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Bin ich dein Jäger oder deine Beute? Rune ist auf der Flucht: Seit ihre wahre Identität als Hexe ans Licht gekommen ist, ist ihr Leben in Gefahr. Am meisten schmerzt der Verrat durch den Hexenjäger, der ihr Herz in Flammen gesetzt hat. Doch trotz allem, was zwischen ihnen steht, müssen Rune und Gideon erneut zusammenarbeiten, denn nur so können sie verhindern, dass eine alte Feindin die Macht ergreift. Und obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen wehren, wird es immer schwerer, ihre wahren Gefühle füreinander zu unterdrücken … Ein knisterndes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Hexe und Hexenjäger. Band 2 der prickelnden, auf TikTok gefeierten New-Adult-Romantasy-Reihe von Bestsellerautorin Kristen Ciccarelli
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Seitenzahl: 614
Veröffentlichungsjahr: 2025
Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2025 Ravensburger Verlag REBEL WITCH Copyright © 2025 by Kristen Ciccarelli Übersetzung: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de) Lektorat: Svenja Kopfmann Covergestaltung: Kerri Resnick, unter Verwendung einer Illustration von Sasha Vinogradova Karte Umschlag: Cartographybird Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.Der Nutzung für Text- und Data-Mining wird ausdrücklich widersprochen.
ISBN 978-3-473-51273-7
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Für all die Mutigen,die uns den weg leuchten
Am Anfang war die Finsternis.
Bis die sieben Schwestern lachten und eine ganze Welt in die Finsternis barst. Und die Schwestern wandelten auf den Wellen dieser Welt und formten ihre Küsten. Sie hauchten den Dingen Leben ein und schmiedeten die Bande dieser Welt aus Liebe, Güte und Schönheit.
Aber sie konnten nicht ewig bleiben. Und ehe sie weiterzogen, erwählten sie einige wenige, die an ihrer Stelle über die Welt wachen sollten. Um diesen Wächterinnen zu helfen, die Schöpfung mit Liebe im Herzen zu beschützen, schenkten ihnen die sieben Schwestern eine Gabe.
Es war die Gabe der Magie.
Und dann verschwanden sie.
Wie eine erloschene Flamme.
Schöpfungsmythos aus dem Kult der Sieben Ehrwürdigen
GIDEON
Gideon zerrte an seiner gestohlenen Uniformjacke. Der waldgrüne Stoff war so steif, als wäre er noch nie getragen worden.
Die bedauernswerte Wache, der er die Uniform abgenommen hatte, lag bewusstlos und gefesselt in einer Besenkammer im dritten Stock von Schloss Larkmont. Vier weitere Wachen hatten weniger Glück gehabt. Ihre Leichen trieben im eiskalten Fjordwasser.
Gideon hatte keine andere Wahl gehabt.
Er befand sich mitten im Feindesland. Falls er entdeckt wurde, blieb ihm nur, sich einen schnellen Tod zu wünschen.
Seine Gedanken bildeten einen düsteren Kontrast zu dem strahlend hell erleuchteten Ballsaal, in dem er sich befand. Das Orchester stimmte bereits die Instrumente, gleich würde Prinz Sørens Privatvorstellung beginnen. Kerzen in gewaltigen Lüstern flackerten über den Köpfen der glamourösen Gäste, zwischen denen sich Diener hindurchschlängelten, die die letzten Erfrischungen vor dem Konzert anboten.
Gideon stand am Rand des Saals, von wo aus er wie die anderen Wachen das Geschehen überblicken konnte. Doch seine Augen waren fest auf sein Ziel gerichtet: die schöne junge Frau im goldenen Kleid.
Rune Winters.
Prinz Søren stand mit der Hand in ihrem Kreuz neben ihr. Der ombrianische Prinz trug einen maßgeschneiderten Anzug mit lässig über die Schulter fallendem Umhang, in den sein silbernes Familienwappen eingestickt war. Er ließ seinen gierigen Blick so unverhohlen an Runes Kleid hinabwandern, als wollte er seine reichen Freunde dazu einladen, es ihm gleichzutun.
Das Verhalten des Prinzen brachte Gideons Blut zum Kochen.
Runes Kleid war zweifellos wunderschön. Es musste von irgendeinem berühmten Couturier stammen und hatte sicherlich ein kleines Vermögen gekostet. Aber es passte nicht zu ihr. Gold war nicht ihre Farbe, und der Schnitt war viel zu vulgär. Der V-Ausschnitt endete vorn erst eine Handbreit über ihrem Bauchnabel, und hinten ging er so tief, dass er bis zu ihrem Steiß reichte.
Die Botschaft war klar: Schaut sie nur an. Und sie gehört MIR.
Der Prinz wollte, dass seine Gäste die bildschöne Hexe an seinem Arm bewunderten. Søren betrachtete Rune als exotisches Geschöpf. Als lebendiges Artefakt, das er um jeden Preis seiner Sammlung hinzufügen wollte.
Falls Harrows Informationen korrekt waren, hatte der Prinz vor einer Woche um ihre Hand angehalten. Und Rune hatte Ja gesagt, allerdings unter einer Bedingung: Wenn Søren sie zur Frau wollte, musste er Cressida eine Armee beschaffen.
Was der Grund dafür war, dass Gideon sich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet hatte.
Sobald Cressida über eine Armee verfügte, würde sie der Neuen Republik den Krieg erklären. Und falls sie diesen Krieg gewann, würde sie ein neues Zeitalter der Herrschaft der Hexen einläuten.
Noch mehr Menschen würden sterben.
Das musste Gideon um jeden Preis verhindern. Und da Rune das Bindeglied in dieser unseligen Allianz zwischen Cressida und Søren bildete, konnte er ihr Leben nicht verschonen.
Gideon hatte den Auftrag, sie zu töten – und er war bereit, ihn zu erfüllen.
Hier und heute.
Den ganzen Abend lang hatte er auf seine Chance gewartet. Hatte vom Rand des Ballsaals aus in seiner gestohlenen Uniform schweißgebadet dabei zusehen müssen, wie Rune mit ihrem Verlobten flirtete und wie Søren darauf reagierte. Wie er sie mit gierigen Fingern berührte, sie mit seinem hochmütigen Blick verschlang.
Es trieb Gideon an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung.
Alex’ Leichnam war kaum kalt, und schon hatte sich Rune mit einem anderen verlobt. Und dann auch noch ausgerechnet mit einem Prinzen!
Ist es das, was sie die ganze Zeit wollte? Einen Prinzen?
Wie hatte er nur so dumm sein können, sich je Chancen bei ihr auszurechnen?
Gideon tastete nach der Pistole an seiner Hüfte. Er war bereit. Mehr als bereit. Jetzt musste er nur noch den richtigen Moment abwarten.
»Vermissen Sie Ihre Heimat denn gar nicht?«
Gideon ließ suchend den Blick über den Zirkel von Ballgästen schweifen, von dem Rune und Søren umringt waren. Die Stimme gehörte einer jungen Frau mit weizenblondem Haar, das zu einer Krone geflochten war.
Rune lachte auf. »Würden Sie einen Ort vermissen, an dem man Sie tot sehen will?«
Gideon beobachtete, wie sie ihre Champagnerflöte an die roten Lippen hob und sich den letzten Schluck in den Mund kippte.
Es war ihr drittes Glas heute Abend.
Nicht, dass er mitgezählt hätte.
»Wie war es dort vor der Revolution?«
»Wir Hexen haben früher so gelebt wie Sie heute«, antwortete Rune mit einer Geste, die den edlen Ballsaal mit seinen funkelnden Kronleuchtern, der bemalten Decke und den stattlichen Marmorsäulen umfasste. »Unser Alltag war erfüllt von Musik, Schönheit und Kunst …«
Richtig, dachte Gideon. Alles Luxus, den ihr euch mit unserem Elend erkauft habt.
Das Summen und Schrillen der Geigen wurde lauter. Gideon sah zur Bühne, vor der die Gäste nun nach und nach ihre Sitzplätze einnahmen.
»Aber dieses Leben wurde uns in jener Nacht geraubt, in der Gideon Sharpe eine Gruppe von Revolutionären in den Palast geführt hat.«
Als Rune seinen Namen in den Mund nahm, kehrte seine Aufmerksamkeit schlagartig zu ihr zurück.
»Er hat zwei Königinnen in ihren Betten ermordet, wir übrigen Hexen wurden von seinen Kameraden auf den Straßen niedergemetzelt. Auch mich hätte er ermorden lassen, wenn Cressida mich nicht gerettet hätte.«
Alles in Gideon sträubte sich, als er ihre Worte hörte.
Da hast du aber einige pikante Einzelheiten ausgelassen, meine Süße.
»Das muss Ihnen doch das Herz brechen«, sagte der Prinz, während er langsam seine Knöchel Runes Wirbelsäule hinabgleiten ließ. »So weit fort von Ihrer Heimat zu sein und zu wissen, was für grauenvolle Dinge sich dort abspielen … Ich bin so froh, dass Sie den Weg in die Freiheit gefunden haben.«
Er schob den Arm um ihre Taille. Die Geste mochte tröstlich gemeint sein, auf Gideon wirkte es aber eher so, als wollte der Prinz damit noch einmal daran erinnern, dass Rune ihm gehörte.
Gideon ließ unauffällig die Schultern kreisen und zwang sich, eine entspannte Haltung einzunehmen.
»Noch immer werden Hexen massakriert, nur weil sie das Verbrechen begangen haben, zu sein, was sie eben sind«, sagte Rune und starrte dabei in ihr leeres Glas, während Søren sie weiter im Arm hielt. »Ich werde mich niemals frei fühlen können, bis nicht die Letzte meiner Schwestern frei ist.«
Die Instrumente verstummten, und es wurde verkündet, dass das Konzert nun beginnen würde.
Einer nach dem anderen verließen die Umstehenden den Zirkel und eilten zu ihren Plätzen.
Søren verschränkte die Finger mit Runes und führte sie zu den Sitzreihen. Doch sie waren keine drei Schritt weit gekommen, da setzte das erste Stück ein, und Rune geriet aus dem Tritt und blieb ruckartig stehen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Prinz und wandte sich zu ihr um.
Die Musik schwoll an. Gideon sah zur Bühne. Er kannte dieses Lied. Er wusste nur nicht mehr, woher.
»Ich … Ich muss mir die Nase pudern.« Rune schien um Fassung zu ringen. »Ich bin gleich wieder da …«
»Nun seien Sie aber nicht albern«, sagte Søren. »Das Konzert hat begonnen.« Er senkte die Stimme. »Das alles hier ist nur für Sie, Rune. Zur Feier unserer Verlobung. Da können Sie doch nicht einfach gehen.«
Er umschloss ihre Hand so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Gideon beobachtete die Szene scharf, sein Körper vibrierte förmlich vor Anspannung. Mit pochendem Herzen sah er zu, wie Søren Rune mit sich zog, immer der Musik entgegen. Zu dem Ort, dem sie offensichtlich unbedingt entfliehen wollte.
»Ich muss …« Rune versuchte, sich aus seinem Griff zu winden.
Als Søren sie nicht losließ, sondern stattdessen noch fester zupackte, trat Gideon unwillkürlich einen Schritt nach vorn. Die Wächter, die links und rechts von ihm in jeweils zehn Schritt Entfernung positioniert waren, sahen in seine Richtung, und auf einmal wurde ihm wieder bewusst, dass er von Feinden umgeben war.
Er durfte auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Ganz abgesehen davon, dass Rune nicht gerettet werden musste. Was sie nun auch deutlich machte, indem sie sich Søren in den Weg stellte und ihm den Weg zu den Stuhlreihen abschnitt.
»Ich bin gleich wieder da, versprochen.« Sie ging auf die Zehenspitzen hoch, schlang ihre blassen Arme um den Hals des Prinzen, streifte mit den Lippen seine Wange und verharrte dort. Als Søren die freie Hand bewundernd auf ihre sanft geschwungene Hüfte legte, fügte sie hinzu: »Später, wenn das Konzert vorbei ist und die Gäste gegangen sind, habe ich noch etwas Besonderes mit Euch vor.«
Ihre Worte versetzten Gideon einen Stich ins Herz. Und als er dann noch mitansehen musste, wie Søren die Hand an ihr Gesicht hob und ihr über die Wange strich, fühlte er sich wie versteinert.
»Etwas Besonderes?«, wiederholte der Prinz leise, dann beugte er sich vor, um die Lippen auf Runes zu drücken.
Rune ließ die Hand in sein braunes Haar gleiten und erwiderte den Kuss, als wollte sie Søren einen kleinen Vorgeschmack auf später bieten. Er zog sie näher an sich. An der Art, wie er sie anfasste, erkannte Gideon, dass es nicht das erste Mal war. Es hatte früher schon Küsse gegeben. Mehr als Küsse sogar, wie er vermutete.
Die Erkenntnis erweckte etwas Furchtsames, Schmerzendes in ihm zum Leben, das sich um seinen Brustkorb schlang und drohte, ihn auf den Meeresgrund zu ziehen.
Schluss damit.
Er griff nach seiner Pistole.
Aber ehe er die Sache zu Ende bringen konnte, hatte sich Rune aus Sørens Griff befreit.
»Ich glaube, meine kleine Überraschung wird Euch gefallen.« Mit rosigen Wangen entfernte sie sich rückwärts von dem Prinzen. »Ob Ihr in meiner Abwesenheit wohl darauf kommen werdet, worum es sich handelt?«
Rune zwinkerte, und die Augen des Prinzen wurden dunkel vor Lust.
Gideon war auf einmal speiübel.
Dann wirbelte Rune auf dem Absatz herum und rauschte in ihrem Nichts von Kleid davon, während Søren und Gideon ihr nur hinterherstarren konnten.
Sie eilte an den Gästen vorbei, die auf dem Weg zu ihren Plätzen waren, und passierte die Wachen entlang der Wände. An der Tür wäre sie beinahe mit einer Bediensteten zusammengestoßen, die in dem Moment hereinkam, konnte aber gerade noch rechtzeitig ausweichen. Die junge Frau trug in einer Hand ein Tablett voller klirrender Gläser und in der anderen eine Whiskeyflasche.
Gideon beobachtete, wie Rune ein paar Worte mit der Bediensteten wechselte, ihr die Flasche abnahm und im Gang verschwand.
Da war er.
Der Augenblick, auf den er gewartet hatte.
RUNE
Nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen.
Auf Runes Weg durch die Gänge von Schloss Larkmont, vorbei an den stoischen Wachen in ihren dunkelgrünen Uniformen, brannten ihr Tränen in den Augen. Sie war dankbar, dass die Soldaten Schirme an ihren Helmen hatten. So war ihnen schwerer anzusehen, wie sie über Rune dachten.
Sie durfte nicht zulassen, dass die Tränen flossen. Nicht hier, wo sie beobachtet wurde.
Aber wie schnell sie auch rannte – vor dem Lied, das im Ballsaal noch immer gespielt wurde, gab es kein Entrinnen. Jeder einzelne Ton traf sie wie ein Messer mitten ins Herz.
Alex’ Lied.
Die wehmütige Melodie hatte Rune zurück nach Wintersea versetzt. Sie hatte sich gefühlt, als hätte sie noch einmal in der Tür ihrer Bibliothek gestanden und beobachtet, wie sich ihr bester Freund tief über die Tasten ihres Flügels beugte und mit seinen langen Fingern einen ganz eigenen Bann über den Raum legte.
Alexander Sharpe.
Das Lied, vor dem sie gerade flüchtete … Es war das Letzte, das er je geschrieben hatte.
Rune berührte Alex’ Ring, den sie noch immer am Finger trug. Die Trauer brach über sie hinein wie eine Flutwelle. Panisch suchte sie in ihrem Innersten nach irgendetwas, das sie der Macht des Aufpralls entgegenzusetzen vermochte. Aber da war nichts.
Was auch der Grund dafür war, dass sie aus dem Saal geflohen war. Sie hatte befürchtet, sonst inmitten des Balls, der zur Feier ihrer anstehenden Hochzeit mit dem Prinzen gegeben wurde, schluchzend zusammenzubrechen.
Inzwischen wären wir längst verheiratet gewesen.
Alex wäre ihr als Ehemann so viel lieber gewesen als Søren. Alex war ihr bester Freund und abgesehen von ihrer Großmutter der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der sie je wirklich geliebt hatte. Verliebt war sie zwar nicht in ihn gewesen, aber mit der Zeit hätte sich daran ja vielleicht noch etwas geändert.
Doch Alex war nicht das Einzige, was sie vermisste.
Wenn sie ehrlich war, vermisste sie ihr Zuhause.
Zuhause.
Das Wort zerriss sie fast.
Vorhin im Ballsaal hatte Sørens Freundin sie gefragt, ob sie die Neue Republik vermisste, und Rune hatte nur gelacht.
Aber die Wahrheit lautete, dass Rune sich nach Nans im Morgentau funkelndem Garten sehnte. Sie vermisste es, auf Lady durch die verwilderten Teile von Wintersea zu reiten. Sie vermisste den Duft des Meeres, der Wälder und Felder. Vermisste den Wind und die Stürme.
Dabei mochte sie Ombria und seine Hauptstadt Caelis. Die Architektur und die Kunst, die Kultur und Mode, das Essen und vor allem die freundliche Einstellung gegenüber Hexen gefielen ihr – aber nur als Besucherin oder Reisende. Denn sie gehörte nicht hierher.
Rune war nicht klar gewesen, dass sie so empfinden würde, als sie sich bereit erklärt hatte, Alex zu heiraten und die Neue Republik zu verlassen. Sie hatte nicht gewusst, dass sie nicht nur die Insel zurücklassen würde, sondern auch ihr Herz.
Aber kann ich denn wirklich einen Ort vermissen, an dem man meinen Tod will?
Rune klammerte sich am Hals der Whiskeyflasche fest.
Offenbar schon.
Wäre ihre Flucht nicht von einem Dutzend Wachen beobachtet worden, hätte Rune vermutlich direkt aus der Flasche getrunken. Die drei Gläser Champagner vorhin im Ballsaal hatten den Schmerz etwas betäubt, ihr Inneres gewärmt und der Welt ihre Schärfe genommen. So verbrachte sie inzwischen die meisten Abende: im leichten Rausch. Aber um den heutigen Abend zu überstehen, würde sie mehr brauchen als drei Gläser Alkohol.
Am besten eine ganze Badewanne.
Alex’ Lied wurde immer lauter. Der melancholische Klang ging ihr bis ins Mark.
Rune raffte ihr Kleid und rannte drauflos, sah sich aber noch einmal um, um sich zu versichern, dass Søren ihr nicht folgte.
Søren. Ihr Verlobter.
Rune schauderte. Überall dort, wo er sie berührt hatte, fühlte sich ihre Haut taub an.
Später, wenn das Konzert vorbei ist und die Gäste gegangen sind, habe ich noch etwas Besonderes mit Euch vor.
Auf einmal stand ihr der kalte Schweiß auf der Stirn.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Rune hatte keine Pläne mit Søren. Sie hatte einfach nur fliehen wollen. Und bei der Vorstellung, nachher mit ihm allein sein zu müssen, drehte sich ihr der Magen um. Lieber wäre sie mit den Taschen voll Steinen im Meer versunken.
Bring ihn dazu, dich zu begehren.
Das war die Anweisung gewesen, die Cressida Rune nach ihrer gemeinsamen Ankunft in Ombria gegeben hatte: den ombrianischen Prinzen Søren Nord dazu zu bewegen, sich nach ihr zu verzehren.
Und war nicht genau das Runes Spezialität?
Männer in ihren Bann zu ziehen?
Søren besaß eine ganze Flotte Kriegsschiffe. Als ehemaliger Marineadmiral war er weit herumgekommen und hatte einen Hang dazu, schöne, exotische Dinge zu sammeln. Aber das Beste war: Er war auf Seite der Hexen, und Gerüchten zufolge befand er sich auf Brautschau.
Und so hatte Rune eines Abends in der Oper unter dem wachenden Blick von Cressida, die oben in den Rängen gesessen hatte, am Eingang seiner Loge auf den Prinzen gewartet und sich ihm so in den Weg gestellt, dass er in sie hineingelaufen war und sich sein Wein über ihr ausgesprochen teures Kleid ergossen hatte.
Der Prinz war entsetzt über sein Missgeschick gewesen und Rune so nachsichtig und entzückend, dass er sie zur Wiedergutmachung eingeladen hatte, am nächsten Abend mit ihm ins Ballett zu gehen. Und noch einen Abend darauf ins Theater. Es dauerte nicht lang, und sie sahen sich jeden Tag. Machten ausgedehnte Kutschfahrten, dinierten zu zweit bei Kerzenschein.
Er war von Anfang an hin und weg von ihr gewesen, und Rune hatte seine Zuneigung noch befeuert und ihre Rolle so perfekt gespielt, dass sie schlussendlich erreichte, worauf Cressida abgezielt hatte: einen Hochzeitsantrag.
Doch zu Sørens größter Überraschung hatte Rune Nein gesagt.
Ich kann Euch nicht heiraten, hatte sie gesagt, ganz wie es mit Cressida abgesprochen gewesen war. Nicht, solange noch Hexen um ihr Leben fürchten müssen.
Um genau zu sein: Sie würde ihn erst heiraten, wenn er Cressida eine Armee zur Verfügung stellte, mit der sie gegen die Neue Republik in den Krieg ziehen konnte.
Rune verspürte keinerlei Bedürfnis, Søren zu heiraten, und sie hatte auch keinerlei persönliches Interesse an dem Auftrag, den ihr die Hexenkönigin erteilt hatte. Wenn sie ehrlich war, erfüllte sie schon die bloße Vorstellung, für Cressida zu arbeiten, mit einem verzehrenden Selbsthass.
Doch Cressida hatte ihr das Leben gerettet. Ihr und Seraphine. Und anders als Gideon und jeder sonst in der Neuen Republik wollte sie nicht ihren Tod. Vor allem aber wollte Cressida all die Hexen retten, die sie auf der Insel zurückgelassen hatten. Mädchen und Frauen, die genau jetzt, in diesem Augenblick, hingerichtet wurden.
Woche für Woche gelangten die Namen neuer toter Hexen an Runes Ohren. Die Blutwache hatte Aurelia Kantor festgenommen, eine mächtige Sibylle, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen konnte. Nun nutzte die Wache Aurelia, um die Aufenthaltsorte versteckt lebender Hexen zu bestimmen. Seitdem jagten und exekutierten sie ihre Opfer mit erbarmungsloser Präzision.
Manchmal erwischten sie drei oder sogar vier pro Woche.
Die sieben Ehrwürdigen allein wussten, was sie Aurelia antaten, um an diese Informationen zu gelangen.
Früher einmal hätte der rote Nachtfalter sie befreit. Aber der Nachtfalter hielt sich nun hier auf Schloss Larkmont auf der anderen Seite des Garette-Kanals auf, angeschwipst vom Champagner.
Sieh dich nur an, dachte Rune. Wie du mit Prinzen feierst, während deine Schwestern ermordet werden.
Sie hatte diese Frauen und Mädchen im Stich gelassen. Und wenn es niemandem gelang, Gideon Sharpe aufzuhalten, würden in der Neuen Republik schon bald keine Hexen mehr übrig sein.
Wäre Rune noch auf der Insel gewesen, hätte sie Aurelia längst aus dem Gefängnis befreit und auf den Kontinent geschmuggelt, wodurch sie indirekt auch vielen anderen Hexen das Leben gerettet hätte. Doch eine Rückkehr war nur auf dem Wasserweg möglich, und inzwischen wimmelte es an den Häfen nur so vor Hexenjägern und ihren scharfen Hunden, die darauf abgerichtet waren, Magie zu riechen. Selbst auf den Schiffen, die die Insel anfuhren, waren Wachen positioniert.
Nur ein einziges Schiff – die Arcadia – weigerte sich, die Soldaten und ihre Bestien mit an Bord zu nehmen. Was allerdings bloß bedeutete, dass die Hexenjäger hier verdeckt operierten. Und sobald die Arcadia in das Hoheitsgebiet der Neuen Republik vordrang, wurde auch sie von den Spürhunden gründlich auf Hexen untersucht, ehe jemand einen Fuß auf die Insel setzen konnte.
Selbst wenn es Rune irgendwie gelingen sollte, die Sibylle zu befreien, würde die Blutwache nicht aufhören, ihresgleichen zu jagen. Die Spione der Neuen Republik durchkämmten auch den Kontinent nach Cressida Roseblood und ihrer stetig wachsenden Anhängerschaft. Und jetzt, wo sie eine Sibylle in ihren Fängen hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie Cressidas Aufenthaltsort entdecken würden.
Sie werden niemals aufhören, Jagd auf uns zu machen.
Es gab nur einen Weg, die Hexen zu schützen: Die Blutwache musste zerstört und die Neue Republik gestürzt werden.
Was nur gelingen konnte, wenn sie Cressida wieder auf den Thron verhalfen.
Rune wollte Cressida ungefähr so gern auf dem Thron sehen, wie sie sich ein Loch in der Brust wünschte. Die Hexenkönigin war zutiefst bösartig und eine kaltblütige Mörderin. Aber verglichen mit der Alternative – einer Gesellschaft, die Frauen wie Rune an den Fußgelenken aufhängte, ihnen die Kehlen aufschlitzte und sie vor Publikum ausbluten ließ –, war Cressida Roseblood das geringere Übel.
Denn unter der Herrschaft einer Hexenkönigin wären die Hexen zumindest in Sicherheit.
Mit Sørens Unterstützung würde Cressida dafür sorgen können, dass niemals wieder eine Hexe gejagt wurde.
Cressida hielt sich gerade in der Hauptstadt auf, wo sie nach weiteren Verbündeten suchte. Doch es war jeden Tag mit ihrer Rückkehr zu rechnen, und sobald sie wieder da war, würden Søren und sie gemeinsam den Vertrag unterzeichnen, den seine Anwälte aufgesetzt hatten, um ihr Bündnis zu besiegeln.
Und dann würde Rune ihn heiraten müssen.
Das Gästebad kam in Sicht, und Rune richtete ihren Blick fest auf die Tür. Wenn sie erst einmal dort war, konnte sie endlich loslassen und zusammenbrechen. Nur einen winzigen Moment lang. Und wenn dieser Moment vorüber war, dann …
Rune stieß die Tür auf, stürmte hindurch und ließ sie hinter sich zufallen.
Der dunkle Raum war von Kerzen erhellt, die in Wandhalterungen und Leuchtern auf dem Waschbeckenrand flackerten. Rune öffnete die Whiskeyflasche und trank einen großen Schluck. Der Alkohol brannte ihr auf der Zunge und in der Kehle.
Und ich dachte, ich hätte diese Zeiten hinter mir.
Rune hatte angenommen, es würde ihr leichtfallen. Sie war es doch gewöhnt, Rollen zu spielen, und die der hingerissenen Verlobten hätte eigentlich keine nennenswerte Herausforderung darstellen dürfen.
Aber seit Alex’ Tod kostete es sie immense Überwindung, zu tändeln und zu intrigieren, zu lügen und zu betrügen. Deswegen auch der drohende Zusammenbruch vor Sørens Freunden und die Whiskeyflasche in ihrer Hand.
Wie hatte sie sich nur einbilden können, dass sie nach ihrer Flucht aus der Neuen Republik endlich sie selbst würde sein können? Dass sie die Rolle des oberflächlichen, albernen Oberschichtentöchterchens ablegen und einfach offen als Hexe leben könnte? Als die wahre Rune Winters?
Aber wer ist das? Wer ist die wahre Rune Winters überhaupt?
Hastig verdrängte sie die Frage.
Weil es keine Rolle spielte. Cressida brauchte eine Armee, und Søren hatte eine. Nun war es Runes Aufgabe, Cressida diese Armee zu beschaffen. Es spielte keine Rolle, wer sie war. Was zählte, war einzig, wer sie sein musste: die Hexe, die die Blutwache vernichtete und für die Sicherheit all jener sorgte, die so waren wie sie.
Du schaffst das, Rune. Vergiss nicht, was auf dem Spiel steht!
Sie ließ sich gegen das Waschbecken sinken und trank noch einen langen Schluck Whiskey. Der Geschmack ließ sie schaudern, und sie warf einen Blick in den Spiegel. Tränen rannen ihr die Wangen hinab.
Aus einem rot gefleckten Gesicht starrten ihr gerötete Augen entgegen.
Ihr Blick wanderte weiter nach unten. Das goldene Kleid, das Søren ihr geschenkt hatte, entsprach kein bisschen ihrem Geschmack. Gold sollte eigentlich nur dazu dienen, Akzente zu setzen, damit es nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Und der Schnitt war … nun ja … extravagant. Er stellte ihren gesamten Körper zu Schau.
Wenn sie ehrlich war, hasste sie es. Punkt.
Sie musste an ein anderes Kleid denken, das ihr gepasst hatte, wie kein zweites es jemals tun würde. Weil der Mann, der es ihr geschenkt hatte, wusste, was ihre Seele brauchte, nicht nur ihr Körper.
Rune rang den Gedanken nieder, ehe er seine Klauen zu tief in ihr Herz schlagen konnte.
Sie würde nicht an Gideon Sharpe denken. Jetzt nicht und niemals wieder. Obwohl sie genau wusste, dass ihr Vorsatz scheitern würde.
Wie Alex hatte ihr auch Gideon einen Antrag gemacht. Nur war es ihm nicht um eine Hochzeit gegangen, sondern um eine Partnerschaft. Eine gemeinsame Zukunft.
Sie ballte die Fäuste.
Gideon hat dich nie richtig geliebt. Was er geliebt hat, war die Frau, für die er dich gehalten hat. Und deswegen spielt es keine Rolle, was für Pläne er mit dir hatte.
Gideon würde niemals eine Hexe lieben können.
Es war schwer zu entscheiden, was sie tiefer traf: dass Alex sie geliebt hatte oder dass Gideon es nicht tat.
Rune war so sicher gewesen, dass der Hauptmann der Blutwache sie bis auf den Kontinent jagen würde, wie er es bei ihrer letzten Begegnung geschworen hatte. Doch nun waren bereits zwei Monate vergangen, ohne dass er hier aufgetaucht war.
Vielleicht hat er ja beschlossen, dass ich seine Rache nicht wert bin. Vielleicht interessiert er sich nicht mehr für mich.
Rune ballte die Fäuste.
Wen kümmerten seine Beweggründe schon? Er war fort, aus ihrem Leben verschwunden.
Die Tränen in ihren Augen brannten mit dem Whiskey in ihrer Kehle um die Wette. Rune trank noch einen Schluck, in der Hoffnung, danach endlich betäubt genug zu sein, um in den Ballsaal zurückkehren zu können. Alex’ Lied war inzwischen sicherlich vorbei.
Aber ihre Füße verweigerten ihr den Dienst.
Rune betrachtete den Ring an ihrem Finger und ließ die Flasche sinken.
Eristtot.Alexkommtnichtzurück.DuhattestzweiMonateTrauerzeit. Lass die Vergangenheit hinter dir.
Alex hätte verstanden, warum sie so handeln musste. Warum sie Søren heiraten musste. Gefallen hätte ihm die Vorstellung nicht, aber er hätte die Notwendigkeit erkannt. Er hätte Rune verziehen.
Am Ende war es die Vorstellung, wie Alex – der liebenswürdige, gutherzige, sichere Alex – ihr verzieh, der Rune den letzten Rest gab. Anstatt dass sie die Fassung zurückgewann, trat das genaue Gegenteil ein: Die Trauer versuchte mit aller Macht, aus ihr herauszuplatzen.
Halt suchend griff Rune nach dem Porzellanbecken, kämpfte darum, den Ausbruch zu verhindern.
Aber es war unmöglich. Die Trauer war zu mächtig.
Über das Waschbecken gebeugt, brach Rune in stummes, hoffnungsloses Schluchzen aus. Die Traurigkeit wand sich um sie wie eine Eisenkette und zog sie mit ihrem Gewicht herab. Das Gefühl war so überwältigend, dass sie fast nicht mitbekommen hätte, wie sich die Tür hinter ihr öffnete.
Trotz ihrer tränenverschwommenen Sicht erkannte sie, wie im Spiegel etwas Waldgrünes aufschimmerte.
Herrlich. Jetzt hat Søren auch noch eine seiner Wachen losgeschickt, um mich einzusammeln.
Konnte sie hier keine fünf Minuten für sich haben?
Würde so etwa der gesamte Rest ihres Lebens aussehen?
Sie rieb sich die Tränen aus den Augen und setzte das Lächeln auf, das sie als Waffe benutzte. Das Lächeln, das die Leere in ihrem Inneren maskierte. Gerade wollte sie es auf den nichts ahnenden Wachmann anwenden, als ein weiterer Blick in den Spiegel sie abrupt innehalten ließ.
Diesen grausam geschnittenen Mund hätte sie überall auf der Welt wiedererkannt.
Gideon schob sich den Helm in den Nacken und richtete seine Pistole auf sie.
Als sich ihre Blicke begegneten, toste Runes Herzschlag los wie ein Wirbelsturm.
Und ich dachte, du hättest mich vergessen.
GIDEON
Der erste Fehler an diesem Abend unterlief Gideon, als er seine Waffe zum tödlichen Schuss hob: Er sah Rune an, ehe er den Abzug drückte.
Ihr kalter, grauer Blick bohrte sich in ihn. Es war der Blick, der ihn Nacht für Nacht heimsuchte. Der Blick einer Frau, die er um jeden Preis vergessen wollte.
Warum weint sie?
Gideon schloss die Hand fester um seine Waffe.
Als wäre das wichtig. Es interessiert mich nicht.
Aber gesehen hatte er ihre Tränen nun einmal. Genauso wie die Whiskeyflasche, die deutlich weniger Inhalt hatte als bei Runes Flucht aus dem Ballsaal.
Runes Anblick drohte, etwas in ihm zum Bersten zu bringen. Es war ein gefährliches Gefühl, das ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Ein Gefühl, dem er keinen Raum geben durfte.
»Manche Dinge ändern sich nie, was?«
Runes Tonfall war ruhig, ihr Blick im Spiegel fest auf Gideon gerichtet. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Drang zu beherrschen, die Nähte ihres goldenen Kleides nachzuzeichnen.
Verdammt, jetzt schieß doch endlich!
»Einer Frau in die Toilette zu folgen, um sie umzubringen, ist genau dein Stil, was, Gideon?«
»Interessant, wie häufig du heute Abend meinen Namen in den Mund nimmst.«
Der Ausdruck in ihren Augen wurde hart wie Stahl. »Was würde nur dein Bruder sagen, wenn er dich jetzt sehen könnte …«
Die Worte trafen ihn wie eine Ohrfeige. Doch er schüttelte den Schmerz ab und rief sich in Erinnerung, dass diese Hexe eine Meisterin der Manipulation war. Sie hatte ihn dazu gebracht, zu glauben, dass sie nur ein unschuldiges junges Ding war – eine Frau, die ihn liebte –, während sie gleichzeitig heimlich Hexen gerettet hatte, um Cressida beim Aufbau ihrer Armee zu helfen.
Ganz zu schweigen davon, dass sie die ganze Zeit über mit Alex verlobt gewesen war.
Alex.
»Mein Bruder ist allein deinetwegen tot.«
Sie wandte sich zu ihm um, und Gideon konnte nicht anders, als seinen Blick über das gewagte V in ihrem Kleid gleiten zu lassen, das ihm jetzt so nah war und viel zu viel von ihrem Körper preisgab.
Er schluckte hörbar. »Du siehst lächerlich aus in diesem Kleid.«
Lügner.
Doch Rune schluckte den Köder. »Søren sieht das anders. Er kann die Finger nicht von mir lassen.«
Ein Gefühl, als hätte sie ihm Gift verabreicht, schwappte durch Gideons Körper.
Sie hob das Kinn und warf ihm ein boshaftes Lächeln zu.
Gideon dachte daran, wie sie ihre Finger mit denen des Prinzen verschränkt hatte. Wie großzügig sie mit ihren Küssen gewesen war. Wie sie zugelassen hatte, dass er vor seinen Freunden mit ihr angab.
Nichts von alledem hätte sie Gideon je erlaubt.
Die Erkenntnis rief ihm einmal mehr in Erinnerung, wie unerreichbar sie von Anfang an für ihn gewesen war. Wie hatte er je glauben können, dass sie sich ernsthaft auf jemanden wie ihn einlassen würde?
Er war vom ersten Tag an auf sie hereingefallen.
»Ein Prinz also, ja?«, sagte er. »Deine Ansprüche sind merklich gestiegen.«
Ihr Gesicht erstarrte zur Maske, doch es war eine, die ihm neu war. Sämtliche Spuren des belanglosen reichen Töchterchens, das sie normalerweise zu sein vorgab, waren verschwunden. Diese Maske hier war ausdruckslos wie polierter Marmor.
»Im Gegenteil. Dieser Tage ist mein einziger Anspruch an meine Bewunderer, dass sie nicht meinen Tod wünschen. Findest du nicht, dass das recht wenig verlangt ist?«
»Wie du meinst.« Er straffte die Schultern und zielte erneut. Je schneller er die Sache hinter sich brachte, desto besser. »Ich bin nur froh, dass Alex nicht mitansehen muss, wie schnell du ihn vergessen hast.«
Damit schien er Rune einen empfindlichen Treffer versetzt zu haben. Ihre Hände verkrampften sich. »Wenn Alex noch hier wäre, müsste ich ihn nicht vergessen.«
»Bis er die Wahrheit entdeckt hätte: dass du eine hinterhältige kleine …«
Rune schleuderte ihm die Whiskeyflasche entgegen.
Gideon duckte sich knapp darunter hinweg, und das Glas zersprang an der Wand hinter ihm. Whiskeytropfen regneten in seinen Nacken. Dann schoss ein goldener Schemen an ihm vorbei. Im letzten Moment begriff er, dass Rune zum Ausgang rannte.
Er hätte damit gerechnet, dass sie ihn mit einem Zauber angriff. Aber mit einer Flasche?
Gideon packte sie an der Taille und schleuderte sie grob gegen die Wand. Der Aufprall presste ihr die Luft aus der Lunge. Ehe sie sich orientieren konnte, schob er ihr das Knie zwischen die Beine und fixierte ihre Handgelenke über ihrem Kopf, sodass sie sich nicht mehr rühren konnte.
Rune keuchte auf und funkelte ihn finster an.
Mit einer Hand hielt er ihre Arme fest, mit der anderen hob er die Waffe an ihre Schläfe.
Ihr Duft nach Wacholder und Meeresbrise stieg ihm in die Nase. Drohte, ihn schwach zu machen. Sein Herz hämmerte los, und er schluckte schwer. Es war gefährlich, ihr so nahe zu kommen.
»Ich wünschte, Alex hätte sich niemals vor diese Kugel geworfen«, sagte sie. »Du bist es, der hätte sterben sollen! Ich wünsche, du wärst tot!«
Die Worte fühlten sich an wie eine rostige Klinge in seinen Eingeweiden.
Wie oft schon hatte er sich selbst den Tod gewünscht?
Er konnte sich noch bis ins kleinste Detail erinnern: wie Cressida ihm befohlen hatte, mit ihr zu kommen. Wie er sich geweigert und sie daraufhin die Waffe gehoben und auf den Abzug gedrückt hatte. Wie Alex die Kugel abbekommen hatte, die eigentlich für ihn gedacht gewesen war.
Runes Schrei hallte noch in seinen Ohren nach. Er sah sie vor sich, überströmt mit dem Blut seines Bruders, der sterbend in ihren Armen lag.
Und doch: Hätte Rune Cressida Roseblood nicht geholfen, wäre Alex noch am Leben gewesen. Es war zwar Cressida gewesen, die den Abzug betätigt hatte. Aber Rune hatte ihr dabei geholfen, ihre Identität zu verbergen. Die ganze Zeit über hatte sie mit Gideons ärgster Feindin unter einer Decke gesteckt.
Selbst jetzt noch versuchte Rune, Alex’ Mörderin den Weg auf den Thron zu ebnen.
Und aus diesem Grund bist du hier.
Indem er sich in seine Zielperson verliebte, hatte er die Republik verraten. Dabei hatte er damals längst den Verdacht gehegt, dass Rune der rote Nachtfalter war – eine kriminelle Hexe, der er zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahren auf den Fersen gewesen war. Und dennoch war er ihrem Charme verfallen.
Dabei hatte Rune seine Gefühle nie erwidert. Das alles war nur eine ausgeklügelte Intrige gewesen. Denn während all der Zeit, in der sie ihm schöne Augen gemacht hatte, war sie in Wahrheit in seinen Bruder verliebt gewesen.
Wie hatte sie es damals noch erklärt?
Weil dein Bruder ein so viel besserer Mensch ist, als du es je sein wirst.
Rune hatte ihm das Gefühl gegeben, dass jemand wie sie jemanden wie ihn tatsächlich lieben könnte. Doch das war alles nichts als eine Lüge gewesen. Er war nicht gut genug für sie, und daran würde sich nie etwas ändern.
Nur dass Gideon die Wahrheit nicht hatte sehen wollen.
Weil er Rune gewollt hatte.
Weil ich schwach bin.
Indem er sich in sie verliebte, hatte er die Republik verraten, die er mitaufgebaut hatte. Die Freunde und Soldaten, denen er Treue geschworen hatte. Die Bürger, deren Schutz seine erklärte Aufgabe war. Rune hatte ihn geschwächt, und seine Schwäche hatte viele Menschen das Leben gekostet.
Was erst enden würde, wenn er sich der Sache annahm.
Deswegen war Gideon hier: um die Schwäche aus seinem Herzen zu schneiden wie einen Tumor. Aber dafür musste er den Ursprung eliminieren. Sie. Das Loch, das zurückblieb, würde er mit flüssigem Stahl füllen. Bis er stärker war als zuvor und kälter als Eisen.
Er bohrte den Lauf tiefer in Runes Schläfe.
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern sah ihm unverwandt in die Augen. Als hätte sie nur auf diesen Augenblick gewartet. Auf ihn.
»Na los, schieß doch.«
»Nichts anderes habe ich vor.«
»Ach ja? Dann beweis es.«
Er hatte vergessen, was für ein Sturm in ihren Augen toste, wenn sie wütend war. Wie ein Gewitter, in das er mit offenen Armen hineinlaufen wollte.
»Wir wissen beide, was du mit mir machen willst. Tja, hier hast du deine Chance.«
Sein Blick glitt zu ihren Lippen. »Du hast keine Ahnung, was ich mit dir machen will.«
Aus dieser Nähe erkannte er jedes noch so kleine Detail: wie rot und geschwollen ihre Augen waren. Die Flecken in ihrem Gesicht. Die Salzspuren von Tränen auf ihren Wangen.
Die Alkoholfahne in ihrem Atem.
Gideon wusste, dass Rune hin und wieder ein Glas trank. Aber dieses Ausmaß hier war ihm neu.
Er runzelte die Stirn. »Du stinkst wie eine Bierschenke.«
»Da spricht der Gentleman aus dir.« Ihre Stimme war heiser und tief.
»Ich bin kein Gentleman und war auch niemals einer.« Er beugte sich zu ihr vor. »Falls du mich für einen gehalten hast, kann ich nichts dafür.«
Es war ihm unmöglich, ihre Nähe nicht von Kopf bis Fuß zu spüren. Die Hitze ihrer Schenkel an seinem Knie, das fieberhafte Pulsieren ihres Blutes unter seiner Hand. Sie war so klein und weich, wie er sie in Erinnerung hatte. Makellos und wunderschön.
Er verspürte den alles verzehrenden Drang, ihr Gesicht mit seinen Händen zu umschließen und sie zu fragen, was passiert war. Warum sie so aufgewühlt war.
Aber er schüttelte die Verlockung ab.
Das war es doch, was sie stets mit ihm machte: seine Vernunft ausschalten.
Sie ist eine kaltherzige Verführerin. Du darfst nicht zulassen, dass sie dich einwickelt.
Rune hatte gerade den Mund geöffnet, vermutlich, um weitere Beleidigungen von sich zu geben, da ließen die lauten Rufe mehrerer Wachen sie beide erstarren. Offenbar war das Klirren der Flasche zu hören gewesen, und nun suchte man nach dem Ursprung des Lärms.
Gideon sah sich in dem kleinen Gästebad um. Es gab nur einen Ausgang – die Tür hinter ihm, die auf den Korridor hinausging, durch den die Wachen heranstürmten. Sobald er schoss, würden sie wissen, woher der Lärm gekommen war. Und da es keinen Fluchtweg gab, saß er mit Rune in der Falle.
Was bedeutete, dass er so gut wie tot war.
Nein, schlimmer als das. Denn wenn sie ihn festnahmen, würde sein Schicksal in Cressidas Händen liegen. Er durfte auf keinen Fall wieder ihr Gefangener werden – eher würde er sich vorher das Leben nehmen.
Runes Puls beschleunigte sich unter seinem Daumen. Wenn sie jetzt nach Hilfe rief, würden sie ihn finden.
»Wenn du schreist«, flüsterte er mit dem Pistolenlauf an ihrer Schläfe, »jage ich dir eine Kugel ins Hirn.«
Die Soldaten draußen kamen immer näher.
»Aber wenn ich schweige, tötest du mich doch genauso.«
Da hatte sie recht. Trotzdem schien Rune noch ein paar Sekunden länger leben zu wollen, denn sie schrie nicht.
Er verfluchte sich dafür, dass er überhaupt je gezögert hatte. Er hätte hereinkommen, sie erschießen und flüchten sollen. Einfach handeln, ohne nachzudenken.
Aber er hatte die wilde, ungezähmte Rune immer schon der Rune vorgezogen, die sich hinter einer Maske aus Stil und Klasse verbarg. Und wäre es diese Rune gewesen, die er hier vorgefunden hätte – eine bildhübsche junge Frau mit makellosem Kleid und akribisch frisierten Haaren, die sich ihr perfektes Näschen puderte –, wäre es vermutlich nie zu diesem Gespräch gekommen.
Denn sie wäre längst tot gewesen.
Doch stattdessen hatte er die andere Rune gefunden.
Seine Rune.
Am Boden zerstört.
Tief in seinem Inneren wollte er ihren Kopf nach hinten neigen und sie küssen. Sie bitten, ihm zu erzählen, weshalb sie weinte.
Nein! Er biss die Zähne zusammen. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was ich will!
Aber jetzt, wo er den Gedanken einmal zugelassen hatte, bekam er ihn nicht mehr aus dem Kopf, und seine Fantasie schlug immer gefährlichere Wege ein. Als Rune und er einander zuletzt so nahe gewesen waren, hatte sie unter ihm gelegen, in seinem Bett, und er hatte ihrem Körper mit den Lippen gehuldigt, hatte süße Worte auf ihre Haut geflüstert. Und dann hatten sie sich einander hingegeben.
Es war geschehen, er konnte es nicht rückgängig machen, und nun bezahlte er den Preis für diese Entscheidung.
Rune …
Was hätte er dafür gegeben, ihrer würdig zu sein! Und wie hatte er nur so dumm sein können, sich einzubilden, er könnte es eines Tages vielleicht sein.
Ich werde niemals wieder auf ihre Tricks hereinfallen! Niemals!
»Ich verstehe das einfach nicht«, flüsterte er, während sie den Schritten lauschten, die sich weiter den Gang entlang entfernten. »Erklär es mir.« Auf einmal musste er es einfach wissen. »Du bist bereit, Cressida auf den Thron zu helfen, obwohl du weißt, wozu sie in der Lage ist? Sehnst du dich so sehr nach Blutvergießen und Grauen?«
»Wonach sonst sollte ich mich denn sehnen, wenn ich an die Menschen denke, die mich jagen und mir die Kehle aufschlitzen wollen?« Rune zog ihre perfekt geformten Brauen zusammen.
Er musterte sie scharf. »Und wenn dann alles vorbei ist, deine geliebten Hexen in Sicherheit sind und diese Tyrannin wieder auf ihrem finsteren Schreckensthron sitzt, endest du als Braut eines Prinzen, der dich wie eine Trophäe behandelt? Das ist es, was du willst? Zur Schau gestellt werden – wie ein Pokal in einer Glasvitrine?«
Sie schien zu zögern. Doch dann hob sie trotzig das Kinn. »Søren wird mich glücklicher machen, als es so manch anderer Mann je könnte.«
Der bloße Gedanke daran, dass er den Mund geküsst hatte, aus dem diese Worte kamen …
»Den übrigen Leuten hier kannst du ja vielleicht etwas vormachen. Aber ich falle darauf nicht herein. Sieh dich doch an, Rune. Du musst dich betrinken, nur um einen einzigen Abend mit ihm durchzustehen.«
Er dachte daran, wie er selbst noch vor gar nicht allzu langer Zeit gelebt hatte. Hastig schob er die Erinnerungen von sich.
»Du wirst es hassen, Søren Nords Ehefrau zu sein«, fügte er noch hinzu.
»Du hast keine Ahnung, was ich hasse und was nicht, Gideon.«
»Oh, an das ein oder andere kann ich mich durchaus erinnern.«
In ihren Augen funkelten Blitze auf. »Als würdest du wissen, wer ich bin.«
»Ich weiß vielleicht nicht, wer Rune Winters ist«, flüsterte er. Seine Lippen waren keinen Fingerbreit von ihren entfernt. »Aber ich kenne den roten Nachtfalter. Und der lässt sich nicht einsperren.«
Rune fuhr zusammen. »Hör auf damit!«
»Ich bedaure den Mann, der versucht, dir die Flügel zu stutzen.«
»Hör auf zu reden.«
»Sag Lebwohl zu deiner Freiheit, Rune.«
»Halt die Klappe!«
Sie wehrte sich gegen seinen Griff, und fast wären Gideon ihre Handgelenke entglitten. Er hatte vergessen, wie stark sie war, obwohl sie nur halb so groß war wie er. Er senkte sein Knie, um einen festeren Stand zu gewinnen.
Und das war sein zweiter Fehler.
Denn Rune rammte ihm erbarmungslos ihr eigenes Knie zwischen die Beine.
Die Schmerzexplosion war grell und tauchte den Raum in blendendes Weiß. Gideon klappte nach vorn zusammen und ging zu Boden. Der Druck in seinen Hoden war so unerträglich, dass es ihm den Atem raubte. Er zog die Knie an die Brust, um sich zu schützen, falls Rune noch einmal zutreten wollte.
Sie nahm seine Waffe an sich. »Das war die Rache dafür, dass du mich vor den Henker gebracht hast.«
Gideon lag stöhnend in einer Pfütze aus Whiskey, Scherben und Schmerz.
Die Tür flog auf.
Jemand trat ein, und der Geruch von Blut und Rosen füllte den Raum.
»Da sieh einer an. Gideon Sharpe!«, sagte eine Stimme, die bis heute seine Albträume beherrschte. »Was für eine angenehme Überraschung.«
Ihr Schatten fiel auf ihn, und sein Blut gefror zu Eis.
Doch er blickte nicht auf. Weil er genau wusste, was er vor sich sehen würde: eine Hexe mit weißem Haar und einem Blick so blau und kalt wie ein Eismeer.
Cressida Roseblood.
Gideon schloss die Augen.
Fuck.
Stets hatte er sich gesagt, er wäre lieber tot, als Cressida ausgeliefert zu sein. Und dass er eine Möglichkeit finden würde, seinem Leben ein Ende zu setzen, falls er jemals wieder in ihre Gefangenschaft geraten würde.
Er sah auf die Pistole in Runes Händen.
Sie hätte sich genauso gut am anderen Ende der Welt befinden können.
GIDEON
Zwei Wachen packten ihn an den Armen und zerrten ihn auf die Beine. Dann fesselten sie ihm mit Handschellen die Arme hinter dem Rücken.
Cressida kam näher. Ihre Haare waren so nass, als wäre sie durch einen tosenden Sturm geritten. Ihr Blick fühlte sich an wie ein Messer, das ihm in die Brust gerammt wurde.
Gideons Schmerzen verblassten angesichts seiner lähmenden Angst. Das hier war sein wahr gewordener Albtraum.
Cressida sah zwischen ihm und Rune hin und her, die noch immer seine Waffe auf ihn gerichtet hielt. Ein fragender Ausdruck glitt durch den Blick der jungen Hexenkönigin, aber sie sprach ihre Gedanken nicht laut aus, sondern forderte nur mit der ausgestreckten Hand den Schlüssel für die Handschellen von den Wachen.
»Ava, dich brauche ich«, sagte Cress zu der jungen Frau, die zusammen mit ihr hereingekommen war. »Alle anderen raus.«
Gideon erkannte die Frau an Cressidas Seite: Es war Ava Saers, eine Hexe und ehemalige Narbenkünstlerin im Dienst der Rosebloods. Während der Herrschaft der Königinnenschwestern hatten sich viele reiche Hexen ihre Spruchnarben in Form wunderschöner Bilder und Muster in die Haut ritzen lassen. Die Roseblood-Schwestern hatten sich zwar am liebsten gegenseitig mit Narben gezeichnet, bei besonderen Anlässen aber auch Ava hinzugezogen. Gideon konnte sich noch genau erinnern, mit welcher zarten Leichtigkeit ihr Wirkmesser durch die Haut der Königinnen geglitten war.
Ava war eine der ersten Hexen gewesen, die der rote Nachtfalter aus den Arrestzellen der Blutwache entführt hatte. Ihr rotbraunes Haar war zu einem Seitenknoten zusammengefasst, wie es derzeit in Mode war, und ihr saphirgrünes Kleid schimmerte im Kerzenlicht, als sie sich ihrer Königin näherte. Sie musste bei dem heutigen Konzert zu Gast gewesen sein.
Wie vielen Hexen Søren wohl noch Obdach bietet?
Ava öffnete ihre paillettenbesetzte kleine Handtasche und holte ein Wirkmesser hervor.
Cressida öffnete die Schnalle an ihrem Umhang, der daraufhin raschelnd zu Boden fiel, sodass Gideon freie Sicht auf ihre Arme hatte. Sie waren von oben bis unten mit silbernen Narben bedeckt, und jede einzelne war Gideon schmerzlich vertraut. Sie sahen aus wie ein Blumengarten, der an ihren Handgelenken begann und sich von dort aus bis zu ihren Schultern emporschlängelte.
Ava drückte das kleine Messer in Cressidas Haut und fügte einer Lilie in dem Blumenmuster ein Blütenblatt hinzu.
Der Geruch von Cressidas Magie breitete sich aus. Das metallische Aroma von Blut, vermengt mit dem unangenehm süßen Duft von Rosen.
Als Ava fertig war, tauchte Cressida die Finger in das Blut, das aus der Wunde trat. Gideons Gesicht wurde taub vor Entsetzen, als sich die Hexenkönigin hinkauerte und vor ihm leuchtend rote Blutzeichen auf den Boden malte. Die Magie lag schwer in der Luft, und als sich Cressidas Zauber manifestierte, drehte sich ihm der Magen um.
Dicke, unsichtbare Ranken wanden sich um seine Beine und fesselten ihn an den Boden. Doch dort hörte die Magie nicht auf. Sie kletterte weiter seine Arme und Schultern hinauf, wickelte sich um seine Brust, bis er keinen Finger mehr rühren konnte.
Gideon wehrte sich gegen den Bann, spannte die Muskeln an, biss die Zähne zusammen. Als könnte er Cressidas Magie mit bloßer Willenskraft besiegen. Aber je heftiger er sich wehrte, desto enger wurden seine Fesseln.
Du hast es nicht anders verdient.
Hätte er beim Anblick von Runes Tränen nicht gezaudert, sondern einfach den Abzug gedrückt, hätte er seine Mission längst erfüllt und wäre nun auf dem Rückweg nach Caelis.
Cressida erhob sich und kam auf ihn zu – um plötzlich innezuhalten. »Rune?« Sie sah sich um. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«
Gideon schaute an der Hexenkönigin vorbei zu Rune, die den Raum nicht verlassen hatte, sondern einige Schritt hinter Cressida stehen geblieben war. Sie wirkte wie erstarrt. In ihren Händen lag noch immer die Pistole und in ihren grauen Augen ein Ausdruck, den er nicht zu deuten wusste.
Ihre Blicke begegneten sich. Eine unsichtbare Spannung lag in der Luft.
Bring es zu Ende. Erlöse mich von meinem Elend.
Sie wusste, was Cressida ihm in der Vergangenheit angetan hatte. Was Cressida ihm jetzt antun würde.
»Rune.« Flehend sah er sie an. »Schieß!«
In ihren Augen toste ein Gewitter. Wenn sie den Abzug betätigte, dann würde sie es nicht aus Mitleid tun, sondern aus anderen, stärkeren Motiven.
Cressida trat zwischen sie. »Gib Ava die Pistole.«
Was auch immer Rune so beschäftigt hatte – der Befehl riss sie schlagartig aus ihren Gedanken.
»Die Pistole, Rune.«
Rune blickte auf die Waffe in ihren Händen. Dann reichte sie sie wie eine brave kleine Fußsoldatin an Ava weiter.
Ohne Gideon noch einmal anzusehen, drehte sie sich wortlos um und verließ den Raum. Glassplitter knirschten unter ihren Sohlen. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Dann war Gideon mit Cressida und der Narbenkünstlerin allein.
Als wäre sein Schicksal Rune vollkommen gleich.
Ava legte die Waffe auf dem Waschbeckenrand ab und puderte sich vor dem Spiegel nach.
»Da schau an. Endlich wiedervereint.«
Er riss seinen Blick von der Tür los, durch die Rune verschwunden war, und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Feindin, die er direkt vor sich hatte. Cressida Roseblood war schön – wenn auch auf kalte, Furcht einflößende Weise. Bei ihrem Anblick hatte man immer das Gefühl, als hätte man sich in einen Schneesturm verirrt und wüsste längst, dass man darin sterben würde.
Blut rann ihren Arm hinab bis zu den Fingern. Einen Meter von Gideon entfernt blieb Cressida stehen, zückte ihr Wirkmesser und drückte ihm die flache, halbmondförmige Klinge unters Kinn, sodass er gezwungen war, sie anzusehen. Dann fuhr sie mit der Klinge an seinem Hals entlang. »Bist du allein nach Larkmont gekommen?«
Sein Mund war wie ausgetrocknet. »Ja.«
Sie ging um ihn herum, ließ das Messer über seine Schultern gleiten und verharrte an seinem Rücken. Er spürte, wie sie den Schlüssel in seine Handschellen steckte und drehte. Rasselnd fielen die Ketten auf den Boden.
Er wollte nach dem Messer greifen, nach ihr. Aber auch ohne die Handschellen waren seine Hände durch den Bann gefesselt.
Cressida umkreiste ihn weiter. Ließ weiter ihre Klinge über seinen Körper gleiten, bis sie ihm wieder gegenüberstand. Dann hakte sie ihr Messer unter den Kragen seiner gestohlenen Jacke und zog, sodass der oberste Knopf absprang.
Gideon hörte sein Hemd darunter reißen.
Sein Herz pochte so wild, als wollte es ihm aus der Brust springen.
»Aus welchem Grund bist du hier?«
»Um Rune Winters zu ermorden.«
Sie sprengte den nächsten Jackenknopf und riss dabei auch sein Hemd ein Stückchen weiter auf. »Und warum?«
Gideon schluckte. »Um sie davon abzuhalten, das Bündnis zwischen Søren Nord und dir zu ermöglichen.«
»Und war sie erfreut, dich zu sehen?«
Gideon hielt inne. Was bezweckte sie mit dieser Frage?
Mit einer raschen Bewegung schnitt Cressida Jacke und Hemd vollständig entzwei. Der Stoff klaffte auseinander und gab den Blick auf Gideons Brust frei.
Als ihr Blick von seiner Kehle nach unten glitt, wanderte ihr rechter Mundwinkel kaum merklich nach oben. Er kannte diesen Ausdruck. Er ließ ihm den kalten Schweiß ausbrechen.
»Du hast mir alles genommen, Gideon.«
»Seltsam, ich könnte schwören, dass es andersherum war.«
»Ich möchte dir ja verzeihen. Ehrlich!«
Sie wollte ihm vergeben?
»Sicher, nachdem du meine Schwestern ermordet hast, wollte ich dich leiden sehen. Ich hatte viel Zeit, um darüber nachzudenken, was ich mit dir anstellen würde, wenn ich dich in die Finger bekomme. Und dabei ist mir klar geworden, dass ich … nun ja, dass ich in deiner Schuld stehe.«
Fassungslos starrte er sie an.
War sie jetzt endgültig übergeschnappt?
Cressida packte ihn am Kinn und zwang ihn erneut, sie anzusehen. Der Blick aus ihren eisblauen Augen durchdrang ihn bis ins Mark.
»Ich stehe in deiner Schuld, weil mir erst durch dich bewusst geworden ist, dass ich meine Schwestern als Selbstverständlichkeit betrachtet habe. Aber mit deiner Hilfe habe ich begriffen, wie sehr ich sie brauche. Elowyn, Analise und ich sind gemeinsam so viel stärker. Und aus diesem Grund«, sie lächelte bösartig, »werde ich sie wiedererwecken.«
Ja. Doch, sie war eindeutig wahnsinnig geworden.
»Deine Schwestern sind nur noch Staub und Knochen«, erwiderte er.
Was er allerdings nicht mit letzter Sicherheit behaupten konnte. Denn die Leichen von Analise und Elowyn waren im Chaos der Neuen Dämmerung verschwunden. Man hatte einfach angenommen, sie wären gestohlen und geschändet worden oder in einem der Massengräber für die während der Revolution ermordeten Hexen gelandet.
»Ach, Gideon …« Cressida lachte. »Hast du dir ernsthaft eingebildet, ich würde meine Schwestern irgendwo verrotten lassen?« Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr weißblondes Haar um sie herumflog wie Schneegestöber. »Ihre Leichen sind an einem sicheren Ort versteckt. Zwei Jahre lang verhindere ich nun schon mithilfe von Magie ihren Verfall.«
»Das ist unmöglich.«
Aber er sprach hier mit Cressida Roseblood. Und er wusste genau, wozu sie fähig war.
»Ein Wiederauferstehungszauber erfordert lediglich, dass ein enger Verwandter geopfert wird – jemand mit starken Blutsbanden zu der verstorbenen Person.« Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn scharf. »Alles Weitere ist für mich ein Kinderspiel.«
»Aber deine gesamte Familie ist tot«, konterte Gideon. »Du hast keine Verwandten mehr.«
»Oh, wie sich herausgestellt hat, gibt es da doch noch jemanden.«
Er runzelte die Stirn. Was?
»Ein verschollenes Geschwister.« Sie lächelte. »Leider weiß ich nicht, wer die Person ist und wo sie sich aufhält. Keine der Sibyllen in meinen Diensten kann sie sehen. Jemand hat sie mithilfe eines uralten Zaubers verborgen – bisher.«
Es gab noch einen verschollenen Roseblood-Nachkommen?
Bleischweres Entsetzen legte sich um sein Herz. Cressida allein war das eine. Selbst wenn es ihr gelang, ihren Thron zurückzuerobern, würde sie, auf sich gestellt, Schwierigkeiten haben, ihn auch zu halten. Durch die vielen Hinrichtungen war die Anzahl an Hexen drastisch zurückgegangen. Das Volk erinnerte sich noch allzu genau daran, welcher Tyrannei es am Ende der Herrschaft der Hexen unterworfen gewesen war, und würde ihre Rückkehr wohl kaum begrüßen. Ohne Gewalt und Schrecken würde Cressida ihr Ziel nicht erreichen – und deshalb brauchte sie Sørens Armee.
Ob Rune davon weiß?
Elowyn und Analise waren die mächtigeren – und bösartigeren – Roseblood-Schwestern gewesen. Sie hatten Gideons Mutter gefoltert und waren verantwortlich für den Tod seiner beiden Eltern. Wenn Cressida sie wiedererweckte, bedeutete das die Rückkehr aller drei Hexenköniginnen. Und gemeinsam würden sie die Neue Republik vernichten.
»Aber genug davon.« Cressida fuhr mit den Händen Gideons Revers hinauf, schob ihm die Jacke und das zerfetzte Hemd von den Schultern und musterte dabei unverwandt das Brandzeichen in seiner Brust.
Ihr Brandzeichen.
»Reden wir lieber über uns, Gideon. Das alles tue ich doch nur zu deinem Besten.«
»Aus irgendeinem Grund bezweifle ich das.«
Was hat sie jetzt wieder vor?
»Wenn ich dir vergeben soll, muss ich dir vertrauen können.«
Sie kam ihm so nah, dass keine Hand mehr zwischen sie gepasst hätte. Gideon verkrampfte sich, doch der Bann verhinderte, dass er zurückwich.
»Und um dir vertrauen zu können, muss ich dafür sorgen, dass du mir gehörst.« Sanft fuhr sie mit ihrem Wirkmesser über sein bloß liegendes Schlüsselbein. »Mir allein.«
Er durfte um keinen Preis wieder zu dem Gideon von früher werden – dem erbärmlichen Jungen, der Nacht für Nacht wieder in ihr Bett gekrochen war wie ein misshandelter Hund, der zu seinem Herrn zurückkehrte, weil er hoffte, dass ihn diesmal vielleicht Freundlichkeit statt Tritten erwartete.
Du bist nicht mehr dieser Gideon.
Der Gideon, der keine andere Wahl gehabt hatte, als sich ihr zu unterwerfen, weil das Leben derer, die er liebte, in ihren Händen gelegen hatte.
»Du kannst mir nicht entkommen«, sagte sie. »Selbst als wir getrennt waren, habe ich jeden deiner Schritte verfolgt, jeden deiner Träume durchstreift. Nicht wahr, Gideon?«
Er lächelte gequält. »Um ehrlich zu sein, denke ich niemals an dich.«
»Lügner.« Erneut verzerrte sich ihr Mund zu einem bösartigen Lächeln, und sie drückte ihm das Messer wieder an die Kehle. »Ein Pferd, das einmal gebrochen wurde, kann man wieder brechen. Bei Tagesanbruch wirst du auf Knien um meine Zuneigung flehen. Genau wie in alten Zeiten.«
Die bloße Vorstellung rief lähmende Angst in ihm hervor.
Er sah Cressida fest in die Augen und versuchte, sich seine Schwäche nicht anmerken zu lassen. »Mach mit mir, was du willst. Aber vor dir kriechen werde ich niemals wieder.«
Seit wann besaß er eigentlich die Fähigkeit, dem Feind derart dreist ins Gesicht zu lügen?
Vielleicht hatte er sie ja von Rune erlernt.
»Alle Menschen, die mir etwas bedeuten, sind tot«, sagte er. »Du hast nichts mehr gegen mich in der Hand.«
Cressidas Augen glitzerten wie Eis, und sie drückte die kalte Klinge ihres Messers fester gegen seine Kehle. »Wenn das stimmen würde, hättest du den roten Nachtfalter erschossen und Schloss Larkmont verlassen, bevor Runes Fehlen jemandem aufgefallen wäre.«
Er runzelte die Stirn. Was?
»Glaubst du, mir fällt nicht auf, wie du sie ansiehst, Gideon? So wie du früher mich angesehen hast?«
Fast hätte er lachen müssen. »Rune? Da irrst du dich gewaltig, Cressida.«
»Das glaube ich nicht.« Ihr Tonfall wurde leise und bedrohlich. »Ich bin doch nicht blind. Rune ist wunderschön. Ich verstehe durchaus, warum du in Versuchung gerätst.«
In Versuchung?
»Von Versuchung kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Meine Gefühle für Rune sind ebenso tot wie meine Gefühle für dich.«
Cressida lächelte. »Na gut. Dann spielen wir eben.« Sie drückte ihre Hände auf seine nackte Brust.
War ihre Haut wirklich so leichenkalt, oder entstand dieser Eindruck nur durch ihre Wirkung auf ihn?
»Aber vergiss nicht: Für mich spielt es keine Rolle, ob du freiwillig gehorchst oder nicht, Gideon. Für mich zählt nur, dassdu gehorchst. Und gehorchen wirst du.« Sie drückte ihre Handfläche gegen das Brandmal auf seiner Brust. »Am Tag deiner Brandmarkung habe ich etwas in dir hinterlassen.« Sie tippte mit den Fingerspitzen gegen den wulstigen Rand der Narbe: eine Rose in einer Mondsichel. Ihr Emblem. »Einen Zauber, den ich schon vor Langem auslösen wollte. Doch bisher hatte ich nie die Gelegenheit.«
Sie beugte sich vor und presste ihre Lippen auf die Narbe.
Gideon schauderte, alles in ihm schrie danach, vor der Berührung zurückzuweichen. Aber ganz gleich, was Cressida tat – er konnte sich nicht wehren.
»Das wird wehtun«, murmelte sie.
Was die Untertreibung des Jahrhunderts war.
Der Schmerz durchflutete Gideon glühend heiß und grellweiß, so heftig, als würde sie ihn ein zweites Mal brandmarken. Auch wenn diesmal kein glühendes Eisen aus dem Feuer gezogen und auf seine Haut gedrückt wurde, um sein Fleisch zu verbrennen, war der Schmerz genauso intensiv wie damals.
Gideon versuchte mit aller Macht, sich nichts anmerken zu lassen – und doch schrie er auf.
Es schien endlos, dieses Feuer. Es verbrannte ihn von innen heraus, ließ ihn den Tod herbeisehnen – oder zumindest den lähmenden Schmerz von Runes Knie zwischen seinen Beinen. Denn er war nichts gewesen im Vergleich zu Cressidas Zauber.
Rune.
Er klammerte sich an seine Erinnerungen an sie. Ihr trotzig erhobenes Kinn. Ihre scharfzüngigen Beleidigungen. Die Whiskeyflasche, die auf ihn zuflog.
Es war widersinnig. Sie verabscheuten einander doch! Aber sobald Gideon versuchte, an etwas anderes als sie zu denken, kehrte der Schmerz zurück und überwältigte ihn.
Aus Schmerz wurden Folterqualen, und er konzentrierte sich einzig auf seine Gedanken an Rune. Den Geruch ihrer Haare, den Alkohol in ihrem Atem, ihre heiße Haut an seiner, als er sie an die Wand gepresst hatte.
Doch schon bald reichten selbst die Erinnerungen an sie nicht mehr aus. Das Feuer breitete sich aus, verschlang Rune. Brannte sie aus seinen Gedanken.
Der Schmerz versiegte erst, als Gideon um den Tod bettelte.
Cressida zog ihre Hand weg, und sein Leid war beendet.
Hätte ihn der Zauber nicht aufrecht gehalten, wäre er zusammengebrochen. Schweiß perlte von seinem Haaransatz und tropfte ihm den Rücken hinab. Er zitterte am ganzen Leib.
Am Waschbecken stand Ava noch immer mit ihrer Puderdose vor dem Spiegel.
Cressida trat wieder näher.
»Sag, dass du mich vermisst hast«, flüsterte sie und fuhr mit der Fingerspitze über seine Brust. »Sag, dass du nie aufgehört hast, an mich zu denken.«
Gideon versuchte, seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Versuchte, nicht in Panik zu verfallen. Was auch immer geschehen war – welchen Schmerz sie ihm auch zufügte –, er konnte und durfte ihr nicht nachgeben. Musste aus kaltem, hartem Stahl bestehen, nicht aus Fleisch und Blut.
Ihre Eisaugen blitzten auf. »Du kannst meine Liebe haben, Gideon. Oder meinen Zorn.«
Gibt es da einen Unterschied?
Sie schlang die Arme um seinen Hals, drückte sich an ihn und hob ihm ihren Mund entgegen. »Was soll es sein, mein Liebling?«
Gideon starrte auf die Wand hinter ihr und versuchte, sich auf das vorzubereiten, was nun unweigerlich kommen würde. Wenn es ihm nur gelang, nichts mehr zu fühlen – so kalt und starr zu sein wie die Pistole auf dem Waschbeckenrand –, dann spielte es keine Rolle, was Cressida ihm antat.
»Kommst du freiwillig zu mir, oder muss ich dich zwingen?«
RUNE
Draußen im Flur ließ sich Rune mit geballten Fäusten gegen die Tür des Gästebads sinken. Sie war ohnmächtig vor Wut.
Was sie einst für Gideon Sharpe empfunden hatte, war Vergangenheit. Aus und vorbei. Das Gefühl, das jetzt durch ihre Adern loderte, war das genaue Gegenteil von Liebe. Es war sengender, unersättlicher Hass.
Was für ein Mensch musste sie sein, um sich in jemanden zu verlieben, der sie für ihr bloßes Sein verachtete? Der ihren Tod wollte?
Ein erbärmlicher Mensch voller Selbsthass.
Und Rune weigerte sich, ein solcher Mensch zu sein.
Vergiss Gideon.
