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Eine wahre Lady wird keine Magierin – oder etwa doch?
Miss Abigail Wilder wird gerne mal unterschätzt. Der Londoner Gesellschaft ist sie als Mündel des Lord Magiers suspekt, denn sie trägt Elfenblut in sich. Ihr Ziehvater hingegen bezweifelt ihre magischen Fähigkeiten. Als jedoch die Londoner Debütantinnen-Saison von unerklärlichen Todesfällen unter den jungen Ladys erschüttert wird, ist ihre Stunde gekommen. Wider alle Zweifel begibt sie sich auf die Spur des Geheimnisses. Doch glücklicherweise stellt sich eine junge selbst ernannte Magierin auf ihre Seite, die darauf beharrt, ihr in der Stunde der Gefahr beizustehen. Wovon die größte Bedrohung ausgeht, dem Verschwörer hinter den Kulissen, der ungezähmten Magie ihrer jungen Helferin oder ihrem eigenen verräterischen Herzen, wird sich erweisen müssen ...
Das funkensprühende Finale der mitreißenden Regency-Romance-Reihe der Bestseller-Autorin.
Die Bände der Regency-Faerie-Tales-Reihe:
Regency Faerie Tales – Die Lady und der Lord Magier (Band 1)
Regency Faerie Tales – Der Mantel des Elfen-Lords (Band 2)
Regency Faerie Tales – Das Duell mit dem dunklen Magier (Band 3)
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Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2025
OLIVIA ATWATER
DAS DUELL MIT DEM
DUNKLEN MAGIER
Aus dem kanadischen Englisch von
Doris Attwood
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© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2020 Olivia Atwater
Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel:
»Longshadow« bei Orbit,
einem Imprint der Verlagsgruppe Little, Brown, London
Übersetzung: Doris Attwood
Lektorat: Cordula Hubert
Covergestaltung: Emily Bähr
Covermotiv: Adobe Stock (neirfy), Shutterstock.com (coz1421, detchana wangkheeree, klyaksun, tomertu)
MP · Herstellung: UK
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-33251-8V001
www.cbj-verlag.de
Miss Abigail Wilder sollte ihre Zauberkräfte nicht in Anwesenheit der Teedamen gebrauchen. Wende niemals Magie vor der feinen Gesellschaft an, hatte ihr Vater ihr eingeschärft. Wenn du erst einmal damit anfängst, werden sie dir keine Ruhe mehr lassen – und dann führst du unnütze Zaubertricks auf, bis du alt und grau bist.
Die achtzehnjährige Abigail hegte den starken Verdacht, die Teedamen wären genau die Art von feiner Gesellschaft, vor der ihr Vater sie gewarnt hatte. Einmal im Monat trafen sich die Teedamen in Tante Vanessas Wohnzimmer zum Nachmittagstee. Vorgeblich folgten sie Tante Vanessas Einladung, um über die Wohltätigkeitsorganisation zu sprechen, die sie ins Leben zu rufen gedachte – in Wahrheit taten die Damen jedoch kaum etwas anderes, als Tee zu trinken und über den Rest der Hautevolee zu tratschen. Tatsächlich kam die Sprache dabei nicht selten auf Abigails Vater, Lord Elias Wilder, Lord Magier und Hofmagier Englands.
»Wollen Sie uns nicht wenigstens ein kleines bisschen darüber verraten, woran Ihr werter Herr Gemahl arbeitet, Lady Magier?«, bat Lady Mulgrew. Sie war eine dünne, verhärmt aussehende Frau mit hoher, brüchiger Stimme. Gelegentlich erinnerte sie Abigail ein wenig an ein Pferd. Lady Mulgrew gehörte schon seit Monaten zu den Teedamen, seit Tante Vanessa die Treffen ins Leben gerufen hatte. Als eine der wenigen Damen, die bislang tatsächlich Geld gespendet hatten, spielte sie sich gerne in den Vordergrund und genoss Vanessas erhöhte Aufmerksamkeit. Sie beanspruchte beim Nachmittagstee stets den Ehrenplatz für sich, direkt neben Vanessa.
Abigails Mutter, Lady Theodora Wilder, reagierte nicht sofort auf die Bitte. Stattdessen nippte sie weiter an ihrem Tee, als hätte sie Lady Mulgrew gar nicht gehört. Abigail wusste, ihre Mutter hatte die Frage gehört, trotz ihrer ausbleibenden Reaktion. Dora überlegte nur, welche versteckte Bedeutung diese möglicherweise barg, und versuchte angestrengt, eine passende Antwort zu formulieren. Lady Theodora Wilder verfügte nur über eine halbe Seele, was sich nachteilig auf ihr gesellschaftliches Geschick auswirkte. Langes Schweigen empfand Dora im Gegensatz zu anderen nie als unbehaglich – und da es stets Doras erster Instinkt war, vollkommen ehrlich und unverblümt zu sein, war dieses lange Schweigen für sie häufig nötig, um sich eine angemessenere, diplomatischere Antwort zurechtzulegen.
Lady Mulgrew blinzelte nervös über ihrer Teetasse. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mich gehört haben, Lady Magier«, begann sie erneut, als würde sie mit einer Taubstummen sprechen. »Ich sagte –«
»O doch, ich habe Sie gehört«, versicherte Dora ihr. Sie stellte ihre Teetasse vor sich auf dem Tisch ab, um sich noch etwas mehr Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Dann richtete sie ihre nicht zusammenpassenden Augen – eines grün, eines braun – auf Lady Mulgrew und betrachtete sie ernst. »Ich bin weitestgehend über die geschäftlichen Angelegenheiten meines Mannes im Bilde«, erklärte sie ihr schließlich, »tue jedoch stets mein Bestes, mein Wissen für mich zu behalten. Es ist seine Pflicht, England vor schwarzer Magie zu beschützen – und gelegentlich auch vor Schlimmerem. Man weiß nie, ob ein unvorsichtiges Wort nicht unbeabsichtigte Konsequenzen nach sich zieht.«
Dies war natürlich nicht das, was Lady Mulgrew hatte hören wollen. Sie lehnte sich auf ihrem Ehrenplatz ein Stück vor. »Aber gewiss«, beharrte sie, »kann es doch keinen ernsten Schaden anrichten, uns eine klitzekleine Neuigkeit anzuvertrauen. Wir gehören wohl kaum zu der Sorte von Leuten, vor denen der Lord Magier England beschützen muss!«
Abigail prustete in ihre Teetasse. Dora warf ihrer Tochter einen Seitenblick zu – und wenngleich Doras Miene im Gegensatz zu anderen Leuten nur selten ihre Gefühle widerspiegelte, wusste Abigail, sie teilten denselben Gedanken: Lord Elias Wilder machte häufig deutlich, dass der Adel für ihn schlimmer war als jeder schwarze Magier.
Tante Vanessa hatte Abigail und ihre Mutter gewiss mit den besten Absichten zu ihrem Teekränzchen eingeladen. Abigail war sozusagen selbst ein Produkt der Wohltätigkeit – was gewiss niemandem verborgen blieb. Denn Lord Elias Wilder bezeichnete Abigail zwar als seine Tochter und hatte ihr seinen Nachnamen gegeben, offiziell hatte er sie jedoch nur als sein Mündel bei sich aufgenommen. Und auch wenn Abigail von Lady Theodora Wilder in cremefarbenen Musselin gehüllt wurde und sie ihr das Haar mit grünen Taftschleifen zusammenband, war Abigails Haut dennoch von alten Pockennarben überzogen und ihr blondes Haar wirkte strähnig und strohig. Abigail hatte sich halbherzig bemüht, ihren Akzent zu verbessern, vor allem, um ihrer alten Gouvernante eine Freude zu machen. Sie musste jedoch noch immer sehr langsam sprechen und sich voll konzentrieren, um diese gewählte Ausdrucksweise wirklich zu meistern.
Tante Vanessa glaubte, die Teedamen wären eher gewillt, anderen Kindern zu helfen, wenn sie sahen, wie sehr Abigail von ganz ähnlicher Wohltätigkeit profitiert hatte. Abigail war davon … weniger überzeugt. Doch Vanessa hatte sie mit so entzückend naiver Ernsthaftigkeit gebeten, dass es ihr schwergefallen war, ihrer Tante den Wunsch abzuschlagen.
Das war also die Erklärung dafür, weshalb Abigail Wilder jetzt im Wohnzimmer ihrer Tante saß und Klatsch- und Tratsch-Versuchen auswich, anstatt mit ihrem Vater ihre magischen Kräfte zu üben, wie sie es vorgezogen hätte.
Dora griff wieder nach ihrer Tasse und Abigail wurde bewusst, dass ihre Mutter nicht die Absicht hegte, auf Lady Mulgrews Bemerkung einzugehen. Abigail nippte an ihrem eigenen Tee und überlegte, an ihrer Stelle etwas zu erwidern. Sie fand Doras An-der-Teetasse-nippen-Strategie selbst unglaublich hilfreich, denn auch Abigail verspürte nicht selten das Bedürfnis, sehr aufrichtige Dinge laut auszusprechen, nur um zu sehen, wie ihre Mitmenschen darauf reagierten. Der Tee, hatte sie feststellen dürfen, dämpfte diesen Impuls ein wenig.
Abigail hätte Lady Mulgrew am liebsten gesagt: Sie würden selbst den winzigsten Hauch eines Gerüchts in ganz London verbreiten, ungeachtet der möglichen Folgen, und meine ganze Familie weiß das.
Doch sie schluckte die Worte zusammen mit ihrem Tee hinunter. Stattdessen sagte sie: »Durch die Kunst des Hellsehens können Magier Menschen und Unterhaltungen auch aus der Ferne verfolgen. Gewiss sind alle hier Anwesenden absolut vertrauenswürdig – ich glaube allerdings nicht, dass Tante Vanessa ihr Wohnzimmer mit Schutzzaubern ausgestattet hat.«
Abigail gab sich redlich Mühe, ihre Vokale klar und deutlich zu akzentuieren. Doch die Art, wie die anderen Frauen ein wenig unbehaglich auf ihren Stühlen hin und her rutschten, verriet ihr, dass sich noch immer subtile Fehler in ihre Aussprache schlichen.
»Selbstverständlich verfüge ich nicht über einen derartigen Schutz«, erwiderte Tante Vanessa mit einem Lächeln. »Ich habe noch nie eine Notwendigkeit gesehen, meine gesellschaftlichen Treffen vor fremden Magiern zu verstecken.« Sie hob jedoch eine Hand und zupfte ein wenig verlegen an einer ihrer blonden Locken herum, was bei Abigail den Eindruck erweckte, dieses Gesprächsthema brächte ihre Tante ein wenig aus der Fassung. Vanessa war eine sehr anständige Frau, der schon die Vorstellung missfiel, andere Leute auszuspionieren. Bislang war Lady Mulgrew die einzige der Teedamen, die aufrichtiges Interesse an Vanessas Wohltätigkeitsambitionen gezeigt hatte, weshalb deren Versuche, Lady Mulgrews Klatsch und Tratsch abzuwehren, oft eher halbherzig ausfielen.
»Sie müssen in Magie gewiss selbst sehr bewandert sein, Miss Wilder?«, meldete sich Miss Esther Fernside zu Wort. Mit ihren siebzehn Jahren war sie die Jüngste am Tisch und gehörte erst seit Kurzem zu den Teedamen. Sie hatte sich der Runde im vergangenen Monat zum ersten Mal angeschlossen und Abigail konnte sich nicht daran erinnern, dass sie damals auch nur ein einziges Wort von sich gegeben hatte. Sie war eine junge, unscheinbare Frau, still und zurückhaltend, mit großen dunklen Augen. Ihr lockiges braunes Haar hatte sich bereits nach einer Stunde Nachmittagstee größtenteils aus ihrem adretten Dutt gelöst und ihr Lächeln wirkte matt und zaghaft.
»Es wäre doch eigenartig, wenn ich nichts über Magie wüsste, nicht wahr?«, antwortete Abigail vorsichtig. Es hätte ihr gerade noch gefehlt, wenn Miss Fernside herausfände, dass Abigail ebenfalls zaubern konnte – denn die daraus resultierende Unterhaltung hätte gewiss die ganze Teegesellschaft in Aufruhr versetzt.
»O ja, ich nehme an, das wäre wirklich eigenartig«, gab Miss Fernside schüchtern zu. Sie wirkte so peinlich berührt von ihrer eigenen Frage, dass sie Abigail einen Moment lang richtig leidtat.
»Ich habe zahlreiche Bücher meines Vaters gelesen«, fügte Abigail hinzu. »Und wir sprechen sehr häufig über Magie. Es gibt zwei verschiedene Arten, wissen Sie – die Magie der Sterblichen und die Magie von Faerie. Bei der in England praktizierten Magie handelt es sich fast ausschließlich um sterbliche Magie, wenngleich Elfen mit Abstand die eigentümlichsten Zauber anwenden.«
Die Unterscheidung gehörte zu den allerersten Dingen, die jeder Magier lernte – dennoch konnte man mit diesem Wissen bei all jenen, die in diesen Dingen nicht bewandert waren, zuverlässig Eindruck schinden. Prompt strahlte auch Miss Fernside bei Abigails Worten und setzte sich wieder gerader auf.
»Das war mir bekannt!«, versicherte sie Abigail. »Meine Mutter hat mir früher immer Geschichten aus Faerie vorgelesen. Sie hat mir erzählt, wie wild und gefährlich und wundervoll Elfen sind. Und sie sagte, sie könnten praktisch alles tun, wenn man ihnen nur den richtigen Preis bezahlt.«
Abigail erschauderte unbehaglich. Selbstverständlich konnte Miss Fernside unmöglich wissen, dass Abigail selbst einst von einem Elf gestohlen worden war, da dies nicht allgemein bekannt war. Doch die Erinnerung half auch gewiss nicht, Abigails ohnehin nur mäßige Begeisterung für die Teegesellschaft stärker zu entfachen.
»Elfen sind gefährlich«, warf Dora leise ein. »Und … ja, auch wild und wundervoll. Weshalb Sie hoffen sollten, niemals ihre Aufmerksamkeit zu erregen.«
Auch Dora war nach Faerie entführt worden. Abigail konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem sie einander in Hollowvale begegnet waren, in den trostlosen Mauern von Charity House. Damals war Abigail überzeugt gewesen, sie würden diesen Ort niemals wieder verlassen. Doch Dora hatte ihr versichert, sie würden ihm entfliehen – und am Ende hatte ausgerechnet Dora den grausamen Elf getötet, der sie gefangen gehalten hatte.
Niemand in diesem Wohnzimmer – Tante Vanessa eingeschlossen – hätte sich jemals vorstellen können, die sanftmütige Dora wäre dazu fähig, einen Elf zu töten. Abigail wusste jedoch, dass sie es getan hatte … und tatsächlich gehörte es zu den Dingen, die sie an ihrer Mutter am meisten liebte. Keine der anderen anwesenden Frauen, dachte Abigail, hätte es gewagt, das Nötige zu tun, um sie aus Charity House zu befreien.
»Elfen sind schrecklich gefährlich«, warf Lady Mulgrew in dem Versuch ein, das Gespräch wieder an sich zu reißen. »Ich habe sogar gehört, wie einige unserer geschätzten Freunde darüber spekulierten, die jüngsten Todesfälle in London könnten etwas mit einem Elf zu tun haben. Ich habe ihnen versichert, der Lord Magier würde sich der Sache annehmen … doch selbstverständlich könnte niemand hier dies bestätigen.« Lady Mulgrews Lächeln, in dem ein Hauch von Verärgerung lag, galt vor allem Dora.
»Welche jüngsten Todesfälle meinen Sie denn?«, erkundigte sich Abigail besorgt. Sie richtete den Blick auf Lady Mulgrew und verdrängte ihre anderen Gedanken.
Lady Mulgrew zog die Augenbrauen nach oben. »Oh, ich hatte angenommen, Sie hätten davon gehört, Miss Wilder«, erwiderte sie. »Es ist wirklich furchtbar. Wir haben in den vergangenen Wochen mehrere junge Damen verloren. Sie sind über Nacht verstorben, im Schlaf – bei allen stand ein nach Westen gerichtetes Fenster offen.«
Ihre letzte Bemerkung hätte Abigail vermutlich etwas sagen sollen, aber sie wagte es nicht, zuzugeben, dass die ganze Sache völlig an ihr vorübergegangen war. Sie blickte zu ihrer Mutter, doch Doras Miene war so ausdruckslos und gelassen wie immer.
»Wäre es möglich, dass der Lord Magier diese Tragödien gar nicht untersucht?«, fragte Lady Mulgrew Dora leicht spöttisch.
Dora blickte mit vager Überraschung auf ihre leere Teetasse hinunter. »Oh«, sagte sie. »Ich habe meinen Tee ausgetrunken.«
Und dann, ohne die geringste Vorwarnung, erhob Dora sich und strich ihr Kleid glatt. Abigail tat es ihr hastig nach, als ihre Mutter sich abwandte, um den Raum zu verlassen.
»Wir haben noch einen Termin«, log Abigail. Es war zwar keine angemessene Entschuldigung für ihr Verhalten, aber immer noch besser als gar nichts.
Tante Vanessa lächelte Abigail ein wenig betrübt an. Sie wusste besser als irgendjemand sonst, wie sehr sich Doras gesellschaftliche Wahrnehmung von der anderer unterschied. »Es war schön, dass ihr beide hier wart«, versicherte sie Abigail. »Ich weiß euren Besuch sehr zu schätzen.«
Es lag eine tiefere Bedeutung in den Worten, als es den anderen Teedamen vermutlich bewusst war: Tante Vanessa war Abigails Unbehagen an diesem Nachmittag gewiss nicht entgangen.
Abigail vollführte einen ungeschickten Knicks und folgte ihrer Mutter aus dem Raum.
Abigail eilte Dora hinterher, ihre Röcke bis über die Halbstiefel hochgerafft. Tante Vanessas Bedienstete zuckten zusammen und wandten den Blick ab, als Abigail durch die Eingangshalle von Crescent Hill rannte, zweifellos schockiert über den Anblick ihrer Waden.
»Mum!«, keuchte sie atemlos. »Wir müssen auf Hugh warten!«
Dora hielt an der Tür inne. Sie drehte sich zu Abigail um, einen Ausdruck vagen Verständnisses auf dem Gesicht. »O ja, Hugh«, murmelte Dora. »Ich fürchte, ich bin wirklich schrecklich, was dieses Muttersein angeht. Gewiss würde keine der anderen Damen jemals ihren eigenen Sohn vergessen.«
Abigail lächelte mitfühlend. »Du kannst ihn schließlich nicht sehen, Mum«, erwiderte sie. »Ich weiß, du versuchst dich daran zu erinnern, wann er uns begleitet, aber es ist durchaus verständlich, wenn du ihn hin und wieder vergisst. Wirklich, es ist nicht so schlimm. Ich wette, er ist mal wieder unten in der Küche. Ich gehe ihn holen, wenn du in der Kutsche warten willst.«
Dora erwiderte Abigails Lächeln geistesabwesend. Die meisten Mütter strahlten ihre Kinder wahrscheinlich meist fröhlicher an – aber Abigail hätte ihre etwas unbeholfene Mutter nicht für alles strahlende Lächeln der Welt eingetauscht. »Danke, Abigail«, sagte Dora leise. »Ich werde auf euch beide warten.«
Abigail drehte sich zu der mit grünem Filz bespannten Tür um, die in die Küche hinunterführte. Die Bediensteten huschten hastig und ein wenig erschrocken zur Seite, als sie die Treppe hinabstieg … doch es ließ sich nun mal nicht ändern. Die meisten Leute konnten Hugh Wilder nicht sehen, weshalb er praktisch überall hinspazieren konnte, wo es ihm beliebte. Abigail verfügte nicht über diese Eigenschaft – und auch wenn sie theoretisch Zauber kannte, mit denen sie sich uninteressanter hätte machen können, war sie nicht besonders gut darin, sie in der Praxis anzuwenden.
In der Küche richtete Mrs Montgomery gerade frische Sandwiches auf einem Teller an. Tante Vanessas Köchin war eine kleine Frau mit braunem Haar und breiten Schultern und beinahe militärischem Gebaren. Sie war alles andere als begeistert, wenn feinen Dame uneingeladen in ihrer Küche auftauchten, war Abigail bei ihren seltenen Besuchen aber dennoch stets mit einer gewissen Höflichkeit begegnet.
»Guten Tag, Mrs Montgomery«, begrüßte Abigail sie zögernd, als sie durch die Tür trat. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen schon wieder Umstände mache.«
Mrs Montgomery warf ihr einen scharfen Blick zu, doch ihr Tonfall blieb ruhig. »Sie machen keine Umstände, Miss Wilder«, versicherte die Köchin ihr.
Abigail schnaubte. »Viele Leute würden Ihnen da widersprechen, Mrs Montgomery«, entgegnete sie. »Aber ich weiß Ihre Worte zu schätzen. Mum und ich brechen gerade auf und ich hatte gehofft, wir dürften uns etwas mitnehmen von Ihren köstlichen …«
»Apfeltörtchen«, warf eine Jungenstimme schnell ein.
»… von Ihren köstlichen Apfeltörtchen«, beendete Abigail den Satz gehorsam.
Sie blickte zur Ecke des Raumes, aus der die Stimme gekommen war. Dort stand ihr jüngerer Bruder Hugh und starrte sehnsuchtsvoll auf einen Teller mit Apfeltörtchen, der auf der Küchentheke stand.
Hugh war heute dem Anlass entsprechend gekleidet, auch wenn Abigail wahrscheinlich die Einzige war, die es jemals sehen würde. Er trug eine sorgfältig geschneiderte blaue Hose mit Weste und dazu frisch polierte Schuhe. Ein schwarzes Seidentuch verbarg Hughs fehlendes Auge – Abigail sagte ihm oft, mit dem Tuch erinnere er sie an einen Piraten. Im Großen und Ganzen sah Hugh aus wie jeder andere wohlerzogene achtjährige Junge … doch in Wahrheit war er schon seit einer halben Ewigkeit acht Jahre alt, seit dem Tag, an dem er gestorben war.
»Selbstverständlich, Miss Wilder«, sagte Mrs Montgomery. »Nehmen Sie sich so viele Törtchen, wie Sie mögen. Und, bitte, richten Sie Ihrer Mutter meine besten Grüße aus.«
»Diese Törtchen sehen so gut aus«, seufzte Hugh. »Du könntest zwei mitnehmen und Mum auch eins geben.«
Abigail knickste unbeholfen. »Vielen herzlichen Dank, Mrs Montgomery«, sagte sie und wickelte zwei der Törtchen in ihr Taschentuch ein. Beinahe hätte sie aus Gewohnheit versucht, das Bündel in ihrer Tasche zu verstauen – doch da sie heute wie eine feine Dame gekleidet war, hatte sie gar keine Rocktaschen. Sie musste das Bündel daher ungeschickt an ihre Brust drücken, als sie sich umdrehte und eilig wieder aus der Küche verschwand.
Hugh folgte ihr die Dienstbotentreppe hinauf. »Solche Sandwiches habe ich noch nie gesehen«, verkündete er. »Schmecken die gut?«
Abigail versteckte ein amüsiertes Lächeln. »Ich glaube, es waren Gurkensandwiches«, antwortete sie. »Mum mag sie, aber ich finde sie zu matschig.« Wenn sie sich mit Hugh unterhielt, setzte sich stets Abigails normale, weniger feine Ausdrucksweise durch. Da er tot war, hatte Hugh nie lernen müssen, sich vornehm auszudrücken.
»Bei Anderer Mum kriegen wir alles Mögliche zu essen«, murmelte er. »Aber das Essen in Faerie schmeckt ja auch ganz anders. Ich wünschte, ich könnte nur einmal ein richtiges Apfeltörtchen verdrücken, nur um zu wissen, wie es ist.«
Die andere Hälfte von Lady Theodora Wilders Seele lebte in Faerie, mit all den Kindern, die nicht lebend aus Hollowvale hatten entkommen können. Wenn sie in England waren, nannten Hugh und Abigail die andere Hälfte von Doras Seele Andere Mum. Aber die meisten anderen, die überhaupt von ihr wussten, nannten sie Lady Hollowvale.
Abigail seufzte tief. »Tut mir leid, Hugh«, sagte sie. »Ich habe noch keinen Weg gefunden, wie du wieder richtiges Essen zu dir nehmen kannst. Aber ich versuche es weiter, versprochen.«
Hugh beschleunigte seine Schritte, was ein wenig unheimlich wirkte, da seine Schuhe auf den Stufen keinen Laut von sich gaben. »Du hast herausgefunden, wie du mich aus Hollowvale wegbringen kannst«, erwiderte er. »Und das war schon mehr, als du hättest tun müssen. Ich gucke einfach zu, wie du die Törtchen verdrückst, wenn es dir nichts ausmacht. Dann kannst du mir sagen, wie sie schmecken.«
Abigail trat wieder durch die grüne Filztür und drehte sich um, um sie für Hugh aufzuhalten. Ihr jüngerer Bruder kicherte, als er an ihr vorbeihüpfte. »Ich kann auch durch geschlossene Türen gehen, das weißt du doch«, sagte er. »Und durch Wände auch.«
Abigail rollte mit den Augen. »Es ist nur höflich, jemandem die Tür aufzuhalten«, bemerkte sie. »Natürlich weiß ich sehr wohl, dass du gehen und stehen kannst, wo immer es dir beliebt. Die Teedamen sind dir ja auch recht schnell langweilig geworden. Fünf Minuten, und schon warst du verschwunden.«
»Sie haben nur wieder dieselben alten Geschichten erzählt und über irgendwelche Leute gesprochen, die sie nicht mögen«, erwiderte Hugh mit einem Gähnen. »Mrs Montgomery ist viel interessanter. Ich schaue ihr gern beim Kochen zu. Außerdem hat sie mit Mr Notley über die toten Mädchen und die Elfen geredet.«
Abigail wollte Hugh gerade die Haustür aufhalten, hielt bei diesen Worten jedoch inne. »Tote Mädchen und Elfen?«, wiederholte sie fragend.
Hugh rückte sein Halstuch zurecht und stolzierte auf übertrieben vornehme Art zur Haustür hinaus. »Drei junge Damen aus gutem Hause sind in dieser Saison bereits gestorben, mitten aus dem Leben gerissen!«, verkündete er und ahmte den Tonfall eines Erwachsenen nach. »Gerüchten zufolge wurden sie am Morgen in ihren Schlafzimmern gefunden, die nach Westen gerichteten Fenster geöffnet!«
Abigail legte die Stirn in Falten und folgte ihm nach draußen. »Warum reden nur alle von nach Westen gerichteten Fenstern?«, fragte sie.
Hugh wartete vor der Kutsche auf Abigail und blickte sich zu ihr um. »Weißt du das denn nicht?«, fragte er. »Oh … ich schätze, das ist verständlich. Du hast schließlich weniger Zeit mit Anderer Mum verbracht als der Rest von uns.« Er verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Die Sluagh benutzen stets die nach Westen gerichteten Fenster. Das sind, du weißt schon … die unheimlichen Elfen. Meistens sehen sie wie Raben aus. Wenn du nachts dein Westfenster offen lässt, fliegen sie vielleicht herein und töten dich im Schlaf.«
Abigail erschauderte. Hugh hatte eine – angesichts seines Zustands – verständlicherweise ungezwungene Art, über den Tod zu sprechen. Da ihr eigenes Herz jedoch noch immer in ihrer Brust schlug, empfand sie das Thema als weitaus unangenehmer. Entschieden schlimmer war allerdings die Vorstellung, grausame Elfen hätten einmal mehr beschlossen, in London ihr Unwesen zu treiben. Allein der Gedanke löste Entsetzen bei ihr aus und bauschte sich zu einer Woge der Wut, der Furcht und der rechtschaffenen Empörung auf.
Abigail schluckte die Gefühle mit größter Mühe wieder hinunter. Sie wusste, Hugh hatte es am allerwenigsten verdient, dass sie ihre Wut an ihm ausließ. »Bist du schon mal einer dieser Sluagh begegnet, Hugh?«, fragte sie vorsichtig. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendwann welche von ihnen in Hollowvale zu Besuch gewesen wären … aber du bist schließlich öfter dort als ich.«
Hugh schüttelte den Kopf. »Andere Mum lässt die Sluagh nicht nach Hollowvale«, antwortete er. »Und sie redet auch nicht gern über sie.«
Tante Vanessas Kutscher sprang von seinem Sitz, um den Tritt auszuklappen und die Tür für Abigail zu öffnen. Es war ein seltsames Gefühl, ständig bei allem bedient zu werden.
Abigail konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie in dem Armenhaus in der Cleveland Street zu dritt in einem Bett geschlafen und tagein, tagaus dieselben schmutzigen Klamotten getragen hatten.
»Danke«, murmelte sie dem Kutscher zu. Hugh kletterte vor ihr die Stufen hinauf und sie folgte ihm und setzte sich ihrer Mutter gegenüber.
Ihr Bruder hatte es sich neben Dora gemütlich gemacht und plapperte mit breitem Grinsen auf sie ein. »… und Abigail hat dir auch ein Apfeltörtchen mitgebracht!«, sagte er. »Du musst es für mich essen, Mum, so sind die Regeln!«
Hugh hatte die Angewohnheit, mit den Lebenden zu sprechen, als könnten sie ihn hören. Abigail schmerzte es stets ein wenig, es mit anzusehen, doch Hugh hatte ihr mehrfach versichert, er würde sich dadurch wegen der ganzen Sache mit dem Totsein viel besser fühlen. Dora konnte Hugh jedoch genauso wenig hören wie die meisten anderen, auch wenn sie ihn dank ihres bescheidenen hellseherischen Talents hin und wieder in Spiegeln sehen konnte, wenn sie sich anstrengte.
»Und, hast du Hugh gefunden?«, fragte Dora Abigail freundlich.
Abigail blickte zu Hugh, der sich immer noch an Dora lehnte. »Habe ich«, antwortete sie. »Er war in der Küche, wie ich es mir dachte. Er sitzt direkt neben dir und hat dir gerade erklärt, du müsstest das Törtchen für ihn essen, das ich dir gleich geben werde.«
Dora blickte mit einem vagen Lächeln auf den leeren Platz neben ihr. »Oh, entschuldige, Hugh«, sagte sie. »Ich habe dich gar nicht gesehen. Du bist sehr gut darin, dich zu verstecken. Danke, dass du an mich gedacht hast. Törtchen esse ich für mein Leben gern.«
Hugh strahlte über Doras Worte. »Ich hab zugesehen, wie Mrs Montgomery sie gemacht hat«, verkündete er. »Wenn Abby je einen Weg findet, wie ich selbst backen kann, dann mache ich auch welche für dich!«
Abigail reichte eines der Apfeltörtchen Dora, die es ihr lächelnd abnahm. »Hugh meinte, er würde auch gerne Törtchen backen«, wiederholte Abigail pflichtschuldig.
Hugh warf Abigail einen finsteren Blick zu, während Dora genüsslich von dem Törtchen abbiss. »Das ist nicht genau das, was ich gesagt habe!«, beschwerte er sich schmollend. »Ich hab gesagt –«
Abigail wiederholte seine Worte erneut, exakter diesmal, und der verstimmte Ausdruck verschwand wieder von Hughs Gesicht. Es war gar nicht so einfach, mit Hughs pausenlosem Geplapper mitzuhalten, und normalerweise zeigte er auch Verständnis, wenn Abigail seine Sätze ein wenig kürzen musste. Obwohl Dora ihn nicht sehen konnte, hatte sie doch alles in ihrer Macht Stehende getan, damit er sich geliebt und dazugehörig fühlte, und ihre Bemühungen hatten Hugh zutiefst berührt. Darum sehnte er sich auch so sehr danach, jede noch so winzige Möglichkeit, eine Bindung zu seiner Mutter aufzubauen, voll auszuschöpfen.
»Es ist köstlich«, sagte Dora ernst und wandte sich Hugh zu. Irgendwie gelang es ihr, die ganze Unterhaltung völlig natürlich wirken zu lassen. »Ich glaube, sie sind mit Zimt verfeinert.«
»Das hab ich auch gedacht!«, rief Hugh begeistert. »Ich hab versucht, mir alle Zutaten zu merken –«
»Ich will euch ja nicht unterbrechen«, sagte Abigail zwischen zwei Bissen von ihrem eigenen Törtchen, »aber Hugh hat in der Küche etwas gehört und ich wollte dich danach fragen, Mum.«
Hugh runzelte die Stirn. »Meinst du das mit den toten Mädchen und den Sluagh?«, fragte er Abigail.
Sie nickte. »Kannst du noch einmal erzählen, was du gehört hast, Hugh?«, bat sie ihn. »Ich gebe alles ganz genau wieder, versprochen.«
In den folgenden Minuten berichteten Hugh und Abigail von der Unterhaltung, die er in der Küche mit angehört hatte. Natürlich ließ sich Dora in keinem Moment anmerken, welche Gefühle dies in ihr auslöste.
»Ich bin nicht Lady Mulgrew«, sagte Abigail schließlich. »Falls Dad die Sluagh genauer unter die Lupe nimmt, hätte er es mir erzählen sollen. Er weiß, was ich empfinde, wenn Elfen Menschen wehtun. Er sagte, er würde mir das Zaubern beibringen, damit ich ihm bei Dingen wie diesen helfen kann – aber ich kann ihm nicht helfen, wenn er mir nie was erzählt!«
Dora schwieg für einen langen Moment. Manchmal fiel es Abigail schwer, sich selbst daran zu erinnern, dass ihre Mutter in solchen Momenten höchstwahrscheinlich nur angestrengt nachdachte und sie nicht einfach ignorierte. Jahrelange Erfahrung hatte sie jedoch gelehrt, geduldig zu sein.
Schließlich sagte Dora: »Weißt du … so schlecht ich mich auch darauf verstehe, das Verhalten anderer zu deuten, glaube ich doch, ich bin sozusagen Expertin darin, Elias’ Verhalten zu interpretieren. Wahrscheinlich hat er Angst, er könnte dich in Gefahr bringen, Abigail. Ich weiß, das macht die Sache nicht wirklich besser, aber vielleicht ist es wenigstens ein Anfang.«
Abigail setzte eine finstere Miene auf. »Welchen Sinn hätte das denn?«, fragte sie. »Glaubt er wirklich, er könnte mich beschützen, indem er Dinge vor mir verheimlicht?«
Dora seufzte. »Ich weiß auch nicht, was er sich davon verspricht«, gestand sie. »Aber wenn ich ihn bitte, es mir zu erklären, tut er das sicher. Ich verspreche dir, ich werde mit ihm darüber reden.«
Die Kutsche rollte langsamer und blieb kurz darauf stehen. Der Kutscher öffnete die Tür und die drei stiegen aus.
Die Lord Magier Englands waren zu allen Zeiten recht fürstlich entlohnt worden, was auch eine große Wohnung am Rande des Hyde Parks einschloss. Englands gegenwärtiger Lord Magier war jedoch bekanntermaßen von eher konträrem Charakter, was gelegentlich zu einer Herabsetzung seines Lebensstandards geführt hatte, wenn der Prinzregent wieder einmal verärgert über ihn war. Zurzeit nutzte Lord Elias Wilder ein Appartement, das deutlich kleiner und weniger opulent war, als es einem Mann seines Ranges und seiner Leistungen gebührt hätte – ein Umstand, der ihn und seine Familie jedoch nicht im Geringsten störte. Elias hatte seine Kindheit und Jugend in Armenhäusern verbracht und in späteren Jahren im Krieg auf der anderen Seite des Ärmelkanals gekämpft. Jedes Bett, wie er oft versicherte, war besser als kalter Schlamm.
Da Elias auch keinen gesteigerten Wert auf Titel legte, war die Familie dazu übergegangen, das hohe, schmale Gebäude schlicht als »das Haus« zu bezeichnen. In den vorherigen Räumlichkeiten, die sich über einer Parfümerie befunden hatten, hatte es stets nach Blumen geduftet. In den neuen Räumen roch es nicht ganz so angenehm, da sie über einer Metzgerei lagen. Der Metzgermeister war jedoch ausgesprochen höflich und verwahrte der Familie stets das beste Stück Fleisch fürs Abendessen.
Zum Haus gehörte auch eine Reihe von Bediensteten, was stets ein wenig verschwenderisch angemutet hatte, wenn man in Betracht zog, wie wenig Zeit Elias tatsächlich dort verbrachte. Irgendwann hatte es Abigails Interesse an Magie jedoch erforderlich gemacht, dass auch sie ein Zimmer im Haus bezog statt in dem privaten Waisenhaus, das ihre Familie noch immer unterstützte. Damals hatte Dora auch beschlossen, eine Gouvernante zu engagieren. Und da ihr eine Gouvernante für ein einziges Kind wie schreckliche Verschwendung vorgekommen war, waren weitere Kinder ins Haus umgezogen, bis es schließlich nur noch schwerlich von einem echten Waisenhaus zu unterscheiden war.
Seither konnten sich die Bediensteten nicht über mangelnde Arbeit beklagen.
Während sie die Stufen zur Hauptetage direkt über der Metzgerei hinaufstiegen, wurde Abigail bewusst, welch eigenartige Atmosphäre das Haus an diesem Tag ausstrahlte. Eine Gruppe von Kindern hatte sich im Esszimmer versammelt. An sich war dies noch nichts Ungewöhnliches, doch sie verhielten sich alle sehr still und ernst, und das war ungewöhnlich. Die Gouvernante, Miss Langley, saß am Kopfende des Tisches, doch als die drei den Raum betraten, erhob sie sich von ihrem Stuhl und eilte zu Dora.
»Gott sei Dank, Ihr seid hier!«, stieß Miss Langley atemlos aus. »Ich bin mir sicher, es hat sich eine Katastrophe ereignet!«
Miss Langley war einen halben Kopf größer als Dora und einige Jahre älter. Ihr brünettes Haar zeigte seit Kurzem graue Stellen und an ihren Augenwinkeln waren Falten zu erkennen. Normalerweise war sie sehr ruhig und gefasst – doch auch ihre nach wie vor relativ stoische Haltung konnte die leise Panik nicht verbergen, die ihr förmlich aus sämtlichen Poren strömte.
Dora runzelte ein wenig die Stirn. Es war gut, dachte Abigail, dass ihre Mutter zu Panik praktisch nicht fähig war. »Bitte, das müssen Sie mir schon genauer erklären, Miss Langley«, sagte Dora. »Was ist passiert, und wie kann ich helfen?«
Miss Langley blickte sich zu den Kindern um, die alle sehr angestrengt und wenig überzeugend vorgaben, die Unterhaltung nicht zu belauschen. Sie senkte ihre Stimme, so weit sie es wagte. »Seine Lordschaft ist vor über einer Stunde in den zweiten Stock hinaufgegangen. Er sagte, ich sollte dafür sorgen, dass die Kinder hier unten bleiben und ihn keiner von uns stört, unter keinerlei Umständen. Ich habe getan, worum er mich gebeten hat und … nun, da war plötzlich dieser entsetzliche Lärm – so etwas habe ich noch nie zuvor gehört. Inzwischen ist es jedoch wieder völlig still, daher befürchte ich langsam das Schlimmste.«
»Ich verstehe«, erwiderte Dora. »Ich werde natürlich sofort hinaufgehen und nach ihm sehen. Danke, dass Sie für solche Ruhe bei den Kindern gesorgt haben, Miss Langley.«
Insgeheim dachte Abigail, es waren eher die Kinder, die bei Miss Langley für Ruhe sorgten, und nicht andersherum. Die meisten von ihnen waren an Notsituationen gewöhnt, dank der in den Armenhäusern grassierenden Krankheiten. Tatsächlich humpelte gerade der vierzehnjährige Roger zu ihnen und zog einen Stuhl für Miss Langley heran, die sich dankbar daraufsinken ließ.
Dora ging zur Treppe. Abigail blickte zu Hugh. »Wir gehen natürlich auch nach oben«, flüsterte sie ihm zu. »Was willst du wetten, dass die ganze Sache irgendwas mit Dads Arbeit zu tun hat?«
»Ich würde ja um ein Törtchen wetten«, antwortete Hugh, »aber ich müsste es sowieso dir geben, damit du es für mich isst.« Er setzte ein halbes Grinsen auf. »Aber wir können ein Wettrennen nach oben veranstalten.«
»Das ist vielleicht nicht sicher –«, begann Abigail.
Aber Hugh war bereits hinter Dora die Treppe hinauf verschwunden.
Abigail raffte erneut ihre Röcke und eilte ihm nach. Es bewies, wie verstört die arme Miss Langley im Augenblick war, dass die alte Gouvernante sie nicht dafür schalt. Als Abigail die Tür zum zweiten Stock erreichte, hatte Dora sie bereits geöffnet und den Raum betreten.
Der zweite Stock des Hauses war eigentlich als Ballsaal gedacht, jedoch nie zu diesem Zweck genutzt worden, seit der Lord Magier die Räumlichkeiten übernommen hatte. Stattdessen hatte Elias ihn in einen Arbeitsraum verwandelt. Abigail war daher daran gewöhnt, ihn in recht unordentlichem Zustand vorzufinden … doch heute hatte Elias sich allem Anschein nach selbst bei Weitem übertroffen.
Der riesige silberne Kronleuchter war von der Decke gestürzt, wodurch ein Teil der Holzdielen darunter zerborsten war. Mehrere Bücherregale vor den Wänden waren umgekippt und hatten ihren wertvollen Inhalt auf den Boden ergossen. Brandspuren und eigentümliche Furchen zeichneten die Wände.
Überall im Raum lagen große schwarze Federn verstreut.
Abigail entdeckte ihre Mutter in der Nähe des offenen Westfensters – und einen Moment lang hämmerte ihr Herz wie wild in ihrer Brust. Elias hockte zusammengekauert unter dem Fenster, erschöpft an die Wand gelehnt. Sein weißblondes Haar war seltsam vom Wind zerzaust, die Augen geschlossen. Seine braune Weste war teilweise aufgeknöpft und sein Halstuch nur noch lose geknotet – was ehrlicherweise seiner üblichen Aufmachung entsprach, wenn er nicht gerade bei einem öffentlichen Empfang erwartet wurde. Sein Gesicht wirkte jedoch so blass und er lag so still, dass Abigail ihn beinahe für tot gehalten hätte.
Doch dann sah sie, wie Elias Dora etwas zumurmelte, und ihre verkrampfte Brust entspannte sich wieder.
»Abby!«, rief Hugh. »Komm und schau dir das an!«
Hugh stand in der Mitte des Raumes und starrte auf die kreisförmig angeordneten Kreidemarkierungen auf dem Boden. Abigail warf ihrem Vater einen letzten Blick zu, bevor sie zu Hugh hinüberging und die Markierungen genauer betrachtete. Die Form und die Schrift kamen ihr bekannt vor, auch wenn sie viel komplexer waren als alles, woran sie sich jemals selbst versucht hatte.
»Ein Beschwörungszirkel«, murmelte Abigail. »Ein sehr mächtiger noch dazu. Was hat er wohl heraufbeschworen?« Rings um den Kreis lagen besonders viele Federn und in Abigail keimte ein schrecklicher Verdacht.
Sie wirbelte herum und marschierte zu ihrem Vater hinüber. Dora hatte ihm vom Boden aufgeholfen und Elias stützte sich schwer auf sie, furchtbar mitgenommen und erschöpft. Dennoch strahlte er diese ihm eigene Würde aus, die er niemals ganz verlor. Gerade jetzt machte diese Würde Abigail jedoch nur umso wütender, auch wenn sie sich selbst nicht erklären konnte, warum.
»Du hast eine Sluagh heraufbeschworen!«, beschuldigte sie ihn. »Ganz allein! Ich weiß, du bist daran gewöhnt, gefährliche Dinge zu tun, aber ich hätte dir trotzdem helfen können, wenn du mich darum gebeten hättest!«
Elias richtete sich angestrengt auf. Seine goldenen, bernsteinartigen Augen fixierten Abigail, doch als er sprach, galten seine Worte Dora. »Dann hast du Abigail also von den Sluagh erzählt?«, fragte er sie.
Dora betrachtete ihn blinzelnd. »Habe ich nicht«, erwiderte sie. »Aber ich glaube, du hättest es vielleicht tun sollen.«
Abigail kniff die Augen zusammen. »Ich hätte es tatsächlich lieber von dir gehört statt von Hugh, der es bei Mrs Montgomery aufgeschnappt hat«, erklärte sie trotzig.
Elias holte tief Luft, um die Fassung zu wahren, und streckte sich langsam zu seiner vollen Größe aus. »Hugh ist also auch hier?«, fragte er. »Ich dachte, er wäre für eine Weile nach Hollowvale zurückgekehrt.«
Abigail beantwortete die Frage, indem sie an einer Kette um ihren Hals zog und ein silbernes, herzförmiges Medaillon hervorholte, das Hugh in der Welt der Lebenden verankerte und es ihm erlaubte, nach Belieben in Hollowvale ein- und auszugehen. Abigail und ihre Andere Mum hatten mehrere Monate an dem Medaillon gearbeitet, in dem sich eine Locke von Hughs echtem Haar befand.
Elias fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Der Anblick des Medaillons schien ihn zu beunruhigen. »Ihr werdet beide nach Hollowvale zurückkehren müssen«, verkündete er Abigail. »Du und Hugh. In London seid ihr im Augenblick nicht sicher und ich weiß nicht, ob ich euch wirklich beschützen kann.«
Abigail gab einen deutlich hörbaren, frustrierten Laut von sich. »Ich muss nicht beschützt werden!«, erwiderte sie. »Meine Zaubereilektionen dauern nun schon Jahre an – ich kann mich selbst beschützen.«
Elias schloss die Augen und Abigail wusste, es kostete ihn alle Mühe, die Beherrschung nicht zu verlieren. »Du bist noch immer keine Magie-Expertin, Abigail«, entgegnete er. »Ich blicke auf jahrelange Kriegserfahrung zurück und selbst ich werde dieser ganzen Angelegenheit kaum Herr. Wenn du hier bist, werde ich mir nur weiter Sorgen um deine Sicherheit machen. Und das kann sich keiner von uns leisten.«
Abigail schnaubte wütend und verschränkte die Arme. »Schau dir doch nur mal dieses ganze Durcheinander an«, mahnte sie. »Glaubst du wirklich, ich gehe zurück nach Hollowvale und verstecke mich hinter dem Rockzipfel unserer Anderen Mum, während du dich in diesem Zustand befindest? Ich werde ganz bestimmt nicht gehen, solange du mir nicht erzählst, was hier los ist.«
Elias stöhnte. Er schlug die Augen auf und betrachtete Dora flehend – doch auch sie blickte ihn mit einem Ausdruck erwartungsvoller Entschlossenheit an und er musste erkennen, dass er unterlegen war. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
»Ich habe nicht irgendeine Sluagh heraufbeschworen«, erklärte Elias steif. »Ich habe den Ersten unter den Sluagh heraufbeschworen. Ich habe Lord Longshadow gerufen und er hat geantwortet. Ich hatte gehofft, wir könnten eine vernünftige Unterhaltung führen … aber es kam anders.«
Abigail betrachtete mit einem finsteren Stirnrunzeln die noch immer im ganzen Raum verstreuten schwarzen Federn. »Offensichtlich«, murmelte sie. Wie sie zugeben musste, wusste sie kaum etwas über Lord Longshadow. Der Großteil ihres Wissens über Elfen stammte entweder von ihrem Vater oder ihrer Anderen Mum und keiner von ihnen hatte den Elfenmann jemals erwähnt. Was, wie Abigail fand, ein wenig seltsam war.
»Ich habe Lord Longshadow gefragt, ob eine seiner Sluagh diese Mädchen getötet hat«, fuhr Elias fort, »aber er wollte mir keine Antwort darauf geben, ganz gleich, wie sehr ich darauf drängte. Elfen, falls du dich erinnerst, können nicht lügen. Stattdessen teilte er mir mit, er würde meine Autorität in keiner Weise anerkennen. Er erklärte mir, er könne in London tun und lassen, was immer ihm beliebte, und meine einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten, sei Gewalt.« Elias’ Miene verfinsterte sich furchtbar bei diesen Worten und die verstreuten Federn bekamen mit einem Mal eine ganz neue Bedeutung. »Ich habe seine Herausforderung angenommen. Es war ein grauenvoller Kampf … aber ich glaube, ich bin als Sieger daraus hervorgegangen.«
Dora legte die Stirn in Falten. »Dann hast du Lord Longshadow also getötet?«, fragte sie.
Elias schüttelte den Kopf. »Habe ich nicht«, antwortete er. »Er ist viel dunkler und mächtiger, als es selbst Lord Hollowvale war. Hätte ich Lord Longshadows wahren Namen gekannt, hätte ich ihn töten oder ihn dominieren können – doch in Ermangelung seines Namens habe ich seine eigenen Federn dazu benutzt, ihn mit meiner Magie zu fesseln.« Elias hob bei diesen Worten eine Hand – und Abigail sah, dass er drei besonders große schwarze Federn umklammert hielt. Ihr öliger, schillernder Glanz veränderte sich im durch das offene Westfenster hereinfallenden Licht. »Ich habe ihn mit drei Bannen belegt. Bis die Federn zerstört werden, wird er mit seinen magischen Kräften niemandem mehr Schaden zufügen können – ebenso wenig, wie er irgendein lebendiges Wesen gegen seinen Willen verschleppen oder mit seinen Sluagh sprechen kann.«
»Das sind sehr mächtige Flüche«, bemerkte Dora vorsichtig. »Ich vermute, du hast deine eigene Magie mit ihnen verflochten?« Dora selbst beherrschte keine Zauberei, abgesehen von ihrer hellseherischen Neigung. Doch seit sie mit dem Lord Magier verheiratet war, hatte sie einiges über Magie gelernt.
Elias’ düstere Grimasse verriet, dass sie die Situation richtig eingeschätzt hatte. »Nun habe ich ein Druckmittel gegen diesen Elf«, antwortete er. »Irgendwann wird ihm bewusst werden, wie wenig Spaß es macht, auf diese Weise gebunden zu sein. Ich bin mir sicher, er wird zurückkehren und um seine Federn feilschen wollen. Und in der Zwischenzeit wird das Leben für ihn sehr langweilig sein.«
Abigail richtete sich auf. »Falls das dein Versuch ist, mich davon zu überzeugen, nach Hollowvale zu flüchten, dann machst du deine Sache nicht sehr gut«, verkündete sie. »Ich werde dich gewiss nicht zurücklassen, damit du es ganz allein und entkräftet mit dem Herrn der Sluagh aufnimmst, selbst wenn er mit all diesen Bannen belegt ist. Von deiner eigenen Magie kann nach diesem Kampf kaum mehr als ein Fingerhutvoll übrig sein.«
Elias kniff die Augen zusammen. »Das steht nicht zur Diskussion«, widersprach er ihr. »Es ist meine Aufgabe und meine Verantwortung, England vor schwarzer Magie zu beschützen – nicht deine. Ich bitte dich so gut wie nie um irgendetwas, Abigail. Aber jetzt bitte ich dich, Hugh nach Hollowvale zurückzubringen und mit ihm dort zu bleiben, bis ich diese Angelegenheit aus der Welt schaffen kann.«
Abigail machte den Mund auf, um zu protestieren, aber Dora zog hinter Elias’ Schulter die Augenbrauen hoch und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Langsam machte Abigail den Mund wieder zu.
»Na schön«, grummelte sie. »Ich werde Hugh nach Hollowvale bringen.«
Elias’ Schultern entspannten sich. Er geriet erneut sichtbar ins Wanken, doch Dora hielt ihn fest. »Ich danke dir, Abigail«, sagte er. Seine Stimme klang müde und erleichtert. »Ich melde mich, sobald die Sache erledigt ist. Bestimmt wird es nicht allzu lange dauern.«
Abigail spannte den Kiefer an, zwang sich jedoch zu einem Nicken. »Mum«, sagte sie, »können wir uns für einen Moment draußen unterhalten?«
Dora nickte. »Aber würdest du deinem Vater bitte zuerst einen Stuhl bringen?«, bat sie. »Ich glaube, es ist das Beste, wenn er sich noch für eine Weile ausruht.«
Abigail wandte sich ab und durchquerte den Raum zu dem Schreibtisch und Stuhl, die vor der hinteren Wand standen. Hugh folgte ihr mit finsterer Miene.
»Ich will nicht zurück nach Hollowvale«, beklagte er sich. »Und ich weiß, du willst es auch nicht, Abby. Warum hast du ja gesagt?«
»Wir gehen nicht wirklich zurück nach Hollowvale«, flüsterte sie ihm zu. »Es hat nur keinen Sinn, mit Dad zu streiten, wenn er so ist.«
Hugh blinzelte verwirrt. »Dann hast du ihn angelogen?«, fragte er.
Abigail lächelte grimmig. »Dad war derjenige, der mit der Geheimniskrämerei angefangen hat«, erwiderte sie. »Ich folge nur seinem Beispiel.«
Der Schreibtisch war mit Notizen übersät. Abigail ließ hastig den Blick darüber schweifen und versuchte, die etwas unordentliche Handschrift ihres Vaters zu entziffern. Sie blieb an dem Namen Miss Lucy Kendall hängen, blinzelte überrascht und merkte ihn sich für später.
Der Schreibtischstuhl war ein wenig zu groß und schwer für Abigail, um ihn allein zu tragen. Vor einem der umgekippten Bücherregale daneben stand jedoch ein Hocker, den sie sich stattdessen schnappte und zurück zum Fenster trug. Dora half Elias, sich zu setzen, und nickte Abigail dann zu.
»Gut, wir unterhalten uns kurz, bevor ihr aufbrecht«, sagte Dora. »Ich bin gleich wieder da, Elias.«
Sie gingen zur Treppe vor dem Ballsaal hinaus. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, drehte Dora sich zu Abigail um.
»Willst du auch, dass ich nach Hollowvale gehe?«, fragte Abigail ihre Mutter säuerlich.
Dora seufzte. »Ich habe dir versprochen, mit deinem Vater zu reden«, erwiderte sie, »und das werde ich auch tun. Ich glaube, ich komme schon dahinter, warum er sich so verhält. Aber in der Zwischenzeit ist es gar keine so schlechte Idee, wenn ihr Hollowvale einen Besuch abstattet. Ich denke, Lady Hollowvale müsste entschieden mehr über Lord Longshadow wissen als wir alle. Vielleicht erfährst du ja etwas Nützliches von ihr, solange du dort bist.«
Abigail verzog die Lippen. »Wir könnten sie auch ebenso gut herbeirufen«, widersprach sie. »Andere Mum würde gewiss sofort erscheinen, wenn einer von uns sie rufen würde.«
»Lady Hollowvale verlässt ihr Reich nur, wenn es unbedingt nötig ist«, entgegnete Dora. »Sie ist sehr darauf bedacht, die anderen Kinder dort zu schützen. Und so dringlich scheint mir die Angelegenheit noch nicht zu sein.« Sie schenkte Abigail ein leises Lächeln. »Ich werde deinen Vater dazu bewegen, seine Meinung zu ändern, versprochen. Ich glaube, du wärst ihm eine große Hilfe, wenn er nur bereit wäre, es zuzugeben. Du wirst nicht lange in Hollowvale bleiben müssen.«
Abigail stieß einen übertriebenen Seufzer aus. Es war ein viel schlimmeres Gefühl, fand sie, ihre Mutter anzulügen. Dora war stets so schmerzlich aufrichtig und Abigail wusste, wie leicht es war, sie anzulügen, weil sie ihre Mitmenschen so schlecht durchschaute.
Doch als Abigail erneut das Wort ergriff, kam ihr dennoch eine Lüge über die Lippen: »Dann breche ich wohl am besten gleich nach Hollowvale auf.«
Abigail hatte Miss Lucy Kendall zu deren Lebzeiten nicht sonderlich gemocht. Es löste daher ein recht eigenartiges Gefühl in ihr aus, den Tod der anderen jungen Frau zu untersuchen.
»Sollte ich traurig sein, weil Lucy tot ist?«, fragte sie Hugh, als sie aus einer Mietdroschke stiegen. »Oder darf ich stattdessen erleichtert sein, weil sie beim nächsten albernen Fest nicht mehr dabei sein wird?«
Hugh dachte darüber nach, während er ihr hinterhertrottete. »War Lucy nicht die, die sich über deine Pockennarben lustig gemacht und dich als Aussätzige beschimpft hat?«, fragte er.
»War sie«, bestätigte Abigail grimmig. »Als könnte ich das jemals vergessen.«
Miss Lucy Kendall war eine wahre Schönheit gewesen – und hatte ihre Mitmenschen dies niemals vergessen lassen, nicht für einen Moment. Lucys Mutter, Lady Pinckney, war eine scharfzüngige Frau von höchstem Rang und Lucy hatte alles getan, um ihr nachzueifern. Lucy war bereits vor einigen Jahren in die Gesellschaft eingeführt worden, als sie noch sehr jung gewesen war. Alle hatten damit gerechnet, sie würde in dieser Saison einen Ehemann wählen, nachdem sie die Volljährigkeit erlangt hatte.
Abigail hatte gewiss kein großes Trara erwartet, als sie selbst in der Gesellschaft debütiert hatte – schließlich war sie weder mit ihrer Mutter noch mit ihrem Vater tatsächlich verwandt und nur sehr wenige in der Hautevolee wollten, dass ein Gör aus dem Armenhaus an ihren Festen teilnahm, ganz gleich, wie elegant Abigail gekleidet war oder wie vornehm sie sich ausdrückte. Ihre Tante Vanessa hatte jedoch beschlossen, Abigail sollte wenigstens in den Genuss einer Saison voller Bälle und schöner Kleider kommen, und es fiel Abigail immer furchtbar schwer, Tante Vanessa etwas abzuschlagen.
Und aus irgendeinem Grund hatte Abigail sich am Ende durch die Begeisterung ihrer Tante davon überzeugen lassen, das Ganze würde nicht in einer vollkommenen Katastrophe enden. Aber das war es, natürlich. Für wie dickhäutig sich Abigail auch hielt, Lucy Kendall hatte es mit ihrer Gehässigkeit mindestens einmal geschafft, dass sie weinend nach Hause geflüchtet war – und die älteren Erwachsenen bei diesen Veranstaltungen waren oft sogar noch schlimmer gewesen.
Allein die Möglichkeit, die feinen Herrschaften könnten am Ende Elias die Schuld dafür geben, hatte Abigail davon abgehalten, diese schreckliche Person mit einem Warzenfluch zu verzaubern. Aber sie war verflixt kurz davor gewesen.
Und hier stand Abigail nun vor Lord Pinckneys Stadthaus, mit einem schwarzen Trauerflor an ihrer Haube, und wollte mehr über den Mord an seiner Tochter erfahren.
»Ich glaube, du darfst darüber erleichtert sein«, sagte Hugh ernst. »Wenn Lucy wollte, dass du sie vermisst, dann hätte sie netter zu dir sein müssen.« Er schwieg für einen Moment. »Und es ist schließlich nicht so, als hättest du sie umgebracht.«
Abigail seufzte. »Niemand hätte mich vermisst, wenn ich im Armenhaus gestorben wäre«, erwiderte sie. »Na ja … Mum und Dad hätten mich vermisst, selbst damals. Und ich glaube, ich möchte jeden vermissen, wenn er stirbt, allein aus Prinzip. Aber es ist schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte.«
»Ich glaube, es gibt genügend Leute, die Lucy vermissen«, tröstete Hugh sie. »Aber von denen kann keiner herausfinden, warum diese Sluagh sie getötet hat, und sie können sie auch nicht davon abhalten, es wieder zu tun. Du kannst also einfach das für sie tun, anstatt Lucy zu vermissen.«
Abigail blickte noch ernster drein. »Du musst für mich mit Lucy sprechen, falls ihr Geist noch in der Nähe ist«, bat sie Hugh. »Dich kann ich nur sehen, weil ich dein Medaillon habe.«
Hugh verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Wenn es sein muss«, grummelte er. »Immer noch besser, als wieder nach Hollowvale zu gehen, schätze ich.«
Aus dem Augenwinkel nahm Abigail ein schwarzes Flattern wahr, das ihr Interesse weckte. Sie drehte sich um und sah zwei große Raben auf dem Vordach eines der Stadthäuser gegenüber hocken. Die beiden Vögel beäugten sie viel zu aufmerksam. Abigail betrachtete sie ihrerseits mit zusammengekniffenen Augen.
»Falls ihr ganz normale Vögel seid«, rief sie ihnen zu, »dann verschwindet lieber! Und falls ihr keine normalen Vögel seid … nun, dann gilt dasselbe!«
Die beiden Raben starrten sie weiter an, ohne auch nur zu blinzeln.
»Glaubst du, es sind Sluagh?«, fragte Hugh besorgt.
»Ich glaube, es wäre ein ungeheurer Zufall, wenn sie keine Sluagh wären«, antwortete sie düster. »Entweder behalten sie den Ort ihres Verbrechens im Auge oder …« Sie verstummte, als ihr ein hässlicher Gedanke kam.
»Oder?«, hakte Hugh vorsichtig nach.
»Oder sie verfolgen mich«, brachte Abigail den Satz zu Ende. »Lord Longshadow kann im Moment zwar nicht mit seinen Sluagh sprechen, aber sie könnten trotzdem dahintergekommen sein, dass Dad ihn verflucht hat. Vielleicht hoffen sie, ich würde sie zu Lord Longshadows Federn führen.«
Hugh verlagerte unruhig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Glaubst du, du könntest es mit zwei Sluagh gleichzeitig aufnehmen?«, fragte er Abigail misstrauisch.
Sie richtete sich entschlossen auf. »Finden wir es heraus«, antwortete sie.
Ihr Vater hatte Abigail in sterblicher Magie unterrichtet, ihre Andere Mum in Elfenmagie. Die meisten normalen Menschen waren überhaupt nicht dazu in der Lage, Elfenmagie anzuwenden, doch seit Abigail aus Hollowvale zurückgekehrt war, hatte sie ein Talent für beide Formen von Magie bewiesen.
Von diesen beiden Formen hätte die sterbliche Magie theoretisch schwieriger zu erlernen sein sollen: Dafür waren seltsame Hilfsmittel, sorgfältige Studien und manchmal auch sehr spezifische Zauberformeln nötig. Abigail hatte die Elfenmagie jedoch stets als deutlich größere Herausforderung empfunden. Elfenmagie, so hatte ihre Andere Mum ihr erklärt, erforderte ausschließlich den unerschütterlichen Glauben daran, das, was man zu vollbringen versuchte, würde tatsächlich so passieren. Und Elfen, hatte sie gesagt, waren Experten darin, an lächerliche Dinge zu glauben.
Abigail war nicht sehr gut darin, an lächerliche Dinge zu glauben. Für den Großteil ihrer jungen Jahre war es ihr unmöglich gewesen, die Welt um sie herum zu verändern, ganz gleich, wie sehr sie sich auch angestrengt hatte. Als Abigails erste Mutter krank geworden war, hatte sie alles versucht, sie wieder gesund zu pflegen – leider hatte dies jedoch offensichtlich nicht sehr gut funktioniert, denn ihre Mutter war gestorben. Im Armenhaus in der Cleveland Street hatte dann der Vorsteher jeden einzelnen Aspekt von Abigails Leben kontrolliert: von dem Moment, in dem sie aufwachte und ihr mageres Frühstück aß, bis zu dem Moment, wenn sie abends aufhörte, Hanfseile aufzutrennen, und vor Erschöpfung nur noch ins Bett taumelte.
Das erste Mal, dass es Abigail wirklich gelungen war, etwas zu verändern, war in jenem Moment in Hollowvale gewesen, als sie ihren Elfenentführer angelogen und Dora geholfen hatte, sich vor ihm zu verstecken. Sie hatte auch damals nicht erwartet, dass sich dadurch viel verändern würde … aber zu ihrem Glück war genau das passiert.
Deshalb kam es Abigail wie eine Beleidigung vor, dass sie so schlecht darin war, an Dinge zu glauben. Sie versuchte daher oft, Elfenmagie anzuwenden, selbst wenn es nicht besonders ratsam war.
Sie grub tief in ihrer Seele nach dem kalten Samen der Kraft, den Hollowvale ihr eingepflanzt hatte. Die Kraft von Hollowvale ließ ihre Finger ganz taub werden und kribbelte in ihr auf der Suche nach einem Weg nach draußen. Abigail nahm all ihre Konzentration zusammen und gab ihr Bestes, ihr diesen Ausweg vorzugeben.
Sie starrte entschlossen auf die beiden Raben und versuchte sich vorzustellen, wie sie von einem mächtigen Windstoß davongerissen wurden. Es wäre plausibel, dachte sie, und deshalb war es auch leichter, daran zu glauben.