Reden und reden lassen - Gerhard Schwarz - E-Book

Reden und reden lassen E-Book

Gerhard Schwarz

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Beschreibung

Gerhard Schwarz und Stephan Wirz legen ein Buch zur Wiederbelebung der Debattenkultur vor und plädieren für eine Erneuerung der Meinungsäusserungsfreiheit. Political Correctness ist das Reizwort der Zeit. Die «offene Gesellschaft» wird derzeit aus zwei Richtungen angegriffen: Die modernen Kommunikationsmöglichkeiten fördern beleidigende oder hasserfüllte Kommentare, die keinen Beitrag zu einer argumentativen Auseinandersetzung unterschiedlicher Positionen leisten. Auf der anderen Seite versuchen gesellschaftliche Gruppierungen, anderen ihre Moralvorstellungen aufzuzwingen. Sie wollen bestimmte Sprachregelungen durchsetzen sowie Themen- und Handlungsfelder als «politisch korrekt» festlegen oder als «politisch unkorrekt» ausschliessen. Der vorliegende Band entwickelt eine Gegenstrategie, angeregt durch Überlegungen von John Stuart Mill, Romano Guardini und Axel Honneth. Die Autoren plädieren für eine innere Haltung der Höflichkeit und des Respekts gegenüber anderen Personen und deren Ansichten.

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Reden undreden lassen

Anstand und Respekt stattpolitische Korrektheit

Herausgegeben vonGerhard Schwarz undStephan Wirz

NZZ Libro

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2020 (ISBN 978-3-907291-13-9)

Lektorat: Sandro Malär, Wädenswil

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-907291-14-6

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Stephan Wirz/Gerhard SchwarzZwischen hasserfüllter Enthemmung und übersteigerter Korrektheit.Eine Einführung

I. Die Gefährdung der Meinungsfreiheit

John Stuart MillVon der Denk- und Redefreiheit

Milosz MatuschekIm Zweifel für den Zweifel.John Stuart Mill und das «Truth Principle»

Grace Schild TrappeMehr Wahrheit durch Widerspruch.Die Unerlässlichkeit der Meinungsäusserungsfreiheit

Alejandro NavasDie Meinungsfreiheit – unverzichtbar und verletzlich.Der unerlässliche Mut, die Dinge beim Namen zu nennen

Susanne GaschkeDie gefährdete Glaubwürdigkeit des Journalismus.Ein Plädoyer für Bescheidenheit, Fehlerkultur und Selbstkritik

II. Politische Korrektheit und ihre Übertreibungen

Axel HonnethGrenzen der moralischen Freiheit

Alexander GrauDie Selbstzerstörung abendländischer Kultur.Eine kurze Ideengeschichte der Political Correctness

Claudia WirzEine Religion namens Gender.Betrachtungen über die neue Tugendprotzerei

Markus SommMann und Frau sind gleich, gleicher, am gleichsten.Die richtige Farbe des Schminktisches in Kinderkrippen – eine Realsatire

Jochen HörischPolitical Correctness und diskursive Enthemmung.Zwei komplementäre Verstösse gegen die Zivilität

Heinz ZimmermannWie politische Korrektheit Demokratie und Markt aushöhlt.Diskurstheoretische Überlegungen am Beispiel von Kapitalanlagen

III. Wider die Verrohung der Debattenkultur

Romano GuardiniHöflichkeit

Philipp W. Hildmann«Deutschland spricht nicht, Deutschland brüllt.»Die Verrohung der Diskussionskultur und die Tugend der Höflichkeit

Peter HettichReden und reden lassen.Aktuelle Methoden zur Verweigerung einer sachlichen Debatte

Peter RuchDebattenkultur und Hordendenken.Anregungen bei Jeremias Gotthelf

Grace Schild TrappeAnstand als Schmiermittel einer liberalen Gesellschaft.Die Unhöflichkeit der Gesprächsverweigerung

Die Autoren

Vorwort

Die ersten Sätze des «Mission Statement» der Progress Foundation besagen, dass es ohne Freiheit des Forschens und Suchens keine wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovation geben kann. Freiheit führt zu Offenheit, Wandel und Fortschritt. Diese Freiheit des Suchens ist durch die Forderung nach einer rigiden politischen Korrektheit der Sprache (und damit des Gedankens) sowie durch eine den Streit um das bessere Argument verunmöglichende, enthemmte verbale Aggressivität in den sozialen Medien gefährdet. Die Progress Foundation, die sich aus Tradition und Neigung stark auf ökonomische Fragen konzentriert, allerdings oft mit einem interdisziplinären Ansatz, hat deshalb ihren 25. Workshop dem Thema «Zerrüttete Diskussionskultur – In den Fängen politischer Korrektheit» gewidmet. Er fand von 13. bis 16. Juni 2019 im Hotel Gasthof Hirschen in Schwarzenberg (Vorarlberg) unter der Leitung der Herausgeber dieses Buches statt. Wie immer an den Seminaren der Stiftung bildeten klassische und einige aktuelle Texte – in diesem Fall von Romano Guardini, Jonathan Haidt, Axel Honneth, Eckhard Jesse, John Stuart Mill, Jordan P. Peterson, Peter Strasser und Max Weber – die Grundlage für völlig offene Diskussionen unter den Teilnehmern.

Drei der Grundlagentexte haben wir in diesem Buch abgedruckt. Sie werden angereichert, ergänzt und zum Teil aktualisiert durch Beiträge, die einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem Workshop verfasst haben. Die Texte verbinden die gedanklichen Anstösse durch die Diskussionen in Schwarzenberg, die formellen ebenso wie die informellen, mit dem beruflichen Hintergrund der Autorinnen und Autoren. Aufgrund der unterschiedlichen akademischen Herkunft, von der Ökonomie bis zur Geschichtswissenschaft, von der Philosophie bis zur Jurisprudenz, von der Philosophie bis zur Theologie, von der Literaturwissenschaft bis zur Sinologie, ergibt sich ein reiches Panoptikum der diskutierten und weiterhin sehr virulenten Probleme. Ausserdem haben wir den Text eines Vortrags über die Lage des Journalismus, den Susanne Gaschke im Mai 2019 an der 48. Economic Conference der Progress Foundation in Zürich gehalten hat, in den Band aufgenommen.

Mein Dank gilt allen, die zum Erfolg des Seminars und damit indirekt des vorliegenden Buches beigetragen haben, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, zumal jenen, die nun auch in diesem Buch vertreten sind, meinen Kollegen im Stiftungsrat der Progress Foundation, die das Projekt von Beginn weg wohlwollend unterstützt haben, vor allem aber dem akademischen Direktor des Workshops und Mitherausgeber dieses Buches, Stephan Wirz. Ohne seine Kompetenz, seine umsichtige Planung und seinen Einsatz trotz widriger gesundheitlicher Umstände wären Workshop und Buch sicher nicht in dieser Qualität und vielleicht sogar überhaupt nicht zustande gekommen.

Ich hoffe, dass etwas von der produktiven Lebendigkeit und gedanklichen Breite, die am Workshop herrschte, auch in diesem Buch spürbar wird. Vor allem aber hoffe ich, dass dieses Buch dazu beiträgt, die Bedeutung eines anständigen und korrekten Umgangs miteinander zu erkennen. Dieser respektvolle Umgang ist ein Gegengift sowohl gegen das so harmlos tönende, aber letztlich die Meinungs- und Gedankenfreiheit aushöhlende Konzept der «politischen Korrektheit» als auch gegen die unter dem Schutz der Anonymität erfolgenden und jede sachliche Debatte verhindernden persönlichen Desavouierungen im Netz und in den sozialen Medien. Liberale, offene Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie Debatten nicht behindern und dass sie den Dissens aushalten. Dieses Buch wird, bei aller Unterschiedlichkeit der Beiträge, von der Überzeugung getragen, dass in der freiheitlichen Demokratie am Grundsatz «reden und reden lassen» nicht gerüttelt werden darf.

Gerhard Schwarz

Präsident des Stiftungsrates der Progress Foundation

Zwischen hasserfüllter Enthemmung und übersteigerter Korrektheit

Eine Einführung

Stephan Wirz und Gerhard Schwarz

Die «offene Gesellschaft» wird derzeit aus zwei Richtungen angegriffen: Auf der einen Seite fördern die modernen Kommunikationsmöglichkeiten aufgrund ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Anonymität beleidigende und hasserfüllte Kommentare, die keinen Beitrag zu einer sachlichen, argumentativen Auseinandersetzung unterschiedlicher Positionen leisten. Auf der anderen Seite versuchen gesellschaftliche Gruppierungen, ihre Moral den anderen Gesellschaftsmitgliedern aufzuoktroyieren, indem sie bestimmte Sprachregelungen durchsetzen sowie Themen- und Handlungsfelder als «politisch korrekt» festlegen bzw. als «politisch unkorrekt» ausschliessen wollen. Der vorliegende Band richtet sich gegen beide Strömungen. Er zeigt anhand verschiedener konkreter Beispiele, wie die offene Gesellschaft durch Hass-E-Mails und Sprachpolizei gefährdet ist. Und er entwickelt, angeregt durch Überlegungen von John Stuart Mill, Romano Guardini und Axel Honneth, eine Gegenstrategie, die sowohl das Faszinosum der Meinungs- und Handlungsfreiheit als auch eine innere Haltung der Höflichkeit und des Respekts gegenüber anderen Personen und ihren Ansichten neu beleben und entfalten möchte.

Mut als Voraussetzung der Meinungsfreiheit

Der Band gliedert sich in drei Kapitel. Im ersten Kapitel geht es um die Stärkung der Meinungsfreiheit bzw., wo sie verschüttet ist, um ihre Wiederentdeckung. In unserer Gesellschaft sind die Freiheit und die Eigenverantwortung gegenüber der Konsenssuche und der Solidarität ins Hintertreffen geraten. Doch die Meinungsfreiheit ist eminent wichtig, nicht nur als Ausdruck der Menschenwürde, sondern auch wegen ihrer Leistungen für die Gesellschaft: Das Streben nach Wahrheitserkenntnis, das Infragestellen des Gewohnten, die Suche nach neuen Lösungen durch Zweifel, Widerspruch und Selbstkritik sind ohne Meinungsfreiheit nicht möglich.

Ausgangspunkt des Nachdenkens über die Meinungsfreiheit ist das Kapitel «Von der Denk- und Redefreiheit» aus John Stuart Mills Klassiker On Liberty («Über die Freiheit»). Mills zentrale Aussage lautet, dass eine Regierung nicht dem Volk Meinungen vorschreiben darf und dass sie auch nicht bestimmen darf, welche Lehren und Argumente es hören darf. Er begründet seinen Standpunkt damit, dass man sonst die Chance auf Wahrheitserkenntnis vergibt und womöglich im Irrtum verbleibt. Bei Mill spielt nämlich die Begrenztheit menschlichen Wissens, ähnlich wie später bei Friedrich August von Hayek, eine geradezu zentrale Rolle. Sie kommt in zwei Richtungen zum Tragen: Einerseits, so schreibt er, bedürften wir der Zunahme des (wahren) Wissens durch einen offenen und freien Raum des Diskurses. Eine Beschränkung schwäche die menschliche Urteilskraft, die ja nie eine absolute Sicherheit für ihre Argumentation habe. Zu einer Überzeugtheit, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, gelange man erst, wenn man alle Gesichtspunkte und Meinungen redlich studiert und gegebenenfalls die eigene Auffassung verbessert habe. Andererseits manifestiere sich in der Eingrenzung des Diskussionsraumes immer der Anspruch der Person oder Gruppe, die eine solche Begrenzung durchsetze, über ein höheres Wissen zu verfügen. Würden Themen, Meinungen und Personen schon im Vorfeld positiv oder negativ selektioniert, stecke dahinter eine Unfehlbarkeitsanmassung. Eine solche verstösst nach Mill gegen den Grundsatz des begrenzten menschlichen Wissens. Mit Blick auf das Thema der «Hassrede» ist interessant, dass Mill zweifellos für eine anständige Diskussion eintritt, aber deswegen nicht fordert, masslose Polemik, Beleidigung und Hohn zu verbieten. Er durchschaut, dass solche Vorwürfe häufig nur ein rhetorisches Mittel sind, um die gegnerische Seite als unmoralisch zu disqualifizieren. Für ihn wiegt das Unterdrücken oder die falsche, verzerrte Darstellung von Tatsachen und Argumenten viel schwerer.

Milosz Matuschek knüpft in seinem Essay an die Gedankengänge Mills an. Er beschreibt dessen «Truth Principle» (Wissensargument, Unfehlbarkeitsargument, Vitalitätsargument) und hebt die Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Wahrheitsförderung und die Weiterentwicklung der Gesellschaft hervor. Sie ist der «Treibstoff des Fortschritts». Die Fortexistenz und Lebendigkeit der Demokratie hängen davon ab, dass die Bürger informierte Entscheidungen treffen können. Dazu müsse aber der Zugang zum Prozess der Wahrheitsfindung für alle offenstehen. Matuschek verweist auf die US-amerikanische Gesetzgebung, die sehr zurückhaltend bei Verboten von Inhalten («content regulation») sei; es gebe fürs Erste keine falschen Meinungen. Im Gegensatz dazu ziele die Political-Correctness-Bewegung gerade auf die Besetzung des öffentlichen Debattenraums ab. Sie erkläre Begriffe und Themen zu geistigen Sperrgebieten und versuche, Andersdenkende zu desavouieren und aus dem Diskurs auszuschliessen. Weniger Mutige würden so zur Heuchelei gezwungen.

John Stuart Mills Aussage, auch entgegenstehende Meinungen könnten beide ein Stück Wahrheit enthalten, regt Grace Schild Trappe zu einer Art Gewissenserforschung an: Mit welcher Haltung gehen wir in eine Debatte? Suchen wir nach der Meinung anderer oder sollen sie unsere Auffassung übernehmen? Sind wir mit einer Debatte zufrieden, wenn wir uns durchgesetzt haben oder wenn sie zu einer «neuen Stufe des geistigen Fortschritts» geführt hat? Diese Überlegungen lassen sich auch auf die neuen sozialen Medien übertragen, wo jeder nicht nur Konsument, sondern auch Publizist sein kann. Schild Trappe sieht trotz der gewonnenen technischen Möglichkeiten eine zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit: durch Hass, Hetze und Mobbing, durch die als Reaktion darauf resultierende Zunahme staatlicher Regulierung und durch die staatlicherseits angeordnete Kontrolle der Debattenräume durch die privaten Anbieter sozialer Mediennetzwerke. Bei den traditionellen Medien ortet sie einen Trend zur Gefälligkeit. Auch sie kommt zum Schluss, es brauche angesichts des Risikos der sozialen Ächtung heutzutage Mut, für eine offene Debatte einzutreten und als Tabubrecher zu wirken. Solche Helden seien aber für die Aufrechterhaltung der Meinungsfreiheit und Debattenkultur dringend nötig.

Die Verletzlichkeit der Meinungsfreiheit ist auch Gegenstand der Erörterungen von Alejandro Navas. Wegen der Medienkonzentration der letzten Jahre und Jahrzehnte gebe es im Printbereich heute weniger Vielfalt als früher. Zudem suchten die grossen Multimediakonzerne die Nähe zu den Regierungen. Auf verschiedenen Ebenen – Investoren, Management, Journalisten – gebe es Verbandelungen zu und Abhängigkeiten von Staat, Parteien, Wirtschaftsverbänden und Unternehmen. Der Kampf um die Einschaltquoten führe zudem zu einer Verflachung der Inhalte. Dieser Konzentration steht im Urteil von Navas eine starke Fragmentierung der Werte gegenüber. Dadurch, dass sich der Konsens über zentrale Aspekte des Menschseins aufgelöst habe, gebe es in der Gesellschaft eine Vielzahl an Deutungen. Leider habe sich auch ein «Tribalismus» breitgemacht, der alle Menschen, die die eigene Ideologie nicht teilen, beleidige und anpöble. Dieses unsägliche Meinungsklima drängt sich gemäss Navas in alle Bereiche des öffentlichen Lebens, auch in die Universitäten. Er erklärt diese Entwicklung mit einer überbeschützten und unreifen Jugend, einer Sicherheit suchenden Kultur und der Scheu vor der Auseinandersetzung mit Ideen. Dazu komme der Mangel an Mut der Beteiligten. In der Zivilcourage, dem gelebten Ethos der Professoren, Journalisten und aller anderen Bürger sowie einer klaren Sprache sieht Navas einen Weg zu grösserer Meinungsfreiheit.

Susanne Gaschke analysiert die Situation des Journalismus in Deutschland. Sie stützt sich dabei auf eine repräsentative Studie über das Medienvertrauen aus dem Jahr 2019, die eine erhebliche Entfremdung zwischen Medienschaffenden und Medienkonsumenten zutage fördert. Dafür gibt es in ihrer Einschätzung zahlreiche Gründe: So ermöglichten die sozialen Medien eine mediale Fragmentierung der Gesellschaft; jeder lege sich seine eigene Wahrheit zurecht. Dazu komme das gesunkene Bildungsniveau, das sich in einer abnehmenden Neugierde auf klassische Bildungsinhalte sowie der zunehmenden Unfähigkeit und Unwilligkeit, längere Texte zu lesen, ausdrücke. Vor allem müssten sich aber die Journalisten mit Blick auf diesen Trend zur Entfremdung (selbst)kritische Fragen stellen. Gaschkes These lautet, dass sich mit dem Ende des Kalten Krieges nicht nur die Vorstellung einer «objektiv richtigen» Wirtschafts- und Sozialpolitik breitmachte, sondern auch die eines «objektiv richtigen» Journalismus. Das habe zur Überheblichkeit und zum hypermoralischen Schiedsrichtertum dieses Berufsstands geführt, dem es an Fehlerkultur und Selbstkritik mangle.

Politische Korrektheit als linguistische Therapie

Das zweite Kapitel setzt sich mit der sogenannten politischen Korrektheit auseinander. Der so harmlos wirkende Begriff führt in die Irre, denn er fordert ja nicht einfach das ein, was die meisten Menschen als korrektes Benehmen verstehen, sondern er drückt ein übersteigertes Verständnis von Korrektheit aus, das zur Einengung oder sogar zur Ausschaltung der Meinungsfreiheit führen kann. Den Begriff als Euphemismus zu enttarnen, ist daher ein wichtiges Ziel des zweiten Kapitels.

Die Herausgeber haben als Referenztext für dieses Thema den Abschnitt «Grenzen der moralischen Freiheit» aus Axel Honneths Buch «Das Recht der Freiheit» ausgewählt. Honneth führt darin aus, dass der Mensch im Rahmen der jeweils geltenden und zu respektierenden Rechtsordnung über eine frei zu gestaltende Handlungssphäre verfügt (u. a. soziale Lebensbereiche), wobei auch dieser Bereich von «Normen und Prinzipien» oder, etwas anschaulicher ausgedrückt, von Konventionen, Sitten und Gebräuchen geprägt ist. Dort müsse sich der Mensch seiner moralischen Freiheit bedienen, d. h. seine Handlungen müssen gegenüber anderen vertretbar bleiben. Richtig handelt der Mensch nach Honneth dann, wenn er bei seiner Willensbildung den Willen jedes anderen Beteiligten nicht verletzt und dessen Selbstzweckhaftigkeit respektiert, wobei «ihm zugleich das Recht eingeräumt (wird), nur solche Grundsätze in seinen Handlungen zu artikulieren, die er selbst aus sich heraus für richtig hält». Bei seinen Entscheidungen müsse er sich am Prinzip der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit orientieren, wobei er bei der öffentlichen Auslegung moralischer Normen Einfluss nehmen könne. Für die Herausgeber ist damit das Problem umrissen: Es gibt auch innerhalb der Rechtsordnung eines Staates keine «totale Freiheit», sondern geschichtlich gewachsene, kulturell geprägte Formen des Zusammenlebens, die sich im Lauf der Zeit auch wieder verändern. Doch wie stark dürfen diese Normen in das Leben der Menschen eingreifen? Und dürfen sie in eine Richtung verändert werden, die für den Menschen weniger Meinungsfreiheit bedeuten?

Alexander Grau bietet den Lesern eine kurze Ideologiegeschichte der Political Correctness. Von Tabus und Sprachverboten in früheren Kulturen unterscheide sich die heutige Form der Political Correctness dadurch, dass sie eine gesellschaftliche Strategie sei, die auf den Umbau unserer Gesellschaft abziele. Sie sei eine «sprachpolitische und massenpsychologische Methode im Weltanschauungskampf der politischen Linken» zur «Erlangung der Deutungshoheit in westlichen Gesellschaften». Er verweist unter anderem auf Herbert Marcuse, der von der Notwendigkeit einer «linguistischen Therapie» und eines «semantischen Krieges» zur Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft sprach. In einer späteren Phase sei die Political Correctness von der Emanzipationsbewegung vorangetrieben worden, die sich im Geiste des Individualismus gegen Zuschreibungen und Stereotype wandte. Heute fassten die Gender- und die Queer-Bewegung in einem übersteigerten Individualismus den Einzelnen ausschliesslich als Produkt seiner Wünsche auf. Das subjektive Gefühl bestimme nun allein, ob sich jemand diskriminiert fühlt oder nicht. Die daraus hervorgehende «New Political Correctness» überprüfe alle Begriffe, Personen, Kunstwerke usw. darauf, ob sie möglicherweise das Gefühl von irgendjemandem verletzen könnten.

Die Verbindung von politischer Korrektheit und Gender-Theorie wird in zwei weiteren Beiträgen herausgearbeitet: Claudia Wirz belegt anhand zahlreicher Beispiele, wie durch gender- und queergerechte Sprachregelungen und soziale und ökonomische Pressionen die Gesellschaft umgebaut und die Bevölkerung moralisch erzogen werden soll. Durch die Mitwirkung von Unternehmen, NGOs, Kulturbetrieben und staatlichen Einrichtungen entstehe mit der Zeit eine kulturelle Hegemonie, leider ohne grössere Gegenwehr liberaler Kräfte, bemängelt Wirz. Markus Somm greift in seinem Essay das Bemühen genderorientierter Kreise vor allem in der Pädagogik auf, «stereotype Geschlechterrollen» zu durchbrechen. Es könne nach ihrer Ideologie nicht sein, dass Frauen und Männer unterschiedliche Berufe wählten. Sie versuchten, das liberale Postulat «Gleichheit der Chancen» durch die «Gleichheit im Ergebnis» zu ersetzen. Dieses ihr Bestreben, den Menschen neu zu formen, erachtet Somm als totalitär.

Jochen Hörisch befasst sich sehr explizit mit den weiter oben bereits erwähnten zwei heutigen Gefahren für die Zivilität, nämlich der Political Correctness und der diskursiven Enthemmung. Dass die Vorgabe politisch korrekter Sprechweisen ein «untrügliches Zeichen totalitärer Systeme» sei, werde heute viel zu wenig wahrgenommen. Dahinter stehe auch ein technoider Machbarkeitsglaube, also die Vorstellung, dass sich alles Natürliche, Gewachsene formen und neu machen lasse. Gleichzeitig erleben wir gemäss Hörisch eine «kommunikative Brutalisierung» mit Beleidigungen und Hassreden bis hin zu Morddrohungen. Wer für die «guten alten Sitten» eintrete, laufe Gefahr, verlacht zu werden.

Mit einem sehr spezifischen, aber höchst wirkungsmächtigen Aspekt der Political Correctness beschäftigt sich Heinz Zimmermann. Er unterscheidet zwei Spielarten der politischen Korrektheit: erstens einen «Kommunikationsstil mit erhöhter Rücksichtnahme auf die Merkmale spezifischer Personen oder Schichten», namentlich von Minderheiten, und zweitens eine Rücksichtnahme auf Haltungen, Einstellungen, Meinungen und Handlungen. Diese zweite Form ist für ihn eine «gewollte Absage an die Kultur des gesellschaftlichen Diskurses». Ausführlich beschäftigt er sich deshalb unter Einbezug von Foucault, Habermas und Hayek mit dem Thema «Diskurs und Macht». Am Beispiel von politisch korrekten Kapitalanlagen untersucht er, wie die entsprechenden Entscheidungsprozesse verlaufen. In seinen Augen ist es unter dem Aspekt der Meinungsfreiheit absolut legitim, wenn NGOs Fragen der ethischen Kapitalanlagen in den öffentlichen Diskurs einbringen. Es verwundere aber, dass die Kapitalmarktakteure durch politisch korrektes Verhalten auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs der von den NGOs lancierten Themen verzichteten und dass die Kapitaleigner vom Diskurs praktisch ganz ausgeschlossen seien. Zimmermann kommt zum Schluss: «Kapitalanlagen werden nicht mehr in eigener Verantwortung selektioniert, sondern durch gesellschaftlich geltende, aber durch keinen demokratischen Diskurs legitimierte Normen gesteuert.»

Mit Höflichkeit gegen die Verrohung der Debattenkultur

Wenn in diesem Buch klare und zum Teil heftige Kritik an der Ideologie der Political Correctness geübt wird, dann gilt diese Kritik ausschliesslich der Einschränkung des öffentlichen Diskurses, nicht im Geringsten dagegen der Forderung nach Respekt für den Diskurspartner. Wie kann die Debattenkultur wieder gestärkt werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich das dritte Kapitel. Ausgangspunkt ist hier das Kapitel «Höflichkeit» in Romano Guardinis Buch «Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens». Guardini bezeichnet die Höflichkeit als «kleine Nächstenliebe», als «die Umgangsform, welche aus der Achtung vor dem anderen Menschen hervorgeht». Sie wurzelt in der Würde der menschlichen Person, möchte dem anderen das Leben erleichtern und sorgt für ein richtiges Zusammenleben der vielen. Die Höflichkeit bemüht sich, das Gute im anderen zu erkennen, Unerfreuliches von ihm fernzuhalten, und sie sorgt für Abstand, damit der andere freien Raum hat.

In Deutschland sieht Philipp Hildmann, basierend auf empirischen Studien, eine wachsende Feindseligkeit zwischen den politischen Lagern und eine Verrohung der Diskussionskultur. Die digitalen Kommunikationskanäle würden eine menschenverachtende Hetze gegen Andersdenkende und Minderheiten fördern. Kann einer solchen Verwahrlosung der Sprache durch die Einschränkung der Meinungsfreiheit entgegengewirkt werden? Für Hildmann ist das ein unakzeptables Mittel. Schon zu viele gäben in Meinungsumfragen an, man könne sich nur noch im privaten Bereich frei äussern. Eine lebendige Demokratie müsse den Dissens aushalten können. Allerdings brauche es ein feines Gespür, um die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen zu erkennen. Guardinis Traktat über die Höflichkeit könne das Bewusstsein für den Zusammenhang von Sprache und Verantwortung schärfen.

Peter Hettich untersucht in seinem Beitrag, wie heute strategisch vorgegangen wird, um eine sachliche Debatte mit unsachlichen Argumenten zu zerstören. Er zählt drei Vorgehensweisen auf. Erstens: Die sprachlichen Gepflogenheiten (z. B. was man unter inklusiver Sprache versteht) werden stetig verändert. Wer sich nicht daran hält, darf – ohne dass seine Argumente zur Kenntnis genommen werden – vom Diskurs ausgeschlossen werden. Zweitens: Bestimmte Argumente werden als anstössig, amoralisch, sexistisch oder rassistisch qualifiziert, und/oder der Diskurspartner wird herabgewürdigt, weil er einer «amoralischen» Institution angehört (z. B. im Finanzbereich tätig ist) oder angeblich für sein «rechtes Narrativ» bekannt ist. Drittens: Der zulässige Rahmen des Diskurses wird verengt, wodurch der Austausch über Sachthemen «inhaltlich kanalisiert» wird. Für Hettich werden durch diese Unterdrückung missliebiger Meinungen und Themen die Grundlagen und Institutionen unseres Zusammenlebens bedroht. Er schliesst deshalb mit einem Plädoyer an die Zivilgesellschaft, diesem unziemlichen Tun entgegenzuwirken.

Für Peter Ruch geht die offene Debattenkultur, die auf die Sache, nicht auf die Person zielt, zunehmend verloren. An ihre Stelle trete das Seilziehen um die Deutungshoheit. Waren Universitäten früher die freiesten Orte der Welt, wachse nun bei den Studenten laut einer repräsentativen Umfrage der Unwille, sich mit gegensätzlichen Meinungen auseinanderzusetzen. Dazu gehöre auch der Einsatz von Totschlagparolen wie «Rassist» oder «Rechter» oder die Kodierung der Sprache («Studierende» statt «Studenten»). Für den Zusammenhalt der Gesellschaft sei dieses Kastensystem, diese Gesinnungsgemeinschaft, in der Andersdenkende Störfaktoren sind, fatal. Ruch ortet ein Hordendenken, weil die Menschen heute in Subkulturen Orientierung suchen. Stattdessen sollte eine gute Debattenkultur gepflegt werden, in der man den anderen Menschen losgelöst von seinen Auffassungen und Irrtümern als Menschen sieht.

Milliarden Menschen verschiedenster Kultur mit unterschiedlichen Werten und Auffassungen über die Arten des Zusammenlebens buhlen in den sozialen Medien um Aufmerksamkeit – wie kann man da Abstand halten? Grace Schild Trappe stellt sich diese Frage im Zusammenhang mit den Überlegungen Romano Guardinis zur Höflichkeit. Im Gegensatz zur Oberflächlichkeit der sozialen Medien regt Schild Trappe die Selbstreflexion an: Ich muss mir zunächst selbst klar werden, von welchen Grundwerten ich ausgehe, bevor ich dann mit anderen Menschen in Dialog trete. Weiter erachtet sie es als wichtig, Ängste und Fragen des Gegenübers ernst zu nehmen und das Gespräch darüber zuzulassen. Politische und religiös motivierte Aussagen sollen offen diskutiert werden. Dabei ist auch Polemik, innerhalb der zulässigen Grenzen, legitim. Dem Trend, Anstand und Respekt (straf)rechtlich durchzusetzen, misstraut sie. Der Anstand unter Privaten solle primär mit sozialen Regeln vermittelt und sanktioniert werden.

Hoffnung auf eine neue Ernsthaftigkeit

Die Texte dieses Buches wurden alle vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 geschrieben. Wird diese auch Einfluss auf unsere Debattenkultur haben? Es könnte sein, dass unter dem Eindruck des Lockdowns, der Begrenzungen unserer Bewegungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit, der Wohlstandsverluste, der Arbeitslosigkeit, von Konkursen und Überschuldung sowie des mittelalterlichen Chorals «Media vita in morte sumus» (Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen) eine neue Ernsthaftigkeit erwacht, die für sprachpolizeiliche (Gender-)Übersteigerungen kein Gehör mehr hat. Wer als Unternehmen mit dem finanziellen Überleben kämpft, wird vielleicht so manche Diversity- und Gleichstellungs-Anliegen nicht mehr als besonders dringlich einstufen. Es dürfte den Unternehmen auch egal sein, ob ihre Mitarbeiter die Begriffe «Eltern», «Vater» und «Mutter» verwenden oder «Erziehungsverantwortliche» bevorzugen. Möglicherweise hat der Staat dann auch keine Gelder mehr für Forschungsprogramme, die die Farbpalette des Mobiliars der Kitas untersuchen. Und die Universitäten werden, wenn sie den Gürtel enger schnallen müssen, sich wohl die Frage stellen müssen, ob das Erstellen sprachlicher Leitfäden für den Umgang innerhalb der Universität wirklich zu den vordringlichen Aufgaben einer Institution der Lehre und Forschung gehört. Aber vielleicht sind das alles nur Hoffnungen.

Nur eine Hoffnung ist möglicherweise auch, dass in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Hassrede zurückgeht. Jedenfalls findet man in den sozialen Medien erstaunlich viele abstruse Verschwörungstheorien und im Zusammenhang damit, sowie mit den harschen Gegenmassnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, erschreckend viel Aggression. Wenn sich diese mit Denunziantentum paart, das zurzeit stark zuzunehmen scheint, ist die freie, offene Gesellschaft in höchster Gefahr. Noch kennen wir die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns nicht, aber wir wissen aus der Geschichte, dass sich Phasen mit hoher Arbeitslosigkeit und Existenznöten der Haushalte fast immer durch Verunsicherung, Konflikte und gesellschaftliche Instabilität auszeichnen.

Das vorliegende Buch möchte gerade in dieser Situation die Debattenkultur stärken. Es soll ein waches Bewusstsein schaffen für die gegenwärtig vielerorts anzutreffenden Strategien der Debattenverhinderung und der persönlichen Desavouierungen. Die Texte von John Stuart Mill und den vielen anderen Autoren sollen wieder neu den hohen Wert der Meinungsfreiheit bewusst machen, die, sofern sie mit Höflichkeit und Respekt auch gegenüber dem Andersurteilenden gepaart ist, einen zentralen Pfeiler jeder liberalen und menschlichen Ordnung darstellt.

I. Die Gefährdung der Meinungsfreiheit

Von der Denk- und Redefreiheit1

John Stuart Mill

Die Zeit ist hoffentlich vorbei, wo irgendeine Verteidigung der Pressefreiheit als Sicherung gegen eine verderbte oder tyrannische Regierung nötig wäre. Wir brauchen vermutlich kein Argument dafür, dass es einer Regierung, deren Interessen nicht völlig mit denen des Volkes übereinstimmen, nicht erlaubt sein kann, dem Volke Meinungen vorzuschreiben und zu bestimmen, welche Lehren und welche Argumente man hören darf. In dieser Hinsicht ist unsere Frage überdies so oft und so erfolgreich von früheren Schriftstellern erörtert worden, dass sie hier nicht besonders behandelt werden muss. Obgleich das englische Pressegesetz noch heute ebenso knechtischen Charakter hat wie in den Zeiten der Tudors, so ist doch geringe Gefahr, dass es gegen politische Diskussion wirklich angewendet werde, ausser in Zeiten der Panik, wenn Furcht vor Aufruhr Ministern und Richtern die Besinnung raubt.2

Im Allgemeinen ist es in konstitutionellen Ländern nicht zu befürchten, dass die Regierung – ob sie dem Volk völlig verantwortlich sei, oder nicht – oft versuchen wird, die Meinungsäusserungen zu kontrollieren, ausser, wenn sie sich damit zum Organ der öffentlichen Unduldsamkeit macht. Nehmen wir aber an, dass die Regierung mit dem Volk ganz eins sei und niemals daran denkt, einen Zwang auszuüben, ausser in Übereinstimmung mit dem, was sie für die Volksmeinung hält. Ich leugne jedoch das Recht des Volkes, durch sich selbst oder durch seine Regierung solchen Zwang auszuüben, die Macht dazu ist ungesetzlich, die beste Regierung hat nicht mehr Recht dazu als die schlechteste. Der Zwang ist ebenso schädlich, wenn er in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung ausgeübt wird, als wenn er im Gegensatz zu ihr steht. Wenn die ganze Menschheit eine übereinstimmende Meinung verträte, und nur eine Person wäre vom Gegenteil überzeugt, so hätte die Menschheit nicht mehr Recht, den einen zum Schweigen zu bringen, als er, wenn ihm die Macht dazu zustände, das Recht hätte, der ganzen Menschheit den Mund zu verbieten. Wäre eine Meinung ein Privatbesitz, der nur für den Eigentümer Wert hätte, und wäre, darin beeinflusst zu werden, nur eine persönliche Unbill für den Betroffenen, so läge ein gewisser Unterschied darin, ob die Störung vielen oder nur wenigen zugefügt worden wäre. Aber das eigentliche Übel, wenn man eine Meinung zum Schweigen bringt, besteht darin, dass es ein Raub an der Menschheit ist, an der künftigen und an der, die jetzt lebt, und zwar noch mehr an den Menschen, die von der Meinung abweichen, als an denen, die sich zu ihr bekennen. Wenn die Meinung, um die es sich handelt, richtig ist, so sind sie um die Gelegenheit gebracht, einen Irrtum für die Wahrheit einzutauschen; war sie aber falsch, so kommen die Menschen um das, was eine fast ebenso grosse Wohltat ist, um den lebhaften Eindruck von der Wahrheit, der aus der Kollision von Wahrheit und Irrtum entspringt. Diese beiden Hypothesen müssen gesondert betrachtet werden, da jede von ihnen verschiedene Argumente auslöst. Wir können niemals sicher sein, dass die Meinung, die wir zu unterdrücken suchen, falsch ist; aber selbst wenn wir diese Sicherheit hätten, dann wäre Unterdrückung noch immer ein Übel.

Erstens: Die Meinung, die man durch Autorität zu unterdrücken sucht, kann möglicherweise wahr sein. Diejenigen, die sie zu unterdrücken wünschen, leugnen natürlich ihre Wahrheit. Aber sie sind nicht unfehlbar. Sie haben nicht das Recht, die Frage für die ganze Menschheit zu entscheiden und jede andere Person von der Möglichkeit des Urteils auszuschliessen. Wenn jemand einer Meinung das Gehör verweigert, weil er überzeugt ist, dass sie falsch sei, so setzt er voraus, dass seine Überzeugung gleichbedeutend mit absoluter Sicherheit sei. Eine Diskussion zum Schweigen bringen bedeutet immer: sich Unfehlbarkeit anmassen. Zur Verurteilung dieses Tuns genügt dieses gewöhnliche Argument, das, wenn auch gewöhnlich, so doch nicht schlecht ist. Ein Unglück für den gesunden Sinn der Menschen ist es, dass die Tatsache ihrer Fehlbarkeit praktisch nicht das Gewicht hat, das ihr theoretisch zugesprochen wird. Denn während jeder weiss, dass er sich irren kann, so halten doch nur wenige es für notwendig, sich gegen die eigene Fehlbarkeit zu schützen, oder die Voraussetzung anzunehmen, dass irgendeine Meinung, deren sie sich sicher fühlen, ein Beispiel zeigen mag von dem Irrtum, dem sie sich unterworfen fühlen. Absolute Fürsten oder andere, die an unbegrenzte Unterwerfung gewöhnt sind, fühlen dieses vollkommene Vertrauen in ihre eigene Meinung in fast allen Dingen. Leute, die glücklicher dran sind, die ihre Meinung bisweilen bestritten sehen und denen es nicht ganz ungewöhnlich ist, zurechtgewiesen zu werden, wenn sie im Unrecht sind, setzen dies unumschränkte Vertrauen nur in die Meinungen, die von ihrer ganzen Umgebung geteilt werden. Zum mindesten brauchen sie die Zustimmung derjenigen, denen sie sich gewohnheitsmässig unterordnen; denn in demselben Grade, wie jemand seinem eigenen Urteil misstraut, stützt er sich gewöhnlich mit unbeschränkter Seelenruhe auf die Unfehlbarkeit der «Welt» im Allgemeinen. Und die «Welt» bedeutet für jeden Einzelnen den Teil davon, mit dem er in Berührung kommt: seine Partei, seine Kirche, seine Gesellschaftsklasse. Der Mann, der mit diesem Begriff etwas so Umfassendes wie sein Land oder sein Zeitalter verbindet, kann vergleichsweise liberal und grosszügig genannt werden. Auch wird sein Glaube an diese umfassende Autorität keineswegs dadurch erschüttert, dass andere Zeitalter, Länder, Kirchen, Sekten, Klassen oder Parteien das genaue Gegenteil gedacht haben und noch denken. Er bürdet der eigenen Welt die Verantwortung dafür auf, dass er im Recht ist gegen die abweichenden «Welten» anderer Leute; niemals stört ihn der Gedanke, dass der reine Zufall darüber entschieden hat, welche von diesen zahlreichen «Welten» der Gegenstand seines Vertrauens geworden ist, und dass dieselben Gründe, die ihn in London zu einem kirchlichen Christen gemacht haben, ihn in Peking zu einem Buddhisten oder zu einem Anhänger des Confucius gestempelt hätten. Aber es ist so gewiss, wie nur irgendein Beweis es machen könnte, dass Zeitalter nicht unfehlbarer sind als Einzelne, da jedes Jahrhundert Meinungen vertreten hat, die die folgenden Epochen als falsch, ja als absurd erkannt haben. Und es ist ebenso sicher, dass viele jetzt allgemeingeltende Meinungen durch kommende Zeitalter verworfen werden, wie es Tatsache ist, dass viele einst allgemein anerkannte Ansichten jetzt verworfen sind.