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Inger-Maria Mahlke

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Beschreibung

Berlin-Neukölln: Dass der kaufsüchtige Claas Jansen eine leerstehende Wohnung im eigenen Mietshaus beziehen muss, hat weit mehr Gründe als die Bankenkrise. Und nicht nur er sieht sein früheres Leben in einem rasanten Abwärtsstrudel verschwinden. Am Scheidepunkt zwischen Kiezwirklichkeit und hipper Großstadt geht es um nicht minder Existenzielles. Jeder hat hier eine Rechnung offen: die afrikanischen Dealer, die ihre Schlepperkosten abarbeiten, die alzheimerkranke Alte und der Hochstapler, die Kurzzeit-Domina, ihr achtjähriger Sohn und andere Gestalten – eine globalisierte Notgemeinschaft. Sensibel, radikal und mit ganz eigenem Ton entwirft Inger-Maria Mahlke weit mehr als ein diagnostisches Zeitbild – eine große Parabel über die Abgründe des Lebens am Rande unserer gentrifizierten Welt.

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www.berlinverlag.de

Die Arbeit wurde mit einem Stipendium der Stiftung Preußische Seehandlung Berlin gefördert.

Für Benni und Bernd

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-8270-7622-9

© 2013 Bloomsbury Verlag GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

Freitag, 29. August

Der Radfahrer schlug mit der flachen Hand auf die Windschutzscheibe. Theresa hörte ihren Atem, saß noch immer vorgebeugt, ihr Brustkorb, wenige Zentimeter vom Lenkrad entfernt, hatte sich nicht gerührt, seit sie das Bremspedal durchgetreten hatte. Einen Moment lang sah sie seine Handfläche, weiß gegen das Glas gepresst, die Linien und Falten rötlich. Sie startete den Motor erneut, drehte sich nicht um, wollte nicht wissen, ob Claas noch auf dem Bürgersteig vor der Praxis stand, ob er überhaupt so weit gucken konnte, bis zur Querstraße. Der Radfahrer hatte Vorfahrt gehabt.

Sie war gegangen, wortlos. Hatte den beiden Sideboards, die die lange Seite des Behandlungszimmers einnahmen, hatte Claas und dem Polizeibeamten den Rücken zugedreht. Sich nicht umgewandt, als Claas ihr »du musst mich fahren« hinterherrief. War weitergegangen, die Sohlen ihrer Ballerinas quietschten auf dem Laminat, sie hatte die Füße hörbar aufgesetzt, zufrieden dem dumpfen Stampfen zugehört, das die Korridorwände zurückwarfen. Die Glastür am Eingang war gegen die Wand geschlagen, sie hatte sie mit dem Fuß aufgestoßen, den Autoschlüssel in ihrer Handtasche fest umklammert.

Sie fuhr auf die Kreuzung, bog ab in Richtung Stadtautobahn.

Sie war sicher gewesen, er hatte aufgehört. Hatte nach der Arbeit keine Paketmitteilungen mehr im Briefkasten gefunden. Keine weißen Styroporfasern vom Wohnzimmerteppich gesaugt, wenn Claas vor ihr nach Hause gekommen war. »Was war drin?« Keine zusammengeknüllten und wieder glattgestrichenen Tageszeitungen aus Reutlingen oder Dresden im Altpapier liegen sehen. »Wo drin?« Keine Noppenfolie mehr im Grüner-Punkt-Müllbehälter. »In dem Paket.« Keine silberne Teekanne mehr im Schrank, in dem sie alte Übertöpfe aufbewahrte. Füller zwischen schwarzen Socken. »War unfassbar günstig.«

Die Einbrecher hatten die Sideboards geöffnet, mit einem Kuhfuß, der Beamte deutete auf die parallelen Schrammen im Holz. Die oberen Scharniere waren abgerissen, die Türen hingen schief, ließen Dreiecke frei, durch die sie in das Innere der Schränke sehen konnte, Akten, hatte sie gedacht, Patientenakten würde Claas dort aufbewahren.

Eine Weile hatte sie sich bemüht, vor ihm zu Hause zu sein, hatte die Pakete bei den Nachbarn abgeholt, hinter den Abendkleidern in ihrem Schrank versteckt. Er brauchte zwei Wochen, um zu fragen. »Hör auf«, hatte sie gesagt.

Eine Reihe identischer, weißer Hände, ausgestreckt und anmutig gespreizt im ersten Dreieck, fein gearbeitet aus Porzellan, die Fingerspitzen berührten gerade noch einen goldenen Ball. Die Figuren standen exakt hintereinander, so, als balancierten sie nicht im Holzfach einer psychotherapeutischen Praxis, sondern 1936 im Olympiastadion.

Sie hatte die Pakete aus dem Versteck geholt, sie auf dem Esszimmertisch aufgereiht. »Versprochen«, Claas hatte eine Hand auf die Brusttasche seines Hemdes gelegt, zwei Finger erhoben. »Sei nicht kindisch«, hatte sie geantwortet, »kauf einfach nichts mehr.«

Mit gummibehandschuhten Fingern hatte der Beamte die Tür weiter zur Seite geschoben, die Kante hatte einen dunklen Strich in den Teppich gezeichnet. Elefanten waren sichtbar geworden, graue, weiße, braune, Stoßzähne und Rüssel in eine Richtung ausgerichtet, als warteten sie auf die Handbewegung eines Zirkusdompteurs, die ihnen befahl, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Sieben identische Kakadus zählte Theresa, alle mit einem Zweig im Schnabel. In einem anderen Dreieck standen nur Pferde. Claas deutete auf einen kleinen Hund, der mit einem Frosch spielte, »ein Einzelstück«, er blickte sie an, als erwarte er, dass sie lachen würde, lächeln zumindest. »Was ist das?«, der Polizist hatte sich an beide gewandt. »Keine Ahnung«, hatte Theresa geantwortet und sich umgedreht. »Porzellan«, hörte sie Claas sagen.

Sie hatte in den Rückspiegel gesehen, ehe sie losfuhr, Claas hielt die Glastür am Empfang auf, hatte sie auf Schäden überprüft, die Wand dahinter betrachtet, wo der Türgriff gegengeschlagen war.

Sie musste sich nicht beeilen, es war vorlesungsfreie Zeit, in nicht mal achtundvierzig Stunden sitzt du im Flugzeug, dachte sie und fuhr auf die Auffahrt zur Stadtautobahn. Claas hatte schon als Kind gesammelt, kleine Blechautos zum Aufziehen. Sie hatte sich auf ihre Hände setzen müssen, als er ihr die verschiedenen Fahrzeugtypen erklärte, die jeweiligen Vor- und Nachteile. In einem Café am Winterfeldtplatz hatten sie gesessen, hatten sich gerade kennengelernt, gefrühstückt, jenseits der beschlagenen Scheibe dämmerte es. Sie hatte die Hände unter ihre Oberschenkel geschoben, um sie nicht in die Haare über seiner Stirn zu schieben, ihre gespreizten Finger in braune Strähnen. Das Kondenswasser war an der Scheibe herabgelaufen, hatte kleine Pfützen unter der Heizung gebildet. Claas hatte konzentriert auf die Tischplatte gesehen, ihr den Aufziehmechanismus erklärt, beschrieben, wie er die Räder geölt und nach welchem System er sie geordnet hatte. Wie die Holzkiste aussah, in der er sie aufbewahrte. »Und wo sind die Autos jetzt«, Theresa hatte ihre Finger zwischen seine gedrängt, die Handrücken rot-weiß gestreift, Druckstellen ihrer Cordhose. »Weg. Mit dem Hammer hat er sie zerkloppt. Hat die Kiste mitgenommen, in den Keller zu seiner Werkbank. Jedes Auto einzeln, deng, deng, deng.« Bei jedem Deng hatte Claas mit der Hand auf den Tisch geschlagen, das beiseitegelegte Besteck klirrte auf den Tellern, seine Lippen hochgezogen bis zum Zahnfleisch, die Zähne freigelegt. »Meine werte Frau Mutter war der Auffassung, ich sei faul.« Das werte Frau Mutter misslang, bitter seine Stimme.

Die Stadtautobahn war leer am späten Vormittag, Theresa sah der Tachonadel zu, die sich Strich für Strich vorarbeitete. Sie hielt eine Vorlesung, ein rechtsvergleichendes Seminar pro Semester. Die Vorlesung war ein Witz, Sprachkompetenz, nicht Rechtsvermittlung sei das Ziel der Veranstaltung, stand im Vorlesungsverzeichnis. Der Kollege, der Einführung in das englische Recht hielt, projizierte sein Skript per Beamer an die Wand und las es vor, der Aussprache halber.

Abfahrt Hohenzollerndamm, sie könnte weiterfahren, im Kreis, die Stadtautobahn entlang, das musste gehen, einmal im Kreis, sie fuhr auf die Abfahrt. Unter Juristen gilt ein Psychologe nichts. Theresa wartete auf die Ruhe, die sich einstellte, wenn sie die dichten Baumkronen der Gärten und Parks zwischen den Häusern sah. Dahlem, Heimat. Genau dafür hatte sie studiert. Sie hatte zwischen sauberem Grün und weißen Mauern, von denen der Anstrich nicht abplatzte, unbehelligt nachdenken wollen. Im gelben Geröll und rötlichen Staub ihrer Kindheit, in dem die Sonne binnen Stunden aus allem die Farbe sog, war Grün Wohlstand gewesen. Pflanzen wuchsen, wo Wasser war, und Wasser war, wo es hingegossen wurde, aus Eimern, Gießkannen und Schläuchen. Wenn sie erschöpft war, stellte sie sich Moos vor, viel Moos. Weich stellte sie es sich vor, nicht drahtig. Feucht, ja, ein wenig, aber auf eine gute Art, auf eine Art, die sofort trocknet, wenn man lange genug auf dem Moos gelegen hat und wieder aufsteht und in die Sonne geht. Denn im Moos ist es schattig, aber so, dass man Sonne dahinter weiß und nie friert.

*

Ebba betrachtete den Schweiß in den Senken ihres Torsos, sie lag auf dem Rücken, tunkte einen Zeigefinger in die Lache neben ihrem Hüftknochen, zog einen glänzenden Strich den Hügel hinauf zum Nabel. Drückte mit der Linken den Gummiknopf mit dem grünen Hörersymbol, wartete, bis sie gedämpft die Ansage hörte, Sie haben eine neue Nachricht, ehe sie das Handy ans Ohr hielt. Streckte es gleich wieder von sich weg, als Theresas Stimme ertönte, legte es auf die Matratze, neben ihren Kopf, der anthrazitfarbene Kunststoff schweißnass.

»In die Praxis ist eingebrochen worden, Tula hat angerufen, der Flachbildschirm vom Empfang fehlt und der aus Claas’ Zimmer.« Ebbas Fußspitze schob das Laken vor dem Fenster ein Stück zur Seite, der gleißende Spalt ließ sie die Augen schließen, es würde ein furchtbarer Tag werden. »Wir fahren jetzt rüber und reden mit der Polizei.« Die Türklingel schrillte, unwillkürlich bedeckte Ebba das Telefon mit der Hand, als könne Theresa den Ton hören. »Claas muss nach Frankfurt, ich bring ihn danach zum Bahnhof.« Theresa machte eine Pause, Ebba sah an sich herab, schwarze Fussel klebten auf der Haut zwischen ihren Zehen, es klingelte erneut an der Tür, länger diesmal. »Und ich wollte dir viel Glück für deine Klausuren wünschen, lies die Aufgabenstellung immer zweimal durch, dann klappt es schon.« Theresa atmete tief ein, der Boden im Treppenhaus knarrte, als würde jemand sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß verlagern. »Und sag Bescheid, wie es gelaufen ist.« Es liegen keine weiteren Nachrichten für Sie vor.

Nach dem Praktikum war Ebba nicht mehr hingegangen. Die Praktikumsstelle hatten Claas und Theresa für sie gesucht, drei Monate im Kinderhaus Wunderbar, jeden Nachmittag frieren im Streichelzoo. Die Schafe hatten im Schlamm gestanden, in Urin und Kot, zusammengedrängt in einer Ecke, ihre Beine, die verfilzte Wolle an den Bäuchen braun verfärbt. Sie hatte zugesehen, wie die Tiere Futterpellets von den Kinderhandflächen sammelten, die Haut mit Speichel und zerkautem Grünzeug beschmierten. Dina war mit Gummistiefeln durch die Pfützen gestapft, hatte kleine Bugwellen vor den Schäften hergeschoben, dicht vor Ebba haltgemacht und gelacht. War auf der Stelle hochgehüpft, mit beiden Füßen gleichzeitig gelandet. Kalt war das Wasser, es drang durch den Stoff ihrer Jeans, eisig auf ihren Oberschenkeln, sickerte in ihre Socken. Dina hatte weitergelacht, »dicke Ebba« gerufen. Sie war selber überrascht gewesen von der Wucht, mit der ihre Handflächen auf Dinas pinkfarbener Jackenbrust landeten. Sie zurückstießen, wegschubsten. Dina war nach hinten gefallen, in die Pfütze, braun schwappte es über ihre Beine, die Pfütze mindestens knöcheltief. Dina schlug mit dem Hinterkopf auf, nicht doll, es reichte, dass sich ihre Mütze vollsog, ihre Haare tropften.

In der ersten Woche war Ebba dazwischengegangen, wenn die anderen Kinder darfst nicht mitspielen, darfst nichts anfassen, geh weg zu Dina sagten. Sie hatte sich zu ihr gesetzt, Tiermemory gespielt. »Lass das« gesagt, als ein Junge Dina schubste. »Dicke Ebba«, hatten sie gerufen, erst der Junge und dann Dina, freudestrahlend.

Sie war beurlaubt worden, Vorfall nannte es die Kindergärtnerin.

***

Zu früh, er kam viel zu früh. Elsa Streml stand im Flur, als es klingelte, hatte gerade geduscht, war auf der Toilette gewesen, es roch unvertretbar. Sie hatte das Fenster gekippt, hatte gesprüht, doch das würde nicht reichen. Normalerweise kam er nachmittags, gestern Abend hatte sie die Pfannkuchen mit Klarsichtfolie überzogen, den Teller in den Kühlschrank gestellt, gestern hatte sie auf ihn gewartet, und jetzt kam er viel zu früh.

Er war ihr Enkel. Nicht ihr richtiger Enkel natürlich, nicht Fleisch von ihrem Fleisch, er war ein Hochstapler. Er lächelte sehr schön, mit rosafarbenem Zahnfleisch und sauberen Zähnen, er rauche nicht, sagte er. Ein Felix Krupp, nein Krull.

Er hatte eines Tages vor der Tür gestanden, oben, nicht unten. Am frühen Nachmittag, Elsa war gerade mit der Küche fertig gewesen, hatte sich hinlegen wollen, hatte innegehalten, die Klinke der Wohnzimmertür schon in der Hand. Erika, hatte sie gedacht, sich sogleich ein dummes Ding gescholten. Er hatte sich verbeugt, ein wenig nur, den Kopf geneigt. »Guten Tag, sind Sie Frau Streml?«, hatte ihre Antwort nicht abgewartet, »Sie kennen mich nicht …« – »Ich kaufe nichts«, sie hatte die Tür zuschieben, die Kette vorlegen wollen. – »Aber ich bin Ihr Enkel.« Der Satz drängte sich vor, trat auf die Fußmatte, streifte sorgsam die Sohlen ab und schlich an ihr vorbei in die Wohnung. »Sie irren, ich bin kinderlos«, den Kopf hatte sie geschüttelt. Er trug ein Hemd, ein richtiges, mit Knopfleiste vorn und Kragen, darüber einen Pullover, mit v-förmigem Ausschnitt. Er hatte seine Hand ausgestreckt, sie hing in der Luft, hing über der Schwelle, seine Fingernägel kurzgeschnittene weiße Halbmonde, die Haut sehr glatt. Er hatte graue Augen, ihre waren braun, wie Hustenkaramellen, behauptete Erika. »Treten Sie näher«, hatte Elsa schließlich gesagt. Er hatte sich nicht gerührt, sie hörte seine Stimme, konnte keine Worte ausmachen, hielt das Türblatt noch in der Hand. Er konnte gar nicht näher treten. »Wie heißen Sie«, hatte sie gefragt und einen Schritt zur Seite gemacht. »Nicolai«, er sah irritiert aus, »dein Enkel. Ihr Enkel«, er hatte sich korrigiert nach einer kurzen Pause. Er machte seine Sache gut. Elsa war einen weiteren Schritt zurückgetreten, er roch nach Rasierseife. Meist kam er zweimal die Woche, nachmittags, nicht immer an den gleichen Tagen, das machte es schwer, vorbereitet zu sein. Sie hatte ihn gestern erwartet, hatte abends den Tee, er trank keinen Kaffee, in den Ausguss geschüttet.

Die Klingel schrillte erneut, Elsa starrte die Tür an, lauschte dem Ton hinterher, ungeduldig klang er. Es klopfte, drei Mal, schnell hintereinander.

»Ich komme«, rief sie, atemlos plötzlich, »ich komme ja.«

Es musste etwas passiert sein, die Kette war noch eingehakt, jemand war verunglückt, der Schlüssel steckte von innen. Elsa drehte ihn, drehte einmal, drehte zweimal und zog die Tür auf.

Er war es gar nicht. Es war ein Fremder, mit grauen Haaren und einer blauen Schirmmütze über dem Handgelenk. Sie versuchte Luft einzuziehen, ohne dass der Mann es merkte, ohne dass sich ihre Nasenflügel weiteten.

»Einen guten Morgen«, sagte er, und Elsa war sicher, er roch es ebenso wie sie, frischer Toilettengang, eingekleidet in Lavendel. »Wir sind der Ablesedienst.« Der Mann sah an ihr vorbei in den Flur.

Richtig, sie hatte die Heizkörper frei geräumt, gestern Abend das Telefontischchen beiseitegeschoben, es war ihr entfallen. Der Becher mit den Stiften war dabei umgekippt, sie hatte sich hinknien müssen, um sie aufzusammeln.

Elsa sog erneut Luft ein.

»Können Sie später wiederkommen?«

Der Mann schüttelte den Kopf, ging an ihr vorbei, deutete auf die Tür am Ende des Flures.

»Wohnzimmer?«

Sie nickte. Ging in die Küche und öffnete das Fenster, öffnete es weit. Im Hinterhof wuchsen Sträucher mit weißen Beeren, als Kind hatte sie die Tretminen genannt. Eine Reihe Mülltonnen, gelb, blau, schwarz und braun, stand vor der Mauer, die den Hof vom Parkplatz dahinter trennte. Elsa konnte den Mann im Wohnzimmer hören, es klang, als würde er irgendetwas festschrauben. Auf der Mauer waren Stränge rostigen Stacheldrahts gespannt, Krähen mit durstig geöffneten Schnäbeln saßen darauf, der Parkplatz war leer, eine Reihe flacher Garagen, die Tore grau gestrichen. Sie hörte Schritte im Flur, er ging ins Schlafzimmer, danach käme das Bad. Rasch öffnete sie die Kühlschranktür und holte den Teller hervor.

»Warten Sie«, rief sie. Der Mann drehte sich um. »Kommen Sie hier herein.«

Elsa deutete auf die Pfannkuchen, große Placken Zuckerguss fehlten, die Löcher sahen aus wie Inseln in einem klebrigen Meer.

»Sie sind kaputtgegangen«, sie hatte vergessen, die Klarsichtfolie in den Müll zu tun, sie lag neben dem Teller, weiß verschmiert, »der Guss ist kleben geblieben.«

Er aß den Kuchen mit wenigen Bissen, sah aus dem Fenster, Pflaumenmus quoll auf seinen Daumen.

»Darf ich?« Der Mann zeigte auf die Spüle, wusch sich die Hände, trocknete sie an einem Geschirrtuch ab.

»Ist es viel«, fragte Elsa, als er gehen wollte.

***

Die Decke knistert, winzige Funken in den blauen Falten, du legst sie zusammen, Saum auf Saum. Faltest sie zu einem Rechteck, so lang wie dein Körper in Seitenlage, Knie an die Brust gezogen, ein Kissen auf dem Gesicht. Von den Nähten her haben sich helle Flecken ausgebreitet, das Kunstleder hat sich in Placken abgelöst, dort, wo die Sofalehne in die Sitzfläche übergeht. Wattiges Vlies drängt hervor, Krümel verfangen sich darin. Bedeckst sie mit dem Rechteck, streichst mit beiden Händen die Haare nach hinten, hattest sie noch waschen wollen, hast den Wecker weitergestellt, bindest sie zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Musst nur noch den Zettel, auf dem steht die Liste, zerknüllen und in den Müll werfen, in den fast leeren Eimer. Hast den Rest gestern Nacht runtergebracht, ein Tier ist geflohen, als du im Hof das Licht angeschaltet hast. Ein kleines Tier, vom Deckel der Mülltonne ist es gesprungen, du hast es aufkommen hören, bist langsam auf die Tonnen zu, achtgebend, kein Geräusch zu machen, nicht auf die Scherben zu treten, hast dich gefragt, warum.

Das saubere Geschirr liegt hoch gestapelt auf dem Abtropfgitter, verdächtig hoch, räumst die Hälfte in den Schrank, schiebst den Altpapierstapel mit dem Fuß ein Stück unter die Küchenbank, lauschst in den Flur. Lucas schläft, wirst ihn wecken, wenn es klingelt, stehst immer noch neben dem Tisch, den Zettel in der Hand, setz dich still und warte, denkst du und bleibst stehen.

Lucas ist ordentlich. Er räumt auf, jeden Abend, bevor er sich schlafen legt. Ist zu den Gemüsehändlern gegangen, hat nach Obstkisten gefragt, die Kisten unter den Armen nach Hause getragen, seine Schenkel weiß zerschrammt. Hat »Die drei ???« gehört, immer wieder die gleiche CD, der Player auf Repeat, sein Spielzeug sortiert, langsam und sorgfältig. Jeweils eine Kiste für die großen und die kleinen Autos, eine für Playmobil, für Lego, für Flugzeuge und Hubschrauber, mit Filzstift hat er sie beschriftet, die für die kleinteiligen Sachen vorher mit Plastiktüten ausgelegt, damit nichts herausfällt. Die Wäsche stopft er unzusammengelegt in die Kommode, aber die Hosen zu den Hosen, die Pullover zu den Pullovern, jede Socke hat ein Gegenstück, er weigert sich, mit unterschiedlichen in die Schule zu gehen. Seine Arbeitsblätter stapelt er auf dem Schreibtisch nach Fächern geordnet. Du gehst nur in das Zimmer, um morgens den Schlafgeruch auszulüften, freust dich über jedes benutzte Wasserglas, jedes zusammengeknüllte Taschentuch auf dem Boden. Lucas vergisst nie etwas. Weder den Elternabend noch das Weihnachtsbasteln, heftet die Einladungen mit Tesafilm an die Wand über seinem Bett, bringt sie dir am entsprechenden Tag, wenn du nicht hingehst, wird er schweigsam.

Irgendwann bist du morgens am Fenster stehen geblieben, weiß und neblig war es draußen. Hast die Kisten aus dem Regal gezogen. »Was hast du gemacht, Mama?«, hat er gerufen, als er aus der Schule kam. Hast sie umgedreht. Zufrieden den harten Tönen gelauscht, mit denen die Legosteine, die Körperteile der Plastikmonster, »Bei-jon-nickels«, sagt er, bemüht jeden einzelnen Vokal richtig zu erwischen, und das Playmobil auf den Fußboden prasselten. Die Autos schepperten blechern, die großen klangen dumpfer. Bist mit den Füßen durch das Spielzeug geschlurft, wie früher als Kind durch Herbstlaub, hast die Haufen ineinandergezogen, miteinander vermischt, zum Schluss eine Schicht Bilderbücher drauf verteilt.

Die Heizung. Die Heizung hast du vergessen. Gehst näher ran, kniest auf dem Küchenboden, eingetrocknete braune Spritzer, Kaffee, und unten, dort, wo die Rippen ineinander übergehen, graue Halbmonde aus Staub. Wenn du ihn wegwischst, musst du wieder fegen, denkst du, Rauchen, denkst du, sie werden es riechen. Beruhig dich, es ist nur der Heizungsableser, und wirf endlich die Liste weg.

Stellst dich ans Fenster, öffnest es weit, bläst den Rauch hinaus. Siehst hinab auf die Promenade, die Bänke sind noch unbesetzt, die Platanenstämme olivgelb gescheckt, als trügen sie Tarnfarben, die Äste weiter oben glatt und grau. Der Luftzug drückt den Rauch wieder in die Küche, fährst mit der Hand durch, willst ihn auseinandertreiben, in anmutigen Kreisen zieht er um deine Finger.

*

Lucas hielt den Arm vor sich, kniff ein Auge zu und maß. Der Sonnenstreifen auf dem Rollo war so breit wie sein Unterarm, vom Handgelenk bis zum Ellenbogen, das Licht machte die Clownsgesichter blass und durchsichtig. Sie hatte ihn nicht geweckt, war bereits auf, er hörte sie im Flur, sie sprach mit jemandem. Lucas stand auf, zog an der Rolloschnur, das letzte Stück musste er mit der Hand hochwickeln, Schritte im Flur, in der Küche.

Er nahm Socken aus der Schublade, sie hörte ihn nicht kommen, griff nach der Zigarettenpackung auf dem Küchentisch, ein Mann im blauen Overall kniete vor der Heizung. Das Feuerzeug zündete, sie hustete, zog Schleim hoch, er ging an ihr vorbei.

»Du bist gemein«, Lucas stampfte, der Küchenboden hart unter seiner Ferse. Der Mann wandte sich um, musterte das Spiderman-Unterhemd, Unterhose, die Socken in seiner Hand.

»Zieh dich an«, sagte sie.

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, »du hast mich nicht geweckt«, beugte sich vor und zog rasch eine Socke über die Zehen, über die dunklen Nagelränder. Sie sah an die Wand, da hing ein Kalender, sie zählte die Kreuze in den Datumsfeldern, ihre Augen wanderten zu dem Feld, das er mit Filzer rot umrandet hatte, ihre Lippen bewegten sich.

»Den neunundzwanzigsten haben wir, neunundzwanzigster August, Freitag«, sagte der Mann vor dem Heizkörper.

Sie richtete sich auf, verschränkte die Arme.

»Siehst du?«, sie sagte es, als würde sie am liebsten »Ätsch« hintendransetzen, »nächste Woche fängt die Schule an, ganz bekloppt bin ich nicht.«

»Du kannst mich trotzdem wecken.«

Lucas sah zu, wie der Mann das Röhrchen herausnahm, gegen das Licht hielt, etwas aufschrieb und ein neues aus der Tasche holte, um es einzusetzen. Die Röhrchen waren aus Glas, mit neongrüner Flüssigkeit gefüllt, als wären sie radioaktiv oder giftig oder so. Er hätte es gern in die Hand genommen, traute sich nicht zu fragen, Hunger hatte er.

»Darf ich Frosties?«

»Milch ist alle.«

Sie wollte ihm den Rücken zudrehen, sah zu dem Mann herüber, überlegte es sich anders.

»Ich geh gleich welche holen«, sagte sie, sanfter jetzt.

***

Claas hatte keinen Rollkoffer, er hatte eine Umhängetasche, schwarz, in braunen Buchstaben war BREE an der Seite aufgenäht, alle anderen hatten Rollkoffer. Er hatte die Tasche gekauft, als er mit den C-Herren auf Tennisreise gefahren war, alle hatten damals solche Taschen gehabt. Lass dich nicht in Frage stellen, dunkelgraue Anzüge, hellblaue Hemden, Claas hob die Hand, wedelte vor der Lichtschranke der Speisewagentür hin und her, sie glitt geräuschlos zur Seite. Rechts und links an den Abteilwänden waren Bänke und Tische installiert, in der Mitte ein Tresen, er ging auf ihn zu. Die meisten Plätze waren besetzt, diagonal gestreifte Krawatten, viele tranken Bier, trübe Weizen standen vor ihnen auf den Tischen. Ihre Füße, in braunen Lederschuhen, spitz zulaufend, aber nicht zu spitz, hatten sie in den Mittelgang gestreckt, Claas musste achtgeben, nicht auf sie zu treten. Sie trugen keine Krawattennadeln, keine Brillen, aber Eheringe, wenn sie allein saßen, hatten sie Stöpsel in den Ohren.

Er blickte ihnen nicht ins Gesicht, wandte sich ab, sobald einer ihn ansah, hatte Angst, der andere könnte stocken. Innehalten in der Bewegung, genauer hinsehen, Feuerwerk in den Synapsen der Occipitallappen, ihn wiedererkennen. Im letzten Frühjahr war er in Frankfurt gewesen, eine Weiterbildung, hatte er Theresa gesagt, obligatorisch. Sie wusste nicht, dass er unter den Tankerbildern gesessen hatte. Die Fotografien waren aus der Vogelperspektive aufgenommen, viel Dunkelrot und Tiefmeerblau. Die Wände, der Tisch, die Stühle waren grau, freundlich, sachlich hellgrau, in der Mitte der Tischplatte stand ein Tablett mit Wasser, Saft- und Softdrinkflaschen, ein Öffner, Servietten und umgedrehte Gläser daneben. Claas hatte abgelehnt, auch den Kaffee, den sie ihm wiederholt anboten, unsicher, welche Botschaft er damit sendete.

Sie waren zu zweit gewesen. Jünger als er, einer dunkelhaarig, vereinzelt weiße Partien an den Schläfen, der andere mit Halbglatze und braunem Haarkranz, beide trugen Anzüge, helle Hemden, ihre Krawatten rosa und hellblau. »Wir sind Liquidatoren«, hatte der Dunkelhaarige gesagt, hatte eine Pause gemacht, um die Wirkung des Wortes Liquidatoren an Claas’ Gesicht abzuschätzen. »Das heißt, wir investieren nicht, wir halten keine Kredite, wir verwerten.«

Wieder hatten sie geschwiegen. »Ich kann Ihnen da was empfehlen«, hatte Claas in die Stille hinein gesagt. »Eine vergleichende Studie, aus der Schweiz. Investmentbanker und Psychopathen.« – »Nur zu«, hatte der Dunkelhaarige geantwortet, »wir sind da schmerzbefreit.« – »Spitzenwerte auf der Skala Egoismus, natürlich«, hatte Claas gesagt, die genauen Daten fielen ihm nicht ein. Der Dunkelhaarige begann in dem Ordner vor sich zu blättern. »Und hinsichtlich der Tendenz, Fragen unaufrichtig zu beantworten«, hatte er hinzugesetzt. Von der Gewalt der Zahlen hatte er gesprochen, sich gefragt, was er damit eigentlich meinte.

»Wir würden Ihnen bei einer Lösung nicht im Weg stehen«, hatte der andere gesagt, war mit den Fingernägeln durch den Haarkranz über seinem Nacken gefahren, »aber wir sind unseren Eignern schuldig, dass wir schnell und ökonomisch sinnvoll handeln.« Von Umschuldung und Finanzierung hatten sie gesprochen, von Zwang und Verfahren und gezwungen sein. Claas hatte die Tanker gemustert, nach einer Weile konnte er weiße Möwenrücken ausmachen, die die Schiffe umkreisten.

Er konnte sich genau an den Tag erinnern, als er unterschrieben hatte. Theresa hatte eine braune Bluse mit großen weißen Punkten getragen, einen beigefarbenen Rock, Zander hatten sie danach gegessen, in einem Fischrestaurant mit Blick auf den Wannsee. Angeheitert vom Sekt, den sie mit dem Kundenberater auf leeren Magen getrunken hatten, ihre Hände auf der Tischdecke ineinander verschränkt, ein Boot wäre auch schön, hatte er mit Blick auf die weißen Segeldreiecke gesagt.

Vor zwei Jahren hatte jemand von der Volksbank angerufen, er heiße Glück, habe aber keine glückliche Nachricht. Von Not leidenden Krediten hatte er gesprochen, von Forderungen, die in Paketen verkauft wurden. »Und ich«, hatte Claas gefragt, nicht gewusst, was er damit genau meinte. Abwarten solle er, der Käufer würde sich melden.

Der Termin in Frankfurt hatte um die Mittagszeit stattgefunden. Nachdem sich die beiden Berater mit »Alles Gute« verabschiedet hatten, war er aus dem gläsernen Foyer getreten, ihre Blicke auf seinen Rücken gerichtet, wie er meinte. Hatte ein Taxi herangewunken, die Sonne schien, er war eingestiegen, zum Bahnhof. Das Taxi hatte gleich nach dem Anfahren an einer roten Ampel halten müssen, der Dunkelhaarige war aus dem Gebäude gekommen, beinahe hätte Claas sich geduckt, den Oberkörper seitlich auf die Rückbank gelegt. Doch der Dunkelhaarige hatte hinabgesehen, auf seine Hände, die einen hellen Mantel zuknöpften. Hatte gelächelt, über etwas, das die Frau neben ihm, blond, dunkler Anzug, sagte, ihre Körpersprache drückte Nähe aus. Sie gingen gemeinsam die Straße hinunter, die Ampel schaltete auf Grün, die Taxis fuhren an den beiden vorbei. Sie waren auf dem Weg zum Mittagessen in eines der umliegenden Restaurants und dachten nicht einmal an ihn. Abgegrenzt, professionell, ihre Therapeuten wären zufrieden mit ihnen.

Claas hatte sie erschlagen, mit einem Vorschlaghammer, einem Baseballschläger, er sah zu viele amerikanische Serien. Erschossen, mit einer Flinte, den hellgrauen Tisch, unter dem sie sich versteckten, stieß er mit dem Fuß beiseite. Hatte sie an einen Stuhl gebunden, in ihre Gesichter geschlagen, meist in das des Dunkelhaarigen, wir sind da schmerzbefreit.

In den letzten Wochen hatte er die Börsenkurse auf dem Desktop mitlaufen lassen, Dax, Dow, hatte zugesehen, wie die roten Zahlen größer wurden bei jeder Aktualisierung, in Zehnerschritten, Zwanzigerschritten, hatte Patienten warten lassen, sich zum Ende jeder Dreiviertelstunde auf das Nachgucken gefreut. Sicher war er nicht, ein offener Immobilienfonds, ob sie von den Bewegungen an den Börsen betroffen waren. Claas sah sie dennoch in ihren Schreibtischstühlen sitzen, zusammengesunken, katatonisch, die Pupillen geweitet, groß und dunkel und unfähig zu fokussieren. Noch weniger geneigt, sich diagnostizieren zu lassen, als sonst.

Claas bestellte einen Kaffee, kein Bier, wegen der Kollegen. Den Kongress veranstaltete eine Pharmafirma, »Psychose und Lebensqualität«, er hatte gedacht, es wäre eine Gelegenheit, mit Theresa wegzufahren. Etwas gemeinsam zu machen, der Veranstalter übernahm Reisekosten und Hotel, nach dem Anruf aus Tavira war es zu spät gewesen, um abzusagen.

Er sah an sich hinunter, Jeans, das schwarze Hemd am Kragen offen, er trug Lederschuhe mit dicker Gummisohle, keine Budapester, er hatte Budapester zu Hause im Schrank. Die knarrten bei jedem Schritt, dennoch hätte er sich wohler gefühlt. Lass dich nicht in Frage stellen. Das Eindringen Fremder in den privaten, geschützten Raum wirkt traumatisierend, der Betroffene erleidet Gefühle des Kontrollverlusts. Darüber gab es Studien. Er könnte Tula anrufen, sie bitten, Aufsätze aus den Fachzeitschriften herauszusuchen, zu kopieren und an seine Privatadresse zu schicken. Für Theresa. Als Reiselektüre. Claas zog das Handy aus der Tasche, kein Empfang.

Er hatte ein Taxi zum Bahnhof nehmen müssen, achtzehn Euro dreißig, unnötige achtzehn dreißig. Er bezahlte alles. Fast alles. Theresas Privatdozentengehalt deckte nicht mal die Charlottenburger Wohnung ab.

»Schon wieder Bescherung«, hatte Tula vor einigen Wochen gesagt, mit dem Kinn auf die beiden Pakete gedeutet, die in seinem Eingangskorb lagen. Danach hatte er sich die Pakete postlagernd schicken lassen, sie am Schalter abgeholt, in einer Einkaufstasche in die Praxis gebracht.

Die meisten Fahrgäste kannten die Strecke, zogen kurz bevor ihr Halt angesagt wurde die Stöpsel aus den Ohren, wickelten die Kabel sorgfältig um ihre iPods und steckten sie in die Jackentaschen.

***

Sie hätte die Pfannkuchen nicht herschenken dürfen, musste eilen, wollte sie wieder zu Hause sein, wenn er kam. Elsa schob die Haustür auf, weich legte sich Wärme auf ihr Brustbein, auf Arme, Wangen, Waden, die Innenwände ihrer Nase, verschloss hell ihre Augen, trocknete den Rachen mit dem ersten tiefen Atemzug aus. Sie blieb stehen, trug nur die weiße Bluse und schwitzte dennoch, der Baumwollstoff an den Schultern mit Spitze durchbrochen.

»Raffiniert«, nennt Erika die Bluse. Sie besuchen eine von Erikas Arbeitskolleginnen in ihrem Schrebergarten, sitzen nebeneinander in der Hollywoodschaukel und trinken Apfelmost.

»Sei nicht albern«, sagt sie, stößt mit der Schulter nach Erikas Zeigefinger, der über die winzigen Löcher der Spitze fährt.

Elsa dachte an die feuchte Kühle, die allmählich aufgestiegen war, an die frisch gemähten Rasenschnipsel, die auf dem Heimweg nass an ihren Schuhen geklebt hatten, und machte den ersten Schritt auf die warmen Pflastersteine. Neben der Haustür war ein rötlicher Fleck, gestern war er nicht da gewesen, Fliegen krabbelten ihre seltsamen Dreiecke darauf.

Die Kneipe an der Ecke war weg. »Saufen sich erst die Köppe weich und machen dann zu Hause ihren Frauen Kinder«, Erika deutet ungeniert durch das Schaufenster auf die Menschenklumpen am Tresen, »und ich hab den Schlamassel.« Erika war Bezirksschwester gewesen, Hebamme eigentlich. Im Frühjahr hatte in den Räumen ein Café aufgemacht, die Tapeten hatten sie runtergerissen, die nackten Wände erinnerten an Krieg. Sofas standen kreuz und quer und kleine Couchtische und Sessel, die nicht zu den Sofas passten, und alle mussten übereinandersteigen, wenn sie zu ihren Plätzen wollten.

Bei den neuen Geschäften war seltsam unklar, was sie verkauften. In den Schaufenstern hingen Plakate, neben den Türen standen Aufsteller mit bunter Schrift. Selten waren es Wörter, meist nur Buchstabenfolgen, Abkürzungen oder Englisch, sie war nicht sicher. In manchen Läden reihenweise Tische mit Computern, Internetcafés, das hatte sie gelernt, aber auch hier blieb unklar, was genau dort angeboten wurde.

Vor Günthers stand eine Küchenanrichte auf dem Gehweg, daneben ein Tisch mit Plastikkörben, in denen, so gingen sie kaputt, nicht einmal sortiert, dachte Elsa, Vasen und Aschenbecher lagen. Brillen und Blechdosen und Kaffeetassen. Einen Sommer lang hatte Günthers, Wohnungsauflösungen, Kellerentrümpelungen, hole alles ab, stand auf dem Schild, alles doppelt unterstrichen, sie gezwungen, einen Umweg zu machen, hin und zurück mit dem Einkauf. Erikas Telefontisch hatte auf dem Gehweg gestanden, ihr Schirmständer, der rot-schwarz karierte Papierkorb. Später die kleine Kommode aus dem Flur, Erikas Handschuhe, Mützen, Schals, reine Schurwolle, die in ordentlichen Stapeln zwischen Mottenpapierstreifen in die Schubladen gehörten, lagen daneben. In einem Pappkarton, 1 Euro stand auf dem Schild. Das Geschirr mit dem orangebraunen Blumendekor, sie hatten es zusammen gekauft, bei Karstadt, dreimal die Woche Kaffee daraus getrunken, befand sich ebenfalls in einem Karton, 2 Euro/Stück. Sie hatte Erikas Nachtschrankschublade aufgezogen, zum ersten Mal, fiel ihr auf, Einwegspritzen, verschweißte Kompressen, das Blutzuckertestgerät, das aussah wie ein Kugelschreiber. Ein Zettel, auf dem Insulin bestellen!!! stand, darunter die Daten 18.01. und 18.03. Schlächter, hatte sie gedacht, die Porzellansplitter auf dem Boden des Geschirrkartons betrachtet. Zerstückelt hatte er sie, die Überreste in zweiundzwanzig Teile zerstückelt und dann verteilt. Elsa hatte ihre Handtasche geöffnet, die Kompressen, die Spritzen, das Testgerät mit beiden Händen zusammengerafft und hineingetan. Das ist Diebstahl, hatte sie gedacht, den Zettel in die Rocktasche gesteckt. Die Schublade hatte sie offen gelassen, war rasch weitergegangen. Zu Hause hatte sie nicht gewusst, wohin mit den Sachen, hatte sie eine Weile in der Tasche mit sich rumgetragen, sie schließlich im Verbandskasten in der Küche untergebracht.

Am nächsten Tag war sie an der Ecke weiter geradeaus gegangen, erst bei der nächsten Querstraße rechts abgebogen, und dann wieder links, hatte sich von hinten an den Edeka herangeschlichen. Erikas Nichte aus Stuttgart hatte sie nicht kennengelernt, ein Anwalt war mit der Abwicklung des Nachlasses betraut gewesen, so hatte er sich ausgedrückt, als er sie um den Zweitschlüssel von Erikas Wohnung bat.

Fast wäre sie am Edeka vorbeigegangen, Elsa nickte der Kassiererin zu, der bayerischen, sie brauchte keinen Wagen, ein Korb reichte, sie kannte sie alle, die Bayerische rollte das R und sagte Grüß Gott.

»Der Junge kommt«, sie legte die Gummibärchen auf das Kassenband.

»Das ist fein«, die Bayerische lächelte, zog die Schokoladentafeln über den Scanner, einer ihrer Schneidezähne war dunkel verfärbt.

Erika hätte sie gescholten, hätte nie verstanden, wie glücklich es machte, ihn anzusehen. Gewiss, sie steckte ihm was zu. Nicht viel, einen Zehner oder Zwanziger, nur wenn sie nichts anderes im Haus hatte Fünfziger. Sie faltete sie vorher. Ihm einen glattgestrichenen Schein aus ihrem Portemonnaie zu reichen, zum Abschied womöglich, erschien ihr nicht recht. Machte es schäbig. Sie faltete die Scheine in der Mitte, gab acht, die Kanten genau aufeinander zu legen, fuhr mit den Nägeln über die Falz, kniff das Papier zusammen und faltete wieder die Mitte. So lange, bis der Schein zu einem kleinen quadratischen Paket geworden war, sie wickelte Band drum, machte eine Schleife, ein kleines Geschenk. Sie legte das Paket auf seine Untertasse, neben den Teelöffel. »Sieh, was die Wichtel gebracht haben«, sagte sie.

***

Das Treppenhaus erlösend kühl, die Wände beinahe feucht, Nicolai berührte sie im Vorbeigehen mit der Hand, stellte sich vor, die Stirn an sie zu legen, seine Schläfen. Die Übelkeit hatte sich festgesetzt, zwischen Magen und Lunge, eine wabernde Schicht, die sich hob und senkte. Bei den ersten Stufen übersäuerten die Muskeln, er fühlte seine Oberschenkel, seine Waden, den Puls in den Ohren.

Er hatte sie gestern besuchen wollen, es fiel ihm schwerer regelmäßig hinzugehen als am Anfang. Du musst, hatte er sich beschworen, an Helge im kalten Kühlschranklicht gedacht. Und pleite war er auch. Gestern war er trotzdem im Tier gelandet. Jahrelang war das Tier ein Dönerimbiss mit ein paar Tischen, einem stumm geschalteten Fernseher und zwei Spielautomaten gewesen. Die Bergfototapete war geblieben, wo die Automaten gestanden hatten, ragte ein Tresen aus gebürstetem Edelstahl in den Raum. Nicolai hatte sich ins Schaufenster gesetzt und zugesehen, wie das Tier sich füllte, auf Sebastian gewartet. Die Männer trugen Brillen, arbeiteten bei Agenturen, Ton, Text, Bild, was auch immer, sprachen von ihren traurigen Seelen und tranken polnisches Bier. Die Frauen waren schlank, viel gebräunte Beine, viel Sonnenblond. Er unterhielt sich mit einer Schauspielerin, sie sei zu schön für die hässlichen und zu hässlich für die schönen Rollen, wiederholte sie ständig. Sie tranken Wodka, viel Wodka, er zahlte. Sebastian kam nicht, sie redete von Castings, Agenten, bis sie irgendeinen Typen sah, den sie kannte, »ich bin gleich wieder da«, sagte sie. Auf dem Weg nach draußen hatte er sie noch einmal kurz im Gedränge gesehen.

Nicolai drückte den Klingelknopf, hörte es in der Wohnung schrillen, legte die Hände hinter dem Rücken ineinander, artig, das mochte sie. Sie brauchte lange, er atmete ein, nicht ungeduldig werden, tief ein, die Übelkeit dehnte sich aus wie eine Wolke, an schwarze Tinte in klarem Wasser musste er denken, er hatte letzte Woche eine Dokumentation über Kraken geschnitten, musste aufstoßen, Saures in seinem Mund. Manchmal ließ sie ihn warten, mit Absicht warten. Nicolai konnte dann ihre zaghaften Schritte hinter der Tür hören, wie sie stehen blieb, vielleicht das Holz berührte. Oft gab sie nicht acht und der Türspion, das kleine Guckloch, verdunkelte sich. Wenn sie schließlich öffnete, war sie besonders freundlich. Seine Finger hingen einige Sekunden in der Luft, ehe sie erneut den Plastikknopf drückten. Er zählte die Sekunden, zweiundzwanzig, keine Schritte auf den Dielen, dreiundzwanzig, keine Tür wurde geöffnet, keine geschlossen, vierundzwanzig, kein Räuspern, nichts. Er sah sie vor sich, in ihrem Sessel, neben ihr das Telefontischchen mit den beigefarbenen Kacheln, auf die in Schwarz die Silhouetten westdeutscher Städte gemalt waren. Unter dem Telefon, grün und mit Wählscheibe, lag ein Deckchen, daneben ein Becher mit Stiften, Notizblock und Adressbuch in braunem Leder. Fünfundzwanzig, sie saß still, sechsundzwanzig, hielt den Atem an, siebenundzwanzig, traute sich nicht, ihr Gewicht zu verlagern, achtundzwanzig, hatte beschlossen, nicht mehr zu öffnen, neunundzwanzig, nie mehr. Unsinn, dachte er.

Anfangs hatte er versucht, mit ihr zu reden. »Nur wir sind übrig«, hatte er gesagt und sie angesehen. Ihre Mundwinkel bewegten sich automatisch nach oben, schräg oben, sobald ihr Blick seinem begegnete, Lachfalten auf beiden Seiten, Grübchenstafetten. Die Mundwinkel rührten sich nicht, blieben oben, wenn er von Wurzeln und Genen sprach, von Ursulas Körper, der geschrumpft war, während ihre Haut die alte Größe behielt, von wachsenden Augen und verschwindenden Haaren. Wie festgesteckt, wie Stofffalten, mit Stecknadeln festgesteckt, jedes Grübchen eine Nadel. Sie zitterten nicht, senkten sich nicht, wenn er das Lächeln nicht erwiderte, sie nur ansah. Wohlwollend, wie er meinte, offen für eine Erklärung, Rechtfertigung, Trauer vielleicht. Sie lächelte mit geschlossenen Lippen, die Lippen dünnhäutig, als könnten sie jeden Moment reißen. »Hat Erika gemacht«, sie hatte auf die Tischdecke gedeutet, auf die altweiß gehäkelten Rosetten.

Jansen stand auf dem Klingelschild der benachbarten Tür.

***

Sie kamen wieder. Es war ruhig gewesen im Treppenhaus, Neun bis elf Uhr stand auf dem Aushang, im Fernsehen lief stumm das Mittagsmagazin, es war nach zwölf. Die Klingel schrillte erneut durch die Nachbarwohnung, Ebba stand auf, die Dielen kühl unter ihren bloßen Sohlen. Rau wegen der Krümel, die auf ihnen lagen, Tabak und hartes Brot. Der nächste Ton trieb sie nach vorn, dieses Mal war es ihre Klingel, zur Tür, zur Tür, sie war nackt. Nahm ein Shirt vom Boden, es roch nach Schweiß, herbe Buttersäure und Talg, zog es über den Kopf, der Rock lag daneben, er war blickdicht, sie brauchte keine Unterwäsche. Bedächtig setzte sie die Füße auf, ging in den Flur, näherte sich dem Türspion.

Auf der anderen Seite stand ein Mann. Blond, sehr blond, die Augen grau, seltsam nackt, keine Wimpern, dachte sie, helle Brauen, hochgezogen zu spitzen Dreiecken, er fuhr zurück, als sie die Tür öffnete.

»Entschuldigung«, sagte er, »meine Großmutter«, sagte er, »sie wohnt nebenan.«

Kühlere Luft aus dem Treppenhaus strömte an Ebba vorbei, ließ sie den Geruch der Wohnung wieder wahrnehmen, saure Feuchtigkeit und alter Rauch. Er musterte sie, ihre Augen verquollen, Pupillen gerötet, sie hatte mit Zopf geschlafen, sich nicht gekämmt, die Zähne nicht geputzt. Auf dem T-Shirt Flecken, Kaffee, richtig, darum hatte sie es ausgezogen und auf den Boden geworfen. Ebba verschränkte die Arme, der Schweißgeruch ihrer Achseln wurde stärker, sie presste die Oberarme an den Körper, wollte ihn dazwischen begraben.

»Haben Sie mitbekommen, ob etwas passiert ist«, fragte er, als Ebba nichts sagte.

Sie hatte sich hier sicher gefühlt. Gut versteckt zwischen Gemüsehändlern, Wettbüros, Dönerimbissen, 99-Cent-Läden, Lidl-Märkten und Kneipen, in deren Schaufenstern Silvestergirlanden bleichten. War mit dem Gefühl durch die Straßen gegangen, eine von den Begünstigten zu sein, nur vorübergehend hier, zufällig, die anderen dazu verdammt. Die Invasion hatte im letzten Jahr begonnen. Im Sommer waren sie braungebrannt, im Winter rotwangig, saßen mit Laptops in Cafés, in Eile auf ihren Fahrrädern, verabredet, immer verabredet, und immer lockte sich irgendwas um ihre Gesichter.

»Arzt, Rettungswagen? Irgendwas?«