Reign of Rose – Die Edelsteinsaga - Kate Golden - E-Book

Reign of Rose – Die Edelsteinsaga E-Book

Kate Golden

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Beschreibung

Sie müssen ihre Welt vor dem Untergang bewahren – doch können sie auch einander retten?

Für Arwen Valondale würde Kane Ravenwood, der König von Onyx, sogar bis ans Ende der Welt reisen. Um sein Königreich der Menschen und seine große Liebe Arwen zu retten, ist Kane entschlossen, die alte Prophezeiung zu erfüllen und seinen Vater, den Faen-König Lazarus zu töten, auch wenn es ihn selbst das Leben kostet. Doch möglicherweise kommt Arwen ihm da zuvor ...

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Seitenzahl: 698

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Für seine große Liebe Arwen würde Kane Ravenwood, der König von Onyx, sogar bis ans Ende der Welt reisen. Doch was, wenn sich Arwen gar nicht mehr in dieser Welt, sondern im Reich des grausamen Faen-Königs Lazarus befindet? Lazarus, Kanes Vater, vor dem sowohl Menschen als auch Faen erzittern … Kane ist entschlossen, die alte Prophezeiung zu erfüllen und seinen Vater zu töten, auch wenn es ihn selbst das Leben kosten sollte.

Er ahnt jedoch nicht, dass er nicht der Einzige ist, den es verzweifelt nach Rache dürstet. Arwen Valondale hat keine Angst mehr zu kämpfen – kein Opfer ist ihr zu groß, kein Feind zu mächtig. Und nun wird sie nichts und niemand daran hindern, Lazarus umzubringen. Denn wenn sie scheitert, sind sowohl das Reich der Menschen als auch die Welt der Faen dem Untergang geweiht. Gemeinsam und mit der Hilfe von alten Freunden und neuen Verbündeten, treten Arwen und Kane zur letzten Schlacht an.

Die Autorin

Kate Golden lebt in Los Angeles und arbeitet hauptberuflich in der Filmindustrie. Mit Dawn of Onyx, dem Auftakt zu ihrer großen Edelstein-Saga begeisterte sie auf TikTok Millionen von Fans. In ihrer Freizeit liebt Kate Golden es, ins Kino zu gehen, zu lesen, knifflige Puzzles zu lösen, zu wandern und auf Flohmärkten herumzustöbern.

KATE GOLDEN

Die Edelstein-Saga

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kirsten Borchardt

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe ist unter dem Titel THEREIGNOFTHEROSE bei Berkley erschienen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe: 07/2025

Copyright © 2024 by Natalie Sellers

Published by Berkley, an imprint of Penguin Random House LLC, New York

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Alle Rechte vorbehalten.

Redaktion: Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,nach einem Entwurf von Katie Anderson und unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock (KKulikov, Aleksandra Vinogradova, DigitalWarriors), Getty Images (cranach)

Karte: Jack Johnson

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31595-5V002

www.heyne.de

Für Taylor, Sam und Kristine, meine Flora, Fauna und Merryweather.Danke, dass ihr all meine Träume habt wahr werden lassen.

Eine Welt von Lichte, über alle Stein’ gesegnet.

Ein König, durch den zweitgebor’nen Sohn dem Untergang geweiht.

Eine Stadt, zu Asch’ und Knochen eingeebnet.

Ein Komet, der kündet von neuem Krieg in unserer Zeit.

Die letzte Fae, geboren von reinem Blut.

Die Sonnenkling’ sie nur in ihrem Herzen find’t.

Nach fünfzig Jahr’ eint Kind und Vater Kriegesglut.

Und mit dem Flug des Phoenix dann die letzte Schlacht beginnt.

Ein König, der durch sie allein dem Tod entgegengeht,

Eine Frau, die um ihr bitt’res Schicksal weiß.

Vor der Rettung beider Lande ein schweres Opfer steht

Das sonst ein ganzes Reich ins Unglück reißt.

Für beide wahre Faen bedeutet es den Tod.

Das ist der Preis, um all’ zu retten aus der Not.

LIGEIA, DIE SEHERIN VON LUMERA, VOR 113 JAHREN

Prolog

ARWEN

Dreizehn Jahre zuvor

»Ich gehe da nicht rein.«

Um meine Worte zu unterstreichen, grub ich die Hacken tief in den kümmerlichen Flecken Gras, auf dem ich stand.

In Powells Werkzeugschuppen geschahen schlimme Dinge. Dinge, von denen mein Rücken furchtbar wehtat und ich weinen musste.

»Na schön.« Ryder ließ meine Hand los und verschränkte die Arme. »Wie du willst.«

Was auch immer das bedeuten sollte, es ließ nichts Gutes erhoffen.

Mein Bruder wartete nicht ab, ob ich noch etwas sagen wollte. Er rannte in die frische Nacht hinaus, Holden hinterher. Mit Leichtigkeit knackten die beiden dann das verrostete Schloss, das den Schuppen sicherte, und verschwanden in der kleinen Reetdachhütte.

Ich stand da, während die kalte Luft um mein Gesicht und meine Schienbeine fuhr, und fing heftig an zu zittern. Der fadenscheinige Baumwollstoff meines Lieblingsnachthemds war voller Löcher. Viel zu verschlissen, um mich vor der Nachtkühle zu schützen. Ich brauchte einen Mantel. Oder ich musste wieder zurück ins Warme. Aber wenn ich jetzt nach Hause lief, dann würden Halden und Ryder denken, dass ich Angst hatte.

Was ja stimmte, aber …

Das mussten sie nicht wissen. Mein Bruder und sein bester Freund hatten niemals Angst. Weder wenn sie in der Schule Ärger fürs Zuspätkommen bekamen, noch wenn der Blitz mit einem solchen Knall einschlug, dass es wie ein peitschender Gürtel klang. Und auch nicht, wenn sie sich in dunklen, windigen Nächten wie jetzt nach draußen schlichen.

Tapfere, starke, selbstbewusste Jungen, wie meine Mutter das liebevoll nannte.

Und dann … ich. Ich rannte immer hinter ihnen her. Die Kleinste aus dem Wurf.

Wieso hätten sie mich nicht einfach fragen können, ob ich mitmachen wollte? Als ich ihr unterdrücktes Lachen gehört hatte, war ich auf Zehenspitzen aus meinem Zimmer geschlichen und hatte wissen wollen, worum es denn ging. Hätten sie mich da gefragt, dann hätte ich höflich Danke nein sagen und wieder ins Bett gehen können, ohne das Gefühl zu haben, ausgeschlossen worden zu sein.

Irgendwo in den fernen Wäldern heulte ein Wolf den riesigen, weißen Mond an, und ich biss die Zähne zusammen. Ich wäre so gern wieder ins Bett gegangen. Wahrscheinlich war es sogar noch warm. Dann hätte ich unter der Decke liegen können, bis die Dunkelheit verging, bis die Sonne und der Morgen kamen und meine Mutter wach war.

Ich wandte mich auf dem Absatz um und zertrat dabei mit dem Pantoffel ein trockenes Blatt. Dann würden sie morgen eben über mich lästern und mich feige nennen – das würde ich schon aushalten. Vielleicht würde der Schuppen sie aber auch verschlingen, und sie würden nie wieder nach Hause kommen.

Aber ich hatte erst einen Schritt zurück zum Haus getan, als ein lautes Klappern und ein Schmerzensschrei durch die Nacht hallten.

Eulen riefen. Blätter raschelten. Mir gefror das Blut in den Adern.

Wieder ein gequälter Schrei …

Und ich rannte, ohne nachzudenken, los.

Nicht zu meinem zerwühlten Bett, sondern zum düster vor mir aufragenden Werkzeugschuppen, der sich wie ein kleines Koboldhaus deutlich und einsam vor der sternenlosen Nacht abhob.

»Was ist passiert?«, hauchte ich, als ich die Tür aufriss. »Wölfe?«

Mir stieg der Geruch von Lack und Sägemehl in die Nase, und mein Rücken sandte einen Phantomschmerz aus.

»Es ist Halden …« Ryders Stimme klang ganz wacklig. »Wir haben Soldat gespielt. Halden hat in die Säge gefasst. Seine Hand, sie ist …«

Als ich die Augen zusammenkniff, sah ich im Dunkeln die Blutlache. Sie glänzte wie Öl. Und darüber … war Halden, der Junge, der immer lächelte, jetzt völlig in Tränen aufgelöst.

Noch nie hatte ich jemanden so weinen sehen.

»Es wird alles gut«, flüsterte ich, ohne zu wissen, warum ich das sagte. Seine Hand sah nicht danach aus. »Ich hole Mutter.«

»Bist du blöd?«, zischte Ryder und hielt mich am Ärmel zurück. »Sie weckt dann Vater, und wir werden alle bestraft. Bleib, wo du bist, ich lasse mir etwas einfallen.«

Ryders Augen, von einem Mondstrahl erhellt, glitten kurz zu Halden. Zorn leuchtete daraus wie eine Kerzenflamme, und mir fiel auf, wie sehr er mich an Powell erinnerte, wenn er so guckte.

Mein Magen verknotete sich bei diesem Anblick.

Halden hielt die verletzte Hand an die Brust gepresst, während ihm dicke Tränen und Rotz über das Gesicht liefen. »Das ist alles deine Schuld«, heulte er anklagend und starrte meinen Bruder dabei an. »Ich habe dir gleich gesagt, wir hätten hier gar nicht reingehen sollen.«

Damit hatte Halden recht. Der Schuppen war entsetzlich. So heruntergekommen, staubig und klein. Immer verschlossen. Ich wurde nur dann hier hineingeschleppt, wenn ich bestraft werden sollte. Mein Herz schlug jetzt schon viel zu schnell, weil ich es in diesen vier Wänden kaum aushielt. Mir war so eng um die Brust, als hätte ich vergessen, wie man atmet.

Ein und aus. Ein und aus.

Am liebsten wäre ich gerannt. So weit weg von hier, wie es mir in meinen verdreckten Pantoffeln möglich gewesen wäre.

Aber mein Bruder landete immer auf den Füßen. Er wusste immer, was zu tun war.

Und Halden schluchzte wie ein Tier, und … meine Finger taten weh.

Nein, das war nicht das richtige Wort. Sie kribbelten. Als hätte ich einen ganzen Nachmittag verkehrt auf ihnen gelegen, und sie wären mir eingeschlafen.

»Kann ich mal sehen?«, fragte ich meinen Bruder.

Ryder überlegte. Halden war für eine lange, tränenreiche Minute still, bevor Ryder nickte.

»Komm her«, sagte ich zu Halden.

Er widersprach nicht. Im trüben Mondlicht untersuchte ich die Wunde, die mit gezackten, wie ausgefranst aussehenden Rändern quer über seine Handfläche verlief. Die Nadelstiche in meinen Fingern wurden stärker. Jetzt begann auch noch mein Herz viel zu intensiv zu klopfen, wie ein Vogel, der in meiner Brust gefangen war.

»Ich glaube, ich höre etwas«, sagte Ryder. »Ihr beiden bleibt hier, ich gehe nachsehen …« Er schob sich so hastig an Powells Werktisch vorbei, dass Schrauben und Muttern herunterfielen.

Meine Brust schnürte sich noch weiter zu. Das würde Powell nicht gefallen. Er sortierte seine Schrauben nach Größe, und die Muttern waren dazu passend aufgereiht.

»Nun?«, schniefte Halden. »Wie sieht es aus?«

»Ich habe das für Mutter schon gemacht«, sagte ich ihm und reckte mich auf Zehenspitzen nach dem wackligen Regalbrett, das sich knapp außerhalb meiner Reichweite befand, und zog ihn dabei ein wenig mit. »Manchmal wollen ihre Beine nicht mehr so. Sie hat oft kleine Schnitte und Abschürfungen.«

Jetzt hatte meine suchende Hand den Lappen gefunden, der immer dort oben lag, und ich drückte den weichen Stoff auf seine Wunde und hielt ihn fest.

Haldens Schluchzer verebbten zu leisem Schniefen. Draußen unter der dunklen Decke der Nacht heulte noch einmal der Wolf. »Er wird nicht zurückkommen, weißt du.«

Ryder? Natürlich würde er wiederkommen. Das wollte ich Halden gerade sagen, als das Stechen in den Fingern so heftig wurde, dass ich nicht mehr denken konnte. Sie brannten und kribbelten. Obwohl mir vor dem blutigen Anblick grauste, hörte ich mich unwillkürlich fragen: »Zeigst du es mir noch einmal?«

Halden nickte, drehte aber den Kopf so weit zur Seite, wie er konnte, bis zu den dreckverschmierten Fensterscheiben, die fast kein Mondlicht durchließen. Dann kniff er auch noch die Augen zu.

Der Lappen hatte die Blutung schon etwas gestillt, aber … dann ging es plötzlich wieder los, und dicke Tropfen quollen hervor und fielen auf den Boden. Der Schnitt war tief. Unter der Haut konnte ich etwas Steifes, Weißes hervorragen sehen. Knochen und Muskelfasern. Sanft berührte ich die ausgefransten Wundränder, und ein schwaches Glühen wie das Morgenrot drang aus meinen Fingern bis in seine Hand.

Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen, und ich riss meine Finger zurück.

Haldens Haut begann sich vor meinen Augen von selbst wieder zu schließen.

Ich blinzelte. Einmal, zweimal …

Aber da war es. Eine Wunde, die sich von allein schloss.

Und dieses seltsame, panische Gefühl in meiner Brust, bei dem ich immer vergaß, wie man richtig atmete, war auch weg, genau wie das nervige Kribbeln. Ich drückte die Fingerspitzen gegen die Handfläche und spürte den jetzt verschwundenen Nadelstichen nach.

»Bist du fertig?« Halden hatte die Augen noch immer fest geschlossen.

»Fast.« Ich berührte die Wunde noch einmal, und jetzt war mein Glühen nicht mehr so intensiv, weniger wie ein Stern, eher wie eine Streichholzflamme. Aber nach einer Minute war in seiner Handfläche nur noch rosige, neue Haut zu sehen.

War ich eine Hexe? Würde Halden das glauben? Würde er es Mutter und Powell erzählen?

Oh, steinverdammt noch mal.

Ich verzog das Gesicht. Wir durften nicht fluchen.

Heute Nacht machte ich einfach alles verkehrt.

»Sieh noch nicht hin«, sagte ich und fühlte mich plötzlich unglaublich müde. Dann wickelte ich ihm die Hand wieder in den Lappen und machte einen festen Knoten, damit man nichts von der schnellen Heilung sah. »Ich denke, morgen früh wird es besser sein.«

»Danke, Arwen.« Halden wischte sich die Tränen mit dem Rücken seiner gesunden Hand von den Wangen. »Das hättest du nicht tun müssen.«

Wusste er, was meine Finger vollbracht hatten? Wusste er, dass dieses seltsame Phänomen, was auch immer es gewesen war, dazu geführt hatte, dass ich mich einerseits ganz ruhig fühlte und mir andererseits war, als würde ich in hellen Flammen stehen? Ich schluckte. »Was denn?«

»Dass du hiergeblieben bist und mir geholfen hast. Du hättest auch weglaufen können, so wie Ryder.«

Ich wischte die Säge ab, mit der die Jungen gespielt hatten, indem ich die blutigen Zähne über den Saum meines Nachthemds gleiten ließ. Dann hängte ich sie wieder an ihren Nagel und bückte mich, um alle Schrauben und Muttern aufzuheben, die Ryder auf den Boden gefegt hatte. Es waren so viele, dass es mindestens eine Stunde dauern würde, sie alle wieder richtig zu sortieren.

»Du warst verletzt«, sagte ich und gähnte. »Ich hätte dich doch nicht allein lassen können.«

»Doch«, sagte Halden, obwohl er bereits an mir vorbei zur Tür ging. »Hättest du.«

Erster Teil Die Asche

1

KANE

Ich wusste, dass ich mir dieses Mal eine Rippe gebrochen hatte.

Bei jedem Einatmen entfernten sich die Bruchstücke mit ihren abgesplitterten Kanten voneinander, und der Schmerz strahlte bis in die verkrampften Muskeln in meinem Rücken aus. Es war ein kleines bisschen weniger schmerzhaft, mich aufzusetzen, und ich holte angespannt und langsam Luft.

Der Geruch von Kiefern und Blut fuhr mir in die Nase.

Als ich blinzelnd die Augen öffnete, glitten sie als Erstes über die wasserfallartige Mauer aus solidem, funkelndem Eis, von der ich herabgestürzt war – die Spitze war noch immer hinter dicken, weißen Wolken verborgen, und die glatte Oberfläche wies nur dort ein paar Kratzer und Dellen auf, wo ich bei meinem erfolglosen Versuch, hinaufzuklettern, mit Fäusten und Füßen Halt gesucht hatte.

Erst hast du deine Leute im Stich gelassen. Dann sie. Und jetzt versagst du schon wieder.

Seelenqualen marterten mein Herz aufs Neue. Mit jedem Tag intensiver.

Sollte Trauer nicht im Laufe der Zeit schwächer werden?

Zweierlei Schmerz zog mir die Brust zusammen, als ich aufstand, dann klopfte ich mir Schnee und Dreck vom Hintern. Die tiefen Abschürfungen an meinen Handflächen brannten dabei. Was auch immer das für ein Schutzzauber war, den die Weiße Krähe um sein Zuhause gewoben hatte, er blockte alle Aspekte meines Lichtes ab – ich konnte mich nicht in meine Drachengestalt verwandeln, und die beschleunigte Heilung, über die ich als Fae verfügte, setzte auch nicht ein …

Langsam schlurfte ich durch das beinahe blendende Weiß hinunter zur Stadt, die am Fuß des Berges lag. Kaum hatte ich mich ein kleines Stück von der Eiswand entfernt, als die Kratzer, Brüche und Blasen, die ich mir zugezogen hatte, zu schwinden begannen. Mit dem Zeh zog ich eine Linie an der Stelle, an der sich der Schutzzauber zu verflüchtigen schien.

Bei der Bewegung verzog ich das Gesicht. Meine Rippe würde dennoch länger brauchen, um zu heilen.

Wäre ich klug oder geduldig gewesen, dann wäre ich zur Stadt hinuntergegangen, hätte mir in dem schmuddeligen, schiefergedeckten Wirtshaus ein Zimmer genommen und mich hingelegt, um in schrecklicher Stille zu warten, bis ich wiederhergestellt war.

Aber ich war nicht klug.

Und ich war auch nicht geduldig.

Und Schmerzen machten mir nichts aus.

Inzwischen war ich innerlich so erkaltet, dass ich beinahe froh war, wenn ich zumindest noch fühlte, dass mir die Knochen wehtaten.

Ich drückte mir die Handfläche auf die Stelle, von der die heftigen Schmerzwellen ausgingen, und nahm wohl zum hundertsten Mal den eisigen Gebirgszug in Augenschein. Hinter den nackten Kiefernästen, die dick mit Raureif überzogen waren, und den Spuren von Hasen und Rentieren, die sich über den Schnee zogen, erhoben sich zerklüftete Gipfel in so unermessliche Höhen, dass sie den Horizont verschlangen.

»Beabsichtigst du, dich noch einmal in einen Drachen zu verwandeln und hinaufzufliegen?«, rief eine mürrische, alte Stimme hinter mir. »Das hatte immerhin fast geklappt.«

Bei den verdammten Göttern.

»Nein«, knurrte ich.

Außerdem hatte es nicht fast geklappt. Es war mir lediglich gelungen, hoch genug aufzusteigen, um das winzige Steinhäuschen auf dem Gipfel zu entdecken und den ältlichen Zauberer dabei zu beobachten, wie er seinen gut bestellten Gemüsegarten pflegte. Als ich dann versucht hatte, durch seine Schutzzauber auf ihn zuzufliegen, hatte ich mich unwillkürlich in meine Menschengestalt zurückverwandelt und war aus dieser enormen Höhe abgestürzt.

Dabei hatte ich mir eine zertrümmerte Kniescheibe und eine Gehirnerschütterung zugezogen und mir beide Schultern ausgerenkt. Das Schlimmste war jedoch, dass ich ein paar Tage warten musste, bis mir die ausgeschlagenen Zähne nachwuchsen. Als Erwachsener zu zahnen, ist wirklich erniedrigend.

Es war gar nicht so schrecklich, mit großer Wucht auf festgestampften Schnee zu prallen. Auf gewisse Weise war mir der Schmerz willkommen. So konnte ich dasselbe erleben, was Arwen gefühlt haben musste – diese grauenvolle Machtlosigkeit. Wie sie durch die Luft gesegelt war, während all meine Instinkte mich dazu bewegen wollten, davonzufliegen, und mir mein Hirn entgegenbrüllte, dass ich das nicht konnte …

»Du wirst nicht sterben.« Das hatte ich ihr gesagt.

Bei der Erinnerung verkrampfte sich mein Gesicht.

Also versuchte ich es am nächsten Tag wieder. Und auch am übernächsten.

Beim zweiten Mal, dass ich in der Luft plötzlich meine Drachengestalt verlor, hatte ich mir die Wirbelsäule an zwei Stellen gebrochen und meine Beine nicht mehr gebrauchen können. Einen halben Tag hatte ich innerhalb der Zone gelegen, in der die Schutzzauber der Weißen Krähe wirkten, und konnte mich weder heilen noch bewegen, bis dieser Volltrottel auf meine hilflose Gestalt gestoßen war. Er hatte mich schließlich nach meinen klaren Anweisungen in Richtung Stadt geschleppt, bis mir irgendwann ein Kribbeln in den Wadenbeinen verriet, dass der Heilungsprozess begann.

Ich betrachtete den Mann, der jetzt erwartungsvoll mit dem Tragjoch auf seinen Schultern vor mir stand. Dieser runzlige, zerknitterte Weltverbesserer hieß Len, er hatte ein langes Gesicht und dünne Lippen, mit denen er viel öfter lächelte, als angebracht gewesen wäre. Len arbeitete als Tellerwäscher im einzigen Wirtshaus der Stadt und stieg jeden Morgen den Hügel hinauf, um frisches Wasser vom Brunnen zu holen. Er hatte mir einmal gesagt, dass er nur zu sehr daran gewöhnt war, dass irgendwelche traurigen Arschlöcher wie ich hier oben lagen, nachdem sie vergebens versucht hatten, die Weiße Krähe zu erreichen.

»Mach dich nicht kaputt«, sagte Len, um dessen Augen sich kleine Fältchen zusammenzogen. »Es ist schon eine Leistung, wenn man den alten Schwachkopf überhaupt aufspürt.«

Wieder hielt ich mir die pochende, gesplitterte Rippe und warf ihm einen kurzen Blick zu. »Mach, dass du wegkommst, Len.«

Er hob in spöttischer Ergebenheit die Hände. »Schon gut, schon gut. Komm runter zum Wirtshaus, wenn du wieder auftanken musst.«

»Ja, klar.«

Aber das würde ich nicht tun.

»Scheiße.« Keuchend rutschte ich an der Bergwand hinab und tastete nach den Steinen, die ich in die glatte Eisoberfläche gebohrt hatte, um Halt zu finden. Dann krachte ich mit der Brust gegen einen davon und rang nach Luft, als ich hart auf den Schnee schlug. Als ich meine Umgebung verschwommen wieder wahrnahm, sah ich einige braune Kaninchen, die ins pulvrig weiße Gebüsch davonhoppelten.

»Du wirst dich noch umbringen, bevor dir gelingt, was auch immer du hier oben tun wolltest.«

»Wieso bist du immer hier?«, krächzte ich mit dem Mund voller Eis zu Len hinauf.

»Weil hier oben nun mal der verdammte Brunnen ist!«

Ich reckte den Hals. Len deutete auf die Wasserquelle und bewegte dabei das Tragjoch auf seinen Schultern, sodass die gefüllten Eimer links und rechts leicht überschwappten. »Wenn du mir hilfst, die hier in die Stadt zu bringen, gebe ich dir ein Bier aus.«

»Dazu ist keine Zeit«, stieß ich abgehackt hervor und merkte, dass meine Wange unter dem Bart von dem Schneematsch allmählich taub wurde.

Monate waren inzwischen vergangen. Wenn Lazarus die Sonnenklinge schon zerstört hatte … dann würde ich endlos viel Zeit haben. Eine elende, qualvolle Ewigkeit.

Ich schluckte die Übelkeit hinunter, die bei dem Gedanken in mir aufstieg, atmete die eisige Luft ein und drehte mich stöhnend auf den Rücken.

So darfst du nicht denken.

Diese kranke, verwundete Sehnsucht machte sich in meiner Brust breit, so wie immer, wenn ihre Stimme durch meinen Kopf hallte. Wie Glocken. Wie süße Musik.

Arwen, die mir sagte, dass ich gar nichts mit Sicherheit wissen konnte, bevor ich nicht Lumera erreicht und mich selbst davon überzeugt hatte. Und das konnte ich nicht, ich konnte nicht vor meinen Vater treten, bis ich nicht auch selbst reinblütig war und damit eine Chance hatte, ihn zu vernichten.

Und deswegen musste ich auf diesen Scheiß-Berg hinauf.

Bis ganz nach oben, wo sich die undurchdringlichen Wolken um den eisigen Gipfel drängten.

Ich kniff die Augen zusammen. Wenn hier die Sonne jemals Licht spendete, dann war sie schon vor Stunden hinter den Bergen versunken. Das erkannte ich an dem düsteren, bläulichen Schimmer, der gedämpft auf dem Schnee lag, und an der Kälte, die mir in die Knochen kroch.

An den ersten Tagen meiner Reise zu den Perlenbergen hatten mir einige Ortsansässige gesagt, dass ich den hellen Sommer mit dem klaren Himmel knapp verpasst hatte. Hier im schwebenden Reich war es das ganze Jahr über kalt – das hatte etwas mit der Höhe zu tun, oder mit der Magie, die dafür sorgte, dass die Stadt in den Wolken schwebte –, aber im Herbst und Winter, wenn es weniger als acht Stunden am Tag hell war und es ohne Unterlass schneite, war die Kälte besonders brutal. Hier in Vorst, jener Region, in der sich die Weiße Krähe niedergelassen hatte, war es besonders schlimm.

In Schattenstein ging der Herbst wahrscheinlich gerade erst zu Ende, und der Schattenwald stand voller Fliegenpilze und Brombeeren.

Wieder ein fieser Tritt in den Bauch. So fühlte es sich jedenfalls in letzter Zeit an, wenn ich an meine Burg dachte. Nicht, weil ich mein Volk vermisst hätte, oder Griffin und Acorn. Oder weil ich mich nach Annehmlichkeiten wie Fliederseife, Whisky und Kleebrot gesehnt hätte.

Sondern weil selbst dann, wenn mir dieser gefährliche, frostige Aufstieg gelang, wenn ich die Weiße Krähe erreichte und ihn dazu bringen konnte, mich zu einem reinblütigen Faen zu machen, wenn ich all die Qualen überstand, die all das mit sich brachte und ich es schaffte, mit heiler Haut zu meiner schattenverhangenen, vertrauten Burg zurückzukehren …

Dann würde Arwen nicht dort sein.

Ihre Bücher, voller gepresster Blumen, ungeöffnet. Die Seite meines Betts, von der ich so naiv gehofft hatte, dass sie einmal ihre sein würde, auf ewig kalt. Nie würde ich dieses glockenhelle Lachen wieder hören oder den Orangenduft ihrer Haut riechen.

Ich würde zusehen, wie sich mein Zuhause in eine Gruft verwandelte.

Ich drehte mich auf den Bauch, vergrub mein Gesicht im Schnee und brüllte, bis meine Lunge zu brennen begann. Bis mir die Tränen in den Augen brannten und meine Brust krampfartig gegen den Boden stieß, während mich die Qual, die Schuldgefühle, die unerträgliche Trauer innerlich zerrissen …

»Bei den lebenden Steinen«, hauchte Len. »Du brauchst eine Pause.«

»Nein«, knurrte ich, spuckte das Eis aus meinem Mund und rappelte mich auf. »Das hilft. Mir geht es gut.«

»Es ist schon fast Nacht. Du kannst keinen Berg aus Eis im Dunkeln besteigen, nicht mit einer gebrochenen Rippe und einem durchbohrten Lungenflügel. Willst du dich umbringen, Junge?«

Das hatte ich mich schon so oft gefragt, dass ich es nicht mehr zählen konnte. »Hängt vom Tag ab.«

Len bedachte mich mit einer ausdruckslosen Miene. »Ein Bier, eine warme Mahlzeit, und dann kannst du bei Sonnenaufgang wieder vom Berg fallen.«

Vielleicht hatte er recht. Ich näherte mich gefährlich diesem gewissen Punkt, an dem mir mein eigener Tod ein bisschen zu verlockend erscheinen wollte. An dem ich ihr folgte und endlich nicht mehr einen scheußlichen Tag nach dem anderen ohne sie leben musste. Aber dann wäre ihr Opfer umsonst gewesen, und das – das konnte ich nicht zulassen. Weder im Leben noch im Tod.

Der trockene Wind prickelte auf meiner Haut, als ich stöhnend zu Len hinüberhumpelte. Als ich näher kam, bekam sein Gesicht einen verängstigten Ausdruck, aber ich nahm ihm nur das Joch mit den Eimern von den Schultern und drängte mich an ihm vorüber, dann stapfte ich den Berg hinab. Lens Aufatmen war deutlich hörbar, als er hinter mir durch den Schnee gelaufen kam.

Vorst war kaum als richtige Stadt zu bezeichnen, nicht einmal als richtiges Dorf. Hier gab es weiter nichts außer dem bereits erwähnten, heruntergekommenen Gasthof, einem fast leeren Laden, einem Tempel und Lens ruhigem, aus Stein gemauertem Wirtshaus. Genutzt wurde es nur von Durchreisenden, lebenslangen Einzelgängern wie Len und hin und wieder Gelehrten oder Priestern, die in diesem entlegenen Winkel Perlmutts in Abgeschiedenheit studieren oder den Steinen dienen wollten.

Lens Wirtshaus – von dem er mir während unseres Abstiegs dreimal erzählte, dass es nicht ihm, sondern seinem Cousin Faulk gehörte – war eine frostige, schiefergraue Hütte am Dorfrand. Ich musste mich beim Eintreten ducken, weil die schiefe Decke so niedrig war, und gebeugt stehen bleiben, was mir wegen meiner Verletzungen im Bauchbereich Wellen aus Schmerz durch den Körper sandte.

Der ungastliche Schankraum bot lediglich ein paar zusammengesuchte Stühle und eine Bank, unter der ein Mann schnarchte, und ich suchte mir in einer ruhigen Ecke neben der Feuerstelle einen Platz. Mein Tisch bestand aus einem umgedrehten Schweinetrog, auf dem eine einzige Kerze, der eine leere Weinflasche als Halter diente, verzweifelt flackernd vor sich hinschmolz.

»Was kann ich dir bringen?«, fragte Len und schürte das knisternde Feuer.

Die Hitze drang durch meine steifen, nassen Kleider. Zwischen den einzelnen Schichten schmolzen die letzten Überreste von Eis und Schnee. Ich zog meine Handschuhe aus, kämmte mir den Raureif aus dem Bart und hielt meine Hände näher an die Flammen. »Ich nehme das Bier, das du mir angeboten hast. Und was auch immer du zu essen hast.«

Len nickte und kehrte wenig später mit einem schäumenden Bier und einer lauwarmen Fleischpastete zurück. Beim ersten Biss merkte ich schon, dass sie hauptsächlich aus Knorpel bestand, aber ich verzehrte sie trotzdem komplett und bestellte noch eine zweite. Hier, in ausreichender Entfernung von der Weißen Krähe, besserten sich mein Appetit und meine Verletzungen gleichermaßen. Ich drehte mich ein wenig hin und her, um meine verspannte Wirbelsäule zu lockern.

»Willst du wissen, wie Faulk dieses Wirtshaus nennen wollte?«, fragte Len, der sich mir gegenüber auf einen niedrigen Hocker setzte und sich irgendein Tierfell über die knotigen Knie zog.

Mich überfiel kribblige Genervtheit. Nachdem mir der ältliche Mann gerade die erste warme Mahlzeit seit Tagen spendiert hatte, konnte ich ihm schlecht sagen, dass er mich in Ruhe lassen sollte. Aber genau das hätte ich sehr, sehr gern getan.

Als ich schwieg, beantwortete er die Frage einfach selbst. »Zum gefrorenen Yak.«

»Ja … das ist scheußlich.«

»Ich habe ihm gesagt, dass jeder Gast sofort an steinharte Kotze denken wird, wenn er was isst.«

Mein Blick wanderte zu der matschigen Pastete, die vor mir stand, und ich ließ die Gabel sinken.

»Du bist ja offensichtlich nicht von hier, aber in Vorst sagt man, dass Yaks …«

»Sei mir nicht böse, Len, aber ich hätte gern ein bisschen …«

»Ruhe?«

Ich antwortete mit beredtem Schweigen.

Len beugte sich jedoch nur weiter zu mir. Seine gesprungenen Lippen verzogen sich zu einem neugierigen Grinsen. »Was willst du überhaupt von der alten Krähe?«

Neben mir knackte das Feuer, und der schnarchende Mann in den Schatten drehte sich auf die Seite. Ich stöhnte wie ein Ochse. »Ist das überhaupt er, der da oben haust?«

Len schniefte, und die Fältchen seines Gesichts zogen sich so mühelos zusammen, als ob er das nur allzu oft tat. Eine chronische Triefnase vom chronischen Winter. »Ja, das ist er schon. Ein oder zwei Mal war er auch hier unten. Hat Sämereien für seinen Garten gekauft.«

»Steht irgendjemand in Vorst mit ihm in Verbindung? Könnte man ihm eine Nachricht zukommen lassen?«

Len schüttelte den Kopf.

»Nicht einmal vom …«

»Vom König von Onyx?«

Ich bekam fast ein Stück fettigen Pastetenteig in die falsche Kehle.

»Die Leute reden«, sagte Len und lehnte sich zurück. »Selbst in so kleinen Käffern wie diesen. Deinem Land fehlt seit zwei Monaten der König. Und es gibt nicht so viele Männer, die sich in Drachen verwandeln können. Soweit ich weiß, nur zwei.«

Misstrauisch kniff ich den Mund zusammen. »Was weißt du über meinen Vater?«

Len verzog das Gesicht. »Dieses ganze Reich besteht aus Gelehrten. Er ist ein Fae, oder nicht?«

Ich sagte nichts, sondern blieb kerzengerade aufgerichtet sitzen, die kleine Gabel verkrampft in der Hand.

»Wieso hast du dein Königreich verlassen?« Len nahm das Messer, das vor mir auf dem Tisch gelegen hatte, und drehte es in den krummen Fingern. »Seid ihr nicht im Krieg?«

Mich überkam eine solche Wut, dass ich beinahe die Fäuste geballt und dem dünnen Kerl einen Schlag verpasst hätte. Ich tat es nur deshalb nicht, weil ich auf mich selbst mindestens genauso wütend war – die Wahrheit in seinen Worten erinnerte mich an meine ganzen Fehler. Daran, dass ich gezwungen gewesen war, hierher zu reisen und sie alle zurückzulassen.

»Ich habe niemanden verlassen«, knurrte ich. »Meine Männer bereiten sich auf die Schlacht vor. Ich bin hier, um etwas zurückzuholen, das wir für einen Sieg unbedingt brauchen.«

»Und was ist das?«

Lens Neugier war inzwischen nicht nur nervtötend, sondern verdiente längst eine Gabel in der Kehle.

»Komm schon«, drängte er. »Wem soll ich es schon verraten? Den Ratten, die sich hier tummeln?«

Ich holte tief Luft. »Der Mann, den ich vernichten will, kann nur von einem ganz bestimmten Faen getötet werden. Ich brauche die Weiße Krähe, damit er mich … so verwandelt, dass ich ihn schlagen kann.« Die nächsten Worte sprach ich langsam, als wollte ich sie möglichst tief in Lens schwachen Verstand einsickern lassen. »Kannst du mir helfen, den Zauberer zu erreichen?«

Lens Blick wurde sanft, und ganz kurz glaubte ich, er würde tatsächlich einwilligen. »Warum jetzt? Du kämpfst doch schon seit Jahren gegen diesen Mann?«

Ich stieß meine verbogene Gabel in die weiche Mitte der Pastete und ignorierte ihn. Noch zwei Bissen, und ich würde mich wieder auf den Weg zu den Bergen machen …

»Wenn du mir antwortest, kann ich dir vielleicht helfen, Kontakt zu dem Zauberer aufzunehmen. Schließlich lebe ich seit sechzig Jahren unter ihm.«

Ich wollte mit dieser Kröte nicht über Arwen reden. Ich wollte mit niemandem über sie reden.

Len erwiderte meinen starren Blick, als gäbe es nichts auf der Welt, was er fürchtete. Wenn ich jetzt ging, dann würde ich nie herausfinden, ob ein winziges bisschen Nettigkeit gegenüber diesem Mann vielleicht einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung bedeutet hätte. Das hätte Arwen jedenfalls gesagt.

»Es gab eine Person, die diesen Mann hätte töten können«, sagte ich endlich. »Sie lag mir sehr am Herzen. Sie ist gestorben.«

Len nickte langsam, als ob er jetzt endlich verstand, wieso ich immer so kalt war. »Mein Beileid, mein Junge. Ich habe auch vor Kurzem eine Frau verloren, die mir sehr wichtig war. Ich hatte sie viele Jahre nicht gesehen.« Len schniefte wieder. »Tut noch immer weh.«

Das unverwechselbare Rascheln von Rattenfüßen war über dem niedrigen Dach zu hören und entlockte dem Mann, der noch immer unter der löchrigen Bank neben uns lag, ein Grunzen.

Len lehnte sich näher an die Feuerstelle. »Was würdest du dafür geben, um sie zurückzuholen?«

Alles.

Ich trank lediglich mein Bier aus.

»Komm schon, Junge. Was würdest du dafür geben?«, drängte Len weiter.

Die Sehnsucht des Tellerwäschers nach Gesellschaft raubte mir den letzten Nerv. »Wieso fragst du das?«

»Wieso nicht?«

»Ich gebe mich nicht mit Gedankenspielen ab.«

Len lachte leise und spielte noch immer mit dem Messer. Dann langte er auf meinen Teller, brach ein Stück von der Teigkruste ab, zerbröselte es und ließ es auf den Boden fallen.

Eine fette, flinke Ratte huschte unter den Dielenbrettern hervor und näherte sich zunächst zögernd. Sie wollte sich die Krümel holen, war aber nicht dumm. Der Nager wartete erfahren und geduldig ab, bis Len wieder an den Tisch rückte und ihm den Rücken zuwandte.

»Was tust du da?«

»Ich will nicht, dass du dich hier noch länger aufhältst, Junge.« Er hatte sich mir zugewandt, aber seine Augen ruhten auf der Ratte, die jetzt mit den rosigen, dünnen Pfoten nach den fettigen Krümeln langte. Bevor ich ihn daran hindern konnte, holte Len mit dem Messer aus und spießte das Tier mit einem ekligen Knirschen auf.

»Bei den Göttern, Len…« Der Mann war senil. Und in dieser eisigen, einsamen Ansiedlung ganz allein. Ich erhob mich und wollte gehen, während ich mich fragte, ob es diesen Faulk überhaupt gab.

»Setz dich«, befahl er und legte die aufgespießte Ratte auf den Tisch. Das wenige Blut des Tiers sammelte sich rund um meine halb verzehrte Pastete.

Schattennebel waberte um meine Fäuste. Zwar war ich erzürnt, hatte aber trotzdem nicht wirklich den Wunsch, Len wehzutun. Aber das war …

»Und das da wollen wir auch nicht«, sagte der alte Mann und deutete mit einer Kinnbewegung auf meine Hände. Er hatte das Messer herausgezogen, legte es auf den Tisch und wartete. Zwar hatte ich keinen Grund zu bleiben, aber eine seltsame Neugier, vielleicht auch eine Art von Einsamkeit, die lange schon in mir begraben lag, hielt mich vom Gehen ab, und ich beobachtete nun, wie Len mit seiner runzligen Hand über den rundlichen Körper der Ratte strich.

Ohne Beschwörung, ohne Lichte oder übersinnliches Glühen zuckte die Ratte plötzlich. Und dann noch einmal. Len hatte kein Wort gesagt, aber die gekrümmte Wirbelsäule des Nagers fügte sich mit einem hörbaren Knacken wieder zusammen. Das langschwänzige Tier stieß ein verstörendes, gruseliges Quieken aus, dann erhob es sich und wuselte über den Tisch. Es sprang auf den Boden und kroch dann in das Loch in den Dielenbrettern, aus dem es hervorgekommen war.

Mein Herz schlug wild gegen die gebrochenen Rippen. Das war mehr, als selbst Briar Creighton vermochte.

Nekromantik.

Wieder sah ich Len an. Seine Augen, die Fältchen in den Augenwinkeln. Das leise Lächeln, das seine Lippen umspielte.

»Du bist das. Du bist …«

»Und jetzt beantworte mir meine Frage, Junge.«

Mit wackligen Knien ließ ich mich wieder auf meinen Sitz fallen.

Die Weiße Krähe war den ganzen Abend über bei mir gewesen.

Ich war ein verdammter Narr.

Und jetzt erkannte ich, was hinter seiner Frage steckte.

Es war eine Prüfung. Eine, auf die ich nicht die richtige Antwort wusste. Natürlich kannte ich die Wahrheit – dass ich alles geben würde, jedes Glied meines Körpers, mein Leben, mein Reich, um sie zurückzuholen. Dass ich mir die Haut abgezogen und die Welt in Stücke geschlagen hätte, um sie nur noch einmal in den Armen halten zu können …

Aber ich hatte keine Ahnung, ob das in den Augen der Weißen Krähe die richtige Antwort war.

»Um sie zurückzuholen, würde ich mehr geben …«, brachte ich mit einem Atemzug heraus. »Mehr, als du dir vorstellen könntest.«

»Und wenn es deinen eigenen Tod bedeuten würde?«

»Ohne nachzudenken.«

»Ja, das ist auch leicht, nicht wahr? Aber was, wenn es das Leben eines Unschuldigen kostet? Was, wenn ihre Wiederauferstehung verlangte, dass eine gleichwertige Schuld beglichen würde …«

Plötzlich war ich wieder auf dem Schiff inmitten des Mineralmeers und streckte die Arme nach der tränen- und blutverschmierten Arwen aus.

»Da wusste ich, dass ich es nicht tun konnte. Nicht einmal, um ganz Evendell zu retten … Hast du mir zugehört? Ich war bereit, eine ganze Welt zu opfern, um dein Leben zu bewahren!«

»Ja«, gab ich zu. Vor Scham versagte mir fast die Stimme, und ich hielt den Blick auf das eintrocknende Rinnsal Rattenblut gerichtet, das sich klebrig und fast schwarz über die Tischplatte zog. »Ich würde für sie töten. Tausend Mal und mehr.«

»Und wenn ich deine Geliebte wieder aus dem Grab holte, die Erde von ihr abbürstete, sie zu neuem Leben erweckte und dir das reine Faen-Blut gäbe, das du begehrst? Wenn ich sagte, dass keiner von euch beiden sterben müsste, was würdest du dann tun?« Die Zähne der Weißen Krähe blitzten im verblassenden Licht, und in dem nun eiskalten Raum stieg der Atem weiß von unseren Mündern. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich am ganzen Körper zitterte.

»Würdest du deine neue Haut noch immer nehmen«, fuhr er fort, als ich nichts sagte, »reinblütig neu geboren, so wie die Prophezeiung es verlangt, und deinen Vater töten? In dem Wissen, dass dann der Tod auf dich wartet, so wie einst auf sie? Obwohl du weißt, dass du beinahe eine Ewigkeit an ihrer Seite leben könntest? Würdest du dich dann noch immer zum Segen des Reichs aufopfern?«

Nein.

Wenn die Götter so grausam waren, und wenn mich dieser schlaue, durchtriebene Hexenmeister zu einem reinblütigen Faen machen und Arwen wiederauferstehen lassen konnte … Dann würde ich nie wieder von ihrer Seite weichen, nein. Es hatte keinen Zweck, mir etwas anderes vorzumachen. Und so zu tun, als wäre ich viel selbstloser, als ich war und jemals sein würde.

»Eine große Enttäuschung.«

Mir schoss der Atem aus der Lunge. »Ich habe nicht gesagt …«

Noch eine Bewegung seiner runzligen Hand, und das alte, namenlose Wirtshaus von Vorst war verschwunden.

Als sich die Flecken in meinem Sichtfeld wieder auflösten, waren mir die Hände an einen luxuriösen Esstisch aus Ahornholz gefesselt. Er war sauber, poliert und funkelte im weichen Kerzenlicht. Der Raum war von Dutzenden brennenden Wachsstäben erhellt.

Es war kein Wirtshaus mehr, sondern die Behausung eines Junggesellen: ausladende, grüne Sofas, übereinanderliegende und nicht zusammenpassende, cremefarbene Teppiche, exotische Weinflaschen und Kristalldekanter mit Branntwein. Holz und Leder, dazu das rauchige, würzige Aroma von Weihrauch.

Mir war noch nicht einmal aufgefallen, wie ohrenbetäubend der ewige Wind durch die mächtigen Bäume gefahren war, bis er nun verstummte. Bis sein Heulen von nachsichtigem Schweigen ersetzt wurde.

Und der Schleier eisiger Kälte – verschwunden. Stattdessen zupfte eine leichte, warme Brise an den lose herabhängenden Gardinen. In meinen Lungen fühlte sie sich wie Honig an. Trotz der Höhe und der Jahreszeit, die gegenwärtig in Vorst herrschte, sorgte Lens Magie in seinem Versteck für ein gemäßigtes Klima.

Und dennoch gefror mir das Blut in den Adern, als meine Gedanken plötzlich ins Stocken kamen.

Das war keine Magie.

Und vor mir … saß nicht Len. Oder doch, noch immer Len, aber vielleicht so, wie er vor dreißig Jahren ausgesehen haben mochte. Kraftvoll, weise, kantig. Ein Mann, dem man das eigene Leben anvertraut, aber vielleicht nicht die eigene Frau.

Len, die Weiße Krähe … Wer auch immer er sein mochte, er war kein bloßer Hexenmeister.

»Was bist du?«

2

ARWEN

Ich kreischte, wand mich hin und her und versuchte mich meinen Bewachern zu entziehen, ohne meine tollwütige, unbändige Wut auch nur das kleinste bisschen zu bezähmen.

Der Schmerz änderte nichts daran. Allerdings tat es auch nicht mehr so weh. Nicht mehr.

Nach all diesen Wochen war es eher ein erniedrigender Gewaltakt, der mir mental stärker zu schaffen machte als körperlich, wenn man mir mein Lichte abzapfte.

»Halt still«, knurrte Maddox, dessen silberne Rüstung sich wie Kräuselwellen über den straffen Muskeln bewegte. »Du machst uns das hier nicht leichter.«

Deswegen schrie ich ja.

»Gut«, zischte ich dem holzköpfigen Königswächter mit dem unerträglich kantigen Kinn entgegen. Gleichzeitig holte ich aufs Geratewohl mit den Beinen aus und erwischte Wyn mit einem kräftigen Tritt am Knie.

»Aua«, schnaufte er, und dabei fiel ihm das weiche, dunkle Haar in sein harmloses Kindergesicht.

»Das wäre nicht passiert, wenn du dich hingekniet hättest, so wie ich«, fuhr Maddox seinen Untergebenen aus seiner geduckten Haltung heraus an, während er mich auf dem Stuhl festhielt. Dann brummte er unterdrückt: »Schwach, in mehr als einer Hinsicht.«

»Lasst mich los«, verlangte ich. »Ihr kriecherischen, unterwürfigen …«

Octavia schnitt mir das Wort ab. »Wie sehr ich diese Stimme verabscheue.«

Ich hätte über die Hexenmeisterin, die gerade das Lichte aus meinen Adern kratzte, dasselbe sagen können. Beim ersten Mal, dass sie mein Lichte erntete, hatte ich wie ein kleines Kind geschluchzt, aber beim fünfzehnten Mal war es mir endlich gelungen, ihr ins Auge zu spucken. Vielleicht, weil ich irgendwann dazwischen beschlossen hatte, dass mich Octavia an eine alternde Python erinnerte. An eine gewaltige Schlange ohne natürliche Feinde, deren Schuppen schon ihren Glanz verloren hatten, die aber fest entschlossen war, ihre Macht und das Ausmaß ihrer Gemeinheit jedem zu beweisen, der ihr zuhören wollte. Und manchmal besonders jenen, die das nicht wollten.

Sie sprach sogar mit einem schlangenartigen Zischen. »Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn ich es einfach herausreißen würde.«

Ich wollte einen Hagel Flüche über sie niedergehen lassen – aber es kam kein Laut mehr aus meinem Mund. Stille, so sehr ich auch schrie und keuchte und wimmerte.

»Viel besser.«

Octavia wandte sich wieder ihrer ekligen Aufgabe zu und rückte die Röhren zurecht, die an meinen Handrücken und in meinen Armbeugen befestigt waren. Ich verzog vor Schmerz das Gesicht, und ich hätte schwören können, dass ich in ihrem Grinsen Giftzähne aufblitzen sah. Sie betrachtete das blasse, weiße Lichte, das durch ihren Apparat tropfte und sich in den großen Glasbehältern sammelte, die vor ihr standen. Ihr ergrauendes, hüftlanges Haar strich über meine Beine, während sie ihrer Arbeit nachging. Maddox’ düsteres Brummen hallte wie ein Echo in meinen Ohren. Die ekelhafte Freude über meine Schmerzen versetzte seine Stimmbänder in Schwingungen. Ich fragte mich, ob ihm dieses mahlende Geräusch überhaupt bewusst war.

Ich ließ mich wieder in den Sessel sinken, und mein ergebener Seufzer brachte ein paar Haarsträhnen vor meinem Gesicht zum Flattern.

Es war derselbe überdimensionierte, samtbezogene Sessel, in dem ich fast jeden Tag saß. In demselben üppig ausgestatteten Zimmer, in dem ich vor zwei Monaten aufgewacht war. Das oben in dem beängstigend hohen Turm des Palasts lag, in der Hauptstadt jenes alptraumhaften Faen-Reichs, das ich offenbar niemals wieder verlassen würde.

Nachdem Octavia mir auch das letzte bisschen Lichte abgezapft hatte, das sich in meinen Adern befand, legte mich Wyn völlig entkräftet und noch immer mit Stummheit geschlagen auf das trügerisch prächtige Bett. Meine Arme fielen mir kraftlos über die Brust, und ich rollte mich zu einer Kugel zusammen. Mir war egal, wer das mitbekam.

Vielleicht lag es gerade an dieser Geste – diesem Eingeständnis, dass ich mich ihrer Macht ergab –, dass mich Octavia so schlangengleich angrinste, als sie aus dem Zimmer ging, und eine kurze Handbewegung machte. Bei meinem nächsten Husten stellte ich fest, dass meine Stimme zurückgekehrt war.

Kaum, dass Olivia verschwunden war, marschierte die Königsgarde ins Zimmer. Ihre Rüstung ließ mich an seltene, silberne Schalentiere mit Exoskelett denken; sie bestand nicht aus Leder oder Stahl, sondern aus einer glänzenderen, schuppenartigen Legierung, die über ihren Gelenken Fältchen bildete. Die Helme waren so glatt wie eine zweite Haut, daher wirkte es so, als seien ihre Schädel in dieses Zeug hineingetaucht worden. Ein durchsichtiges, rotes Visier bedeckte ihre Gesichter, und ich ertappte mich bei dem flüchtigen Gedanken, dass dies im Falle eines Kampfs der einzige Punkt sein würde, an dem meine Klinge etwas gegen diese Männer würde ausrichten können. Das Material, aus dem ihre Brustpanzer und Beinschienen bestanden, würde ganz sicher keine von Menschenhand geschmiedete Waffe durchdringen.

Vielleicht wäre das mit der Sonnenklinge gelungen. Mit meiner Klinge, die lange schon verloren war.

Die muskulösen Wachleute trugen die schweren Behälter mit meinem Lichte aus dem Zimmer, und dabei empfand ich eine eigentümliche, tiefe Scham. Ich hob den Kopf zur Decke und sah zum schwebenden, perlenverzierten Kronleuchter hinauf.

Nachdem ich endlich gehört hatte, dass die Türen zugefallen waren, setzte ich mich auf. Meine Beine verhedderten sich in meinem Unterrock, der aus unzählig vielen, weichen Stofflagen bestand.

Wie immer waren meine beiden Schatten im Zimmer geblieben. Maddox stand kerzengerade an der Tür, mit seinen kalten Knopfaugen, dem definierten Kinn und dem kurz geschorenen, strohblonden Haar, und das nervtötende Summen drang noch immer aus seiner Nase, ohne dass er das zu bemerken schien. Wyn humpelte ins Badezimmer und kam mit einer kalten Kompresse für meine Stirn wieder heraus. Mein Tritt von vorhin hatte sein ohnehin schon schwaches Knie deutlich in Mitleidenschaft gezogen.

Ich drehte den Kopf weg, als er mir das Tuch auflegen wollte. »Ich weiß nicht, wieso ihr euch überhaupt so viel Mühe macht.« Meine Stimme war noch rau von Octavias Zauberbann.

»Ich weiß nicht, wieso du dich jedes Mal wieder dagegen sträubst«, sagte er und betupfte trotzdem meine Stirn. Das feuchte Tuch war angenehm an meinen feuchten Schläfen.

Es war ein seltsamer Befehl, den Lazarus meinen beiden Wächtern vor vielen Wochen gegeben hatte. Einerseits sollten sie mich hier gefangen halten, in diesem mächtigen, hohen Turm, der sich weit über den Rest des Palastes erhob – und über die befestigte Hauptstadt Lumeras, Solaris. Zwar wusste ich, dass ich mich innerhalb ihrer Mauern befand, hatte aber noch nichts von der Stadt gesehen, sah man von dem überwältigenden Ausblick ab, den eines meiner Fenster gewährte. Maddox und Wyn hatten den Auftrag, mich an der Flucht zu hindern – auch auf Kosten ihrer und meiner Gesundheit, wie mir in den ersten Wochen klar geworden war, als ich Maddox beinahe die Augen ausgekratzt hatte und er mir einen so harten Schlag gegen den Kiefer verpasste, dass es eine ganze Woche dauerte, bis mein Gesicht wieder seine ursprüngliche Form annahm.

Andererseits waren die beiden dazu da, um mich zu bedienen. Um dafür zu sorgen, dass ich es gemütlich hatte, und um mich jetzt am Ende des Sommers mit Quittentörtchen und Wacholderparfüm und zarten Fächern aus Straußenfedern zu verwöhnen. Um jeden Tag diese erstickenden Sandelholzkerzen mit ihrem eklig süßen Geruch anzuzünden. Solange ich meine Gemächer nicht verließ, sollte es mir an nichts fehlen. Zu meiner Unterhaltung gab es wenig abwechslungsreiche Kartenspiele und ganze Stapel von Büchern voller Propaganda, in denen der gebieterische und rechtschaffene Faen-König Lazarus Ravenwood gefeiert wurde. Der Inbegriff von Heldenmut, Fairness und Vitalität. Gleichermaßen geliebt und gefürchtet. Was für ein Haufen Scheiße.

Ich war gleichzeitig der Ehrengast und die Entführte. Die Gefangene, die demnächst Gemahlin des Königs werden sollte.

Wyn verstand sich auf das Umsorgen besser als sein brutaler Kamerad. Sie hätten sich vielleicht gut ergänzt, wenn sie sich gegenseitig nicht genauso verabscheut hätten, wie ich sie alle beide hasste.

Jetzt betupfte Wyn vorsichtig meine Schlüsselbeine. Ich hätte ihn weggestoßen, wenn ich dazu genug Kraft gehabt hätte. Man musste ihm allerdings lassen, dass er es bei der Erfüllung seiner pflegerischen Aufgaben niemals an Anstand mangeln ließ. Falls man von Anstand sprechen konnte, wenn man jemanden gefangen hielt und zuließ, dass dieser Person gewaltsam Körperflüssigkeiten abgezapft wurden.

Aber auch, wenn Wyn mich nie unsittlich berührte … ich wehrte mich trotzdem mit aller Macht gegen ihn. Und auch gegen Octavia, obwohl ich wusste, dass ich keine Chance hatte, mich ihrer Folter zu entziehen. Aber wenn ich damit aufgehört hätte … dann hätte ich mich aufgegeben. Und ich hielt stur an der Hoffnung fest, dass ich eines Tages, und wenn es vielleicht auch Jahrhunderte dauern mochte, wieder erfahren würde, wie sich Freiheit anfühlte.

Wenn mich die Zweifel so heftig quälten wie heute, dann dachte ich an Kanes schiefes Grinsen. Wenn ich so laut kreischte, dass meine Peiniger sich Stopfen in die Ohren steckten, oder wenn ich so fest zubiss, dass ich Blut schmeckte, dann waren es seine Worte, die wie eine Tempelglocke durch meinen Kopf hallten. Das ist mein böses Vögelchen. Was für Klauen. Was für gemeine, herrliche Klauen.

Erst vor ein paar Wochen hatte ich damit begonnen, Trost darin zu suchen, dass ich ihn wirklich hörte. Jedenfalls glaubte ich, dass es erst ein paar Wochen her war. Inzwischen hatte ich in diesem luxuriösen Gemach zwischen Marmorfußboden und scharlachrotem Brokat jedes Zeitgefühl verloren. Das ständige Abzapfen meines Lichtes schwächte mich, ich war unsagbar einsam und wurde durch den Mangel an Sonnenlicht immer blasser. Meine Tage bestanden aus einem betäubenden, verwirrenden Kreislauf aus Schlafen und grimmiger Gegenwehr. Kanes eingebildete Stimme in meinem Kopf war alles, was mir noch blieb.

Die Tür zu meinem Gemach öffnete sich knarrend, und das Geräusch ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Maddox steckte den Kopf halb nach draußen, um mit jemandem zu sprechen, und ich hielt den Atem an.

Eine Minute verging.

Und noch eine.

Aber schließlich nickte er nur und schloss die schweren anthrazitgrauen Türen wieder.

Ich zwang mich, nicht darüber nachzudenken, was nun geschehen mochte.

»Sie ist ein paar Tage früher gekommen«, ließ Maddox Wyn kurz angebunden wissen. »Seine Majestät braucht mehr Wachleute. Bleibst du hier bei ihr, während ich den anderen helfe?«

»Natürlich«, sagte Wyn.

Maddox fixierte ihn dennoch mit finsterer Miene. »Ohne irgendwelche Scheiße zu bauen?«

Wyn nickte entschlossen, ohne auch nur ansatzweise mit den Augen zu rollen, was ich mir an seiner Stelle kaum hätte verkneifen können.

Sein dummer Vorgesetzter marschierte durch die reich verzierte Tür nach draußen, und das Schloss klickte hörbar, so wie jeden Abend.

Meine Kraft war endlich wieder ein bisschen zurückgekehrt – höchstwahrscheinlich durch den Schuss Adrenalin, der aufgrund der unerwarteten Unterbrechung durch meine Adern gefahren war –, und ich riss Wyn die Kompresse aus der Hand. Dann betupfte ich mir damit die Arme bis hinunter zu den Verbänden über den verletzten Adern und versuchte, ganz harmlos zu fragen: »Wer ist früher gekommen?«

Wyn humpelte zu den karneolfarbenen Vorhängen, die mit filigranen goldenen und schwarzen Stickereien versehen waren, und zog sie beiseite; dabei stützte er sich erkennbar mehr auf sein rechtes Bein. Das diesige Nachmittagslicht schimmerte auf dem warmen Bronzeton seiner Haut und den zurückgekämmten schwarzen Locken.

Mit etwas Anstrengung setzte ich mich auf den Bettrand. »Wofür zu früh?«, hakte ich noch einmal nach.

Wyn blickte aus dem hohen Fenster und versuchte ganz offensichtlich, selbst zu erkennen, wer da angekommen war.

»Wieso lässt du zu, dass er so mit dir spricht?«

»Er steht über mir«, sagte Wyn zur Fensterscheibe. »Sowohl vom Alter her als auch vom Rang.«

Ich drehte das inzwischen lauwarme Tuch in den Händen und legte es mir dann in den Nacken. Dabei versuchte ich, mir angestrengt eine Frage auszudenken, auf die ich eine richtige Antwort erhalten würde.

Mit verkrampftem Gesicht manövrierte sich Wyn zu dem Sessel, der gegenüber dem glänzenden Kamin stand, und setzte sich so, dass er mich ansehen konnte. Dann hob er sein Bein offenbar unter Schmerzen auf die samtbezogene Ottomane.

Dass er ein lahmes Bein hatte, war mir schon am Tag unserer ersten Begegnung aufgefallen, und mein Herz wurde weit vor Mitleid – obwohl er zuließ, dass mir so viel Unfassbares angetan wurde. »Das mit deinem Knie tut mir leid. Ich hatte nicht darauf gezielt.«

»Das ist schon in Ordnung.«

Ich betrachtete ihn, während er das Gelenk massierte. »Du warst noch klein, oder? Wie alt warst du?«

Wyn warf mir einen höchst überraschten Blick zu. Dann ließ er die Brauen wieder sinken und sagte: »Drei.«

»Was ist passiert?«

»Ich bin aus einem Schrank gefallen. Danach ist es nie wieder richtig verheilt.«

»Was hast du in einem Schrank gemacht?«

Wyns Mundwinkel gingen ein wenig in die Höhe, als er das hochgelegte Bein taxierte. »Meine Mutter verkauft Haarnadeln.«

Ich runzelte die Stirn und wartete geduldig, dass er weitersprach.

»Sie fertigt sie aus Metall und lötet dann kleine, handgeformte Blumen auf die Klemmen. So hat sie sieben Kinder mit Essen und Kleidung versorgt.«

»Das waren sicher viele Haarnadeln.«

»Das stimmt. Ich hatte geschlafen, als ich aus dem Schrank fiel. Und ich hatte darin gelegen, weil auf dem Boden kein Platz mehr war.«

Mein Herz rührte sich wieder, und ich schalt mich selbst. Wieso sollte ich Mitleid für diesen Mann empfinden? Wobei er eigentlich fast noch ein Junge war.

Ich sagte mir, dass mich die Geschichte an sich bewegte und nicht das, was Wyn erlitten hatte. Kane hatte mir schon einmal erzählt, dass die meisten Bewohner des Faen-Reichs in unvorstellbarer Armut lebten, die schlimmer war als alles, was ich als Kind erlebt hatte – und Abbington bestand kaum aus mehr als ein paar Äckern und einer Handvoll Bauernkaten. Aber nach dem, was ich während meiner Zeit hier aufgeschnappt hatte, schienen die Lebensumstände außerhalb der glitzernden Mauern von Solaris fürchterlich elendig zu sein.

Schon vor langer Zeit hatten Lazarus’ Männer alles Geld und alles Lichte aus den größeren Städten zusammengerafft, bis die sich in reine Elendsquartiere verwandelt hatten. Mit ihrer Beute hatten sie dann die Stadt des Königs so befestigt, dass niemand von außen hineingelangen konnte – schon gar nicht jene, die verzweifelt zu erlangen suchten, was er ihnen genommen hatte: Schutz, Rohstoffe, Sicherheit. Aber auch Glanz, Annehmlichkeiten, Überfluss … Lazarus ließ eine weitere Mauer entlang der Küsten Lumeras errichten und verbot es allen Sterblichen und Faen, aus ihrem Land nach Evendell zu fliehen. Der Korridor – die einzige Verbindung zwischen beiden Reichen, wenn man nicht zufällig eine Hexe kannte, die einem ein Portal öffnen konnte – war Tag und Nacht bewacht. Kane hatte einmal erwähnt, dass Lazarus plante, das Land vollständig abzuriegeln.

»Du musst doch Lazarus ebenso hassen wie wir anderen«, bemerkte ich versuchsweise.

Wyn warf mir einen scharfen Blick zu. »Er ist mein König.«

Unschuldig zupfte ich an einem losen Faden auf dem Deckbett. »Das eine schließt das andere nicht aus.«

»König Lazarus hat mir eine einmalige Gelegenheit gegeben, etwas aus meinem Leben zu machen, trotz meiner Verletzung. Die Möglichkeit, meine Familie ins sichere Solaris zu bringen. Wenn man lange genug in seiner Königsgarde dient, dann erlaubt er es, dass man seine engste Familie an seinen Hof holt. Er ist ein Anführer mit großem Herzen.«

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass Lazarus dich trotz deiner Behinderung aus reiner Menschenfreundlichkeit eingestellt hat.« Verdreh nicht die Augen, Vögelchen, ertönte Kanes grollende Stimme in meinem Kopf, so lebendig, dass mir beinahe die eigene Vorstellungskraft einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Vielleicht drehte ich langsam wirklich durch.

Wyn schürzte die Lippen. »Ich bin ein gut ausgebildeter Kämpfer. Das musste ich auch sein, um außerhalb dieser Mauern zu überleben. Als ich aufwuchs …« Seine haselnussbraunen Augen ruhten auf seinem Knie. »Ich habe mir den Platz in seiner Garde verdient.«

»Hofft Maddox auch darauf, seiner Familie die Sicherheit von Solaris zu erkaufen?«

»Maddox?«, fragte Wyn abfällig. »Maddox ist hier aufgewachsen, noch dazu unter Edelleuten. Er trug schon am ersten Tag im Regiment die beste vergoldete Solaris-Rüstung. Schon bald wird er die Einheit anführen.«

Ich blickte aus dem breiten Fenster. Von der schwindelerregenden Höhe des Turms aus ließ sich nicht viel erkennen. Solaris’ Industrie und Fabriken verbargen die Stadt unter dicken, grauen Wolken, die mich an die Staubflusen erinnerten, die man auf hohen Schränken oder in alten Schubladen fand. Eine unangenehme Erinnerung an all den Dreck, von dem man gar nicht wusste, dass er sich im eigenen Haus verbarg.

Ein Klopfen ertönte, und Wyn zog das empfindliche Bein von der Ottomane und humpelte zur Tür. Das Klopfen machte mir keine Angst. Nur die Dienstboten klopften. Die Wächter waren nicht so höflich.

Wenig später kehrte Wyn mit einer Tasse und einer Kanne frisch aufgebrühten Tees zurück. Er stellte sie auf eine hochglänzend lackierte Kommode, schenkte ein und humpelte wieder zu mir herüber. Ich nahm schweigend einen Schluck des duftenden Rooibos mit Lakritznote und genoss die beruhigende Wirkung auf meine vom tonlosen Schreien aufgerauten Stimmbänder. Als die elfenbeinerne Tasse leer war, hinterließen die kleinen Teeblätter ein verschwommenes Bild. Ich fand, es sah aus wie ein Lamm.

»Wieso verabscheut sie mich so sehr?« Wyn sah mich mit gerunzelter Stirn an, und ich rollte mit den Augen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei Hof ein Geheimnis ist, welche Rachegedanken Octavia gegen mich hegt. Liegt es an meiner Verbindung zu Kane? In Solaris hält ihn doch jeder für einen großen Verräter, oder?«

Wyn seufzte, dass seine weichen Locken flatterten. »Die meisten haben schon vergessen, dass es die Rebellion je gegeben hat. Dafür hat Lazarus gesorgt.« Er rückte sein Bein zurecht und überlegte offenbar, wie viel Information er mit mir teilen durfte.

Ich hielt den Atem an.

»Octavia ist, genau wie Lazarus’ verstorbene Frau, mehr Hexe als Fae, aber sie hat das Blut von beiden. Ich glaube …« Wyn sah mich leicht gequält an. »Ich glaube, sie hatte sich die Rolle zugedacht, für die jetzt du vorbereitet wirst.«

Der Tee kam mir wie Säure wieder hoch. »Sie wollte Königin sein?«

Wyn nickte nur. »Aber sie kann ihm keine reinblütigen Erben schenken.«

Beinahe hätte ich gefragt, wieso Octavia überhaupt auf den Gedanken gekommen war, sie könnte neben Lazarus das Reich regieren, aber da drängte sich mir eine neue Frage auf.

»Wieso hat Lazarus mich noch nicht holen lassen?«

Ich war schon seit Monaten hier, und ich hatte den Faen-König seit meinem ersten Tag in Lumera nicht mehr gesehen. Seit ich hoch über der Schierlingsinsel aufgespießt und entführt worden war, um später an dieses luxuriöse, erstickende Bett gefesselt aufzuwachen.

Wyn seufzte. »Ist das deine letzte Frage?«

»Wenn ich Ja sage, wirst du sie mir dann ehrlich beantworten?«

Er schien über meine Frage nachzudenken, dann sagte er: »Ohne dein Lichte kannst du nicht empfangen.«

»Wieso lässt er mich dann so aussaugen?« War das nicht der einzige Grund, aus dem mich Lazarus am Leben hielt? Um mich mit reinblütigen Faen zu schwängern, die nur wir beide noch zeugen konnten? »Wofür braucht er das aus mir gewonnene Lichte denn so dringend?«

Wyn blieb still, obwohl ich in seinen Augen keinen Unwillen las. Vielleicht war er nur müde. Aber ich wusste, dass es jetzt keinen Zweck mehr hatte, weiter nachzubohren. Ich hatte alle Antworten aus ihm herausgequetscht, die er mir geben würde.

Mein Blick glitt zu den goldenen Turmspitzen, die durch den Rauchnebel vor dem Fenster blitzten. »Ist es schon Winter?«

»Ich dachte, das war deine letzte Frage.«

Als ich daraufhin schwieg, ließ er die Schultern hängen. »Nein. Die Wintersonnenwende ist in einer Woche.«

Ich sah auf meine Handflächen und nickte. »Das heißt, morgen habe ich Geburtstag.«

Ich würde einundzwanzig werden.

Einundzwanzig und gefangen. In einem so hohen Turm eingesperrt, dass ich vielleicht nie wieder den Erdboden sehen würde. Auf mich wartete ein Schicksal, schlimmer als der Tod, und ich kam ihm mit jedem Tag näher. Und ich hatte kein Tröpfchen Lichte, keinen einzigen Verbündeten und noch nicht einmal einen halbwegs brauchbar erscheinenden Fluchtplan.

Einundzwanzig, und ich siechte dahin.

Später schlief ich ein und hatte wie in allen Nächten so erschütternde, grauenvolle Albträume, dass ich meinen eigenen Verstand dafür verabscheute, dass er solche Bilder hervorbringen konnte. Leigh, die sich weinend über unsere tote Mutter beugte. Spinnen mit Frauenköpfen, Wolfsbestien und graue, geschuppte Drachen. Kane, wie er blutüberströmt um sein Leben rang.

Als ich verschwitzt und keuchend erwachte, versperrte mir etwas die Sicht. Auf meinem Kissen lag eine unauffällige, braune Schachtel, die mit einem Stück Schnur zugebunden war.

Mit viel weniger Vorsicht, als ich eigentlich hätte walten lassen sollen, wischte ich mir den Schlaf aus den Augen und klappte sie auf.

Im Innern lag eine zarte, hübsch gestaltete Haarnadel.

An ihrer Spitze trafen sich zwei Eisenspeere, und drei Gänseblümchen unterschiedlicher Größe schlangen sich um die ausgestreckten Schwingen einer fliegenden Schwalbe.

Meine Lippen formten ein Lächeln. Zum ersten Mal seit Monaten.

3

KANE

In meinen Fäusten knisterten obsidianschwarze Dornen und Schattenschuppen, während ich Len beobachtete, der nicht länger auf einem wurmstichigen Hocker saß, sondern auf einem gepolsterten, glänzenden Lederstuhl. Wie er eher einem König als einem einfachen Mann gebührt hätte. Oder einer Hexe oder einem Ungeheuer – ich wusste noch immer nicht, was Len wirklich war. Er hatte meine Frage nicht beantwortet.

»Was bist du?«, zischte ich erneut. Mein Zorn ließ die Flammen der weißen Kerzen um uns herum flackern.

»Würde es etwas ändern, wenn du es wüsstest? Ich kann dir nicht helfen.«

Wut – brennende Wut – schoss mir durch die Brust. »Warum nicht?«

»Ich stehe im Dienst der vielen Reiche. Nicht im Dienst liebeskranker Jungen.«

Im Dienst der vielen Reiche … »Lüg mich nicht an.«

Der Mann, der nicht Len war, erhob sich stirnrunzelnd, und die Beine seines Stuhls schabten über den dicken Teppich zu unseren Füßen. »In welcher Hinsicht? Was die liebeskranken Jungen betrifft, oder die …«

Mein Mund war unerklärlich trocken, während ich ihm dabei zusah, wie er sich ein Glas Whisky aus einer verzierten Karaffe eingoss. »Ein Gott? Du bist ein Faen-Gott?«

Er senkte das Kinn. »Eigentlich hatte ich erwartet, dass du schneller darauf kommst, Junge.«

War es möglich, dass ein echter Gott vor mir stand? Ich bewegte ruckartig den Kopf, als könnte ich den Schock auf diese Weise abschütteln. »Was macht ein Faen-Gott in einem Versteck hier in Vorst?«

Seine abgrundtiefen Augen blickten irritiert. »Hast du keine Angst? Die meisten haben sich früher vor mir verneigt.«