verspätung sehr leid. Aber Biscuit hat unbemerkt eine tote Maus mit ins Haus geschleppt. Natürlich musste er sie ausgerechnet in einem meiner Schuhe deponieren. Und als ich sie dann anziehen wollte, bin ich direkt reingetreten. Ich sag dir, das war vielleicht eine Sauerei!«

Jetzt konnte ich nicht anders und musste laut loslachen. »Das hat er nicht wirklich gemacht!«

»O doch, hat er.« Grandma schnaubte verärgert. »Ich habe ihm erst mal Hausarrest erteilt. Zumindest bis wir zurück sind.«

»Wie gut, dass Mrs Blueberry nicht auf Mäuse steht.« Ich schaute zur Rückbank, wo sie es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte und aufgeregt aus dem Fenster blickte. Sie liebte das Autofahren. Früher hatte sie sich sogar geweigert, aus dem Wagen auszusteigen. Sie war schon immer neugierig gewesen und hatte die große, weite Hundewelt erkunden wollen. Auch jetzt, als wir am riesigen Cassiobury Park vorbeifuhren, der mitten in Watford lag, wedelte sie aufgeregt mit dem Schwanz. Na, wenigstens eine von uns beiden freute sich auf diesen Ort.

Dabei hatte ich es damals kaum erwarten können, wenn wir Grandma besuchten. Was wohl mitunter daran lag, dass Grandma direkt über ihrer Buchhandlung wohnte. Außerdem glich ihr Zuhause einem dieser Hexenhäuschen, über die man sonst in Märchen las. Die Fassade aus hellen Ziegelsteinen, der uralte Zaun aus weißen Holzbrettern, die geräumige Veranda mit dem alten Schaukelstuhl und die dichten, hohen Tannen vor dem Haus hatten immer eine besondere Wirkung auf mich gehabt. Aber jetzt, wo Grandmas Haus in Sicht kam, hatte ich eher gemischte Gefühle. Und kaum parkten wir vor dem viktorianischen Gebäude, fing auch noch mein Magen an zu knurren.

»Hast du Hunger? Ich habe leckere Sandwiches vorbereitet. Die mochtest du früher so gerne.« Lächelnd blickte Grandma mich an.

Früher. Ein simples Wort. Und doch steckte für mich so viel mehr dahinter. Mein letzter Besuch lag Jahre zurück. Damals waren Mia und ich Kinder gewesen – und die Welt noch in Ordnung.

»Sandwiches klingen gut«, erwiderte ich.

»Na, dann komm«, sagte Grandma, bevor sie die Wagentür aufmachte und ausstieg.

Nachdem wir mein Gepäck aus dem Kofferraum geholt hatten, folgten wir der munter vorpreschenden Mrs Blueberry zur Haustür. Es war schon erstaunlich, dass sie genau zu wissen schien, wo wir hinmussten. Sie war schließlich noch nie hier gewesen.

Um in Grandmas Wohnung zu gelangen, gab es einen separaten Nebeneingang, der neben der imposanten Tür zur Buchhandlung ganz unscheinbar wirkte. Dahinter befand sich eine steile Holztreppe, deren bloßer Anblick mir den Magen umdrehte. Denn nicht nur Hunger kündigte sich an, sondern auch Erschöpfung. Die Kälte der nassen Klamotten forderte gerade so richtig ihren Tribut.

Als wir endlich samt meinem schweren Koffer die steilen Stufen erklommen hatten, kam uns Biscuit entgegen. Mies gelaunt und murrend. Misstrauisch beäugte der rotbraun gestreifte Kater meine Hündin, bevor er einen bedachten Schritt auf sie zu machte. Meine Hundedame, plötzlich sehr feige, winselte leise und versteckte sich blitzschnell hinter mir.

»Biscuit, Lilly kennst du ja bereits und das ist Mrs Blueberry. Sei bitte nett zu ihr.«

Als Antwort erhielt Grandma nur ein Fauchen, was meine Hündin direkt wieder zum Winseln brachte. Ich verdrehte die Augen. Sie war mindestens doppelt so groß wie Biscuit. Eigentlich sollte nicht sie Angst vor Biscuit haben, sondern der Kater vor ihr.

Und während ich dachte, der immer noch fauchende Biscuit würde gleich angreifen, fing er an zu schnurren und schmiegte sich an ihr Bein. Mrs Blueberry erwiderte die Geste dankbar.

Grandma schien nicht überrascht zu sein. »Na also. Du musst wissen, dass sich alle Haustiere unserer Familie seit Generationen blendend verstehen. Komm, wir gehen in die Küche und essen erst mal etwas.« Sie verschwand in einem Nebenraum.

Gerade als ich mein Gepäck absetzen und ihr folgen wollte, erhaschte ich einen Blick auf Biscuits Augen. Sie waren grün und blau. So zweifarbig wie die meiner Hündin. Und die des Raben … Schnell schüttelte ich den beunruhigenden Gedanken wieder ab und stürmte regelrecht in die warme Küche hinein.

Grandma stand mit dem Rücken zu mir an der Küchentheke und schien ganz in ihrem Element zu sein. Wie meine Mum liebte sie das Kochen und Backen. Beide hatten einen eigenen Garten und pflanzten jegliche Art von Gemüse an. Aber mit Grandmas Kräutergarten konnte sich niemand messen.

Dass sie in Sachen Sandwich-Zubereitung ebenfalls eine Meisterin ihres Faches war, bewies sie, indem sie mir zwei köstlich aussehende Sandwiches auf einem Teller präsentierte. Mir lief direkt das Wasser im Mund zusammen und ich verschlang das erste im Stehen. Ich hatte wirklich einen Bärenhunger. »Die schmecken echt lecker!«

»Danke, Liebes. Iss, so viel du willst.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Noch während ich das zweite Sandwich verdrückte, kochte Grandma uns eine heiße Schokolade, die sie in zwei große Tassen goss und mit kleinen Marshmallows und Sahne verzierte. Mitsamt einer Dose selbst gebackener Kekse kuschelten wir uns auf die große Fensterbank im Wohnzimmer. Es war der letzte freie Platz in diesem urigen Raum. Das Sofa wurde bereits von Mrs Blueberry und Biscuit vereinnahmt und auf sämtlichen Sesseln stapelten sich Büchertürme. Ich strich mit der flachen Hand über einen der antiquarischen Einbände auf einem alten Samtsessel neben mir und lächelte versonnen.

Grandma bemerkte meine Geste und lachte. »Ich gebe zu, dass ich meine Arbeit viel zu oft mit nach Hause nehme. Wie gut, dass du jetzt da bist. Morgen gebe ich dir noch Zeit zum Eingewöhnen, aber dann könnte ich deine Hilfe im Laden gut gebrauchen.« Kurz hielt Grandma inne, bevor sie hinzufügte: »Auch wenn morgen Sonntag ist, muss ich arbeiten. Wie so oft zu dieser Jahreszeit finden viele Kunden ihren Weg zu mir.«

Ich nickte nur. Einen Moment lang hatte ich fast vergessen, weshalb ich hier war und wie trist die kommenden Wochen sein würden.

Nachdenklich ließ ich meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Die einsetzende Dämmerung legte sich wie ein Schatten über Grandmas Vorgarten und der Wind peitschte den Regen durch die Luft. Gerade als ich mich wieder abwenden wollte, durchdrang ein heiseres Krächzen die Stille. Ein mulmiges Gefühl stieg in mir hoch und ich schaute in die Richtung, aus der das Krächzen gekommen war. Und tatsächlich. Dort, auf dem Ast eines alten Kastanienbaums, saß mein Beobachter. Den Kopf leicht geneigt und die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Mein Herz begann zu rasen, doch da griff Grandma nach meiner Hand. Ich riss mich vom Anblick des Raben los und sah in ihre warmen, braunen Augen.

»Ich danke dir vielmals, dass du so kurzfristig einspringst. Ich kann mir vorstellen, wie viel lieber du nach Italien gereist wärst.«

»Es ist okay, Grandma. Wirklich. Es ist nur …« Kurz stockte ich. Wollte ich Grandma wirklich meinen Frust aufhalsen? Nur weil ich es unfair fand, dass Mia als erfolgreiche Pianistin herumreiste und dabei die volle Aufmerksamkeit von Mum genoss, während ich hier in Watford aushelfen musste? Nein. Das war keine Option. Grandma trug keine Schuld.

Ich schüttelte den Kopf. »Dann werde ich das ausnutzen und gleich morgen in den Cassiobury Park gehen«, lenkte ich ab.

»So aufgeregt, wie Mrs Blueberry vorhin das Tor zum Park beobachtet hat, wird sie sich sicher über einen Ausflug freuen. Vielleicht begleitet euch Biscuit. Er mag diesen Park. Vermutlich wegen der vielen Mäuse.« Über Grandmas Züge huschte ein Schmunzeln, als wüsste sie genau, dass ich bewusst das Thema gewechselt hatte.

Biscuit miaute zustimmend, was meine Hündin mit einem aufgeregten Schwanzwedeln quittierte. Die beiden hatten sich aneinandergekuschelt und genossen augenscheinlich die Wärme des Kamins. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Die angenehme Hitze der Flammen war eine Wohltat für meine Haut und je länger ich in das prasselnde Feuer starrte, desto mehr legte sich meine Anspannung. Aber auch das Geräusch der Regentropfen hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Bei diesem Wetter fand man mich meistens mit einem guten Buch in unserem Wintergarten vor. Wenn der Regen unaufhörlich auf das gläserne Dach prasselte und dessen Tropfen sich ein Wettrennen über das Glas lieferten.

Mit der Erinnerung an mein Zuhause kamen mir wieder Mum und Mia in den Sinn. Vermissten sie mich? Oder hatte Mum ihre zweite Tochter, kaum dass sie in Italien gelandet waren, vergessen? Es wäre schließlich nicht das erste Mal. Frustriert versuchte ich mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Und spürte nun, wie mich eine bleierne Müdigkeit überkam.

»Grandma, wo werde ich die kommenden Wochen eigentlich schlafen?« Ich bemühte mich, nicht allzu offensichtlich zu gähnen.

»Im Gästezimmer unter dem Dach. Normalerweise lagere ich dort meine alten Bücher, ein Bett ist jedoch ebenfalls vorhanden.«

Ich nickte schläfrig. »Und Mrs Blueberry?«

Wie aufs Kommando spitzte diese ihre Ohren, hob den Kopf und blinzelte mich unter halb geöffneten Lidern träge an.

»Für sie ist alles hergerichtet«, erwiderte Grandma mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen.

Stirnrunzelnd blickte ich sie an. »Aber woher wusstest du …«

»Ein Vöglein hat es mir gezwitschert.« Sie zwinkerte mir über ihre Brille hinweg zu.

Damit meinte sie bestimmt Mum, oder? Schließlich hatten sie erst vor ein paar Tagen telefoniert.

Grandma schaute kurz auf ihre Armbanduhr. »Ich sollte noch einmal kurz in die Buchhandlung. Und du siehst so aus, als ob du heute besonders früh ins Bett gehen solltest.« Sie legte einen Arm um mich und ich schmiegte mich zögernd an sie.

Grandmas vertrauter Duft nach Lavendel stieg mir in die Nase. Sie roch nach meiner Kindheit und plötzlich bereute ich es, so wenig Zeit mit ihr verbracht zu haben. Ich schwor mir, diese jetzt aufzuholen.

»Geh du doch schon einmal nach oben, pack deinen Koffer aus und leg dich ein bisschen hin. Ich bin auch bald wieder da.«

Ich nickte. »In Ordnung, Grandma.«

Einen weiteren Gähner unterdrückend stand ich auf und blickte noch einmal zu Mrs Blueberry und Biscuit. Beide waren bereits eingeschlafen. Um sie nicht zu wecken, schlich ich in den Flur und entdeckte den mit grünen und weißen Perlen besetzten Griff der Dachbodenluke fast sofort. Vorsichtig zog ich daran. Die Luke ging auf und eine alt wirkende Holzleiter klappte nach unten. Bevor ich mir ausführlich Gedanken darüber machen konnte, wie unstabil diese wirkte, kletterte ich schnell nach oben und erblickte bereits nach wenigen Stufen einen urigen Raum unter dem Dach. Er war viel größer als in meiner Vorstellung und verfügte über ein großes Fenster, das über dem Bett in die Decke eingelassen war. Außerdem gab es einen Schreibtisch, einen grauen Ohrensessel mit Stehlampe sowie eine alte, verschnörkelte Kommode aus Holz. Alte und neue Bücher, in gutem wie auch schlechtem Zustand, stapelten sich unterhalb der Schräge. Das Bett war frisch bezogen und auf der Decke waren kleine, rosafarbene Blumen eingestickt. Kurz gesagt, es war ein absolutes Traumzimmer.

Ich überwand die letzte Stufe und trat in den Raum hinein, wobei mein Blick sogleich auf den blauen Koffer direkt neben dem Bett fiel. Offensichtlich hatte Grandma ihn bereits hochgetragen. Die Frage war nur wann? Schließlich war sie die ganze Zeit in meiner Nähe gewesen. Ich hätte es doch mitbekommen, wenn sie den schweren Koffer die schmale Leiter nach oben gestemmt hätte, oder?

Schulterzuckend verdrängte ich den Gedanken und machte mich daran, die Kleidung in die Kommode gegenüber dem Bett zu räumen. Als ich die drei handgeschriebenen Bücher meines Dads aus dem Koffer nahm, strich ich wehmütig über die ledernden Einbände. Mittlerweile waren sie ausgeblichen und an einigen Stellen von Dellen übersät. Aber die Bücher und jedes einzelne Wort darin waren mein Anker. Mein wertvollster Besitz. Sie trugen einzigartige Welten in sich, die mein Dad erschaffen hatte. Welten, die er niemals bereisen würde. Und Welten, die er mit mir hatte bereisen wollen. In meinen Augen sammelten sich Tränen. Vergebens versuchte ich sie wegzublinzeln und für einen kurzen Moment ließ ich den Schmerz zu. Dann atmete ich tief durch und schnappte mir mein Handy. In diesen Momenten der Einsamkeit half nur eins. Anny.

Schnell wählte ich ihre Nummer. Nach dem dritten Klingeln ging sie dran.

»Beste Freundin am Apparat, wie kann ich behilflich sein?«, hallte ihre fröhliche Stimme durch den Hörer.

»Hi, Anny.« Ungewollt schwang Traurigkeit in meiner Stimme mit.

»Bist du gut bei deiner Grandma angekommen?«

Erst nickte ich erschöpft, bis ich merkte, dass Anny diese Geste durchs Telefon ja gar nicht erkennen konnte.

»Ja, ich habe soeben mein Zimmer für die kommenden Wochen bezogen. Es ist zwar schön, Grandma wiederzusehen, dennoch hoffe ich, dass die Zeit schnell vorbeigeht.« Nachdenklich strich ich mit dem Finger über den verschnörkelten Bettpfosten, wobei das eine kleine Staubschicht aufwirbelte.

»Bestimmt! Und schneller als du blinzeln kannst, werden wir schon auf dem College sein!«, quiekte Anny aufgeregt.

Ich sah das Funkeln in ihren blauen Augen bildlich vor mir. Seit Monaten fieberten wir unserer Collegezeit entgegen. Und als die Zusage ins Haus geflattert war, hatten wir direkt angefangen Pläne zu schmieden. Kurz huschte ein Lächeln über meine Lippen.

»Ich kann es kaum erwarten«, erwiderte ich.

»Hast du schon etwas von deiner Mum oder von Mia gehört?«

»Mum hat mir geschrieben, dass sie gut gelandet sind. Aber ich habe noch nicht geantwortet.« Gedanklich fügte ich hinzu, dass ich das so schnell auch nicht machen würde.

Anny seufzte auf. »Du weißt, dass sich deine Mum bloß in die Manager-Rolle deiner Schwester stürzt, weil sie versucht die letzten Jahre zu verdrängen.«

Ein Stich durchfuhr mein Herz. »Das ist deine Theorie.«

»Das ist nicht zu übersehen, Lilly.«

Ich biss mir auf die Unterlippe. Der Tod von Dad hatte uns allen den Boden unter den Füßen weggerissen. Trotzdem brauchte ich meine Mum. Nur dass sie nicht da war. Zumindest nicht für mich.

»Ich leg mich jetzt hin. Das neue Buch von Nicholas Sparks ist erschienen und ich möchte noch ein wenig darin lesen«, sagte ich erschöpft, wobei mir ein Gähnen herausrutschte.

»Knuddle Mrs Blueberry von mir. Wie hält sie es bloß wochenlang ohne die selbst gebackenen Leckerlis von Tante Anny aus? Ich hätte echt mehr zubereiten sollen.«

»Meine ganze Jackentasche und mein Rucksack sind voll mit deinen Hundekeksen. Sie hat genug.« Ich schmunzelte. Anny schaffte es einfach immer, mich aufzumuntern.

»Zu viele Hundekekse gibt es nicht, frag Mrs Blueberry«, verkündete Anny gespielt empört.

»Das ist unfair, du hast sie um den kleinen Finger gewickelt.«

Ein Lachen erklang am anderen Ende der Leitung. »Schlaf gut, Lilly.«

»Du auch, Anny.«

Ich legte das Handy auf das Nachttischchen und zog aus meinem Rucksack das Buch von Nicholas Sparks heraus. Bevor ich es mir im Bett bequem machte, warf ich noch einen Kontrollblick aus dem Dachfenster. Seit der Rabe mich verfolgte, war dies zu einem Ritual geworden. Zu meiner großen Erleichterung war nur der immer dunkler werdende Himmel zu erkennen. Ich seufzte auf und kuschelte mich in die weichen Bettlaken.

Was passte zu einem Kopf voller Gedanken besser als ein gutes Buch?

Kapitel 2

In der Welt übernatürlicher Wesen gibt es Orte, deren besondere Macht ein jedes Lebewesen zu spüren bekommt. Insbesondere der Cassiobury Park in Watford trägt diese in sich. Die uralte Anlage ist das Zuhause von guten Kobolden, die in Baumhöhlen hausen und über die unzähligen Pflanzen wachen.

– AUSZUG GRIMOIRE, KAPITEL 144 –

Ich wurde von einem lauten Knall geweckt. Verschlafen gähnte ich und öffnete leicht meine Lider. Erneut hallte ein Knall durch die Dunkelheit. Verwirrt blinzelte ich einige Male, bis sich meine Augen der Dunkelheit angepasst hatten und ich mich daran erinnerte, dass ich bei Grandma war. Das aufgeschlagene Buch lag neben mir und ich trug nach wie vor meine Klamotten von vorhin. Offensichtlich war ich während des Lesens eingeschlafen. So etwas passierte mir sonst nie, wenn ich eine gute Geschichte las.

Ein weiteres Mal knallte es. Ich zuckte zusammen und schaute nach oben durch das Dachfenster. Ein Leuchten erhellte den Nachthimmel. War das etwa ein Feuerwerk? Ich setzte mich auf, um besser sehen zu können. Und fragte mich im nächsten Moment, ob ich nicht doch noch schlief. Denn das, was dort über mir prangte, war weitaus mehr als eine pyrotechnische Darbietung. Ungläubig kniff ich mir in den Handrücken, aber das Symbol aus tausend kleinen Lichtern, das über mir am Himmel funkelte, verschwand nicht. Im Gegenteil. Es wurde immer deutlicher und jetzt konnte ich erkennen, was es darstellte: einen Raben in der Mitte einer Halbmondsichel aus Sternen. Wie war das möglich? Ich blinzelte ein paarmal. Das Symbol leuchtete nach wie vor am Nachthimmel.

Plötzlich landete etwas Schweres auf mir.

»Shit!«, fluchte ich, während mein Herz einen Schlag aussetzte.

Grandmas Kater war unsanft auf meinen Beinen gelandet. Er neigte den Kopf zur Seite, bevor er ein aufforderndes »Miaaauuu« von sich gab.

Vorsichtig streichelte ich über sein Fell. Die Launen von Biscuit waren mir nicht geheuer.

»Was machst du denn hier oben?«, flüsterte ich, wobei ich ihn aufmerksam musterte.

Mein Blick wurde von seinen Augen gefesselt, die unnatürlich hell in die Dunkelheit hineinleuchteten. Die Ähnlichkeit zu denen meiner Hündin war erschreckend.

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wurde ich von einem erneuten Knall aus meinen Gedanken gerissen.

»Weißt du, was es mit diesen Lichtern auf sich hat?« Ich hob Biscuit hoch, damit er besser aus dem Fenster sehen konnte.

»Miauuu«, erwiderte er, bevor er sich über eine seiner Pfoten leckte.

»Sehr hilfreich.«

Nachdenklich kraulte ich ihn hinter seinen kleinen, spitzen Ohren und betrachtete das Schauspiel am Nachthimmel. Wie konnte so eine detailgetreue Version eines Symbols den Himmel erhellen? Aber die wohl wichtigste Frage lautete: Wofür stand dieses Symbol?

Während ich nach Antworten suchte, verschwammen die Lichtpunkte. Nach und nach rieselten sie wie Schnee zu Boden. Nur die Silhouette des Raben erwachte zum Leben, hob die Flügel und flog davon, bis er vollständig von der Nacht verschluckt wurde.

Verwirrt stand ich auf, setzte Biscuit ab, zog meinen Pyjama an und ließ mich wieder zurück ins Bett sinken. Der Kater hatte sich in der Zwischenzeit am Bettende zusammengerollt und schnurrte leise vor sich hin.

Unruhig knautschte ich das weiche Kissen zusammen und schloss die Augen. Binnen Sekunden prasselten all die Erlebnisse und Gedanken des heutigen Tages auf mich ein. Na toll. Das würde eine lange Nacht werden.

Sonnenstrahlen kitzelten meine Nase, als ich am nächsten Morgen erwachte. Ausgiebig streckte ich mich, während mir ein lautes Gähnen herausrutschte. Die Geschehnisse der letzten Nacht hatten mir keine Ruhe gelassen. Selbst Biscuit hatte mein unruhiges Hin-und-her-Gewälze irgendwann sattgehabt und war wieder nach unten verschwunden. Ich konnte es ihm nicht verdenken.

Völlig gerädert schälte ich mich aus den weichen Bettlaken. Am liebsten würde ich den ganzen Tag liegen bleiben, lesen und den fehlenden Schlaf nachholen. Mein knurrender Magen hatte allerdings andere Pläne. Also schlurfte ich zur Kommode und kramte ein graues T-Shirt und schwarze Jeans hervor. Mit einem Schaudern erinnerte ich mich an die gestrigen Temperaturen und schnappte mir schnell auch noch einen langen Cardigan. Mein Blick schweifte zu dem kleinen Wandspiegel, der über der Kommode hing. Meine langen Haare standen in alle Richtungen ab. Hastig fuhr ich mir mit den Fingern durch die rötlichen Wellen und versuchte meine Mähne zu bändigen.

Gerade als ich mich von meinem Spiegelbild abwandte, fing mein Handy auf dem Nachttischchen an zu vibrieren. Wer wohl so früh am Morgen etwas von mir wollte? Kaum schoss mir dieser Gedanke durch den Kopf, wusste ich auch schon die Antwort. Mum. Genervt stöhnte ich auf, nahm das Handy, drückte sie weg und schaltete es aus. Auf heile Welt hatte ich keine Lust.

Mit schweren Gliedern kletterte ich die Dachbodenleiter nach unten und wurde von einem herrlichen Duft nach Rührei und Scones, der aus der Küche drang, wie magisch angezogen. Als ich über die Schwelle trat, ertappte ich meine Hundelady, wie sie sich mit zwei Pfoten auf den Küchentresen stemmte und sich den letzten Scone schnappte.

»Mrs Blueberry!« Ich eilte zu ihr, ging in die Hocke und bedeutete ihr, mir den vollgesabberten Scone zu geben. Natürlich ignorierte mich mein kleiner Vielfraß und verschlang das Gebäckstück mit einem Biss. Dabei setzte sie ihre perfekt einstudierte Unschuldsmiene auf und musterte mich aus ihren großen, runden Augen.

Ich seufzte. »Du hättest mir wenigstens den letzten Scone übrig lassen können.«

Als Entschuldigung neigte sie ihren Kopf und fing an zu hecheln.

»Wo ist eigentlich Grandma?« Ich stand auf und ließ meinen Blick über die kleine, vollgestopfte Küche wandern. Neben den Resten des Rühreis entdeckte ich einen kleinen Zettel.

Lilly,

ich bin bereits in der Buchhandlung und besuche dann Mrs Ravenwood, eine Nachbarin.

PS: Das Rührei und die Scones sind für Dich, lass es Dir schmecken.

PPS: Biscuit und Mrs Blueberry haben schon gefrühstückt.

Mit hochgezogener Augenbraue blickte ich zu meiner Vierbeinerin, die mich mit schräg gelegtem Kopf entschuldigend musterte, als wüsste sie genau, was auf dem Zettel stand.

Kopfschüttelnd schnappte ich mir den Teller mit dem Rührei und ließ mich auf einen der Stühle fallen. Unwillkürlich schweiften meine Gedanken wieder zu letzter Nacht. Was war das für ein Symbol gewesen? Und weshalb ein Rabe? Gab es etwa eine Verbindung zu dem Raben, der mich verfolgte? Nachdenklich stocherte ich in meinem Rührei, fand jedoch keine Antworten auf all meine Fragen.

»Lass uns spazieren gehen«, sagte ich. Frische Luft würde meinen wirren Gedanken sicherlich ganz guttun.

»Wuff«, erwiderte sie freudig und flitzte in den Flur.

Ich folgte ihr und spähte kurz aus dem Fenster. Bei dem Anblick der tief hängenden, dunklen Wolken überkam mich eine Gänsehaut und ich schnappte mir schnell meinen olivgrünen Parka. Was sich als genau richtige Entscheidung herausstellte, sobald wir vor Grandmas Haus standen. Fröstelnd zog ich den Reißverschluss der Jacke bis nach oben zu und setzte mich in Bewegung. Glücklicherweise dauerte es nicht allzu lange, bis wir den Cassiobury Park erreichten.

Ein großes, eisernes Tor markierte den Eingang, und Mrs Blueberry rannte schwanzwedelnd hindurch. Schmunzelnd folgte ich ihr, vorbei an verschiedenen Teichen mit Enten und Schwänen, die anmutig über das klare Wasser trieben.

Als Kind war ich oft hier gewesen. Mia und ich waren über die Brücken gejagt, hatten uns hinter den kleinen Häusern versteckt und am Bach gespielt. Am liebsten waren wir geklettert. Kichernd hatten wir uns auf die Äste der hohen Eichen gesetzt und die vorbeilaufenden Menschen beobachtet. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als mein Blick zwischen den dicht bewachsenen Bäumen hin und her wanderte. An einigen Stellen blühten Schneeglöckchen, deren Weiß in zarter Schönheit leuchtete. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Mia und ich stundenlang vor diesen Blüten gesessen und gehofft hatten, dass sich uns ein Kobold zeigte. Wofür vermutlich Grandma mit all ihren Fantasy-Geschichten verantwortlich war.

Früher waren Mia und ich uns so nah gewesen und nun glichen wir uns nur noch äußerlich. Wir hatten beide die grünen Augen meiner Mum, genau wie die roten, langen Haare. Doch innerlich waren wir so verschieden wie Tag und Nacht.

Apropos Nacht. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Weg steiniger wurde und die Bäume kaum Sonnenstrahlen durchließen. Offensichtlich waren wir in einem Waldstück gelandet. Allerdings schien das meine Hündin nicht zu stören. Begeistert beobachtete sie die Vögel und hielt nach Eichhörnchen Ausschau, die immer mal wieder durch das Laub und über Äste huschten. Eine Weile ließ ich sie gewähren, aber die zunehmende Kälte machte sich mit der Zeit deutlich bemerkbar. Schaudernd zog ich meinen Parka fester um mich und setzte dazu an, Mrs Blueberry zurückzupfeifen. Doch da ertönte ein Fluchen in der Nähe. Meine Hundelady spitzte alarmiert die Ohren und bevor ich reagieren konnte, gab sie ein lautes Bellen von sich und jagte davon.

»Mrs Blueberry, komm zurück«, rief ich meiner Hundelady nach.

Sie ignorierte mich jedoch gekonnt und verschwand hinter einem verwelkten Rosenbusch.

Na großartig. Ich setzte mich ebenfalls in Bewegung und sprintete hinter ihr her. Was sich als gar nicht so leicht erwies, denn je tiefer ich in das dunkle Stück Wald hineinlief, umso dichter wurde das Geäst und ich musste ständig Bäumen ausweichen. Zu allem Überfluss blieb ich bei einem dieser Ausweichmanöver mit meiner Hose an einem Ast hängen, der sich unangenehm in meinen Oberschenkel bohrte. Während ich ihn beiseiteschob, seufzte ich frustriert auf. Wenigstens tauchte Mrs Blueberry wieder neben mir auf. Allerdings beachtete sie mich nicht. Vielmehr galt ihre Aufmerksamkeit einem Fremden, der sich einige Meter von uns entfernt befand.

Reflexartig wich ich zurück und hielt erst inne, als ein Kastanienbaum mich etwas verdeckte. Ich bedeutete meiner eigensinnigen Begleiterin, hinter mir zu bleiben, und beobachtete neugierig das Geschehen. Der schwarzhaarige Junge, der, wie ich jetzt erkannte, ungefähr in meinem Alter sein musste, stand jedoch nur da und rührte sich nicht.

Darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, musterte ich ihn, wobei mein Blick an seiner Kleidung hängen blieb. Besser gesagt an seinem dunkelgrünen Sweatshirt. Denn dort prangte das gleiche Symbol wie gestern Abend am Nachthimmel. Ein Rabe mit einem Mond aus Sternen.

Instinktiv machte ich einen Schritt in die Richtung des Jungen. Doch irgendetwas hielt mich davon ab, ihm weiter näher zu kommen. Vielleicht lag es an seiner Ausstrahlung. Sie war düster und abweisend. Mit starrer Miene und geschlossenen Augen hob er nun langsam seine Arme – und mir wurde schlagartig kalt. Eine Gänsehaut überlief meinen ganzen Körper und ich begann zu frösteln. Dann sah ich auf einmal, wie sich um den Jungen Blätter und kleine Äste erhoben und einen kleinen Wirbelwind bildeten. Dieser wurde immer größer und größer. Der Junge war kaum noch zu sehen, so stark nahmen die herumwirbelnden Blätter und das Geäst ihn ein.

Verwirrt blinzelte ich ein paarmal und machte einen Schritt rückwärts. Allerdings verlor ich dabei mein Gleichgewicht und landete rücklings auf einem morschen Ast, der daraufhin laut knackte.

Mrs Blueberry erschrak und gab ein lautes »Wuff« von sich, was dem Jungen wohl nicht entging, denn er drehte sich um und schaute in meine Richtung. Prompt fielen die Blätter um ihn herum zu Boden. Doch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, landete plötzlich ein Rabe mit pechschwarzem Gefieder direkt vor mir auf einem Baumstumpf. Sein lautes Krächzen ließ mich erschrocken aufkreischen. Mein schriller Schrei schien den Raben allerdings nicht zu beeindrucken. Ganz im Gegenteil. Neugierig fing er an mich zu mustern.

Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, stellte ich überrascht fest, dass auch er zwei verschiedene Augenfarben hatte. Ein Auge war grün und das andere violett. Aber irgendwas an ihm unterschied sich von meinem Beobachter.

Mir wurde das alles zu viel.

»Husch, husch.« Ich fuchtelte mit den Armen in die Richtung des Raben, doch er blieb seelenruhig vor mir sitzen.

»So wirst du Jasons Gefährtin bestimmt nicht los.«

Vor mir tauchte ein Typ mit lilafarbenen Haaren auf. In aller Ruhe setzte er sich zu dem Vogel. Während ich versuchte seinem amüsierten Blick auszuweichen, bemerkte ich sein Sweatshirt mit dem Raben-Mond-Sterne-Symbol, das auch der schwarzhaarige Junge trug. Fieberhaft suchte ich nach einer schlagfertigen Antwort, versagte jedoch auf ganzer Linie.

»Ich, äh …« Verwirrt schaute ich zwischen dem Jungen und Raben hin und her.

»Heimliche Zuschauer sind immer noch das beste Publikum, oder?« Ein weiterer Kerl mit einer spitzen Nase und hohen Wangenknochen trat neben mir in Erscheinung. Genau wie die anderen beiden Typen trug auch er das dunkelgrüne Sweatshirt. Lachend nickte er zu dem Jungen mit den schwarzen Haaren. »Oder wie siehst du das, Jason?« Dann verschränkte er die Arme und grinste mich schief an, wobei sich seine dunklen Augen regelrecht in meine Seele bohrten.

»Ich habe niemanden beobachtet«, erwiderte ich mit fester Stimme, bevor ich mich aufrappelte.

»Aha, wer ist denn meine heimliche Zuschauerin?«, warf der schwarzhaarige Junge namens Jason ein.

Zu meinem Erschrecken kam er schnellen Schrittes auf uns zu. Mit seinen türkisblauen, leuchtenden Augen, die zu schmalen Schlitzen verengt waren, fixierte er mich. Eine Gänsehaut überzog erneut meinen Körper und ich schaffte es kaum, mich von seinem einnehmenden Blick zu lösen.

»War schön mit euch zu plaudern, aber ich muss jetzt los.« Eilig kramte ich Mrs Blueberrys Leine hervor und legte sie ihr um. Noch einmal riskierte ich es nicht, dass sie einfach verschwand. Dann drehte ich mich um und machte mich aus dem Staub.

»Wir sehen uns an der Academy!«, rief Jason mir mit tiefer, eindringlicher Stimme hinterher.

»Denkst du wirklich, die ist eine von uns?« Ein schallendes Lachen hallte zu mir hinüber.

»Klar, hast du keine Augen im Kopf? Schau dir doch ihren Hund an!«

Was meinten sie damit? Kurz verlangsamte ich das Tempo und wandte mich ein weiteres Mal zu ihnen um. Aber die drei waren verschwunden. Wo waren sie hin? Mit klopfendem Herzen rannte ich los und hörte erst damit auf, als ich wieder auf der großen Grünfläche an einem der Teiche des Parks ankam. Völlig außer Puste schnappte ich nach Luft, bevor ich zu Mrs Blueberry blickte.

»Komm, lass uns endgültig von hier verschwinden«, keuchte ich zwischen zwei tiefen Atemzügen und während wir uns auf den Heimweg machten, ging ich noch mal das Gesehene im Wald in meinen Gedanken durch. Es war kein Wind gegangen, wieso also waren diese Blätter durch die Luft gewirbelt? Einfach so? Ich suchte nach einer Erklärung, fand jedoch keine. Außer … nun ja. Außer es war ein simpler Trick gewesen. Oder ein Schulprojekt in Physik. Das wäre wenigstens eine plausible Lösung.

Kapitel 3

Seit Anbeginn der Zeit besitzen Hexen und Hexer ihr eigenes Reich der Magie, auch Hexenraum genannt, in dem sie nicht nur ihr Buch der Schatten aufbewahren, sondern Tränke brauen, Vorräte sammeln und sich in der Kunst der Hexerei üben.

– AUSZUG GRIMOIRE, KAPITEL 19 –

Nach meinem abenteuerlichen Ausflug mit Mrs Blueberry nutzte ich den restlichen Tag dafür, mich mit einem Buch im Bett zu verkriechen. Leider schaffte ich es kaum, mich darauf zu konzentrieren. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu den Geschehnissen im Park. Wer waren diese drei Jungs? Und vor allem: Wer war der Kerl mit den türkisblauen Augen? Ich überlegte Anny anzurufen, um ihr von alldem zu erzählen, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Dafür versuchte meine Mum mich weiter zu erreichen. Aber ich ignorierte ihre Anrufe. Nach dem turbulenten Tag hatte ich keine Lust, mich mit ihrer aufgesetzten mütterlichen Fürsorge auseinanderzusetzen. Irgendwann schaltete ich mein Handy aus und hoffte darauf, dass meine erste Schicht als Aushilfe in Grandmas Buchhandlung erfreulicher verlaufen würde als der merkwürdige Spaziergang.

Glücklicherweise schien das Universum meinen Wunsch erfüllen zu wollen, denn der Start am nächsten Morgen verlief reibungslos und ohne irgendwelche seltsamen Vorkommnisse. Nach einem ausgiebigen Frühstück und einem kurzen Ausflug, bei dem es sich meine Hündin nicht nehmen ließ, Vögeln hinterherzujagen, schlossen wir um kurz nach neun Uhr Grandmas Buchhandlung auf. Die große, verschnörkelte Holztür, durch die man in den Verkaufsraum gelangte, hatte schon immer eine besondere Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Als Kind hatte ich stundenlang vor dieser Tür gespielt. Und auch jetzt kribbelte es mich in den Fingern, über die feinen Schnörkel zu fahren und die wunderschönen Verzierungen zu würdigen.

Doch bevor ich die Hand ausstrecken konnte, schwang sie bereits auf und sofort strömte mir ein herrlicher Duft nach Büchern entgegen. Tief sog ich ihn ein. Gab es etwas Schöneres als den Geruch von alten und neuen Büchern? Andächtig ließ ich meinen Blick über den urigen Raum schweifen. Die Buchhandlung wirkte ziemlich klein, was vermutlich an dem verwinkelten Grundriss und den Holzbalken lag, die zwischen den hohen Regalen standen und quer an der Decke verliefen.

Ehrfürchtig ging ich auf eins der hohen Regale zu und strich vorsichtig mit den Fingern über die Einbände. Grandma sortierte ihre Bücher nicht nach Genres. Trotzdem wusste sie immer, wo welches Werk stand. Sie vertrat die Ansicht, dass man als Buchliebhaber erst auf die wahren Schätze stieß, wenn man nicht nach ihnen suchte. Nur für Kräuterkunde hatte Grandma eine eigene Abteilung. Soviel ich wusste, schätzten die Kunden vor allem Grandmas Fachwissen in diesem Bereich.

»Vor ein paar Tagen ist eine Lieferung mit neuen Büchern angekommen. Möchtest du sie einsortieren?« Grandma lächelte mich fragend an.

Ich nickte und während Mrs Blueberry sich auf einem alten Sessel mit blauem Samtüberzug zusammenrollte und zufrieden vor sich hindöste, machte ich mich an die Arbeit. Der mit Büchern gefüllte Karton, den Grandma aus dem Hinterzimmer geholt hatte, entpuppte sich als wahre Fundgrube. Von Fantasy- und Liebesromanen bis hin zu Krimis und Thrillern war alles dabei. Bei einigen Exemplaren konnte ich nicht widerstehen und musste einfach den Klappentext lesen. Trotzdem füllten sich nach und nach die vereinzelten Lücken in den Bücherregalen – auch wenn ich immer wieder den Drang unterdrückte, die Bücher nach Genre zu sortieren, so wie ich es zu Hause tat. Doch dass Grandmas spezielle Ordnung funktionierte, zeigte sich an den vielen Kunden, die sich die Klinke in die Hand gaben. Viele davon verschwanden mit Grandma in einer der hinteren Abteilungen und kamen wenig später mit ganzen Stapeln voller Bücher zurück.

Gerade als ich auf der hohen Leiter balancierte, um eins der neuen Bücher in dem obersten Regalfach zu platzieren, bog Grandma um die Ecke.

»Lilly, ich muss dich leider bei deiner Arbeit unterbrechen und dich um etwas bitten. Wäre es in Ordnung, wenn du Mrs Ravenwood hilfst? Sie besitzt einige Bücher, die in die Buchhandlung sollen.«

Ich stieg die Leiter nach unten und schaute zu dem leeren Bücherkarton, dessen Inhalt ich bereits einsortiert hatte.

»Okay«, erwiderte ich etwas zaghaft.

»Danke, mein Kind. Das Haus von Mrs Ravenwood befindet sich am anderen Ende der Straße. Es ist von Efeu übersät und nicht zu übersehen. Auf Mrs Blueberry passe ich solange auf.« Grandma legte mir kurz eine Hand auf die Schulter. In ihren Augen lag ein Funkeln, das ich nicht ganz deuten konnte.

Doch ich nickte nur stumm und griff nach meinem Parka, den ich mir überzog, und kramte einen Regenschirm hervor, mit dem ich mich dann auf den Weg machte. Heute herrschte eine Kälte, die mir durch Mark und Bein ging. Der Wind pfiff um die Häuser, fegte vereinzeltes Geäst durch die Luft, während Regentropfen unaufhörlich niederprasselten. Als auch noch ein Donnergrollen über mich hinwegrollte, klammerte ich mich fester an den Regenschirm. Allerdings hielt dieser nur notdürftig den Regen davon ab, meine Kleidung zu durchnässen.

Erneut erklang ein Donnergrollen und ich beschleunigte mein Tempo. Aber je näher ich dem Haus kam, desto unwohler fühlte ich mich. Immer wieder hatte ich den Eindruck, beobachtet zu werden. Das ließ auch nicht nach, als ich das quietschende, von Rost übersäte Gartentor zu Mrs Ravenwoods Haus öffnete. Mit seinem halb zugewucherten Vorgarten und den moosbedeckten Pflastersteinen wirkte es nicht gerade einladend. Dieser Eindruck verstärkte sich um ein Vielfaches, als ich keine Klingel entdecken konnte. Stattdessen blickte mir ein altmodischer Türklopfer entgegen in der Form eines großen, echt wirkenden Rabenkopfes mit weit aufgerissenen Augen und spitzem Schnabel. Erinnerungen an Filme, in denen solche Türklopfer meist an Spukhäusern angebracht waren, schossen mir durch den Kopf.

Ich versuchte nicht allzu offensichtlich den Rabenkopf anzustarren, nahm meinen Mut zusammen und klopfte zaghaft an der Tür. Als hätte man mich bereits erwartet, ging sie in Sekundenschnelle und mit einem lauten Knarzen auf. Ich wollte gerade zu einer Begrüßung ansetzen, aber dort stand niemand. Verwirrt runzelte ich die Stirn. War die Tür von allein aufgegangen? Unsicher betrat ich das Haus, doch sobald ich die Schwelle überschritten hatte, machte sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengrube breit.

Vorsichtig wagte ich mich noch weiter vor und ließ meinen Blick über die alten Möbel schweifen. An der Wand links von mir hing eine uralte hölzerne Kuckucksuhr. Unwillkürlich näherte ich mich ihr. Doch während ich die filigranen Blütenverzierungen auf dem Zifferblatt begutachtete, sprang der große silberne Zeiger auf die volle Stunde. Ein kleines Türchen ging auf und ein Rabe in Miniaturgröße kam zum Vorschein. Schrill krächzte er mit seinem kleinen Schnabel auf. Ich zuckte erschrocken zusammen und presste mir die Hand auf die Brust. Kurz schloss ich die Augen und atmete tief durch.

Das ist nur ein Rabe aus Holz. Kein echter Rabe.

Als sich mein rasendes Herz beruhigt hatte und ich meine Augen wieder aufschlug, war der Rabe verschwunden. Verwundert schaute ich mich im Raum um und erstarrte. Dort, auf dem Wohnzimmertisch, saß ein richtiger Rabe. Und nicht irgendein Rabe. Es war der Rabe. Mit seinem durchdringenden Blick, seinen zwei verschiedenen Augenfarben. Violett und Grün. Und mit dem schaurigen Krächzen und pechschwarzen Gefieder.

Wie automatisch hielt ich die Luft an und wagte es kaum, mich zu bewegen. Und der Rabe? Nun ja, er bewegte sich auch nicht. Er gab keinen Ton von sich. Aber er beobachtete mich. Aufmerksam. Lauernd. Wissend. Und dann neigte er den Kopf, breitete seine Flügel aus und krächzte laut. Erschrocken machte ich einen Schritt rückwärts – und stieß dabei eine kleine Engelsstatue um, die direkt neben der Eingangstür stand. Es krachte laut, als die Figur auf dem Boden aufschlug. Der Kopf brach ab und rollte einige Meter über den Boden. Shit! Ich hatte einen Engel auf dem Gewissen! Wie sollte ich das bloß erklären?

Doch lautes Flügelschlagen lenkte mich ab. Mein Blick ging erneut zu dem Raben, der nun zum Abflug ansetzte. Dabei hob er anmutig seine weiten Flügel und stieß sich von dem Wohnzimmertisch ab. Schneller als ich reagieren konnte, flog er haarscharf an mir vorbei, direkt durch die geöffnete Haustür.

Fassungslos schaute ich ihm hinterher. Was war hier nur los? Wieso war dieser Rabe in diesem Haus gewesen? Und die wohl wichtigste Frage – weshalb verfolgte er mich?

»Lilly, wie schön dich kennenzulernen«, erklang plötzlich eine Stimme hinter mir und ließ mich erneut zusammenzucken.

Ich fühlte mich ertappt und drehte mich ein wenig zu schnell um, wobei mir kurz schwarz vor Augen wurde. Dabei geriet ich ins Taumeln, konnte mich jedoch gerade noch fangen.

»Ich bin Mrs Ravenwood.« Eine ältere Dame lächelte mich freundlich an. Mit ihrem langen Kleid, das von silbernen Raben übersät war und Spitze am Saum hatte, erinnerte sie mich sofort an Grandma. Anscheinend war dieser gewöhnungsbedürftige Kleidungsstil nicht nur bei ihr beliebt.