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Ein Mädchen ohne Furcht und Schüchternheit – welch ein Skandal!
Theodora Ettings, im Kindesalter von einem Elf der Hälfte ihrer Seele beraubt, kennt weder Furcht, Scham noch Schüchternheit oder was man sonst so von einer britischen Debütantin des 19. Jahrhunderts erwarten dürfte. Dass sie sich von all den anderen jungen Ladies derart abhebt, ist ihrer Familie ein Graus. Doch gerade Doras unkonventionelles Verhalten erregt die Aufmerksamkeit des Lord Magiers des Königreichs, als sie im Gefolge ihrer Familie in der Londoner Gesellschaft auftaucht. Die Freundschaft mit dem umstrittenen Lord Magier könnte Dora allerdings endgültig zum gesellschaftlichen Outcast machen. Aber zugleich ist er ihre einzige Hoffnung, je wieder geheilt zu werden. Oder kann man etwa doch mit einer halben Seele aus vollem Herzen lieben?
Der Auftakt der mitreißenden Regency-Romance-Reihe der Bestseller-Autorin Olivia Atwater
Die Bände der Regency-Faerie-Tales-Reihe:
Regency Faerie Tales – Die Lady und der Lord Magier (Band 1)
Regency Faerie Tales – Der Mantel des Elfen-Lords (Band 2)
Regency Faerie Tales – Das Duell mit dem dunklen Magier (Band 3)
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Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2024
OLIVIA ATWATER
REGENCY
FAERIE TALES
DIE LADY UND
DER LORD MAGIER
Aus dem kanadischen Englisch
von Doris Attwood
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© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die deutsche Erstausgabe erschien zunächst unter dem Titel:
»True Crown – Die Lady und der Lord Magier«
© 2020 Olivia Atwater
Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel:
»Half a Soul« bei Orbit, einem Imprint der Verlagsgruppe Little, Brown, London
Übersetzung: Doris Attwood
Umschlagkonzeption: Emily Bähr
skn • Herstellung: UK
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-33249-5V001
www.cbj-verlag.de
Theodora Eloisa Charity Ettings war ein sehr langer Name für ein sehr kleines Mädchen. Dies war, zumindest nach Ansicht ihrer Tante, wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum sie ein so schwieriges Kind war. Hatte man die Worte »Theodora Eloisa Charity Ettings, komm sofort wieder hierher!« endlich vollständig über die Lippen gebracht, war besagtes zehnjähriges Mädchen stets längst über alle Berge.
Theodora Eloisa Charity Ettings – die selbst den Namen Dora bevorzugte – vertrieb sich bevorzugt die Zeit damit, auf der Flucht vor ihren erwachsenen Fängern durch die wilden Wälder hinter Lockheed Manor zu streifen. Die Wälder steckten voller fantastischer Bäume, auf die Dora klettern, und munter dahinplätschernder, matschig-trüber Bäche, in denen sie sich den Rocksaum schmutzig machen konnte – und beides war so viel interessanter, als den ganzen Tag drinnen zu sitzen und sich mit ihrer Cousine Vanessa in der feinen Kunst des Stickens zu üben.
Während Dora mal wieder fröhlich glucksend durch die Bäume huschte, verhallten die Rufe ihrer Tante Frances schon bald hinter ihr. Strähnen von Doras lockigem rotblonden Haar lösten sich aus ihrem ordentlich frisierten Dutt und verfingen sich in den tief hängenden Zweigen. Sie stolperte über ihre makellos weißen Röcke, doch es gelang ihr gerade noch rechtzeitig, das Gleichgewicht wiederzufinden, bevor sie auf dem Boden landete. Die Spitze ihres Pantoffels blieb dabei jedoch im Rocksaum hängen und streifte vom Stoff bedeckt über die Erde – Schuh und Kleid waren im Nu verschmutzt. Später würde Doras Tante deswegen gewiss vor Wut toben und sie zweifellos besonders harsch bestrafen. Aber für den Moment war Dora frei und hatte die Absicht, diese Tatsache in vollem Umfang auszunutzen.
Auf der anderen Seite des Bachs stand ein Baum, der sich besonders gut zum Klettern eignete, ganz in der Nähe des Amselnests, das Dora beim letzten Mal entdeckt hatte. Damals hatte sie es nicht sehr weit auf den Baum hinaufgeschafft, bevor sie hatte aufgeben müssen, aber nachdem sie gut zwei Wochen lang ausführlich ihre Route überdacht hatte, war sie davon überzeugt, diesmal deutlich höher hinaufgelangen zu können.
Doch als sich Dora gerade am Bachufer niedergelassen hatte und aus ihren Schuhen schlüpfte, hörte sie eine vornehme Männerstimme hinter sich.
»Oh, kleines Mädchen«, seufzte die Stimme. »Wie sehr du deiner Mutter doch ähnlich siehst.«
Dora wandte neugierig den Kopf, während sie mit ihren nackten Zehen im kalten Wasser wackelte. Der Mann schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein – und dabei musste Zauberei im Spiel gewesen, denn sein langer weißer Mantel war trotz der matschigen Umgebung makellos und unbefleckt. Seine Augen strahlten im schönsten Zartblau, das Dora jemals gesehen hatte. Sie war ein recht fantasiebegabtes Mädchen, daher war sie nicht überrascht, als sie die leicht spitz zulaufenden Ohren des Mannes bemerkte. Was sie hingegen überraschte, war die Tatsache, dass er mindestens vier verschiedene Jacken in unterschiedlichen Farben und Schnitten trug, scheinbar willkürlich übereinandergezogen.
»Ich sehe meiner Mutter nicht im Geringsten ähnlich, Meister Elf«, widersprach Dora ihm völlig gelassen, so als würde sie jeden Tag mit hoch aufgeschossenen, gut aussehenden Elfen plaudern. »Tante Frances sagt, Mutters Haar war heller als meines, und dass sie braune Augen hatte statt grüner.«
Der Elfenmann schenkte Dora ein freundliches Lächeln. »Euch Menschen entgehen stets die wichtigsten Details«, erwiderte er. »Aber das ist natürlich nicht deine Schuld. Die Seele deiner Mutter und deine eigene sind aus dem gleichen hell glänzenden Faden gesponnen. Mir ist diese Ähnlichkeit sofort aufgefallen.«
Dora schürzte nachdenklich die Lippen. »Oh«, sagte sie dann. »Ich denke, das klingt einleuchtend. Dann wart Ihr also ein Freund meiner Mutter, Meister Elf?«
»O nein«, erwiderte der Elf. »Das war ich nicht. Es mag vielleicht eine Zeit gegeben haben, in der sie mich noch ihren Freund nannte. Später änderte sie ihre Meinung jedoch auf äußerst abrupte Weise.« Seine unnatürlich blauen Augen richteten sich auf Dora, und sie wurde von einem eigenartigen Schauder erfasst. »Dein Betragen ist im Übrigen ausnehmend unhöflich, erstgeborenes Kind von Georgina Ettings«, tadelte er sie. »Ich bin kein Meister Elf. Du solltest mich mit Eure Lordschaft oder Lord Hollowvale ansprechen, denn ich bin der Marquess jenes Reiches. Und du hättest durchaus ganz leicht erkennen können, wie bedeutend ich bin, schließlich trage ich all diese edlen Jacken.«
Dora betrachtete den Elf mit zusammengekniffenen Augen. Anfangs war sie begeistert darüber gewesen, einem leibhaftigen Angehörigen des Elfenvolks zu begegnen. Nun beschlich sie jedoch der Verdacht, ihr Tag würde glücklicher verlaufen, wenn sie einfach den Bach durchqueren und auf ihren Baum klettern könnte. »Woher sollte ich denn wissen, welchen Titel Ihr tragt?«, fragte Dora mit einem leisen Seufzer. »Außerdem habe ich noch nie etwas von Hollowvale gehört. Falls es diesen Ort tatsächlich gibt, liegt er so weit außerhalb des Reichs seiner Majestät, dass er hier ohnehin nicht die geringste Bedeutung hat.«
Die blassen Augen des Elfenmanns blitzten eisblau. Das Wasser um Doras Füße fühlte sich mit einem Mal noch kälter an, und sie bewegte hastig die Zehen.
»Weißt du, was mit unhöflichen Kindern passiert, die ganz allein durch den Wald spazieren, erstgeborenes Kind von Georgina Ettings?«, fragte Lord Hollowvale sie mit leiser, unheilverheißender Stimme.
Dora wich langsam vor ihm in den Bach zurück. »Ihr habt gesagt, Ihr wart kein Freund meiner Mutter«, entgegnete sie nun argwöhnisch. »Und es besteht kein Grund, warum ich zu fremden Männern, die sich an mich heranschleichen, höflich sein sollte, Lord Hollowvale.«
Die blasse Hand des Elfs schnellte wie eine Schlange hervor und packte Dora um den Hals. Sie stieß einen erstickten Schrei aus und krallte ihre Fingernägel in seine Hand. Der Elfenmann war jedoch viel stärker, als er aussah, und in seinem Griff lag eine kalte, unnachgiebige Wut.
»Georgina Ettings hat mir ihr erstgeborenes Kind versprochen«, verkündete Lord Hollowvale Dora mit eisiger Stimme. »Und ich werde mir nehmen, was mir zusteht. Ich gehe davon aus, dass du sehr viel höflicher sein wirst, wenn ich mir erst einmal deine Seele angeeignet habe, kleines Mädchen.«
Dora zerrte an seiner Hand, zappelte und wand sich vor Angst mit aller Kraft. Doch noch während der Elf sprach, begann eine eigentümliche Kälte durch ihren Körper zu strömen und ihre Furcht regelrecht zu betäuben. Dora gab ihre Gegenwehr fast völlig auf, während ihr Geist auf seltsame Weise abzuschweifen schien. Ein Elf hatte sie sich geschnappt, diese Tatsache ließ sich nicht leugnen. Doch mit einem Mal schien es Dora, als stelle der Elfenmann für sie gar keine so große Bedrohung mehr dar, und das Geschehen kam ihr beinahe wie ein Traum vor. Bestimmt würde sich diese ganze Angelegenheit schon sehr bald klären, und dann konnte sie endlich auf ihren Baum klettern.
Im nächsten Augenblick stieß Lord Hollowvale jedoch urplötzlich einen Schmerzensschrei aus und ließ Dora zu Boden plumpsen.
Hinter dem Elfenmann taumelte Doras goldblonde Cousine Vanessa mehrere Schritte rückwärts, eine blutige Schere in der Hand und einen zu Tode erschrockenen Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht. O weh, dachte Dora sofort. Vanessa ist immer so lieb und gehorsam. Wie konnte sie nur mit ihrer Handarbeitsschere auf einen Marquess einstechen?
»Dora!«, japste Vanessa verängstigt. Sie stolperte durch den Matsch auf ihre Cousine zu und half ihr auf. »Komm, Dora, lauf! Wir müssen fort von hier!«
Auch Lord Hollowvale rappelte sich taumelnd wieder auf und umklammerte die Rückseite seines Beins. Vanessa hatte ihm eine tiefe Wunde an der Wade zugefügt, und er konnte sich den beiden Mädchen nur humpelnd und mit Mühe nähern. Dunkelrotes Blut befleckte seinen edlen weißen Mantel, und sein Gesicht war vor Wut verzerrt. »Die Seele dieses Mädchens steht rechtmäßig mir zu!«, fauchte er. »Ihr werdet sie mir sofort überlassen!«
Vanessa drehte sich zu dem Elfenmann um und hob mit erschrockener Miene ihre blutige Schere. »Ich will Euch nicht wehtun«, sagte sie. »Aber Ihr werdet meine Cousine nicht anrühren, ganz gleich, welches Recht Ihr angeblich dazu habt.«
Lord Hollowvale wich vor der Schere zurück. Angst huschte für einen flüchtigen Moment über sein Gesicht, als er sie betrachtete, was durchaus eigenartig war: Die Schere war kaum größer als Vanessas winzige Faust und ihr Griff mit possierlichen kleinen Rosen verziert. Vanessa zog Dora vorsichtig um den Elfenmann herum und schob sie rückwärtsgehend in Richtung Haus, wobei sie die Schere die ganze Zeit zwischen sich und dem Marquess hochhielt.
»Wie du wünschst, Nichte von Georgina Ettings«, spuckte der Elf schließlich aus. »Ich habe die Hälfte meiner Bezahlung erhalten. Hoffentlich wirst du die andere Hälfte zu nutzen wissen!«
Und dann – obwohl die beiden Mädchen den Elfenmann direkt vor sich sahen und den Blick keine Sekunde von ihm abwandten – löste er sich einfach in Luft auf.
»Oh, Dora«, schluchzte Vanessa, kaum dass der Marquess verschwunden war. »Geht es dir gut? Hat dir dieser schreckliche Elf etwas zuleide getan? Ich hatte solche Angst. Ich habe dich gesucht, weil ich dich tadeln und wieder zum Unterricht zurückholen wollte … Aber dann stand er da und ich hatte die Schere in meiner Schürzentasche und –«
»Warum bist du denn so aufgewühlt?«, fragte Dora ihre Cousine verwundert und betrachtete sie stirnrunzelnd. »Es ist doch alles vorbei. Jetzt kannst du mit mir auf meinen Baum klettern, wenn du magst.«
Vanessa starrte sie vollkommen verständnislos an. »Bist du denn nicht aufgewühlt?«, fragte sie verängstigt. »Er war wirklich furchtbar, Dora. All das Blut …«
Dora lächelte ihre Cousine mitfühlend an, auch wenn sie das Gefühl beschlich, ihrem Lächeln würde etwas Entscheidendes fehlen – etwas, das vor einer Minute noch da gewesen war. »Ich denke, ich sollte aufgewühlt sein«, murmelte sie. »Jeder normale Mensch wäre es, nicht wahr? Nun, vielleicht kommt das noch, nachdem ich Zeit hatte, alles wirklich zu begreifen.«
Vanessa bestand darauf, sofort ins Haus zurückzukehren. Dora tat ihrer Cousine den Gefallen, auch wenn sie noch immer viel lieber auf den Baum jenseits des Bachs geklettert wäre.
Als Vanessa Tante Frances kurz darauf unter Tränen die ganze Geschichte erzählte, wurde Dora schließlich bewusst, dass sie selbst sich tatsächlich anders verhielt als normalerweise. All ihre Emotionen schienen seltsam gedämpft und weit entfernt, so als würde sie sich selbst in einem Traum beobachten.
Ein Ausdruck des Entsetzens breitete sich auf Tante Frances’ Gesicht aus, als Vanessa die Worte des Elfs wiedergab. »Still!«, fuhr sie Vanessa an. »Alle beide. Ihr dürft zu niemandem jemals ein einziges Wort darüber verlieren, habt ihr mich verstanden? Nicht einmal gegenüber deinem Vater, Vanessa!«
Vanessa sah Tante Frances mit tränennassen, weit aufgerissenen Augen an. »Aber warum denn nicht?«, fragte sie. »Dieser Elf hat Dora irgendetwas angetan, das weiß ich ganz genau!«
Tante Frances packte ihre Tochter am Arm und zog sie zu sich heran. Dann sank sie vor Vanessa auf ein Knie und flüsterte mit Angst in der Stimme: »Dora ist elfenverflucht. Schau dir doch nur ihre Augen an! Eines von ihnen hat seine Farbe verloren! Außerdem wäre es durchaus möglich, dass ihre ganze Familie verflucht ist, falls es wirklich der Wahrheit entspricht, was ihre törichte Mutter getan haben soll. Und falls jemals irgendjemand etwas davon erfährt, wird man uns gewiss von hier vertreiben!«
Doras Tante zwang die beiden Mädchen, ihr zu schwören, dass sie niemandem ein Sterbenswörtchen verraten würden, und Dora hatte nicht das Geringste dagegen einzuwenden. Tatsächlich war sie durch die ganze Situation nicht das kleinste bisschen verstört, abgesehen von einem winzigen Anflug von Besorgnis, den sie jedoch mit Leichtigkeit ignorieren konnte. Er ließ sich mit einer Fliege vergleichen, die ständig in einer Ecke des Zimmers umherschwirrte: Dora nahm sie wahr, wenn sie sich darauf konzentrierte, aber im Großen und Ganzen war sie nicht wirklich von Bedeutung.
Vanessa hingegen legte ihr Versprechen nur mit äußerstem Widerwillen ab. Als die Cousinen an diesem Abend zu Bett gingen, kroch sie zu Dora unter die Decke und drückte sie ganz fest an sich.
Die eiserne Schere lag unter ihrem Kopfkissen.
Sir Albus Balfour schwatzte, wie so oft, ohne Punkt und Komma über die Pferde seiner Familie.
Die Sache war: Dora mochte Pferde. Gegen eine gelegentliche Plauderei über den Stammbaum von Huftieren hatte sie nicht das Geringste einzuwenden. Doch Sir Albus verfügte über das einzigartige Talent, jeder Unterhaltung durch seine monotone Stimme und die Beharrlichkeit, mit der er die erste Silbe des Wortes reinrassig unnatürlich in die Länge zog, auch das letzte bisschen geistige Substanz auszusaugen. Sofern Dora richtig mitgezählt hatte – auch wenn sie zugegebenermaßen ein wenig abgelenkt gewesen war –, hatte Sir Albus das Wort reinrassig allein bei dieser Unterhaltung fast einhundert Mal benutzt, seit sie und Vanessa bei Lady Walcotes unsäglich langweiligem Gartenfest eingetroffen waren.
Arme Vanessa. Seit sie mit nun achtzehn Jahren endlich in die Gesellschaft eingeführt worden war, scharten sich Verehrer der übelsten Sorte um sie. Vanessas glänzendes goldenes Haar, ihre helle, sommersprossenfreie Haut und ihre uneingeschränkt freundliche Art hatten mittlerweile den letzten Aufschneider, Schwindler und zahnlosen alten Mann der ganzen Grafschaft angelockt. Gewiss wäre Doras bezaubernde Cousine für deutlich wünschenswertere Verehrer ebenso attraktiv gewesen, doch Dora hegte den starken Verdacht, dass derartige Männer nur in London zu finden waren, falls sie überhaupt existierten.
Mit neunzehn – genau genommen fast zwanzig! – galt Dora selbst schon beinahe als alte Jungfer. Sie war, angeblich aus praktischen Gründen, zusammen mit ihrer Cousine in die Gesellschaft eingeführt worden, war sich der Tatsache jedoch sehr bewusst, dass Vanessa ihr eigenes Debüt nur so lange hinausgezögert hatte, um Dora weiter Gesellschaft leisten zu können. Niemand in der Familie gab sich der Illusion hin, dass Dora auch nur einen einzigen potenziellen Verehrer würde gewinnen können. Nicht mit ihren seltsamen Augen und dem ihr eigenen bizarren Benehmen.
»Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, was passieren würde, wenn man ein Pferd mit einem Delfin kreuzen würde, Sir Albus?«, unterbrach Dora ihren Gesprächspartner abwesend.
»Ich – was?« Der ältere Mann blinzelte nervös, von der unerwarteten Frage völlig aus dem Konzept gebracht. Sein grau melierter Schnurrbart zuckte, und die Falten um seine Augenwinkel vertieften sich vor Verwirrung. »Nein, das könnte ich nicht behaupten, Miss Ettings. Beide lassen sich nicht miteinander vereinen.« Er schien nicht fassen zu können, dass er Dora diese Tatsache überhaupt erklären musste. Sir Albus wandte seine Aufmerksamkeit ohne weitere Umschweife wieder Vanessa zu. »Gut, wie ich bereits sagte, war die Stute reinrassig, wenngleich sie natürlich nicht den geringsten Nutzen für uns gehabt hätte ohne einen ebenso beeindruckenden Hengst –«
Vanessa zuckte bei der Wiederholung des Wortes reinrassig kaum merklich zusammen. Aha. Dann war ihr diese furchtbar irritierende Eigenart also auch aufgefallen.
Dora unterbrach Sir Albus erneut.
»Aber glaubt Ihr, eine solche Paarung würde einen Delfinkopf und einen Pferdekörper hervorbringen, oder meint Ihr, es wäre genau anders herum?«, fragte sie ihn mit amüsiertem Tonfall.
Sir Albus warf Dora einen giftigen Blick zu. »Also, ich muss schon sagen …«, begann er.
»Oh, was für ein unterhaltsamer Gedanke!«, ging Vanessa mit verzweifelter Fröhlichkeit dazwischen. »Du denkst dir immer die wundervollsten Ideen aus, Dora!« Vanessa hakte sich bei ihrer Cousine unter, drückte Doras Ellenbogen dabei jedoch ein wenig fester als nötig, bevor sie sich wieder zu Sir Albus umdrehte. »Wenn wir Euch um Eure Expertenmeinung bitten dürften, Sir Albus«, fragte sie, »was glaubt Ihr, was würde passieren?«
Sir Albus geriet sichtlich ins Schlingern und verlor völlig den Faden. Er hat für Unterhaltungen nur ein einziges Skript, dachte Dora träge, und besitzt nicht genug Fantasie, um davon abweichen zu können. »Ich … ich kann eine derart absurde Frage keinesfalls beantworten«, brachte er schließlich hervor. »Allein die Vorstellung! Unmöglich!«
»Oh, ich bin mir sicher, der Lord Magier wüsste eine Antwort darauf«, bemerkte Dora an Vanessa gewandt, obwohl ihre Gedanken bereits zu anderen Dingen schweiften. »Wie ich höre, ist der neue Magier des Königs äußerst talentiert. Er hat sogar Napoleons Lord Magier in Vitoria besiegt, wusstest du das? Wie man sich erzählt, vollbringt er schon vor dem Frühstück mindestens drei Dinge jenseits des Möglichen. Gewiss könnte er uns sagen, welches das Vorder- und welches das Hinterteil wäre.«
Vanessa starrte Dora aufgeregt an, so als hätte die Cousine ihr gerade ein großes Geheimnis verraten und nicht nur ein langweiliges Gerücht nachgeplappert. »Nun«, erwiderte Vanessa zögernd, »der Lord Magier hält sich jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach in London auf, weit fort von hier. Außerdem frage ich mich ernsthaft, ob er sich wirklich dazu herablassen würde, eine solche Frage zu beantworten, selbst wenn dies zu den unmöglichen Dingen gehören würde, zu denen er fähig ist.« Vanessa räusperte sich und ließ den Blick über die anderen Gäste des Gartenfests schweifen. »Aber vielleicht gibt es hier ja sonst noch jemanden, für den Zauberei nicht gar so unmöglich zu begreifen ist und der gerne bereit wäre, uns seine Expertenmeinung zu verraten.«
Sir Albus’ Schnurrbart begann heftig zu zucken und er konnte seinen Zorn darüber, dass sich die Unterhaltung von ihm und seinen wertvollen Pferden wegentwickelt hatte, nicht länger im Zaum halten. »Junge Dame!«, platzte er in Doras Richtung heraus. »Das reicht jetzt! Wenn Sie weiter über solche Hirngespinste diskutieren wollen, dann tun Sie es bitte nicht in unserer Nähe. Wir führen hier eine ernste, erwachsene Diskussion!«
Der Mann echauffierte sich mit einer solchen Vehemenz, dass ein Tropfen Spucke auf Doras Wange landete. Sie bedachte ihn mit einem langsamen Blinzeln. Sir Albus war leuchtend rot im Gesicht und zitterte vor Zorn, während er sich auf leicht drohende Weise zu ihr lehnte. Dora war vage bewusst, dass sie sich vor ihm fürchten sollte – jede andere Dame wäre bei einem derartig leidenschaftlichen Ausbruch vor Schreck erschauert. Doch welcher Impuls für gewöhnlich auch dazu führte, dass einer Dame angesichts solch einer furchterregenden Szene die Sinne schwanden, Dora spürte ihn schon seit vielen Jahren nicht mehr.
»Sir!«, brachte Vanessa mit vor Entsetzen bebender Stimme hervor. »Es steht Euch nicht zu, so mit meiner Cousine zu sprechen. Ein Verhalten wie dieses überschreitet jede Grenze des guten Benehmens!«
Dora blickte Vanessa an und sah, dass deren Unterlippe zitterte und sie die Hände fest zusammenpresste. Also versuchte sie, ihre Cousine zu imitieren. Ihre Tante hatte sie förmlich angefleht, sich während des Fests normal zu verhalten.
Dora ließ ihren Blick – nun mit bebender Unterlippe – wieder zu Sir Albus zurückwandern, und einen Moment lang huschte ein reuiger Ausdruck über sein Gesicht. »Es … es tut mir überaus leid. Bitte, verzeiht mir«, stammelte er steif. Dora entging jedoch nicht, dass er seine Entschuldigung an Vanessa richtete, nicht an sie.
»Was tut Euch leid?«, murmelte Dora abwesend. »Dass Ihr Euch Eure Chancen bei meiner Cousine verbaut haben könntet oder dass Ihr Euch wie ein Flegel verhalten habt?«
Sir Albus’ Augen weiteten sich schockiert.
Oh, dachte Dora mit einem Seufzen. Ich vermute, das gehört wohl nicht zu den Dingen, die normale verängstigte junge Damen sagen würden.
»Wir akzeptieren Eure Entschuldigung!«, platzte Vanessa hastig heraus, sprang auf und zerrte Dora am Arm energisch mit sich fort. »Aber ich … fürchte, ich brauche einen Moment, um mich wieder zu sammeln, Sir Albus. Wir werden diese Unterhaltung ein andermal zu Ende führen müssen.«
Vanessa eilte mit all der damenhaften Eleganz, zu der sie in der Lage war, in Richtung des Herrenhauses davon, während sie gleichzeitig ihre ältere Cousine hinter sich herzerrte.
»Ich habe schon wieder alles vermasselt, nicht wahr?«, fragte Dora sie leise. Eine vage Betrübnis bohrte sich in ihr Herz. Ärgernisse oder Anstößigkeiten schienen Dora nur selten in angemessenem Maß aus der Fassung zu bringen. Dennoch spürte sie tief in sich seit Langem schwelende und erschöpfende Sorgen. Vanessa sollte inzwischen längst verheiratet sein, dachte Dora. Sie wäre verheiratet, wenn es nur mich nicht gäbe. Es war ein vertrauter Gedanke, doch er machte sie ständig aufs Neue traurig.
»O nein, ganz im Gegenteil!«, versicherte Vanessa ihr, als sie ins Haus schlüpften. »Du hast mich mal wieder gerettet, Dora. Gut, du warst vielleicht ein wenig vorlaut. Aber ich weiß wirklich nicht, ob ich es ertragen hätte, auch nur noch ein einziges Mal dieses Wort aus seinem Mund zu hören.«
»Meinst du reinrassig?«, fragte Dora mit kaum merklich zuckenden Lippen.
Vanessa erschauderte. »Oh, bitte nicht«, erwiderte sie. »Ich werde nie wieder eine Unterhaltung über Pferde führen können, ohne dieses Wort so im Ohr zu haben.«
Dora schenkte ihr ein leises Lächeln. Auch wenn sie fortwährend das Gefühl hatte, ihre Seele wäre wie betäubt und weit entfernt, schien in Gesellschaft ihrer Cousine stets ein warmes, zuverlässiges Licht neben ihr zu erstrahlen. Vanessa war wie eine hell leuchtende Laterne in der Dunkelheit, wie ein tröstliches Feuer im Kamin. Dora empfand nie so etwas wie tiefe Freude, auch wenn ihr Gefühle wie Zufriedenheit oder eine Art angenehmer innerer Ruhe nicht fremd waren. Sie hätte jedoch schwören können, dass es gelegentlich auf sie abfärbte, wenn Vanessa glücklich war. So als würden die Gefühle ihrer Cousine in die Leere von Doras Innerstem sickern und auch in ihr eine kleine Laterne entzünden.
»Ich glaube, es hätte dir ohnehin keine Freude beschert, mit ihm verheiratet zu sein«, bemerkte Dora. »Aber ich wäre wirklich betrübt, sollte ich jemals einen Mann vertrieben haben, der dir gefallen hat.«
Vanessa seufzte schwer. »Ich habe ohnehin nicht vor, zu heiraten und dich ganz allein zurückzulassen, Dora«, erwiderte sie leise. »Ich mache mir ernsthaft Sorgen, dass Mutter dich hinauswerfen könnte, wenn ich nicht mehr hier bin, um es zu verhindern.« Ihre Mundwinkel wanderten nach unten und sie setzte eine finstere Miene auf, die trotzdem immer noch viel gefälliger aussah als jedes Lächeln, das sich je auf Doras Gesicht ausgebreitet hatte. »Aber wenn ich denn heiraten muss, dann hoffe ich, dass ich einen Mann finde, der nichts dagegen einzuwenden hat, dass du bei uns wohnst.«
»Das könnte womöglich etwas zu viel verlangt sein«, entgegnete Dora, auch wenn Vanessas Worte das warme, sanfte Glühen in ihr ein wenig heller leuchten ließen. »Gewiss sind nur die wenigsten Männer bereit, ihre frisch angetraute Ehefrau mit deren verrückter Cousine zu teilen, die noch dazu eine Handarbeitsschere um den Hals trägt.«
Vanessas Blick wanderte an Doras Kleid hinauf. Sie wussten beide, dass sich darunter ein kleines Lederetui befand, in dem sich eben diese Schere befand. Es war Vanessas Idee gewesen. Lord Hollowvale fürchtet sich vor ihr, hatte sie gesagt. Deshalb solltest du sie stets bei dir tragen, nur für den Fall, dass er noch einmal versucht, dich zu holen und ich nicht da bin, um ihn auch in sein anderes Bein zu stechen.
Vanessa schürzte die Lippen. »Gut«, sagte sie, »ich fürchte, dann muss ich mich wohl ab sofort in eine schwierige junge Dame verwandeln. Denn der einzige Grund, warum ich mich jemals von dir trennen würde, wäre, dass du dich selbst Hals über Kopf verlieben und mich verlassen würdest, um mit deinem eigenen wundervollen Ehemann glücklich zu werden.« Ihre Augen begannen bei der Vorstellung zu leuchten. »Wäre es nicht fantastisch, wenn wir uns beide zur selben Zeit verlieben würden? Dann könnte ich auf deiner Hochzeit feiern und du auf meiner!«
Dora lächelte ihre Cousine milde an. Niemand wird mich jemals heiraten, dachte sie. Doch sie sprach es nicht laut aus. Sie selbst empfand diesen Gedanken allenfalls als ein wenig störend – wie besagte Fliege an der Wand. Vanessa hingegen war jedes Mal zutiefst entsetzt, wenn Dora derartig vernünftige Dinge von sich gab. Und da Dora Vanessa nicht aufwühlen wollte, behielt sie dergleichen für sich. »Das wäre schön«, erwiderte sie stattdessen.
Vanessa kaute auf ihrer Unterlippe herum und Dora fragte sich, ob ihre Cousine nicht doch erraten hatte, was sie dachte.
»Wie dem auch sei«, sagte Vanessa schließlich, »hier auf dem Land wird keine von uns jemals einen angemessenen Ehemann finden, fürchte ich. Mutter liegt mir die ganze Zeit damit in den Ohren, die Ballsaison in London zu verbringen. Und das möchte ich auch wirklich gerne, Dora – aber nur, wenn du schwörst, dass du mit mir kommst.«
Dora betrachtete ihre Cousine bewundernd. Tante Frances wird das überhaupt nicht gefallen, dachte sie. Andererseits gelang es Vanessa mit ihrem hinreißenden Wesen, bezaubernden Charme und guten Betragen stets, ihren Willen selbst unter dem strengen Blick ihrer Mutter durchzusetzen.
Einerseits, dachte Dora, bin ich für die Heiratsaussichten meiner Cousine in London ein ebenso großes Hindernis wie hier auf dem Land. Andererseits streift gewiss auch der eine oder andere Sir Albus durch die Londoner Ballsäle und wartet nur darauf, sich auf meine ärmste, gutherzige Cousine zu stürzen. Und so großen Schrecken Vanessa auch unter dem Elfenvolk verbreiten mochte, wenn es um ganz gewöhnliche Menschen ging, war sie so sanftmütig wie ein Schmetterling.
»Ich schätze, dann muss ich wohl mit dir kommen«, willigte Dora daher ein. »Und sei es nur, damit du dich nie wieder über Pferde unterhalten musst.«
Vanessa strahlte sie an. »Du bist meine Heldin, Dora.«
»Du warst zuerst meine Heldin«, erwiderte sie und spürte, wie Vanessas Wärme ihr Innerstes erhellte. »Und diese Schuld muss ich schließlich begleichen.«
Vanessa hakte sich wieder bei ihr unter, und schon im nächsten Moment wanderten Doras Gedanken weit fort von London und noch weiter fort von reinrassigen Pferden und ungeheuerlichen Hofmagiern.
Tante Frances war kein bisschen erfreut über die Idee, Dora solle ihre Cousine nach London begleiten. »Sie wird Kleider brauchen!«, war ihr erster Einwand, als sie die Angelegenheit beim Nachmittagstee diskutierten. »Es wäre viel zu teuer, euch beide neu auszustaffieren! Ich bin mir sicher, dass Lord Lockheed einer derartigen Summe niemals zustimmen würde.«
»Sie kann meine alten Kleider tragen«, schlug Vanessa fröhlich vor, so als hätte sie schon längst über alles nachgedacht. »Dir hat das rosa Musselinkleid doch immer besonders gut gefallen, nicht wahr, Dora?« Dora nickte pflichtschuldig und nippte an ihrem Tee.
»Sie wird ohne Zweifel all deine Verehrer im Handumdrehen vertreiben!«, platzte Tante Frances als Nächstes heraus. »Mit ihrer seltsamen Art –«
»Mutter!«, rügte Vanessa sie. »Musst du so hässliche Dinge sagen? Noch dazu in Doras Beisein!«
Tante Frances setzte eine finstere Miene auf. »Es kümmert sie überhaupt nicht, Vanessa«, erwiderte sie scharf. »Sieh sie dir doch nur mal an. Dieses Mädchen dazu bringen zu wollen, irgendetwas zu fühlen, ist verlorene Liebesmüh. Ebenso gut könntest du als Gesellschaft eine Puppe mit dir herumschleppen.«
Dora nippte erneut an ihrem Tee, vollkommen unbeeindruckt. Die Worte trafen sie nicht so, wie sie es hätten tun sollen. Sie war weder aufgebracht, noch fühlte sie sich beleidigt oder war den Tränen nahe. Dennoch rührte die Bemerkung an einem kleinen Teil ganz tief in ihrem Inneren und gesellte sich zu einem seit vielen Jahren wachsenden Häufchen ähnlicher Bemerkungen. Beim Gedanken an diese Sammlung wurde Dora stets ein wenig schwer ums Herz, und sie konnte das Gefühl oft lange nicht abschütteln.
Vanessa reagierte aufrichtig bestürzt und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das kannst du nicht wirklich ernst meinen, Mutter«, stieß sie aus. »Oh, bitte, nimm es wieder zurück! Ich werde es dir niemals verzeihen können, wenn du es nicht tust!«
Tante Frances versteifte sich angesichts des offensichtlichen Entsetzens ihrer Tochter merklich. Ein Ausdruck erschöpfter Resignation huschte über ihr Gesicht. »Ja, ja, schon gut«, seufzte sie schließlich, wenngleich sie Dora dabei nicht anschaute. »Meine Worte waren vielleicht ein wenig übertrieben.« Sie holte ihr Spitzentaschentuch hervor und reichte es ihrer Tochter. »Möchtest du uns wirklich nach London begleiten, Dora?«, fragte sie dann. Ihrem Tonfall war eindeutig zu entnehmen, dass sie eine vage, unverbindliche Antwort erwartete.
»Möchte ich«, antwortete Dora jedoch bestimmt. Tante Frances setzte ein tiefes Stirnrunzeln auf und betrachtete ihre Nichte mit bohrendem Blick.
Weil Vanessa sich wünscht, dass ich mit ihr komme, dachte Dora, und ich sie nicht allein lassen will. Da sie jedoch glaubte, diese Erklärung würde die ganze Sache nur unnötig verkomplizieren, behielt sie das für sich.
Tante Frances versprach den beiden, über die Sache nachzudenken. Dora hegte jedoch den Verdacht, sie wolle die Unterhaltung nur auf später vertagen, in der Hoffnung, Vanessa würde es sich doch noch anders überlegen.
Aber letzten Endes setzte Vanessa Ettings stets ihren Willen durch.
Und so wurde beschlossen, dass sie schon bald alle drei nach London abreisen würden. Lord Lockheed, stets durch Abwesenheit glänzend und mehr von seinen geschäftlichen Angelegenheiten eingenommen als von seiner Tochter, ließ sich nicht dazu herab, sie zu begleiten. Immerhin gelang es Tante Frances jedoch, den Ehemann ihrer Schwester davon zu überzeugen, seine Beziehungen spielen zu lassen: Demzufolge war die Countess von Hayworth, die über ein Domizil in London verfügte, hocherfreut, die drei während ihres Aufenthalts in der Stadt als ihre Gäste begrüßen zu dürfen. Da Vanessa ihre Entscheidung jedoch erst so spät getroffen hatte, waren sie gezwungen, mit ihrer Abreise zu warten, bis die vor Schlamm unpassierbaren Straßen wieder befahrbar waren. Als sie endlich von Lockheed nach London aufbrechen konnten, war es daher bereits Ende März und die Ballsaison würde in spätestens zwei Monaten vorüber sein.
Dora hatte sich London vollkommen anders vorgestellt. Selbst in ihrem üblichen abwesenden Zustand fiel ihr sofort der beißende Geruch auf, als sie die Stadtgrenze passierten: eine widerwärtige Kombination aus Schweiß, Urin und anderen unangenehmen Aromen, die sich auf viel zu engem Raum miteinander vermischten. Tante Frances und Vanessa reagierten deutlich sichtbarer auf den Gestank: Tante Frances zog ihr Taschentuch hervor und presste es sich auf den Mund, während sich tiefe Falten in Vanessas Stirn gruben und sie den Hals reckte, um aus der Kutsche zu blicken. Dora tat es ihr nach, lehnte sich vor und schaute über die Schulter ihrer Cousine zum Fenster hinaus.
So viele Menschen. Es war eine Sache, aus Erzählungen zu wissen, wie dicht London bevölkert war, aber eine vollkommen andere, es mit eigenen Augen zu sehen. Auf den Straßen eilten unzählige Leute hin und her, kamen sich ständig gegenseitig in die Quere und schienen aus irgendeinem Grund verärgert über alle anderen zu sein. Ihr Fahrer schrie ständig irgendwelche Passanten an, die vor ihre Kutsche liefen, schwang die Faust in der Luft und drohte ihnen, sie beim nächsten Mal zu überfahren.
Wenn Dora hätte Schrecken empfinden können, wäre der permanente Lärm erschreckend gewesen. Dennoch fuhr ihr die Geräuschkulisse deutlich heftiger in die Knochen als jemals irgendetwas zuvor – die bisher größte Fliege an der Wand. Dora betrachtete das geschäftige Durcheinander mit wachsendem Misstrauen.
Glücklicherweise verflüchtigten sich sowohl der Trubel als auch die schrecklichen Gerüche allmählich, als ihre Kutsche tiefer in die Stadt vordrang und durch breitere, ruhigere Alleen rollte. Die an ihnen vorbeiziehenden Gebäude wirkten immer eleganter und imposanter, und die erdrückende Menschenmenge löste sich nahezu auf. Schließlich hielt ihr Fahrer vor einem hohen Stadthaus an und kletterte vom Kutschbock, um ihnen beim Aussteigen behilflich zu sein.
Die Tür des Hauses öffnete sich im selben Moment, als Dora hinter ihrer Cousine und ihrer Tante aus der Kutsche stieg. Ein Dienstmädchen und ein Diener kamen heraus, gefolgt von einer dünnen Frau mit stahlgrauem Haar in einem eleganten beige- und roséfarbenen Kleid. Die beiden Bediensteten huschten an ihnen vorbei und halfen dem Kutscher, das Gepäck auszuladen, während die ältere Dame sie mit einem Lächeln begrüßte und Tante Frances bei den Händen nahm.
»Meine liebste Lady Lockheed!«, sagte sie. »Welch ein Vergnügen es ist, Euch und Eure Tochter als meine Gäste empfangen zu dürfen. Wie Ihr wisst, ist es eine Ewigkeit her, seit meine Jüngste geheiratet hat, daher habe ich kaum noch Grund oder Gelegenheit, meinen sozialen Kalender zu füllen. Ich kann es kaum erwarten, Euch ganz London zu zeigen!«
Tante Frances erwiderte das Lächeln der Dame mit unerwarteter Wärme, auch wenn sich ein Anflug von Nervosität in ihre Miene schlich. »Das Vergnügen ist selbstverständlich ganz das unsere, Lady Hayworth«, versicherte sie ihr. »Es ist überaus großzügig von Euch, uns Eure Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken.« Tante Frances drehte sich zu Vanessa um, die bereits einen höflichen, anmutigen Knicks vollführte, obwohl sie nach der langen Fahrt alle drei furchtbar steif und erschöpft waren. »Das ist meine Tochter, Vanessa.«
»Es ist mir eine große Freude, Euch kennenzulernen, Lady Hayworth«, sagte Vanessa in absolut aufrichtigem Tonfall. Es gehört zu ihrem ganz besonderen Charme, dachte Dora, dass sie stets irgendetwas findet, das ihr wahrhaft Freude bereitet.
»Oh, wie entzückend Sie sind, mein Kind!«, rief die Countess aus. »Sie erinnern mich schon jetzt an meine Jüngste. Sie können versichert sein, dass wir schon sehr bald reihenweise Verehrer werden abweisen müssen, weil wir dem Ansturm gar nicht mehr Herr werden!« Lady Hayworth’ Blick huschte flüchtig zu Dora und sofort an ihr vorbei. Dora trug ein dunkles, schlichtes Kleid, in dem sie aussehen musste wie die Zofe und nicht wie ein Mitglied der Familie. Lady Hayworth drehte sich wieder zu ihrem Heim um und bedeutete den anderen mit einem Wink, ihr zu folgen. »Ihr müsst von der langen Reise ja völlig erschöpft sein«, sagte sie. »Bitte, kommt herein, dann lasse ich das Essen –«
»Das ist meine Cousine Theodora!«, platzte Vanessa heraus. Sie packte Dora am Arm, als wolle sie sicherstellen, dass auch ja niemand missverstehen konnte, wen sie meinte. Die Countess wandte sich den beiden mit einem leichten Stirnrunzeln zu. Ihr Blick richtete sich erneut auf Dora und blieb an ihren Augen hängen. Lady Hayworth’ warmherzige Miene kühlte merklich ab, als sie Doras verschiedenfarbige Iriden bemerkte.
»Ich verstehe«, sagte die Countess. »Ich bitte um Verzeihung. Lady Lockheed hat tatsächlich erwähnt, dass Ihr möglicherweise in Begleitung Eurer Cousine erscheinen werdet. Ich fürchte, es ist mir komplett entfallen.«
Dora vermutete, Tante Frances könnte diese Möglichkeit absichtlich heruntergespielt und gehofft haben, Vanessa würde es sich vor ihrer Abreise doch noch anders überlegen. Lady Hayworth schien sich jedoch schnell mit der neuen Situation zu arrangieren, auch wenn sie auf eine förmliche Begrüßung verzichtete.
Die Countess ging ihnen voraus in einen gemütlich wirkenden Salon, in dem ihnen ein Dienstmädchen Gebäck und heißen Tee servierte, während sie darauf warteten, dass das Küchenpersonal ihr Abendessen zubereitete. Lady Hayworth und Tante Frances unterhielten sich sehr angeregt miteinander, tratschten über bevorstehende Feierlichkeiten und klatschten über geeignete Junggesellen, die sich dort die Ehre geben würden. Dora ließ sich von einem winzigen Marienkäfer ablenken, der auf Kniehöhe über ihr Kleid krabbelte. Sie dachte gerade darüber nach, wie sie ihn heimlich nach draußen schaffen konnte, bevor ihn eins der Dienstmädchen bemerkte, als Vanessa das Wort ergriff und sie aus ihren Gedanken riss.
»Und auf welchen Festen wird der Lord Magier sich die Ehre geben?«, fragte sie die Countess.
Lady Hayworth blinzelte irritiert, von der Frage völlig aus dem Konzept gebracht. »Der Lord Magier?«, fragte sie zurück, so als wäre sie sich nicht sicher, ob sie Vanessa richtig verstanden hatte. Als Vanessa energisch nickte, setzte die Countess ein Stirnrunzeln auf. »Ich muss gestehen, dass sich dies meiner Kenntnis entzieht«, erwiderte sie. »Aber welche romantischen Vorstellungen Sie in Bezug auf seine Person auch immer hegen mögen, liebes Kind, ich fürchte, er ist nicht die passende Wahl für Sie.«
»Warum denn nicht?«, fragte Vanessa mit Unschuldsmiene über ihre Teetasse hinweg. »Wie ich höre, ist er für einen Hofmagier noch recht jung, und außerdem soll er sehr gut aussehend sein. Und ist er nicht obendrein ein Kriegsheld?« Dora vernahm einen subtilen, trügerischen Unterton in der Stimme ihrer Cousine, über den sie die Stirn runzelte, während sie versuchte, dahinterzukommen, was Vanessa im Schilde führte.
»Das mag wohl sein«, räumte Lady Hayworth ein. »Aber Lord Elias Wilder ist wohl kaum ein richtiger Lord. Der Prinzregent hat darauf bestanden, ihm diesen französischen Ehrentitel zu verleihen, einschließlich all der albernen Privilegien, die die Franzosen ihren Hofmagiern stets zugestehen. Theoretisch ist der Lord Magier sogar dazu berechtigt, an den Sitzungen des Oberhauses teilzunehmen. Allerdings ist er von gewöhnlichem Blut und seine Manieren sind außergewöhnlich ungehobelt. Ich hatte schon bei diversen Gelegenheiten das Missvergnügen, ihm zu begegnen. Er hat das Gesicht eines Engels – und die Manieren eines … Hafenarbeiters.«
Dora empfand es als äußerst amüsant, dass die Countess Hafenarbeiter allem Anschein nach als das Gegenteil von Engeln betrachtete. Einen Moment lang ließ sie sich von der Vorstellung ablenken, in der Hölle würde es nicht von Teufeln, sondern von Dockarbeitern nur so wimmeln.
»Er klingt in der Tat vollkommen ungeeignet«, stimmte Vanessa ihr widerwillig zu und zog Doras Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Dennoch … wenn es Euch nicht zu sehr missfällt, würde ich den Lord Magier gerne einmal kennenlernen. Ich habe so viele Geschichten über ihn gehört und wäre am Boden zerstört, wenn ich London wieder verlassen müsste, ohne ihm begegnet zu sein.«
Die Countess erwiderte mit leicht tadelndem Unterton: »Nun, wir werden sehen. Aber zuallererst möchte ich Sie auf Lady Carroways Ball mitnehmen. Sie hat etliche mehr als geeignete Söhne und Sie könnten es schlechter treffen, als auf einer ihrer Veranstaltungen in die Londoner Gesellschaft eingeführt zu werden …«
Danach schweiften sie wieder zu anderen Themen ab, bis schließlich das Abendessen serviert wurde. Auch Lord Hayworth lernten sie an diesem Abend noch kennen, wenn auch nur flüchtig, da er sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt zu sein und keinerlei Interesse an den gesellschaftlichen Unternehmungen seiner Frau zu haben schien. Ein- oder zweimal versuchte Dora, Vanessa zu fragen, warum sie sich wirklich nach dem Lord Magier erkundigt hatte, doch ihre Cousine schien ihr jedes Mal auszuweichen, indem sie sofort das Thema wechselte. Am Ende beschloss Dora, dass es am besten war, die Sache auf sich beruhen zu lassen, solange sie in Gesellschaft waren.
Sie nahm sich vor, Vanessa erneut darauf anzusprechen, wenn sie später zu Bett gingen. Doch direkt nach dem Abendessen wurde Dora von einem der Dienstmädchen entführt, um ein heißes Bad zu nehmen, und anschließend unter eine herrliche Daunendecke gesteckt, einige Zimmer von dem ihrer Cousine entfernt.
Morgen, dachte Dora bereits halb wegdämmernd, während sie an die fremde Zimmerdecke starrte. Ich bin mir sicher, dass wir uns morgen darüber unterhalten können.
Leise zog sie die Schere aus dem Etui um ihren Hals und legte sie unter das Kopfkissen. Als sie in Schlaf sank, träumte sie von Engeln im Londoner Hafen, die an den Docks auf und ab schlenderten und Kisten mit Tee auf Schiffe schleppten.
Mehrere Tage lang fand Dora keine Gelegenheit, mit ihrer Cousine zu sprechen.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, musste sie sich selbst auf die Suche nach einem Dienstmädchen begeben, das ihr mitteilte, Lady Hayworth und Tante Frances wären mit Vanessa außer Haus, um in verschiedenen Boutiquen nach Accessoires für ihre Cousine zu stöbern. Gegen Mittag erhielt Dora eine Nachricht, dass sich die drei auf unbestimmte Zeit verspäten würden, da sie von einer Freundin von Lady Hayworth zum Abendessen eingeladen worden waren. Nachdem sie den ganzen Tag lang unsicher durch das Stadthaus geschlichen war, beschloss Dora schließlich, früh zu Bett zu gehen, in der Hoffnung, der folgende Tag würde glücklichere Umstände bieten.
Doch am nächsten Morgen teilte man ihr nach dem Aufwachen mit, Vanessa ließe eines ihrer Kleider auf Lady Hayworth’ Empfehlung hin in letzter Minute ändern. Und da sich bereits an ihrem zweiten Tag in London ein Muster abzuzeichnen schien, beschloss Dora, keine Zeit mehr darauf zu verschwenden, Tee trinkend am Fenster zu sitzen. Stattdessen erkundigte sie sich, wo sie etwas zu lesen finden konnte. Man verwies sie auf eine kleine Bibliothek mit einem schmalen Bücherregal, ausschließlich mit Büchern gefüllt, deren Lektüre sich für junge Damen eignete. In einer Ecke entdeckte Dora dort jedoch auch einen etwas abgenutzten Roman – womöglich ein heimliches Vergnügen einer der bereits dem Nest entflogenen Töchter von Lady Hayworth – und verbrachte ein paar Stunden mit Lesen. Der Inhalt des Buches wäre in der Tat schockierend gewesen, wenn Dora irgendetwas als schockierend hätte empfinden können. Dennoch war die Geschichte durchaus unterhaltsam.
Am dritten Tag beschloss Dora, es sei an der Zeit, nach draußen zu gehen – und tat genau das. Sie schlüpfte in ihr vernünftigstes Kleid und marschierte geradewegs zur Haustür und auf die Straße hinaus. Falls die Bediensteten es für eigenartig hielten, dass Dora das Haus allein verließ, kamen sie offensichtlich zu dem Schluss, es müssten besondere Umstände vorliegen, über die sie nicht informiert waren und die dieses Verhalten erklärten, da keiner von ihnen versuchte, sie aufzuhalten. Darüber hinaus war Dora, keine Furcht kennend, recht gut darin, ein gewisses Maß an Entschlossenheit und Selbstbewusstsein auszustrahlen.
Mehrere Bedienstete aus anderen Haushalten eilten auf der Straße an ihr vorbei. Dora steuerte auf ein etwas abwesend wirkendes Dienstmädchen zu, das einen Stapel frisch gemangelter Bettwäsche auf dem Arm trug. Sie beschleunigte ihren Schritt und zupfte die junge Frau am Ärmel.
»Entschuldigung«, sagte Dora, »hier in London gibt es doch Eiscremedesserts, nicht wahr?«
Das Dienstmädchen drehte sich mit einem Blinzeln zu ihr um. »Ähm, ja«, stammelte sie und musterte stirnrunzelnd Doras Aufzug, um herauszufinden, ob sie sie mit Respekt zu behandeln hatte. Letztlich entschied sie, im Zweifelsfall besser Vorsicht walten zu lassen, und fügte hinzu: »Die Damen essen gerne Fruchteis bei Gunter’s, am Berkeley Square.«
Dora schenkte ihr ein Lächeln. »Vielen herzlichen Dank«, sagte sie. »Wären Sie wohl so freundlich, mir zu verraten, in welcher Richtung sich der Berkeley Square befindet?«
Zahlreiche Straßen und fast ebenso viele seltsame Unterhaltungen später fand Dora sich in einem betriebsameren Viertel von London wieder, mit Geschäften auf beiden Straßenseiten. Sie bummelte durch ein paar der Läden und erfreute sich an der unglaublichen Fülle so zahlreicher Waren an einem einzigen Ort. Mehr als einmal vergaß sie ihr ursprüngliches Ziel völlig und musste erneut nach dem Weg fragen. Als sie den Berkeley Square schließlich erreichte, grollte ein gefährliches Donnern am Himmel, und kalte Regentropfen prasselten auf ihre Haut.
Dora blieb stehen, blickte in die Wolken und hielt sich gegen den Regen schützend eine Hand vor die Augen. Die Wolken waren dunkel und unheilverheißend, und sie ertappte sich selbst dabei, wie sie mit staunender Faszination hinaufstarrte.
Ganz in der Nähe stieß eine junge Dame unter ihrer Haube ein Quietschen aus, hastete durch den Regen und suchte Schutz unter einer Markise. Dora schaute ihr nach und erinnerte sich dabei plötzlich wieder daran, dass sie sich vorgenommen hatte, während ihres Aufenthalts in London so normal wie möglich zu erscheinen, um Vanessa dabei zu helfen, einen geeigneten Verehrer zu finden.
Langsam schob Dora sich rückwärts unter die nächstbeste Markise und durch die Tür in den dazugehörigen Laden.
Eine Glocke läutete leise, als sich die Tür öffnete, um ihr Eintreffen zu verkünden. Dora blickte sich neugierig in ihrer neuen Umgebung um. Der Laden war klein, aber elegant: Zahlreiche Bücherregale säumten die Wände, bis zum Bersten gefüllt mit teuer aussehenden, in Leder gebundenen Bänden. Sämtliche Bücher schienen handgeschrieben zu sein, nicht billig gedruckt. In einer Verkaufsvitrine aus Holz und Glas waren eine Handvoll Schriftrollen ausgestellt. Ein antiker Silberspiegel hing hinter der Ladentheke – und in dem Spiegel sah Dora einen wunderschönen, von Hunderten von Kerzen erleuchteten Ballsaal. Von Ferne drang Geigenmusik an ihre Ohren, und sie lehnte sich über die Theke, um die Szene genauer zu betrachten.
In dem Spiegel befand sich ebenfalls eine Dora – aber diese Dora trug jenes rosa Musselinkleid, das Vanessa ihr geschenkt hatte, während ihr Haar zu einem rotblonden Knoten zusammengefasst war. Um ihren Hals schmiegte sich eine feine Perlenkette, die Dora nicht bekannt vorkam. Ein eigenartiger tiefroter Fleck hatte sich vorne auf ihrem Kleid ausgebreitet, direkt unterhalb der Perlen. Als die Dora im Ballsaal eine Hand auf ihre Brust legte, tropfte dunkles Rot von ihren Fingerspitzen.
Während Dora die Szene im Spiegel betrachtete, stellte sich ein groß gewachsener Herr hinter die Dora darin. Sein zerzaustes weißblondes Haar und seine blasse Haut leuchteten im unheimlichen Kerzenlicht. Seine Augen hatten die Farbe geschmolzenen rötlichen Goldes und darin tanzte der Widerschein der Flammen. Er war in elegante Abendgarderobe gewandet und trug ein edles weißes Jackett und eine silberne Weste. Ein Tuch schlang sich locker um seinen Hals, und dem Lächeln auf seinem attraktiven Gesicht wohnte eine gewisse teuflische Schärfe inne.
»Tropfen Sie nicht auf die Bücher, meine Liebe«, raunte er Dora ins Ohr. Seine Stimme klang leise und tief. Die Worte färbte ein leichter nordenglischer Akzent, durch den er die Endungen ein wenig verschluckte. Dora war so gebannt von seinem Anblick und seiner Stimme, dass es einen Moment dauerte, bis die Bedeutung seiner Worte wirklich zu ihr durchgedrungen war.
Ihre Version im Spiegel war offensichtlich nicht die Einzige, die alles volltropfte. Dora ließ den Blick an sich hinunterwandern und sah, dass sie, klatschnass vom Regen, vor sehr echtem Wasser nur so triefte.
»O weh«, stieß sie aus und drehte sich zu dem Mann um. »Ich habe doch nicht auf irgendwelche Bücher getropft, oder?«
Der Herr hinter ihr trug keine Abendgarderobe, sondern ein lässig geknöpftes braunes Jackett und ein weißes Halstuch mit einfachem Knoten. Ansonsten sah er dem Herrn im Spiegel jedoch verblüffend ähnlich. Seine Augen waren aus der Nähe noch eigenartiger und faszinierender, und Dora konnte nicht anders, als direkt hineinzublicken und über das schwache Licht zu staunen, das darin zu flackern schien.
Der Herr blinzelte sehr langsam und träge, während sie ihn nur weiter anstarrte. »Ich glaube, das haben Sie nicht, nein«, antwortete er. Wenn Dora nicht alles täuschte, dann wirkte er einen Moment lang verärgert darüber, dass sie nicht vor Schreck zusammengezuckt war und laut aufgeschrien hatte, weil er sich so an sie herangeschlichen hatte.
Sie richtete den Blick wieder auf den Spiegel, aber das Bild des Ballsaals war verschwunden. Die Oberfläche war nun dumpf und schwarz, und es spiegelte sich überhaupt nichts mehr darin.
»Haben Sie dort drin etwas Interessantes gesehen?«, fragte der Mann sie.
»Ich glaube, das habe ich tatsächlich, wenn ich jetzt so darüber nachdenke«, überlegte Dora laut. Der Anblick des Ballsaals war ihr im ersten Augenblick nicht sonderlich ungewöhnlich erschienen, aber nun, da der Herr sie direkt danach gefragt hatte, wurde ihr bewusst, dass man derartige Dinge normalerweise nicht in Spiegeln sah.
Dann entdeckte Dora hinter einem der frei stehenden Bücherregale plötzlich einen weiteren Kunden, der sie aufmerksam beobachtete. Er hatte braunes Haar und war ein wenig kleiner als der Gentleman vor ihr, wäre auf konventionellere Weise jedoch äußerst attraktiv gewesen, hätte nicht eine Ansammlung von Narben seine rechte Wange bedeckt. Dennoch war er mit seinem soliden Mantel und dem gut geschnittenen Leinenanzug sehr adrett gekleidet, und das warme Lächeln auf seinem Gesicht schien die Narben nahezu verschwinden zu lassen.
»Na, wo ist diese junge Dame denn auf einmal hergekommen?«, fragte der braunhaarige Mann lachend. »Du hast sie doch nicht etwa heraufbeschworen, oder, Elias?«
Der Blonde, Elias, warf dem anderen einen vernichtenden Blick zu, mit dem nur gute Freunde davonkamen, ohne ein Duell zu riskieren. »Wenn ich mich mit Beschwörungen aufhalten wollte, Albert«, erwiderte er, »dann würde mir gewiss etwas Besseres einfallen als eine halb durchnässte Maid.«
Der Brünette, Albert, schenkte ihm ein reumütiges Lächeln. »Als echter Gentleman, Elias«, sagte er, »hättest du ihr deinen Mantel anbieten sollen. Die junge Dame muss ja völlig durchgefroren sein.«
Elias wandte den Blick von Dora ab und seinem Freund zu. Er schien seine Frage wegen des Spiegels mit einem Mal völlig vergessen zu haben. »Du bist womöglich der einzige Mann, der mir vorwerfen darf, ein Gentleman zu sein, ohne dafür in einen Frosch verwandelt zu werden«, erklärte er Albert. »Nimm diese Beleidigung sofort wieder zurück, bevor ich mir am Ende noch ein anderes Tier für dich einfallen lasse.«
Albert ignorierte Elias, schüttelte seinen Mantel von den Schultern und bot ihn Dora an. »An meines Freundes statt«, wandte er sich höflich an sie. »Er scheint heute ein klein wenig mürrisch zu sein.«
Dora nahm Albert den Mantel ab, hauptsächlich aus reflexartiger Höflichkeit. Während sie es tat, fiel ihr Blick auf seine rechte Hand. Was sie zunächst für eine Art Handschuh gehalten hatte, war in Wahrheit nichts dergleichen. Vielmehr bestand seine Hand vollständig aus Silber, bewegte sich jedoch ebenso geschmeidig wie gewöhnliche menschliche Gliedmaßen. Ein flüchtiger Blick genügte ihr, um sich zu vergewissern, dass Alberts linke Hand vergleichsweise normal aussah. Dora betrachtete mit offener Neugier wieder seine silberne Rechte und vergaß dabei völlig, dass sie noch immer den Mantel festhielt.
Auch Albert schaute nun auf seine Hand hinunter und schenkte Dora ein angedeutetes Lächeln. »Das Werk des Lord Magiers«, erklärte er ihr. »Unglücklicherweise fiel meine echte Hand einem Schrapnell zum Opfer. Aber diese hier ist doch wirklich etwas Besonderes, nicht wahr?«
Der Lord Magier, dachte Dora. Elias Wilder.