Silberfischchen - Inger-Maria Mahlke - E-Book

Silberfischchen E-Book

Inger-Maria Mahlke

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Beschreibung

Hermann Mildt war Polizeibeamter, bis man ihn frühpensionierte, weil er seine tote Frau im Garten fotografierte. Eher unfreiwillig nimmt er Jana Potulski bei sich auf, sie ist Polin ohne Papiere und sucht eine Übernachtungsmöglichkeit. Warum er sich auf sie einlässt, kann er nicht sagen. Er darf ihre Brüste berühren, abends im Bad. Nach drei Tagen läuft sie ihm weg. Erst sucht er sie, dann wartet er, und schließlich findet er sie auf der Straße wieder. Und Jana Potulski kehrt mit ihm in die Wohnung zurück. Doch dann geht alles drunter und drüber. – Meisterhaft im Ton und voll untergründiger Spannung schildert Mahlke die Geschichte einer ungewollten Annäherung, einer Entwahrlosung – ein Roman ganz auf der Höhe unserer Zeit. Inger-Maria Mahlke arbeitet am Lehrstuhl für Kriminologie der Freien Universität Berlin. In ihrem aufsehenerregenden Debüt erzählt die gefeierte Open-Mike-Preisträgerin Inger-Maria Mahlke eine faszinierende Geschichte über Misstrauen, Abhängigkeit und erotische Anziehung. Für ihr Buch "Archipel" erhielt sie 2018 den Deutschen Buchpreis.

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Seitenzahl: 203

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Inger-Maria Mahlke

Silberfischchen

Roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0021-1

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2010© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2010

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg /Gundula Hißmann unter Verwendung eines Motivsvon plainpicture/Millennium/Jason Shenai

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

1.

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Für Rosy, Christian,

Irene und Fiél

y para

Enrique Peña-Alonso

19.04.1949 – 07.07.2009

1.

Eine lange Reihe abgasgeschwärzter Häuser, die sich in Pfützen spiegelten, trocknete an der Wäscheleine in der Küche, er stieß sie im Vorbeigehen an. Es schneite, die Autos krochen, die weißen Hauben auf den Mülltonnen waren noch unberührt. Den Tee hatte er bereits in die Thermoskanne gefüllt, ein Streufahrzeug bog um die Ecke. Der bleibt nicht liegen, dachte der alte Mann, prüfte nochmals, ob er den Verschluss fest genug zugedreht hatte, es wird wieder regnen, und die Bürgersteige werden knirschen vom Streusand.

Er wickelte die Kanne in Küchenpapier, holte eine Plastiktüte unter der Spüle hervor, legte die Kanne hinein und drehte die Tüte zu einer Wurst zusammen. Einmal war sie ausgelaufen, die Ausrüstung heil geblieben, aber eine neue Tasche hatte er kaufen müssen. Die Tasche, kastenförmig, schwarz und innen mit rotem Filz ausgeschlagen, stand aufgeklappt auf dem Küchentisch, die Thermoskanne kam ganz nach unten. Er wollte mit dem Zug fahren, nach Frankfurt/Oder, den Fluss fotografieren oder Alleelinden im Schnee, falls vorhanden. Die Brote, zwei Mett, zwei Schmelzkäse, hatte er in Wachspapier verpackt, sie gehörten in die Lücke zwischen Kanne und Taschenwand. Als Kind war er einmal in Frankfurt/Oder gewesen. Er konnte sich an kein Haus, keine Straße, kein Geschäft erinnern, nicht an den Bahnhof und nicht an den Namen der Cousine, die sie besucht hatten. Er faltete zwei Blätter Küchenkrepp akkurat in der Mitte und legte sie auf die Kanne, als Trennschicht zwischen Verpflegung und Ausrüstung. Nur an die Ecke des weinroten Sofas, in der er gesessen hatte, während seine Mutter und die Cousine redeten und lachten. Und an den hellblauen Schmetterling mit Flügeln so groß wie seine Handflächen, der hinter goldgerahmtem Glas über dem Sofa hing. Der Schmetterlingskörper ähnelte einer Zigarre, sah aus, als hätte er ein spürbares Gewicht. Ekel hatte ihn geschüttelt, als er sich das Gewicht auf seiner Hand vorstellte. Auf die Trennschicht kam das zusammengeklappte Stativ, die Schachteln mit den neuen Filmen klemmte er zwischen Stativ und Taschenwand, sonst verrutschte es beim Gehen. Er hatte die Cousine gefragt, ob der Schmetterling beim Präparieren ausgehöhlt und neu gefüllt worden war. Sie wusste es nicht. Auf das Stativ kamen die Kamera, als Letztes die Objektive, in weiche Tücher gewickelt. Aus mehr bestand Frankfurt/Oder nicht, er klappte den Taschendeckel zu. Frankfurt/Oder war ihm gleichgültig, er wollte mit dem Zug fahren durch vorbeifliegenden Wald im Schnee.

Die Filme von gestern mussten in die Dunkelkammer, er überlegte, ob er die Regenhaube für die Kamera einpacken sollte. Er ließ es bleiben, er musste schneller als der Regen sein. Er nahm eine der Mützen vom Garderobenbord, prüfte kurz im Spiegel, ob sie gerade saß. Sein Mantel musste ausgebürstet werden, der Kragen war übersät mit weißen Hautschuppen, sie rührten sich nicht, als er mit der Handfläche drüberrieb. Seine Arme fuhren in die zerknitterten Ärmel, es würde bald regnen, er hatte keine Zeit. Wenn der Zug am Ostbahnhof heute wieder zu spät kam, würde er nicht bezahlen.

Er hängte die Fototasche über seine Schulter, nahm die Handschuhe aus der Konsolenschublade, braune Lederhandschuhe, an den Ballen hellgescheuert. Sie waren eng, es dauerte, bis er sie über die Finger gezogen hatte. Die Handschuhe waren wichtig, seine Finger froren immer zuerst. Und mit steifen Fingern dauerte das Herumtasten an der Kamera, das Suchen nach den ständig kleiner werdenden Knöpfen und Rädchen noch länger.

Vor der Haustür lag seine zusammengefaltete Zeitung auf dem grauen Linoleum, die Schlitze der Briefkästen waren zu eng. Vor drei Jahren hatte die Hausverwaltung das letzte Mal auf einen seiner Briefe geantwortet. Seitdem ging er ein Stockwerk tiefer von Zeit zu Zeit eine große Kurve über die Zeitungen der Nachbarn, darauf achtend, dass auf jeder mindestens ein kompletter Schuhabdruck zu sehen war. Sollten sie doch Briefe schreiben.

Als er die Eingangstür öffnete, wäre er fast mit dem Jungen aus dem dritten Stock zusammengestoßen. Der Junge zuckte zurück, und kurz sah es aus, als wollte er weglaufen. Ein schmächtiges, blasses Kerlchen, der Schulranzen ragte rechts und links über die Schultern hinaus, ein hellblauer Turnbeutel lag neben ihm auf dem Boden. Er selbst war auch so ein Kerlchen gewesen, »mickrig«, hatte sein Vater gesagt. Der Junge grüßte nicht.

Der alte Mann ging vorsichtig die Straße hinunter, es war glatt.

An der Ampel stand eine Frau mit langen braunen Haaren und wartete. In der Hand hielt sie eine blaue Plastikschale mit Erdbeeren. Es war so kalt, dass sie Wollhandschuhe trug, aber sie aß Erdbeeren und ließ die Kelchblätter achtlos auf die Erde fallen. Die Blätter sahen auf dem Schnee aus wie grüne gezackte Blüten. Er hob die Hand, wollte ihr auf die Schulter tippen, Sie verschmutzen den öffentlichen Raum sagen. Sie trug eine dicke Pelzjacke, sie würde ein Tippen kaum bemerken. Er zögerte, die Hand auf halbem Weg zu ihrer Schulter, überlegte, ob er seine behandschuhten Finger von hinten fest in ihren Rücken stoßen sollte. Sein Arm stand noch in der Luft, als die Ampel auf Grün wechselte. Er ging hinter ihr, die Augen fest auf die Stelle zwischen ihren Schulterblättern gerichtet, wo er sie hatte stoßen wollen.

Mit Erdbeeren waren sie ins Bordell gefahren, mit Erdbeeren statt Blumen. Hatten sie auf der Hinfahrt an einem Stand am Straßenrand gekauft. Die Früchte in den Spankörben auf dem Rücksitz waren überreif gewesen. Es hatte zu dämmern begonnen, die Luft staute sich im Auto, und Schweißperlen ließen die Bremsenbisse auf seinem Rücken jucken. Er hatte unten im Auto gewartet, er war frisch verheiratet gewesen. Hatte gewartet, bis die Nacht so kühl geworden war, dass er die Fenster hochkurbelte. Die Scheiben beschlugen, Kondenswassertropfen rannen an ihnen herab, als seine Kollegen wiederkamen, die Türen aufrissen und gähnend einstiegen.

Der Bus zum Ostbahnhof war pünktlich, er setzte sich auf den Behindertensitz, sollten sie ihm doch nachweisen, dass er nicht behindert war. Am Abend würde er den Film von gestern entwickeln, Berliner Dom, Touristen unter dem Portal eng zusammengedrängt, grauer Himmel gespiegelt in Pfützen. Zwei Männer stiegen hinter ihm ein, blieben im Mittelgang stehen, neben seinem Sitzplatz, hielten sich mit einer Hand an den grauen Gummischlaufen fest. Er sah geradeaus, die braune Plexiglas-Trennscheibe vor ihm war mit Fingerabdrücken übersät. »Ein Gig Speicher, neunzehn MB Lesegeschwindigkeit, Corsair Voyager drei, zwölf Euro sechzig«, der eine hielt dem anderen einen kleinen roten Plastikklotz hin. »Sensationell«, sagte der.

Er sah aus dem Busfenster, sie fuhren am Kanal entlang, auf der Böschung winterkahle Büsche, zwischen ihnen Müll. Nicht weit von hier war er Lehrling gewesen, beim Atelier Wagner – Portraits und Werbefotografie. Hatte weiße Leinenanzüge mit weiten Beinaufschlägen getragen und versucht, mit den Mannequins anzubändeln. Hatte nach wenigen Wochen kündigen müssen, Vater gestorben, ich brauch dich so sehr, hatte Mutter telegrafiert.

Der Zug nach Hause war überfüllt gewesen, Schulkinder mit sonnenbrandgeröteten Gesichtern und kurzgeschorenen Haaren saßen lachend im Gang und riefen einander Scherze zu. Nachdem sie umgestiegen waren und die Räder in die Stille hinein Delmenhorst, Delmenhorst stampften, war etwas Beschämendes von unten, aus seinem Bauch aufgestiegen, bis hinauf zu seinen Augen. Die übriggebliebenen Fahrgäste starrten ihn an, Ellbogen stießen in Rippen. Er war aufgestanden, hatte sich in der Toilette eingeschlossen. Hatte sein Gesicht beim Weinen im Spiegel betrachtet, und dann betrachtete er sein Gesicht nach dem Weinen, denn er konnte unmöglich in das Abteil zurück.

Der alte Mann lehnte sich in das Polster, als der Zug anfuhr. Es roch nach kalter Asche im Abteil, sobald er sich vorbeugte, stärker. Der Aschenbecher in der rechten Armlehne stand einen Spalt offen, braun verfärbte Filterenden ragten heraus, der Aschenbecher war so voll, dass er nicht mehr schloss. Er versuchte die Kippen mit den Fingerspitzen hineinzudrücken, die Stummel gaben nach, Asche staubte auf seine Hose. Ekel zog ihn zurück, er würde sich beschweren, beim Schaffner beschweren. Er hatte keine Fahrkarte. Der Zug rollte langsam am alten Depot vorbei, rund und mit eingeschlagenen Scheiben und Schmierereien auf den teerbestrichenen Holzwänden. Die Schmierereien seien Buchstaben, hatte er in der Zeitung gelesen, er konnte keine Buchstaben erkennen. Das Schienenmuster verrostet, sah aus, wie für Kinder zum Spielen gedacht. Er könnte den Sitz gegenüber nehmen, oder ein anderes Abteil. Er hatte immer nur im Freien geraucht, seine Frau hatte gesagt, Rauchen verdopple die Hausarbeit.

Seine Frau war schön gewesen, schwanger, als sie einwilligte, ihn zu heiraten, er hätte nie gewagt, sie zu schwängern. Wochen später sagte sie, sie habe es verloren, das ändere nichts, dafür sei es zu spät. Er hatte genickt. Hatte zugesehen, wie sie das Haus mit Möbeln füllte, jeden Morgen ihre Lippen nachzog und beim Frühstück mit einem geübten Messerhieb ihr Ei köpfte. Wie sie ihren Finger anfeuchtete, ehe sie die Seite einer Illustrierten umblätterte. Bei jeder Zeile leise nickte, wenn sie die französischen Vokabeln für den Volkshochschulkurs durchging. Hatte gewartet, doch sie musste mehr verloren haben, denn, gleich wie oft und fest und entschlossen sie es versuchten, in ihr wuchs nichts.

Sie habe nicht geheiratet, um arbeiten zu gehen, sagte sie. Sie war zu Hause geblieben, hatte Kurse besucht, einen Lesezirkel. Bridge gespielt. Wenn er Nacht- oder Frühschicht hatte, hatte er ihr den Frühstückstisch gedeckt, ehe er zum Dienst ging. Mit Eierbecher und Stoffserviette, Letztere zu einem Segel gefaltet. Hatte Marmelade in Schälchen gefüllt, je zwei Käse- und zwei Wurstscheiben aufgerollt und auf einen Teller getan, Butter in kleine Vierecke geschnitten und dazwischengelegt, hatte alles mit Klarsichtfolie überzogen und in den Kühlschrank gestellt. Am Anfang, um ihr eine Freude zu machen, später, damit sie nicht fragte, warum er es unterließ.

Sie kaufte Bücher, ließ Regale anfertigen, dunkel und massiv an der kurzen Seite des Wohnzimmers. Wenn sie ausgingen, lachte sie viel und erzählte von dem Vertreter, der gesagt habe, sie müsse nichts über sich sagen, ein Blick auf ihre Bücher sei eine Offenbarung gewesen. Ihr Haar wurde immer kürzer, begann sich in erzwungenen Drehungen und Wellen zu winden, am Ende färbte sie es braun. Ihr Kinn, keck hatte er es genannt, gerne behutsam mit dem Zeigefinger drübergestrichen, wenn sie ihn ließ, wurde weicher, dehnte sich aus in Richtung Hals. Die wunderbare Wölbung zwischen Auge und Braue kam ins Rutschen. Ihre Wangen verlängerten sich nach unten, hingen in weichen Bögen über die Kinnlinie hinab. Er hörte auf, sie anzusehen, später auch, sie zu berühren. Irgendwann stellte er sich vor die Regale und suchte. Fand nichts außer Menschen im Hotel von Vicki Baum, Nofretete, Kaiserin und Liebende oder Nero, Wahn der Macht. Darunter zwei Bände Nietzsche, ungelesen. Camus mit Lesezeichen auf Seite zwölf. Die anderen bekämen immer den Kuchen und sie nur die Krümel, die übrigblieben, sagte sie, und nachts hörte er sie manchmal weinen.

Einfamilienhäuser und Parzellen mit Datschen zogen vorbei, der Himmel immer noch klar, der Schnee intakt. Vorbei an Gärten mit hartgefrorenen Gemüsebeeten, mit Holzschuppen, mit Apfelbäumen, an denen kleine, saure Winteräpfel hingen, die trotz ihrer roten Backen blass und kränklich aussahen.

Er war heimgekommen vom Dienst. War durch die Terrassentür in den Garten gegangen, denn er hatte gerufen, und sie hatte nicht geantwortet. Still lag sie. Inmitten der feuchten, sich schwerfällig im Wind wölbenden Wäsche, der ächzenden, schwarz lackierten Pfähle, zwischen denen die Leine gespannt war, der hüpfenden Amseln auf dem kurzgemähten Rasen, inmitten der Bienen, Wespen, Hummeln, die um Blüten kreisten, lag sie still. Lag auf der Seite, ein paar Zentimeter neben ihr der bunte Klammerbeutel. Neben dem Klammerbeutel blühten Gänseblümchen. Er war ins Haus zurückgegangen, hatte die Dienstmütze an die Garderobe, die Jacke auf einen Bügel gehängt. Hatte die Kamera geholt.

Die Bücher verschenkte er mitsamt den Regalen an einen Trödler. Der Trödler war zuerst misstrauisch, untersuchte Regale und Bücher mehrmals nach Holzbock und anderem Ungeziefer, ehe er sie abholte.

Der Zug fuhr eine große Kurve, nächster Halt Frankfurt/Oder wurde über den Lautsprecher angesagt, zwei leere Bierdosen, pulvrig graue Zigarettenasche um die Trinköffnung, kippten um, rollten erst langsam und dann immer schneller den Gang hinunter.

Lichtstrahlen schossen durch schnell vorbeiziehende Tannenstämme. Trommelfeuer hatten sie das genannt, als der Zug ihn an Sommermorgenden zur Volksschule nach Stettin fuhr. Lichttrommelfeuer – nicht fotografierbar.

2.

»Die Fahrkarte bitte.« Der Schaffner war eine Frau, einen silbernen Knipser in der rechten Hand, die Linke ein wenig ausgestreckt, auf seine Fahrkarte wartend.

»Der Zug kam zu spät«, sagte der alte Mann.

»Ja, das bedauern wir sehr«, sie lächelte, blond und sehr braun für Februar, »die Fahrkarte bitte.«

»Der Zug kam zu spät«, wiederholte er, seine Hände zitterten, er nahm eine in die andere, damit sie es nicht sah.

Die Schaffnerin nickte. »Ich habe Sie verstanden«, sagte sie laut, jede Silbe einzeln aussprechend, »ich müsste trotzdem Ihre Fahrkarte sehen.«

»Das ist ein Nichtraucherabteil«, sagte er und sah hinab auf den vollen Aschenbecher.

»Ja, ich weiß, unmöglich. Haben Sie eine Fahrkarte?«

»Nein«, er schüttelte den Kopf, »der Zug kam zu spät.«

»Kommen Sie«, die Schaffnerin beugte sich vor, griff nach dem Schulterriemen seiner Tasche.

»Die ist schwer«, sagte der alte Mann und griff ebenso zu, »die gehört mir, das ist mein Eigentum.«

»Sie kriegen sie ja gleich wieder«, die Schaffnerin lächelte, die Schaffnerin war schneller als er. »Ich muss Ihre Personalien aufnehmen«, sie hängte sich den Riemen über das Schulterpolster ihrer Bahnuniform, »Ihren Ausweis haben Sie dabei?«

Er fasste an seine linke Brust, tastete nach der Brieftasche, sie war da, quadratisch und fest unter dem weichen Wollstoff des Mantels. Die Schaffnerin schwankte, als der Zug anhielt, sie hielt sich am Gepäckgitter fest, er hätte sie gern geschubst.

»Kommen Sie«, ihre Hand näherte sich seinem Arm, er zog ihn weg, eine Frau schob die Abteiltür auf, einen blauen Einkaufskorb in der einen Hand, an der anderen ein dunkelhaariges Mädchen hinter sich herziehend. Er sah auf den Boden, schmelzender Schneematsch, wartete, bis sie ausgestiegen waren, ehe er zur Tür ging.

Der Himmel blau und leer, der Regen langsamer als der Regionalexpress, er sah sehr deutlich seine Atemwolke und hinter der Atemwolke Fahrgäste, die alle in eine Richtung gingen, eilig, auf der glattgetretenen Schneeschicht Halt suchend, die Schultern hochgezogen. Nur er blieb stehen, und die Fototasche berührte seinen Handrücken und hing an der Schulter der Schaffnerin.

Die Schaffnerin begann zu winken.

»Hier«, rief sie, ein Mann im Gedränge reagierte, er trug eine Bahnuniform, er kam auf sie zu. Der alte Mann berührte mit der Hand das feste Quadrat unter dem Wollstoff, sie war noch da, in der Innentasche, er war ein Mensch mit Personalausweis und Rechten, versichert und ohne Schulden, er war pensioniert, er war Polizeibeamter. Er kannte das alles. Er hatte eine Uniform getragen, eine richtige, keine blau-rote Bahnuniform. Er hatte Menschen am Arm genommen und neben sich hergeschoben. Er hatte sich Personalausweise zeigen lassen und »Kommen Sie« gesagt. Er kannte das alles. Er hatte seinen Abschied freiwillig eingereicht, die Dienststelle erklärte in seiner Entlassungsurkunde ihr Bedauern. Er kannte sein eigenes Widerstreben, wusste, wie es für den Schaffner aussah, der rasch auf sie zukam. Er kannte die schleppenden Schritte, das zurückstrebende Gewicht der Frau, um deren Oberarm die Hand des Schaffners lag. Die Frau war klein und stämmig, der Schaffner hatte Mühe, sie hinter sich herzuziehen.

»Sie hat weder Papiere noch Geld, sagt sie«, rief er ihnen entgegen.

Plötzlich stemmte die Frau ihre weißen Turnschuhe in den vereisten Untergrund, warf sich nach hinten, riss den Arm hoch, einen Moment lang war nur noch beiger Jackenärmel zwischen den Schaffnerfingern.

»Hiergeblieben«, der Schaffner packte ihren anderen Arm, ihren Kopf, drückte ihn auf ihre Brust, in den Pelzkragen ihrer Jacke, eine blaue Tasche flog durch die Luft.

Die Frau gab auf. Ihr Gesicht war gerötet, das Haar zerzaust, sprödes quittengelbes Haar mit dunklem Streifen am Ansatz.

»Alles geraubt«, sagte sie außer Atem, »alles weggenommen«, sie schüttelte den Kopf, die breiten Lippen zusammengepresst.

Er schätzte sie auf Anfang fünfzig. Sie hob die blaue Tasche auf und drückte sie mit beiden Händen vor ihren Bauch, auf die Tasche war ein goldener Anker genäht.

»Wie heißen Sie?«, fragte die Schaffnerin und lächelte nicht.

»Potulski. Jana Potulski.«

»Können Sie sich ausweisen?«

»Nein, ich sage doch, alles geraubt«, die Frau seufzte, ihre dunklen Augen musterten das adrette Blau-Rot der Bahnuniform.

»Und der?«, der Schaffner sah fragend die Schaffnerin an.

»Keine Fahrkarte«, antwortete sie.

»Kommen Sie, junger Mann.«

Er fühlte, wie sich die Schaffnerhand um seinen rechten Arm legte, sein Magen war plötzlich Übelkeit, weiche Übelkeit, sich ausdehnende Übelkeit. Speichel lief in seinem Mund zusammen, Speichel so flüssig wie Wasser, sein Mund war ein Springbrunnen, ein überlaufender Springbrunnen, er presste die Lippen zusammen. Etwas Hartes drückte gegen seine Schläfen, »Vorsicht«, hörte er die Schaffnerin rufen, ein harter Balken drückte sich in seinen Rücken. Der Tag wurde schwarz, er zog die Augenlider hoch, es blieb schwarz. »Achtung«, rief jemand und »Scheiße«, und das Kratzen von Füßen, von Füßen, die auf glattgetretenem Schnee Halt suchten. Aber das war hinter seinen Lidern, und seine Lider waren eine Mauer, und hinter der Mauer war er sicher. Die Übelkeit zog sich zusammen, langsam, zu einem Klumpen, einem kleinen Klumpen, den man in die Hand nehmen und hochwerfen und auffangen konnte wie einen Ball. Er saß auf einer Bank, einer feuchten Bank, und neben ihm saß die Schaffnerin. »Das Scheißweib ist abgehauen«, sagte sie und »Fühlen Sie sich besser?« und »Brauchen Sie einen Arzt?«

Er schüttelte den Kopf, »nein, danke«, und Speichel lief aus seinem Mund und tropfte auf den Mantel.

Einen Moment saßen sie schweigend nebeneinander, stießen Atemwolken aus, er tastete nach seiner Brieftasche, sie war noch da. Der Schaffner kam wieder. »Weg«, sagte er.

»Stimmen Sie der Aufnahme in das Schwarzfahrerregister der Deutschen Bahn zu«, fragte die Schaffnerin. »Im Falle Ihrer Zustimmung würden wir von einer Strafanzeige absehen«, ihre Ellbogen hatte sie auf die hellgraue Platte des Schreibtisches gestützt, »Sie sind noch Ersttäter«, setzte sie hinzu, bei »Ersttäter« lächelte sie.

Er saß auf einem der schmalen Besucherstühle, schwarz mit uniformblauen Polstern, er nickte.

»Gut«, ihr Lächeln wurde breiter, als habe er ihr eine Freude gemacht, »dann benötige ich Ihren Ausweis.« Ihr linker oberer Schneidezahn stand ein wenig vor, sie wandte sich dem Computermonitor zu, tippte, ihr Schreibtisch leer, nicht ein Blatt Papier war zu sehen, nur eine Grünpflanze, die in braunen Klümpchen statt in Erde wuchs. Sie blickte auf, »der Ausweis?«

Er sah hinab, sah zu, wie seine behandschuhten Finger einen Knopf nach dem anderen durch die engen Ösen schoben, wie sie die Mantelaufschläge öffneten, seine Rechte tastete nach dem Quadrat. Kalte Luft drang mit ihr vor, die aufgestaute Wärme entwich, er fröstelte, als er die Brieftasche herauszog.

Es dauerte, bis er den Ausweis aus seinem lächerlich engen Fach in der Brieftasche gezerrt hatte, ihre Finger warteten auf der Tastatur, sie trug keinen Ehering. Das Telefon klingelte, sie bat ihn nicht um Entschuldigung, als sie nach dem Hörer griff. »Customer point drei«, meldete sie sich lächelnd.

Er rührte sich nicht.

»Ausweis«, formte sie tonlos mit den Lippen. Er legte ihn vor sich auf die Tischplatte, so dass sie ihn sehen konnte. Sie winkte mit den Fingern, näher zu mir, langsam schob er den Ausweis über das Furnier, bis zur Tischmitte, dort ließ er ihn liegen, gewellt und mit abgeknickten Ecken. Sie musste nur den Arm ausstrecken, sie nickte stumm vor sich hin, betrachtete ihre Fingernägel, den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt. Er überlegte, ob er aufstehen, den Ausweis einstecken und leise gehen sollte. »Hab ich auch verstanden«, sie nickte heftig, der eingeklemmte Hörer kam kurz ins Rutschen, »P wie Peter, O wie Otto, T wie Theodor, U wie Ulrich«, sie brach ab, lauschte kurz, »ja genau.«

Die Frau im Zeitschriftenladen war überrascht. Der Bus nach Berlin fahre selten und brauche doppelt so lange und koste fast das Gleiche wie mit der Bahn, antwortete sie. Die Haltestelle sei vor der Post, er befände sich aber gerade am Bahnhof, am Hauptbahnhof von Frankfurt/Oder, er könne auch den Zug nehmen. Ja, vor der Post, aber wie gesagt.

Es regnete, als er aus dem Bahnhofsgebäude trat, die akkuraten Linien und Kanten, mit denen der Schnee die Dächer nachgezeichnet hatte, waren ins Rutschen gekommen, hingen in der Mitte durch in weichen Bögen. Frankfurt/Oder würde er nicht fotografieren, jetzt nicht mehr, vor dem Bahnhof warteten Taxis, er beschloss, mit dem Taxi zur Post zu fahren.

Als er auf den ersten Wagen zuging, sah er den Fahrer durch die Windschutzscheibe hastig die Zeitung zusammenfalten und den Deckel auf eine Thermoskanne schrauben. Er dachte an den Tee in seiner Tasche, stieg vorsichtig über den grauen Schneewall zwischen Bürgersteig und Fahrbahn und klopfte an das Seitenfenster. Der Fahrer stieg nicht aus, der Fahrer öffnete die Beifahrertür von innen, »immer rein, immer rein«, sagte er.

Der alte Mann wäre lieber hinten eingestiegen, früher war man in ein Taxi immer hinten eingestiegen, auch wenn man allein fuhr. Er zog die Beifahrertür weiter auf und reichte dem Fahrer die Fototasche, der legte sie achtlos auf den Rücksitz.

Er ignorierte die ausgestreckte Hand, hielt sich an Türöffnung und Kopfstütze fest, ließ sich langsam rückwärts hinab, bis er den Sitz unter sich fühlte. Seine Beine waren noch draußen, die Beine hatte er nachziehen wollen, sein Schuh blieb hängen.

Er versuchte es noch einmal, hob das linke Knie, beschrieb mit dem Oberschenkel einen Halbkreis in Richtung Türöffnung, sein Schuh blieb hängen. Dort, wo die Sohle vorstand, wo sie mit dem Oberleder vernäht war, blieb sie hängen an der schwarzen Gummifütterung der Tür. Er versuchte das Bein höher zu heben, sein Oberschenkel begann zu zittern, höher ging nicht.

»Geht’s«, fragte der Fahrer.

»Ja«, antwortete er, ließ das Bein wieder sinken, Schneematsch quoll unter der Sohle hervor. Er schob beide Hände unter den linken Oberschenkel, verschränkte die Finger, zählte tonlos bis drei, zog und hob gleichzeitig erst das linke und dann das rechte Bein ins Wageninnere.

»Zur Post.« Er wollte die Tür zuknallen, doch dafür reichte es nicht, sie schloss mit einem Schmatzen. Sein Körper wurde gegen die Tür gedrückt, als sie vom Bahnhofsplatz fuhren, gegen die Tür gedrückt, wie ein Sack, gefüllt mit irgendwas, er tastete nach dem Haltegriff über dem Fenster. Bis zur Pensionierung war er zwei Mal die Woche schwimmen gegangen. Zwei Mal die Woche hatte er vor dem Dienst frierend auf dem Sprungblock gestanden, hatte tief eingeatmet, hatte Finger auf Fußspitzen gepresst und war nach vorn geschnellt. Zwanzig Bahnen, zwanzig Mal die Linie entlang, die seine von den anderen Bahnen trennte, schwarz und mit einem T-Balken am Ende. Olympiabahnen, zehn Brust, zehn Kraul war er geschwommen, neunzehn Mal hatte er gewendet, beim T-Balken, neunzehn Mal vor dem Dienst.

»Arztbesuch«, fragte der Fahrer.

»Zur Post«, wiederholte der alte Mann, »bitte«, er bemühte sich, gerade zu sitzen, sah nach vorn, die Scheibenwischer verschmierten Regentropfen. Sie hielten an einer roten Ampel, der Fahrer schwieg. Eine Frau mit buntem Anorak und winterbleichem Gesicht überquerte die Straße, sie trug rechts und links volle Aldi-Tüten. Er meinte im Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen, der Fahrer hatte den Kopf gedreht, musterte ihn. Er fühlte den Blick auf seiner Schulter, seinem schuppenbesetzten Kragen, fühlte, wie der zerknitterte Mantel besehen wurde, der glattgescheuerte Cord über seinen Knien, die Fäden am Hosensaum. Der Schnee hatte weißzackige Linien auf seinen Schuhen hinterlassen, die Schuhspitzen waren zerschrammt, der rechte Schnürsenkel gerissen und wieder verknotet. Verwahrlost, musste der Fahrer denken, er war verwahrlost. Er bemühte sich, gerade zu sitzen, sah nach vorn, an Körper und Kleidung verwahrlost, graues Schneewasser spritzte auf, als sie beschleunigten.

Der Bus fuhr in wenigen Minuten, er stellte sich unter den Windschutz der Haltestelle, der Regen durchnässte seine Hose von den Knien abwärts.

»War es schlimm«, fragte eine Frauenstimme dicht hinter ihm. »War es schlimm?«

Er fuhr herum, Jana Potulski hatte den Kopf schief gelegt, musterte ihn.

»Nein«, er schüttelte den Kopf, »Nein, war nicht schlimm.«

»Ich muss rüber«, sie zeigte mit dem Daumen hinter sich, »über die Grenze.«

»Haben Sie Hunger«, fragte der alte Mann.

Sie zögerte, sah hinab auf ihre nassen Turnschuhe, er öffnete die Schnalle der Fototasche, klappte den Deckel auf, zog die Klarsichttüte mit den Broten heraus.