Reichenau - Insel der Geheimnisse -  - E-Book

Reichenau - Insel der Geheimnisse E-Book

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Beschreibung

Das Leben im Kloster Reichenau: lebendig erzählte Geschichte und Lesevergnügen Ein geheimnisvoller Wandermönch gründet zu Beginn des 8. Jahrhunderts ein neues Kloster auf der Insel Reichenau. Nur wenige Generationen später gehört die Reichenau zu den bedeutendsten Klöstern des karolingischen Reiches. Im Mittelalter erlebt die Benediktinerabtei eine Blütezeit. In den Schreibstuben entstanden literarische Meisterwerke. Abt Walahfrid Strabo schuf dort mit "Hortulus" die erste Kunde vom Gartenbau in Deutschland überhaupt. Tanja Kinkels Anthologie ist prallvoll mit Geschichten seit der Gründung des Klosters, eine Zeitspanne, in der Reichenau Schauplatz und Spiegel von Weltereignissen war. 1300 Jahre Klostergeschichte werden zum Leben erweckt! - Fesselnde Kurzgeschichten über die Klosterinsel Reichenau - Herausgeberin Tanja Kinkel versammelt Bestsellerautorinnen historischer Romane wie Iny Lorentz, Sabine Ebert und Carmen Mayer - Das UNESCO-Weltkulturerbe feiert 2024 Jubiläum: Im Jahr 724 wurde das Kloster Reichenau gegründet Von Kaiserinnen und Königen, Weinbauern und Fischern Herausgeberin und Bestseller-Autorin Tanja Kinkel hat Kurzgeschichten von Autor*innen ausgewählt, die begeisternd vom Leben in der Vergangenheit zu erzählen wissen. Mit dabei sind Caren Benedikt, Sabine Ebert, Heidrun Hurst, Iny Lorentz, Carmen Mayer, Heidi Rehn und Juliane Stadler. Sie berichten von Kaisern und Königen, von ermordeten Äbten und gestohlenen Schreinen, aber auch von Nonnen, Bauern und ihrem Leben im Mittelalter. In diesem Erzählband lernen Sie Menschen kennen, die mit ihrem Lieben und Lachen, Kämpfen und Trauern die legendäre Insel und ihr Kloster durch die Zeiten hindurch lebendig werden lassen.

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Für Ulf Schiewe

Inhalt

Chronologie

Vorwort

Das Gottesurteil

Confiteor

Morcheln im Winter und der sehr große Fisch

Ein freier Geist

Falsch Zeugnis

Adelindis und die toten Äbte von Reichenau

Der gestohlene Schrein

Der Konstanzer Fischerkrieg

Die Weinprobe

Exorzismus

Über die Autorinnen

Anmerkungen

„Mögest fröhlich du gedeihen, Stets dem Willen Gottes folgend, Daß die Reichenau man selig Preisen mög’ und ihre Söhne.“1

Walahfrid Strabo

Abt des Klosters Reichenau (842-849 n. Chr.)

Chronologie

724 Der Wandermönch Pirminius gründet ein Kloster auf der Insel Reichenau

849 Walahfrid Strabo, Dichter, Botaniker, Diplomat und Abt der Reichenau, ertrinkt in der Loire

Das Gottesurteil – Richardis und Karl III.

862 Richardis heiratet Kaiser Karl III.

888 Karl III. stirbt und wird auf der Reichenau beerdigt; der Zerfall des Karolingerreichs beginnt

Confiteor

909 Hatto III., mächtigster Abt der Reichenau und Regent des fränkischen Reiches, besucht zum letzten Mal die Reichenau

Morcheln im Winter und der sehr große Fisch

965-968 Die Reichenauer Malerschule unter Anno auf ihrem Höhepunkt; der Gero-Codex entsteht

Ein freier Geist

1054 Hermann Contractus, der Stephen Hawking des Mittelalters, stirbt; die Blütezeit der Reichenau geht allmählich zu Ende

Falsch Zeugnis

1088-1123 Amtszeit des Abts Udalrich von Dapfen und seiner Fälscherwerkstatt

Adelindis und die toten Äbte der Reichenau

1135/36 Die Äbte Ludwig von Pfullendorf und Udalrich von Zollern werden innerhalb eines Jahres ermordet

Der gestohlene Schrein

1228 Kardinallegat Otto besucht in päpstlichem Auftrag die Reichenau, um die kirchliche Disziplin wiederherzustellen

Der Konstanzer Fischerkrieg

1366 Mangold von Brandis, Cellerar des Klosters, lässt den Fischer Mattheus blenden

Die Weinprobe

1426-1428 Durch den Streit zwischen den Äbten Friedrich von Zollern und Heinrich von Hornberg schrumpft die Reichenau auf nur zwei Mönche, bis Papst Martin V. den Reformabt Friedrich von Wartenberg einsetzt

Exorzismus

1540 Markus von Knörigen verkauft das Kloster an den Bischof von Konstanz; damit ist die Reichenau keine unabhängige Reichsabtei mehr

„Reichenau, grünendes Eiland, wie bist du von andern gesegnet, Reich an Schätzen des Wissens und heiligem Sinn der Bewohner, Reich an des Obstbaums Frucht und schwellender Traube des Weinbergs: Immerdar blüht es auf dir und spiegelt im See sich die Lilie. Weithin schallet dein Ruhm bis ins neblige Land der Britannen.“2

Ermenrich von Ellwangen

XI. Bischof von Passau (866-874 n. Chr.)

Vorwort

Anno Domini 724

Krieg und Zerfall überall. Das oströmische Reich bekriegt sich mit den Arabern, die Araber untereinander, die fränkischen Königreiche Westeuropas befehden sich ohnehin und die zivilen Hinterlassenschaften der Römer – gefestigte Straßen, regelmäßige Handelsbeziehungen, einheitliche Währung – sind längst dahin. Gleichzeitig ist es eine Zeit des Neubeginns, der oft genug von Wandermönchen ausgeht: Bonifatius gründet Fritzlar – und der geheimnisvolle Pirminius, dessen Herkunft bis heute nicht geklärt ist, gründet auf der Insel Reichenau im Bodensee ein neues Kloster.

Lange bleibt Pirminius nicht dort, er hat noch viele weitere Klöster zu gründen. Die Gemeinschaft aber, die er ins Leben gerufen hat, wächst und gedeiht. Nur drei Generationen später, zur Zeit Karls des Großen, gehört die Reichenau zu den bedeutendsten Klöstern des karolingischen Reiches. Die Bücher, die in ihrer Schreibstube geschaffen wurden, bewundern wir heute in Museen. Die Fresken an den Wänden der erhaltenen Kirchen auf der Insel sind so lebendig, als hätten die Maler erst vor ein paar Jahren ihre Gerüste abgebaut.

Ihre herausragende Stellung hatte ihren Grund: Die Abtei Reichenau und ihr Abt unterstanden nicht dem Bistum Konstanz, sondern als Reichsabtei nur Kaiser und Papst. Während mehr und mehr Ländereien Eigentum der Abtei wurden, stieg auch die Macht der Äbte als Fürsten; auf wessen Seite sie standen, konnte entscheidend für den Mann auf dem Kaiserthron sein.

In den 1300 Jahren, die seit der Gründung des Klosters Reichenau vergangen sind, war die Reichenau oft genug Schlüsselort und Spiegel der Weltereignisse. Und sie war und ist eine Quelle der Geschichten. Es waren Menschen, die auf der und um die „selige Insel“, wie sie von ihren Mönchen genannt wurde, gelacht, getrauert, gekämpft und geliebt haben – und von diesen Menschen möchten wir Ihnen erzählen:

Dazu gehören die Bauern und Fischer, die für das Kloster arbeiteten, und die von Iny Lorentz und Heidi Rehn ins Zentrum ihrer Geschichten gestellt werden. Wer heute die Weinberge und Obstplantagen der Reichenau sieht, die auch jetzt noch den Reichtum der Insel ausmachen, kann sich leicht vorstellen, wie begehrt dieses fruchtbare Land war – und wie umstritten. Oft genug tauchen Bauern und Fischer nur als Namen in Rechnungsbüchern auf, obwohl ohne sie keine 1300 Jahre möglich gewesen wären. Welche Schicksale sich hinter diesen Namen verbergen, das malen zwei unserer Autorinnen aus.

Zur Geschichte der Reichenau gehören natürlich auch Konfrontationen mit der Nachbarschaft. Die Abtei St. Gallen, etwa gleichalt wie die Reichenau und basierend auf einem Entwurf aus der Reichenau gebaut, war langjährige Rivalin der „seligen Insel“, bis sie diese endgültig überflügelte. Von einer durch einen der Beteiligten – dem Sprachgelehrten Notker Labeo – selbst überlieferten Anekdote aus den Jahren des Wettkampfes um Gelehrsamkeit und Ansehen erzählt mit einem Augenzwinkern Sabine Ebert in ihrer Geschichte „Morcheln im Winter und der sehr große Fisch“.

Während Sabine Eberts Geschichte in einem Jahrhundert der Blüte für beide Abteien angesiedelt ist, stammt Carmen Mayers Kurzgeschichte um den „Konstanzer Fischerkrieg“ aus der Zeit des Niedergangs; die Fehde zwischen dem Kloster und den Konstanzer Bürgern forderte Menschenopfer, und diese Menschen stellt Carmen Mayer in den Mittelpunkt.

Zu den 1300 Jahren Reichenau gehören auch die Besucher von außerhalb, die auf der Reichenau Schicksalsstunden erlebten, wie die Kaiserin Richardis und ihr Gemahl Karl III. in Heidrun Hursts Geschichte. Das Grab Karls III. befindet sich noch heute im Münster St. Maria und Markus auf der Insel. Doch die Geschichte von dem Skandal, der die Ehe von Richardis und Karl beendete, von der Entscheidung, die Richardis treffen musste, sie wurde ebenso wie die letzten Karolinger lange vergessen und wird hier neu zum Leben erweckt.

So hohen Standes wie Richardis waren jedoch bei Weitem nicht alle Besucher. Oft genug waren es die Angehörigen anderer Klöster, so wie in Carmen Mayers Geschichte die kluge und gewitzte Nonne Adelindis, der es bei ihrem Aufenthalt noch dazu gelingt, eines der düstersten Klostergeheimnisse aufzudecken: die Morde an nicht einem, sondern gleich zwei Äbten kurz hintereinander.

Und schließlich sind es die Mönche selbst, die wir in den Geschichten kennenlernen: Mönche wie den legendären Hermann Contractus, den Stephen Hawking des Mittelalters, ein Erfinder, Mathematiker und Dichter, dessen kühner Geist an einen lebenslang schwerstbehinderten Körper gebunden war. Von ihm erzählt Caren Benedikt.

Ein ganz anderes Kaliber ist Udalrich von Dapfen, der Abt, in dessen Amtszeit die Schreibstube der Reichenau unglaubliche Fälschungen hervorbrachte. Was es mit ihnen auf sich hat und warum sie für die Reichenau auf einmal so nötig wurden, das erfährt man in der Geschichte von Juliane Stadler.

Apropos Äbte: Der mächtigste Abt in der langen Geschichte der Reichenau war zweifellos Hatto (der I. und III., je nachdem ob man ihn als Abt oder Erzbischof von Mainz zählt), der zeitweise sogar die Regentschaft für den Kindkaiser Ludwig führte. Die Reichenau ohne Hattos Hinterlassenschaften wie St. Georg in Oberzell ist undenkbar. Aber war diese Anhäufung von Macht auch gut für die Insel – und für Hatto? Diese Frage beschäftigt ihn in meiner Geschichte „Confiteor“, die während seines letzten Besuches auf der Reichenau angesiedelt ist.

Wenn Hatto der mächtigste aller Äbte war, so besteht keine Frage, wer als der erbärmlichste aller Äbte der Insel gilt: der letzte Reichsabt, Markus von Knöringen. Selbst in der Spätzeit des Klosters gab es noch mehrere engagierte Reformversuche, um die Inselgemeinschaft noch einmal zur alten Größe zu erwecken. Markus von Knöringen ist mit dafür verantwortlich, dass sie letztlich scheiterten. Aus der Perspektive des Priors Georg Dietz, einer jener Mönche, die sich dem „Knöringer“ in den Weg stellten, schildere ich ihn und das Ende der Reichenau als unabhängiges Kloster in „Exorzismus“.

Doch auch wenn die Reichenau von da an ein Kloster unter vielen als Teil des Bistums Konstanz war, von nur wenigen stetig wechselnden Mönchen betrieben, ihr Erbe bleibt uns erhalten. Besucht man die Insel heute, meint man, das Echo all der Stimmen durch die Jahrhunderte zu hören – Äbte und Mönche, Weinbauern und Fischer, Kaiserinnen und Nonnen –, sie alle wurden von der Insel im Bodensee unwiderstehlich angezogen, und in unseren Erzählungen sind wir einigen ihrer Spuren gefolgt.

Tanja Kinkel

Das Gottesurteil

von Heidrun Hurst

Anno Domini 862

Richardis schritt durch den Kreuzgang des Klosters Hohenburg auf dem elsässischen Odilienberg. Der Wind, der kalt durch das offene Gewölbe strich, ließ sie frösteln. Es war noch früh im Jahr, und die Abtei lag in der schwindelnden Höhe der Vogesen. Von hier aus hatte man einen wundervollen Blick über das Rheintal, den Richardis allerdings selten genoss. Viel lieber folgte sie dem Beispiel Odilias, der Gründerin des Klosters. Diese war blind zur Welt gekommen. Jahre später wurde das Mädchen durch ein göttliches Wunder geheilt. Seit dieser Zeit hatte Odilias ganzer Eifer der Nachfolge Christi gegolten. Er war so groß gewesen, dass durch ihr Zutun zwei Klöster entstanden. Noch heute stiegen die Pilger in Scharen den Berg herauf, um an ihrem Grab für die Heilung ihrer Augen zu beten.

Richardis wollte so wie Odilia werden. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf das Gebet, das Fasten zur Ehre Gottes und den Unterricht in Lesen, Schreiben und Singen sowie die Lehren von Augustinus, Benediktus und weiterer großer Kirchenväter. All dies diente ihr zur Vorbereitung auf das ewige Gelübde, das sie ablegen würde, sobald sie sich dessen würdig erwies.

Nur unwillig legte sie eine Kopie des Psalteriums beiseite, dessen Verse sie gerade studierte. Doch auch Gehorsam war etwas, das einer Novizin in Fleisch und Blut übergehen musste. Und so folgte sie ohne Zögern dem Ruf der Äbtissin, die sie am Rand der Klausur in ihr Haus bat. Was die Mutter Oberin wohl von ihr wollte? Richardis konnte sich keinen Reim darauf machen.

Der Mann, der sie im Empfangsraum der ehrwürdigen Mutter erwartete, überraschte sie jedoch über alle Maßen. Ihre Schritte stockten und Verblüffung zeichnete sich in ihre Miene.

Die Äbtissin warf Richardis einen milden Blick zu. „Komm herein und schließe die Tür. Graf Erchanger hat dir etwas Wichtiges zu sagen.“

Richardis fasste sich, trat gemessenen Schrittes näher und neigte ihr Haupt vor dem kräftigen Mann, der auf dem schönsten Stuhl des Äbtissinnenhauses saß. Dann blickte sie auf und sah in das von einem gestutzten Bart gerahmte Gesicht, das älter als in ihrer Erinnerung wirkte. Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. „Ich grüße Euch, Vater! Es freut mich, dass Ihr wohlauf seid.“

Graf Erchanger nickte ihr hoheitsvoll zu. Weder überschäumende Freude noch tiefe Gefühle für eine lange vermisste Tochter sprachen aus seinem Blick. Nur die Kälte der Macht und das Wissen, dass jeder seinen Befehlen gehorchen musste.

„Ich hoffe, dasselbe trifft auf meine Mutter zu“, sprach Richardis ungerührt weiter. Sie kannte das Wesen ihres Vaters.

Graf Erchanger machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das Alter nagt an ihren Knochen, aber noch immer geht es ihr besser als den meisten.“

Richardis wusste, wovon er sprach. Immer wieder litt das einfache Volk unter verheerenden Katastrophen, dem Beben der Erde und schrecklichen Seuchen. Vor zwei Jahren war der Winter so grimmig und lang gewesen, dass die Wintersaat erfror und die Obstbäume kaum Früchte trugen. Die darauffolgende spärliche Ernte beschwor eine Hungersnot herauf, die Scharen von Bettlern vor das Kloster geführt hatte. Die Nonnen hatten getan, was sie konnten. Doch selbst ihre Gebete konnten den Herrn nicht umstimmen, den Menschen diese Prüfung zu erleichtern.

„Du wirst dir bald selbst ein Bild von der Gesundheit deiner Mutter machen können“, unterbrach Graf Erchanger ihre Gedanken. „Schon morgen wirst du dieses Kloster verlassen.“

Bestürzt riss Richardis die Augen auf. Was hatte ihr Vater vor? „Aber, das ist nicht das, was ich wünsche.“

Der harte Blick Erchangers traf sie bis ins Mark. „Hast du vergessen, dass du meine Tochter bist? Du stehst in meiner Munt und wirst meinem Willen gehorchen. Denn noch hast du der Welt nicht entsagt.“ Der missfällige Zug um seinen Mund ließ keinen Widerspruch zu. „Doch ich will gnädig sein und dir ein paar Stunden des Abschieds gewähren. Morgen früh, nach Tagesanbruch, brechen wir auf.“

„Du darfst dich zurückziehen“, entließ die Äbtissin Richardis. „Möge der Herr mit dir sein.“

Wie betäubt machte sich Richardis zur Johanniskappelle mit dem Sarkophag der heiligen Odilia auf. Vor drei Jahren war sie mit dem Segen ihres Vaters ins Kloster Hohenburg eingetreten. Hatte er sie damals nur genarrt? Oder war etwas vorgefallen, das ihn plötzlich zum Widerruf seiner damaligen Entscheidung getrieben hatte?

Vor dem Grabmal Odilias kniete Richardis nieder.

In Christi Namen bitte ich um deine Hilfe, du ehrwürdigste unter den Frauen. Flehe vor dem Thron Gottes für mich, den Sinn meines Vaters zu ändern. Hilf, dass dieser Kelch an mir vorübergehe! Alles, was ich will, ist, der Welt zu entsagen und mein Leben ganz in den Dienst unseres Herrn zu stellen. Hier bin ich glücklich!

Richardis erschrak, als eine mitfühlende Stimme hinter ihr erklang. Sie war so in ihr Gebet versunken gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie die Äbtissin leise hinter sie getreten war. „Ich bedauere zutiefst deinen Schmerz, mein Kind. Doch gräme dich nicht und sei gewiss, dass Graf Erchanger einen triftigen Grund hat, dir die ewige Profess zu verwehren. Und so schwer es mir fällt, seinem Wunsch zu entsprechen und dich ziehen zu lassen, so ist es doch Gottes Wille, dass du dich als gehorsame Tochter dem beugst, was dein Vater für richtig erachtet.“

Waren die Worte der ehrwürdigen Mutter ein göttliches Zeichen? Richardis war sich immer noch nicht sicher, als sie sich in Begleitung ihres Vaters und einiger seiner Mannen auf den Weg nach Hause machte.

Schweren Herzens hatte sie im Kloster Abschied genommen. Zuvor hatte sie ihren Habit aus grober, ungefärbter Wolle gegen ein feines Gewand und einen Mantel getauscht, der ihr Schutz gegen die Kälte bot. Nun saß Richardis auf ihrer Stute, die sie bei ihrem Eintritt ins Kloster in den heimischen Ställen zurückgelassen hatte. Die Kunst, in Röcken zu reiten, hatte sie glücklicherweise nicht verlernt, obwohl es den Klosterberg hinunter alles andere als einfach war. Das weitläufige Gut ihres Vaters lag in der Rheinebene unweit Straßburgs, im Machtbereich der Alaholfinger, zu deren Geschlecht er sich zählte.

„Sagt mir endlich, was Ihr mit mir vorhabt“, forderte Richardis, nachdem sie ihr Reittier neben das ihres Vaters gelenkt hatte. Der schwierige Abstieg lag hinter ihnen. In der Ebene des Rheintals kamen sie nun besser voran.

Die Augen des Grafen schleuderten Blitze über die Dreistigkeit, die sich seine Tochter erlaubte. Doch dann schien er sich zu besinnen. „Du wirst heiraten.“

Richardis war entsetzt. „Nichts steht mir ferner, als den Bund der Ehe mit einem gewöhnlichen Mann einzugehen. Alles, was ich will, ist, eine Braut Christi zu werden!“ Darüber hinaus stand sie in ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr. Sie war eine alte Jungfer, wenn man bedachte, dass die meisten Töchter bereits mit fünfzehn oder sechzehn Jahren verheiratet wurden.

Graf Erchanger lachte grollend. „Und dennoch wirst du es tun. Dieser Ehebund wird meine Macht im Elsass stärken.“ Zufriedenheit senkte sich in seinen Blick. „Doch falls es dich beruhigen sollte: Du bist keinem gewöhnlichen Mann anverlobt. Er ist von edlem Geblüt. Der Abkömmling hochberühmter Ahnen, die ihren Frauen mächtige Söhne bescherten. Ich hoffe, dass du dich als ein ebenso würdiges Gefäß erweist.“

Richardis hörte das Pochen ihres Herzens in den Ohren. „Wer ist dieser Mann?“

„Sein Name ist Karl, der jüngste Sohn König Ludwigs, dem zweiten seines Namens und König des Ostfrankenreiches“, erwiderte Graf Erchanger mit einer Spur von Genugtuung in der Stimme. „Mit Gottes Willen wird auch er eines Tages König werden – und du seine Königin. Es gibt also nicht den geringsten Grund zur Klage.“

Richardis gingen die Worte ihres Vaters nicht mehr aus dem Sinn. Über die gesamte Länge des Weges zermarterte sie sich den Kopf, wie sie nur dem entkommen konnte, was er für sie bestimmt hatte. Sie sollte den Spross eines Königs heiraten! War das Gottes Wille?

Im Grunde ging es bei dieser Hochzeit nicht um sie oder ihren künftigen Gemahl. Sie kannten sich ja nicht einmal. Für ihre Väter war diese Ehe nicht mehr als ein gewinnbringender Handel, mit dem sie ihre Häuser fester aneinander banden. Zwar würden sie im Falle eines Krieges füreinander einstehen müssen, doch bei der Verteilung erbeuteten Landes würde Graf Erchanger an vorderster Stelle stehen. Und falls ihr zukünftiger Gemahl tatsächlich einmal König werden sollte, konnte Erchanger sich Vater einer Königin nennen. Sein Ruhm würde groß sein und sich mehren, sollten später auch seine Enkel Könige werden.

Versuchte ihr Vater so den Sohn zu ersetzen, den er nie hatte? Ihre Schwester war gestorben, als sie bereits im Kloster weilte, und so war Richardis als einzige Möglichkeit für den Fortbestand der Familie übrig geblieben. Wahrscheinlich hatte ihr Vater sie nur deshalb noch so lange in Hohenburg gelassen, bis er diese günstige Ehe-Gelegenheit arrangieren konnte.

So sehr Richardis es auch drehte und wendete, ihr blieb nur die Möglichkeit, sich dem zu stellen, was ihr Vater wollte. Davonlaufen konnte sie nicht. Das Kloster würde sie nicht wieder aufnehmen, und für ein Leben im Wald war sie nicht geschaffen. Sie würde vor Hunger sterben oder in ständiger Angst leben, dass irgendein Wegelagerer sie erschlug.

Die Sonne ging bereits unter, als die Reisegesellschaft den Wohnsitz Erchangers im elsässischen Nordgau erreichte. Die große palisadenbewehrte Anlage mit mehreren Wirtschaftsgebäuden und einem hölzernen Wohnturm, die auf einer Anhöhe in der Nähe Straßburgs lag, hatte sich seit Richardis‘ Eintritt ins Kloster nicht verändert.

„Ist es nicht ein Glück, dass ein Brautwerber des Königs für seinen Sohn um deine Hand angehalten hat?“, bemerkte Richardis‘ Mutter voller Freude, nachdem sie ihre Tochter begrüßt hatte. „Welch‘ Ehre, von solch‘ einem Mann gefreit zu werden. Du wirst eine hohe Frau werden, höher als ich es jemals war. Komm, ich will dir zeigen, welch kostbares Gewand ich für dich habe nähen lassen.“

„Ich weiß nicht, Mutter.“ Zweifelnd betrachtete sich Richardis in einem Handspiegel aus poliertem Silber. Die knöchellange kermesrote Tunika mit den aufwendigen golddurchwirkten Zierborten verhüllte kaum, wie mager sie war. Der breite, mit Edelsteinen besetzte Gürtel, der Unter- und Obergewand in ihrer Mitte zusammenhielt, war zwei Fingerbreit zu weit. Sie sah aus wie eine Vogelscheuche in prächtigen Kleidern und nicht wie eine fruchtbare Braut.

Es war nicht zu übersehen, dass Richardis von jeher lieber ihren Geist geformt hatte, als sich um ein schönes, gefälliges Äußeres zu kümmern. Das asketische Leben im Kloster hatte ihr eine hagere Miene beschert, aus der eine spitze Nase hervorstach. Ein nachdenklicher Zug lag um ihren Mund, dem man ansah, dass er nur selten lachte. Einzig ihre dunklen Augen konnte man hübsch nennen, ebenso ihr hüftlanges braunes Haar, das noch nicht der Schere zum Opfer gefallen war. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung, dachte sie. Möglicherweise findet er mich so abstoßend, dass er mich gar nicht will.

„Sei unbesorgt“, entgegnete ihre Mutter, als ob sie Richardis‘ Gedanken erraten hätte. „Die Zeit, die du deinem Bräutigam anverlobt bist, wird reichen, um dich ein wenig voller werden zu lassen. In einem Monat kann viel geschehen. Bis dahin wird dein Gesicht lieblicher sein und ein jetzt noch nicht vollends gefertigter Mantel wird das meiste verdecken. Doch es kommt nicht auf dein Äußeres an. Du sollst deinem hohen Gatten eine Gehilfin und die Mutter seiner Kinder sein. Mehr wird von dir nicht verlangt.“ Mit diesen Worten zerstörte sie die letzte Hoffnung ihrer Tochter, dem Dilemma zu entgehen.

Einen Monat später fuhren Richardis und ihre Mutter mit einem Reisewagen zur Insel Reichenau, wo die Hochzeit stattfinden sollte.

Es war eisig kalt. Der Hornung machte seinem Namen alle Ehre. Schnee glänzte auf den brachliegenden Feldern und die Wagengesellschaft kam nur langsam voran. Nun war Richardis dankbar für den blauen, mit Fehpelz verbrämten Umhang, der in üppigen Falten von ihren Schultern hing, und für die Felle, die sie wärmten. Ihr Vater ritt auf seinem Hengst neben dem Gespann her. Zehn seiner Gefolgsmänner dienten ihnen als Geleitschutz, denn die Straßen waren unsicher. Allzu oft versteckten sich Wegelagerer in den Wäldern, lauerten an Engpässen oder folgten den Reisenden, um sie in einem unbeobachteten Moment auszurauben. Nicht selten verloren die Geplünderten neben ihrer Habe auch das Leben.

Richardis plagten jedoch andere Sorgen. Was für ein Mann würde am Ende ihrer Reise auf sie warten? Und welchem Schicksal würde sie an seiner Seite entgegensehen? Alles, was sie wusste, war, dass ihr zukünftiger Gemahl den Lenden Ludwigs II. aus dem Adelsgeschlecht der Karolinger entstammte. Väterlicherseits war ihr Zukünftiger der Urenkel Kaiser Karls des Großen. Karls Mutter war die Welfin Hemma, eine Schwester der verstorbenen Kaiserin Judith, die als Gemahlin Ludwig I. eine mächtige Frau gewesen war. Hemma hatte ihrem Mann mehrere Kinder geboren. Karl war der jüngste von drei Brüdern. Hinzu kamen drei noch lebende Schwestern, für die ihr Vater ein Dasein im Kloster bestimmt hatte. Richardis unterdrückte ein Seufzen. Wie gerne wäre sie eine der Töchter Ludwigs gewesen. Seine Söhne aber verheiratete er mit Töchtern aus den vornehmsten Adelsfamilien. Die Ehe mit einem Königssohn war eine Auszeichnung für jedes Haus. Es gab sicher viele junge Frauen, die Richardis‘ Stelle mit Freuden eingenommen hätten.

Endlich erreichten sie das Ufer des Bodensees, in dessen Hintergrund schneebedeckte Berge aufragten. Von hier ging es über das Wasser weiter. Richardis bezwang ihre Angst vor dem grauen, eiskalten Nass und bestieg eines der Schiffe, die sie mitsamt Wagen und Pferden auf die Insel bringen sollten. Lang würde die Fahrt nicht dauern, denn der Umriss der Insel ragte wie ein düsterer Schattenriss aus der Strömung heraus.

Schon bald hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen und konnten die Reise mit dem Wagen fortsetzen. „Der heilige Pirmin hat das Kloster gegründet“, erklärte Richardis‘ Mutter, ebenso erleichtert wie sie. „Die Insel soll zuvor voller Schlangen, Kröten und Ungeziefer gewesen sein. Doch als Pirmin seinen Fuß auf die Insel setzte, bildete sich eine Quelle und das Ungeziefer floh binnen dreier Tage“, setzte sie ehrfürchtig hinzu. „Danach rodeten er und seine Anhänger das Gebiet, machten die Insel bewohnbar und gründeten ein Kloster.“

Erstaunt stellten beide fest, dass Pirmins Nachfolger ganze Arbeit geleistet hatten. Eine gehörige Zahl an Ackerflächen, Obst- und Rebgärten überzogen die hügelige, schneebedeckte Landschaft. Doch hatte man den Wald nicht gänzlich ausgelöscht, denn Holz und Wild wurden ebenso gebraucht.

Kurz darauf erreichten sie die königliche Pfalz am Nordufer, mit all ihren Wirtschaftsgebäuden, Vorrats- und Gästehäusern. Als Richardis hinter ihrer Mutter aus dem Wagen stieg, entdeckte sie die benediktinische Reichsabtei direkt gegenüber, an deren Konventgebäude sich eine prächtige Kirche anfügte. Der hohe weitläufige Bau war nicht weniger beeindruckend als die königliche Anlage. Versonnen betrachtete Richardis für einen Moment den geradlinigen steinernen Komplex. Hier also sollte übermorgen ihre Trauung stattfinden.

Ein junger Geistlicher, der soeben aus der Tür getreten war, lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Vorgänge in der Pfalz. „Seid herzlich gegrüßt.“ Sein prüfender Blick blieb an ihr hängen, obwohl ein Schleier ihr Gesicht verdeckte, wie es Brauch war. Kein Mann sollte sie ansehen, bevor sie ihr Ehegelöbnis gesprochen hatte. Dennoch überkam sie das befremdliche Gefühl begutachtet zu werden, wie man es bei jungen Stuten tat, die man zu verkaufen gedachte. „Mein Name ist Liutward. Ich hoffe, Ihr hattet eine halbwegs angenehme Reise.“

Der junge Priester sah gepflegter aus als die meisten seiner verlausten Ordensbrüder, denen Richardis im Lauf ihres Lebens begegnet war. Er hatte ein angenehmes, gut geschnittenes Gesicht und betrachtete sie trotz ihrer Befürchtung mit warmen Augen. Respektvoll wandte er sich ihrem Vater zu, der die höfliche Konversation erwiderte. „Darf ich Euch bitten, mit mir zu kommen? Die Königin erwartet Euch schon sehnsüchtig.“

Königin Hemma war eine alternde Frau, deren Gesicht den Nachhall ihrer einstigen Schönheit zeigte. Ihr Haar war vollkommen ergraut und die Üppigkeit ihres Körpers zeugte von den vielen Kindern, die sie unter dem Herzen getragen hatte. „Seid mir willkommen“, wandte sie sich freundlich an ihre Gäste. „Leider bin ich die Einzige, die Euch begrüßen kann. Mein Gatte und mein Sohn sind auf der Jagd, in der Nähe von Konstanz. Sie werden erst morgen zurückkehren. Heute Abend werden wir also allein zusammen speisen. Doch zuvor wird mein Kämmerer, Graf Hatto, Euch Eure Gemächer zeigen, wo eine kleine Stärkung für Euch bereitsteht.“

Der würdevoll Hinzugetretene führte sie in den zweiten Stock des Palatiums, wo ihnen zwei Räume zur Verfügung standen. Richardis erhielt eine eigene Kammer mit einem großen Bett, einer Truhe und einem Tisch, auf dem ein Krug Wein, Brot und Käse standen. Sogleich stellte Graf Hatto ihr Gailana vor, die ihr von nun an als Kammerfrau dienen sollte. Richardis musterte sie, während ihre neue Bedienstete ihr aus dem Mantel half und ihr das Essen reichte. Sie schien schon älter zu sein. Gewiss kannte sie sich in den Belangen des Hofes aus und konnte ihr als Stütze bei all dem Unbekannten dienen, das auf sie einstürmen würde.

Beim abendlichen Mahl wurde Richardis von Königin Hemma unterrichtet, dass ihr Bräutigam auch nach seiner Rückkehr von der Jagd unabkömmlich sei, da der morgige Tag mit seiner Vorbereitung auf die bevorstehende Ehe angefüllt sein werde. Richardis konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er kein großes Interesse an seiner Braut hegte.

Sie verbrachte bange Stunden, bis sie endlich unter großem Kirchengeläut die Abteikirche betrat. Die Mönche im Chor stimmten einen Choral in römischer Sangesweise an, deren von Traurigkeit durchdrungene Töne sich träge emporschwangen.

Am Arm ihres Vaters bestaunte Richardis die enorme Größe der Basilika, deren Wände mit wundervollen Fresken geschmückt waren. Die Hochzeitsgesellschaft aus Mitgliedern des hohen Adels und ihre Nachkommen, die sich in weltliche und geistliche Würdenträger des Reiches teilten, bildete eine respektvolle Schneise, durch die Brautvater und Braut nach vorn traten.

In der Nähe des Altars entdeckte Richardis einen jungen Mann mit einem durchschnittlichen Gesicht, das von gelocktem Goldhaar umrahmt wurde. Ihr Bräutigam!

Seine hochgewachsene Gestalt war in prächtige Kleider gehüllt. Unter einem Mantel aus Marderfell, von einer goldenen Fibel gehalten, sah man ein purpurnes Gewand, gesäumt von golddurchwirkten Borten. Die knielangen Beinlinge, die in seidene Wadenbänder übergingen, stachen dunkel darunter hervor. Sein Gürtel war mit Edelsteinen besetzt, ebenso seine Schuhe. Zum ersten Mal war Richardis erleichtert, ebenso kostbar gekleidet zu sein. Würdevoll legte ihr Vater ihre Hand auf die ihres Bräutigams. Durch den Schleier sah sie Karls Lächeln, doch es erreichte seine Augen nicht.

Er freut sich genauso wenig über die Entscheidung unserer Eltern wie ich, schoss es ihr durch den Kopf.

Gemeinsam traten sie zu dem Gebetsbänkchen vor dem Altar und knieten nieder. Bischof Salomo war eigens aus Konstanz angereist, um sie zu trauen. Er sprach von der Heiligkeit der Ehe, die dem Zwecke der Fortpflanzung diene. Dass die Frau dem Manne untertan sei und ihm in allen Dingen zu gehorchen habe. Richardis scheiterte immer wieder daran, seinen Worten zu folgen. Karls aufgesetzte Freundlichkeit und sein gestriges Desinteresse wollten nicht aus ihren Gedanken weichen.

Später wusste sie nicht mehr viel von dem, was der Bischof gepredigt hatte. Eines jedoch brannte sich unauslöschlich in ihre Erinnerung ein: jener Augenblick, in der ihr frisch angetrauter Ehemann ihren Schleier hob, um ihr den Brautkuss zu schenken. Sollte er bis dahin noch gehofft haben, wenigstens ein hübsches Weib zu bekommen, so war ihm die Ernüchterung nun deutlich anzusehen.

Ein Heer von Bediensteten hatte die Aula Regia für die anschließende Feier vorbereitet. Kostbare Teppiche hingen an den Wänden, feinstes Leinen bedeckte die Tafel, auf der silbernes und goldenes Geschirr im Schein der Kerzen glänzte. Das üppige Festmahl, bei dem es gebratenes Wild, frisches Brot, Käse und dunklen Wein gab, wurde von Richardis‘ Befürchtungen überschattet und der Frage, was sie tun sollte, wenn sie mit Karl allein war. Natürlich wusste sie, was geschehen würde, doch auch jetzt sah er sie kaum an. Stattdessen bedachte er hin und wieder eine junge Frau mit lüsternen Blicken, die Richardis keineswegs entgingen. Überdies sprach er nur das Nötigste mit ihr, seiner Angetrauten.

Niemand schien die Bedrückung der Brautleute zu bemerken. Graf Erchanger und König Ludwig waren bester Stimmung und schienen sich glänzend mit adligen Gästen, Bischof Salomo und Abt Walter zu unterhalten, der dem hiesigen Kloster vorstand. Die beiden Mütter waren in sittsame Gespräche mit den zu den Herren gehörenden Frauen vertieft. Nicht wenige waren mit ihnen verwandt.

Schließlich tanzten die Finger des Harfenspielers ein letztes Mal über die Saiten. Die Brautleute wurden von ihren weichen Daunensitzkissen gehoben. Unter fröhlichem Lärm und anzüglichen Witzen brachte man sie zu Bett. Von Gailana bis auf das Hemd entkleidet, schlüpfte Richardis verschämt unter die Decke, wo sie Karl, ebenfalls im Hemd, bereits erwartete. Erst jetzt waren die Gäste zufrieden und überließen das Paar sich selbst.

Scheu wandte Richardis den Kopf, um ihren Ehemann anzusehen. Karl starrte grübelnd zur Decke. Er machte sich nicht einmal die Mühe, ein paar belanglose Worte mit ihr zu wechseln. Sie jedoch liebte anregende Gespräche, die den Geist schärften, und wollte nicht als Ding betrachtet werden, das man lediglich bestieg. Vielleicht ist er zu betrunken, überlegte sie. Er hat dem unverdünnten Roten in seinem gläsernen Trinkpokal allzu reichlich zugesprochen. Sie beschloss, es mutig zu versuchen. „Wollen wir uns nicht ein wenig besser kennenlernen, bevor …“

„Für was sollte das gut sein?“ Karls Worte klangen schleppend. „Ihr wollt mich genauso wenig wie ich Euch.“

Erschüttert stützte sich Richardis auf ihren Ellbogen und sah ihrem Gatten ins Gesicht. Weingeschwängerter Atem wehte ihr entgegen. „Sollten wir uns deshalb nicht darum bemühen, Freunde zu werden?“

Im nächsten Moment durchfuhr ein Zucken Karls Körper, bei dem sie zunächst dachte, er setze zu einer Antwort an. Stattdessen verwandelte das Licht der Kerzen seine Züge in eine schreckliche Grimasse. Speichel troff aus seinem Mund, sein ganzer Körper spannte sich an, während zischende Laute zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervordrangen. Erschrocken fuhr Richardis zurück. Hatte sich ein böser Geist Karls bemächtigt? Noch bevor sie schreien konnte, war es vorbei. Erschöpft lag er neben ihr und schloss die Augen.

„Was ist mit Euch?“, flüsterte Richardis besorgt.

Abrupt öffnete er die Lider. Für einen Moment sah Karl sie mit glasigen Augen an, dann schien sein Geist in die Gegenwart zurückzukehren. „Erzählt keinem Menschen davon. Habt Ihr verstanden?“ Es schien ihn unendliche Mühe zu kosten, sich zu erheben. Dennoch tat er es, ohne auf Richardis‘ Einwände zu achten. Dann verschwand er im Hemd durch die Tür. Anfangs dachte sie noch, er wäre zum Aborterker gegangen, der sich in der Nähe ihrer Kammer befand. Doch sie wartete vergeblich auf seine Rückkehr. Am Ende zwang sie sich dazu nachzusehen. Schließlich konnte Karl dort zusammengebrochen sein. Der Abort war leer. Ratlos kehrte Richardis in das Ehegemach zurück.

In den folgenden Nachtstunden quälte sie sich mit der Frage, was vorgefallen war und wo ihr Gatte nun weilte. Bei jener jungen Frau, die er so lüstern angeblickt hatte? Beschert sie ihm, statt meiner, die Freuden einer Hochzeitsnacht?

Kurz bevor die Pfalz zu neuem Leben erwachte, kehrte Karl zurück.

„Wo seid Ihr gewesen?“

„Das geht Euch nichts an“, knurrte er. Mürrisch zog er einen Dolch hervor. Richardis, die immer noch im Bett lag, wich erschrocken zurück. Will er mich ermorden?

„Keine Angst“, erwiderte Karl mit einem nüchternen Grinsen. Mit einer raschen Bewegung schnitt er sich in den Daumen.

Sprachlos sah sie zu, wie er sein Blut auf das Laken tropfen ließ. „Das ist Euer Jungfernblut, oder wollt Ihr Euch der Peinlichkeit aussetzen, dass Ihr es nicht fertiggebracht habt, Euren Ehemann zu betören?“

Stumm schüttelte Richardis den Kopf. Abgesehen davon, dass er ihr jede Möglichkeit verwehrt hatte, sich auf diesem Gebiet zu erproben, ging niemanden etwas an, was zwischen diesen Wänden geschah.

„Dann sind wir uns einig. Ich sehe Euch beim Frühmahl.“ Rasch zog er sich an und verließ sie ohne ein weiteres Wort.

Richardis konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, als sie allein war. „Was soll ich nur tun?“, flüsterte sie.

Wenig später kam ihre Kammerfrau, um ihr beim Ankleiden zu helfen. Betreten sah Gailana zu Boden. Die Witwe schlief in einer kleinen Kammer nebenan, was es ihr ermöglichte, rasch herbeizueilen, wenn man sie brauchte. Hatte sie etwas von den nächtlichen Vorgängen mitbekommen?

Aus Richardis‘ Verstörung wurde Wut. „Was geht hier vor?“, herrschte sie die Frau an. „Sag es mir.“

Gailana senkte die Lider. „Ihr wisst es nicht?“, flüsterte sie. „Euer Gatte hat eine Beischläferin, mit der er jede Nacht das Bett teilt. Manche sagen, seine ganze Liebe gehöre ihr. Die Heirat mit Euch habe er nur der Berechnung seines Vaters zu verdanken.“

Richardis fühlte, wie das Blut aus ihrem Kopf wich und in Richtung ihrer Füße sackte. Also doch, dachte sie. Meine ungute Ahnung trog mich nicht. „Warum hat er dann nicht sie geheiratet?“, begehrte sie auf.

„Weil ihr Vater von niederem Adel ist. Eine Heirat mit ihr wäre nicht standesgemäß für einen Königssohn.“