Reisen - Helon Habila - E-Book

Reisen E-Book

Helon Habila

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Beschreibung

Der Protagonist, in den USA lebender Akademiker aus Nigeria, zieht mit seiner amerikanischen Frau nach Berlin, als diese dort ein renommiertes Kunststipendium erhält. In Berlin trifft er auf afrikanische Immigranten, deren Schicksal und Fluchterlebnisse sein privilegiertes Leben in den USA in Frage stellen. Als er eine junge Frau aus Sambia in die Schweiz begleitet, wo sie die Todesumstände ihres Bruders klären will, steigt er auf der Rückreise nach Berlin ohne Papiere in den falschen Zug und landet in einem Flüchtlingslager am italienischen Mittelmeer … In seinem neuen Roman lässt Helon Habila aus miteinander verwobenen Geschichten ein Mosaik unterschiedlichster Erfahrungen afrikanischer Migranten und Reisender entstehen.

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Seitenzahl: 388

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HELON HABILA REISEN

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHENVON SUSANN URBAN

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit

Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch

Litprom e.V. - Literaturen der Welt

Titel der Originalausgabe:

Travellers

© 2019 Helon Habila

© 2020 Verlag Das Wunderhorn GmbH

Rohrbacher Straße 18, D-69115 Heidelbergwww.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gestaltung & Satz: Leonard Keidel

Foto Seite 2: © Heike Steinweg

Ebook ISBN: 978-3-88423-637-6

Für Sharon, Adam und EdnaUnd für Sue

Vom Reisen gibt’s keine Rast für mich …

Alfred Lord Tennyson, Ulysses1

Es gehört zur Moral, nicht bei sichselber zu Hause zu sein.

Theodor W. Adorno, Minima Moralia2

Inhalt

1. Buch EIN JAHR IN BERLIN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

2. Buch CHECKPOINT CHARLIE

3. Buch BASEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

4. Buch DIE DOLMETSCHER

5. Buch DAS MEER

6. Buch HUNGER

DANKSAGUNG

1. Buch

EIN JAHR IN BERLIN

1

Wir kamen im Herbst 2012 nach Berlin und anfangs lief alles gut. Wir wohnten in der Nähe eines Parks in der Vogelstraße. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Apotheke, daneben ein Altersheim und ein Waiseninternat, ursprünglich ein Heim für ledige Mütter, die irgendwann weiterzogen und ihre Kinder zurückließen.

Das Internat bestand aus zwei düsteren Gebäuden – das eine deutlich jüngeren Datums – hinter einer hüfthohen Mauer aus Betonziegeln und riesigen Tannenbäumen. Abends tobten die Kinder durch den Park, hüpften auf Trampolinen und spielten Ball, glockenhell durchschnitten ihre Stimmen die kühle Luft. Morgens saßen sie im Hof hinter der Mauer und schnitzten unter den aufmerksamen Augen ihrer Betreuer aus Holzstücken Tiere oder flochten Weidenkörbe. Einmal, als Gina und ich früh unterwegs waren, entdeckte uns einer der Jungen, er war im Alter zwischen acht und zehn Jahren, kam angesaust, lehnte sich über die niedrige Mauer, machte fast einen Purzelbaum darüber, während er uns mit strahlendem Gesicht zuwinkte und „Schokolade! Schokolade!“ rief. Ich wandte den Blick ab, ignorierte ihn. Gina blieb stehen und winkte zurück: „Hallo!“ Wie seine Augen in dem kleinen Gesichtchen immer größer wurden! Überrascht und begeistert rannte er zu seinen Kameraden zurück. Das wiederholte sich jedes Mal, wenn er uns sah, und Gina tat ihm stets den Gefallen, aber ich gewöhnte mich nie daran. Gewöhnte mich weder an das dünne, erwartungsvolle Stimmchen, noch daran, dass die anderen Kinder, ungefähr ein Dutzend, innehielten und ihre gespenstisch ähnlichen Blondschöpfe hoben, mit ihren blauen Augen beobachteten, wie er winkte und „Schokolade!“ rief, als hinge sein Leben davon ab.

Mark lernte ich kennen, als er mit einem von Ginas Flyern in der Hand zu uns kam. „Ich komme deswegen“, sagte er und schwenkte den gelben Flyer, mit welchem Gina für ihre Porträtserie mit dem Titel Reisende echte Migranten als Modelle suchte. Fünfzig Euro pro Sitzung, gesponsert vom Stipendiumsgeld. Ich zeigte in Richtung Gästezimmer, das sie zum Atelier umfunktioniert hatte. Kurz darauf waren ihre Stimmen bis ins Wohnzimmer zu hören, ihre höflich, aber bestimmt, seine fragend, voller Einwände. Gina hatte ihn abgelehnt und ich hätte ihm sagen können, er brauche sich nicht ins Zeug zu legen, sie werde ihre Meinung nie und nimmer ändern. Später, als ich sie nach dem Grund fragte, meinte sie ohne weitere Erklärung, er passe nicht. Wahrscheinlich sah er zu jung aus, war sein Gesicht zu glatt, ohne den Charakter, den nur Zeit und Erfahrung verleihen. Die Woche davor hatte sie eine Frau mit ihrer vierjährigen Tochter gemalt. Während Gina ihre Staffelei aufbaute, wartete die Frau im Wohnzimmer, immer noch in ihrem Wollmantel, einem alten, schäbigen Teil, und als ich sie fragte, ob ich ihr den Mantel abnehmen könne, schüttelte sie den Kopf. Ich wandte mich an ihre Tochter, fragte, ob sie etwas trinke wolle, da zog die Frau ihr Kind näher zu sich heran. Vor zwei Wochen hatte ihr ein Mann, Manu, Modell gesessen, der mir erzählte, in seinem früheren Leben sei er Arzt gewesen, jetzt arbeite er als Türsteher in einem Nachtclub und warte auf die Entscheidung über seinen Asylantrag. Sein Gesicht war faltig, vor der Zeit gealtert, und ich wusste, Gina würde von diesen Falten entzückt sein, jede einzelne ausdrucksstarkes Zeugnis dessen, was er zurückgelassen hatte, der Grenzen und Flüsse und Wüsten, die er durchquert hatte, um nach Berlin zu kommen. Ebenso wäre sie von den Händen der Frau entzückt, mit denen diese den Arm ihrer Tochter umklammerte, rau und trocken, mit eingerissenen Nägeln, höchstwahrscheinlich ruiniert von der Arbeit in einer Hotelwäscherei oder Spülküche.

Mark kam aus dem Atelier und stand vor der Wohnzimmertür, lächelte gequält, in der einen Hand hielt er seine rote Jacke, in der anderen immer noch den gelben Flyer. Gina in ihrem farbbespritzten Overall stand bereits wieder an der Staffelei, tupfte mit zusammengekniffenen Augen an ihrem Gemälde herum.

Ich bot ihm an, mit ihm zur Bushaltestelle zu gehen. Ich hatte den ganzen Tag lesend in der Wohnung verbracht und musste mir die Beine vertreten. Vielleicht tat er mir auch leid, weil er den Weg umsonst gemacht hatte, eventuell machte mich neugierig, dass er anders, an ihm etwas Besonderes war, was wohl auch Gina bemerkt und weshalb sie ihn abgelehnt hatte. Genau diese Ausstrahlung hatte auf mich die gegenteilige Wirkung, weckte mein Interesse. In diesem Moment machte Mark einen deprimierten Eindruck, als hätte er die fünfzig Euro bereits verplant gehabt, fünfzig Euro, die er nun nie zu Gesicht bekommen würde. Ich fragte ihn, ob er schon einmal Modell gesessen habe. Er verneinte. Wer habe das schon, von professionellen Modellen abgesehen, außerdem sei er der Meinung gewesen, sie brauche Leute von der Straße, ganz normale Leute, und er sei doch normal.

Ich ging vor Mark die Treppe ins Erdgeschoss hinunter aus dem Haus. Ich wollte ihn nur bis zur Bushaltestelle begleiten und anschließend, wie schon des Öfteren einen Spaziergang um den kleinen See auf der anderen Straßenseite machen. Doch als wir ankamen, fuhr der Bus gerade los und ich beschloss, mit ihm auf den nächsten zu warten und als der nicht kam und Mark meinte, er wolle zu Fuß gehen, sagte ich aus einer Laune heraus: „Ich komme mit.“ Es war Frühling und im Westen drückte sich die Sonne herum, wollte so gar nicht untergehen, ihre schrägfallenden Strahlen waren für die Jahreszeit ungewöhnlich warm und hell. Perfektes Wetter. Wir mischten uns unter die Menge, die aus der S-Bahn geströmt kam, gingen am Wurststand, an einem erdbeerfarbenen Erdbeerstand vorbei. Die Berliner saßen Eis essend unter Sonnenschirmen. Vor uns kreischte eine winzige, dralle Dame in roter Jacke „Nein! Nein!“ in ihr Handy, während sie auf dem Gehweg auf und ab spazierte, dabei sämtliche Passantenblicke niederzwang. Und je mehr die Leute glotzten, desto schriller wurde ihre Stimme, für einen kurzen Moment war sie berühmt. „Nein, ich weiß es nicht“, schrie sie und sonnte sich in ihrer Prominenz.

Wir kamen an einer Bank vor einem Kaiser’s vorbei, auf der ein Roma-Paar saß, die abgestumpften Kulleraugen auf ihre Tochter gerichtet, die mit einer Schale in der Hand auf dem Gehweg stand. Mark murmelte mit gesenktem Kopf vor sich hin.

„Was für ein schöner Tag“, sagte ich. Er nickte. Ich begleitete ihn zwar, aber ihn aufzumuntern war nicht meine Aufgabe. Direkt vor uns gingen zwei Frauen Hand in Hand im selben Tempo wie wir, uns immer ein paar Schritte voraus, sie trugen die gleichen Jeansjacken, ihre schlanken, wohlproportionierten Körper und ihr bei jedem Schritt wippendes Blondhaar waren ein hübscher Anblick. Die beiden passten zu diesem Tag. Die eine war älter, vierzig vielleicht, die andere sah aus wie zwanzig, Mutter und Tochter oder Schwestern, Freundinnen oder ein Paar. Ihre ineinander verschränkten Hände verströmten im Kontrast zu den grob quietschenden Reifen und dem Hupen auf der Straße große Behutsamkeit.

Auf beiden Straßenseiten kreischte Neonschrift von Ladenfronten: McFit, McPaper, McDonald’s – ein sehr amerikanischer Firnis auf den eher traditionellen Gassen und Seitenstraßen, den verschlafenen Vierteln, die still vor sich hin pulsierten wie die unter Beton und Asphalt begrabenen Straßenbahnschienen. In unseren ersten Berliner Monaten waren Gina und ich durch diese schmaler werdenden Straßen gewandert, die vom Kurfürstendamm wegführten, immer weiter, vorbei an Handwerksbetrieben, Suppenküchen, Blumenläden und Einfamilienhäusern, in denen Kinder und Eltern um den Abendbrottisch saßen. Noch vor wenigen Monaten waren diese Straßen leer und schneebedeckt gewesen, in jedem entlaubten Baum, vor jedem Laden hing grellbunte Weihnachtsbeleuchtung, wie Talismane gegen die bösen Wintergeister. Am George-Grosz-Platz verschwanden die beiden Frauen in einer Parfümerie. Mark und ich setzen uns und beobachteten die gelben Doppeldeckerbusse, die anhielten und abfuhren, wieder anhielten, die ein- und aussteigenden Menschen. Schweigend saßen wir da, genossen die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Angesichts der Leute, die vor den Straßencafés saßen, Kaffee tranken und rauchten, meinte Mark: „Das könnte genauso gut in Paris sein.“ Nach ungefähr einer halben Stunde seufzte er und stand auf, winkte zum Abschied und ging mit langsamen Schritten zur U-Bahnstation Adenauerplatz. Ich fragte mich, was er wohl für eine Geschichte hatte, ob ich ihn wiedersehen würde.

Gedankenverloren blieb ich im Dämmerlicht sitzen. Ein Mann mit feistem Gesicht rannte unbeholfen hinter einem M29-Bus her, zu spät. Er blieb stehen, wedelte frustriert mit den Armen, umflattert von seinem offenen Trenchcoat. Als er sich umdrehte, stellte ich fest, dass es kein Mann, sondern eine Frau war, die Hängebacken missmutig verkniffen. Eine junge Frau stieg auf hohen Absätzen aus dem M19-Bus und setzte sich auf die Bank neben mir. Sie holte Lippenstift und Spiegel heraus. Als sie beides in ihre Tasche zurückstopfte, sah sie auf und unsere Blicke trafen sich. Sie lächelte und dann war sie weg, mit einem für die Leute hier typischen Affenzahn. Ich hätte ein Gespräch anfangen können, hätte „Hallo“ sagen können und vielleicht hätten wir dagesessen und uns unterhalten, elegant wie Pariser. Hätten vielleicht über George Grosz geredet, den Namenspatron des Platzes, Maler, Intellektueller, Rebell, der den Ersten Weltkrieg überlebte und im Zweiten den Nazis Paroli bot, nach Amerika floh, nur um heimwehkrank nach Berlin zurückzukehren und nach einer durchzechten Nacht eine Treppe hinunterzustürzen.

„Ein schöner Tod“, hätte sie vielleicht gesagt. Während ich ihr nachsah, spürte ich die unüberbrückbare Kluft zwischen mir und dieser Stadt größer werden. Selbst wenn ich ihre Sprache spräche, die Sprache dieser Stadt, würde die junge Frau mich verstehen? Vor einem Monat wollte ich bei der Post einen Brief aufgeben und die Frau am Schalter, eine flachsblonde Schreckschraube, hatte mich angestarrt, sich geweigert, mit mir Englisch zu sprechen, und wir lieferten uns ein Blickduell, während die Schlange hinter mir immer länger wurde. Sie brüllte mich auf Deutsch an und ich antwortete auf Englisch, dass ich Briefmarken kaufen und meinen Brief aufgeben wolle, bis schließlich vom Ende der Schlange eine Frau nach vorn kam und dolmetschte. Es war eine verkrampfte Pattsituation und ich schwitzte, als ich auf die Straße trat. Eine Woche später nahm ich Deutschunterricht.

2

„Du musst mitkommen, Darling“, sagte Gina vor einem Jahr in unserer Wohnung in Arlington. „Ich kann das nicht ohne dich.“ Sie hatte das renommierte Berliner Zimmer-Kunststipendium erhalten. Ein Jahr Berlin. Vielleicht war das genau das Richtige, um aus unserem festgefahrenen Leben, unserem Alltag auszubrechen. Jedes Jahr wählte die Zimmer-Jury zehn Künstler aus aller Welt aus – Schriftsteller und Maler, Filmregisseure und Komponisten – und in diesem Jahr war Gina eine von zwei Stipendiatinnen aus den USA. Sie war Juniorprofessorin an der Universität von Arlington, ich brachte in einem Hinterzimmer der Stadtbibliothek koreanischen Einwanderern Englisch bei. Außerdem arbeitete ich an meiner Hochschule als wissenschaftlicher Assistent, damit waren die Studiengebühren abgedeckt. Beim Unterrichten ging ich äußerst besonnen vor; jedes Mal, wenn ich vor den erwartungsvollen jungen Gesichtern stand, fühlte ich mich wie ein Hochstapler. Würden sie alles, was ich ihnen erzählte, für bare Münze nehmen, und welches Recht hatte ich, welches Wissen, welche Erfahrung, um mich als Autorität zu gerieren? Ich war erst fünfunddreißig, vielleicht wenn ich fünfzig wäre, mehr gereist wäre, mehr erlebt hätte …

„Es ist nur ein Job, Darling“, sagte Gina, pragmatisch wie immer. „Du siehst das zu kritisch.“

Oder vielleicht liege es auch an meiner Angst, mich festzulegen, mutmaßte Gina und bezog sich nicht nur auf meine halbfertige Dissertation, sondern auch auf unser Vorhaben, nach unserer Promotion zu heiraten. Sie hatte ihre bereits. Drei Jahre lang hatten wir in ihrer winzigen Studentenbude mit Blick auf einen Parkplatz zusammengelebt. Aber nein, sagte ich, das liege nur an meinem migrantischen Charakter, der mich auf ein Zuhause, auf Beständigkeit in dieser neuen Welt hoffen, aber auch vor langfristigen Bindungen zurückscheuen und ständig Fluchtpläne schmieden lasse.

Wir heirateten dann doch noch und die Ehe war gut, stabil, wir hatten einen geregelten Tagesablauf wie die meisten Ehepaare. Wir wachten gemeinsam auf, gingen zur Arbeit, abends saßen wir auf unserem schmalen Balkon und blickten auf den Parkplatz, tranken eine Flasche Wein, manchmal gingen wir ins Kino oder essen und vielleicht zögerte ich aus diesem Grund, Berlin zuzusagen: Was, wenn wir hingingen und die Dinge zwischen uns anders wurden? Was, wenn uns Berlin mehr veränderte als angenommen? Mir war bewusst, dass Gina sich, abgesehen von seinem Prestige und der Wichtigkeit für ihre Karriere, auch deshalb für das Zimmer-Stipendium beworben hatte, weil ich über afrikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts, mit Schwerpunkt Berliner Konferenz 1884, promovierte, und was würde mich mehr zur Recherche animieren als ein Jahr Berlin? Trotzdem zögerte ich, denn bekanntermaßen ist jede Abreise ein Tod, jede Rückkehr eine Wiedergeburt. Die meisten Veränderungen sind nicht geplant und hinterlassen unweigerlich eine Narbe.

Zwei Monate nach der Hochzeit wurde Gina schwanger. Das war so nicht geplant und ganz bestimmt hatten wir nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass die Schwangerschaft im siebten Monat enden könnte. Beide waren wir am Boden zerstört, aber Gina hatte sich verändert. Sie ging nicht mehr aus dem Haus, weinte den ganzen Tag, aß nicht mehr. Ich konnte nicht viel tun; ich saß neben ihr, hielt ihre Hand, erinnerte sie daran, dass wir jung waren und es noch oft probieren konnten. Ich las ihr Gedichte vor, was ich vor unserer Heirat häufig getan hatte. Ihr zweiter Name war Margaret und ich rezitierte Gerard Manley Hopkins’ Frühling und Herbst: Margaret, ist dein Herz so taub, / weil in Goldengrove nun gilbt das Laub? Normalerweise munterte sie das auf und sie lächelte dann kopfschüttelnd, diesmal jedoch nicht. Sie drehte das Gesicht zur Wand und rollte sich wie ein Fötus zusammen, machte sich winzig klein. Gina war immer stark gewesen, vielleicht stärker als ich, ganz sicher dynamischer als ich, und nun erlebte ich sie zum ersten Mal ganz hilflos. Wie plötzlich und unerwartet alles anders geworden war, gerade noch waren wir ein normales Ehepaar gewesen, jung, die Zukunft vor uns, im nächsten Moment vom Unglück gebeutelt, am Boden zerstört und hilflos.

Irgendwann fuhr sie zu ihren Eltern nach Takoma Park und kehrte nicht zurück; am nächsten Tag kam ihre Mutter, warf Ginas Sachen in eine Tasche und sagte, Gina müsse sich ausruhen, erholen, fügte sie hinzu. Ihr Verhalten deutete darauf hin, dass sie mir die Schuld am Zusammenbruch ihrer Tochter gab. Mit dem Vater kam ich besser aus, einem emeritierten Professor, der in den Achtzigern dank eines Fulbright-Stipendiums ein Jahr in Nigeria verbracht hatte und auf dieses Jahr voller Zuneigung zurückblickte. Ich hockte allein und einsam in unserer Zwei-Zimmer-Wohnung und rief Gina jeden Morgen an, wollte wissen, wie es ihr ging, und herausfinden, wann sie zurückkam. Und, da ich nichts anderes zu tun hatte, als vor dem Fernseher Däumchen zu drehen, fing ich an zu trinken. Zuerst trank ich nur abends, dann nachmittags, schließlich morgens. Ich konnte diese Abwärtsspirale aus eigener Kraft nicht stoppen.

Gina blieb sechs Monate bei ihren Eltern und in dieser Zeit bewarb sie sich für das Zimmer-Stipendium. Auf den Tag sechs Monate, nachdem sie gegangen war, betrat sie aufgeregt unsere winzige Wohnung, ihre Augen glänzten hoffnungsvoll, als sie mir die Antwort-E-Mail zeigte. An diesem Abend fuhr sie nicht zu ihren Eltern. Wir hielten uns die ganze Nacht umfangen. Berlin. Vielleicht war das die Lösung für uns. Ein Ausbruch aus unserem auseinanderbrechenden Leben.

3

„Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin“, sagte Mark gern. Er lebte mit seinen drei Freunden Stan, Eric und Uta in Kreuzberg in einer leerstehenden Kirche an der Spree. Sie war schief, wirkte, als könnte man sie mit der Fingerspitze umstupsen. Eines dieser verfallenen Bauwerke, die man in Berlin gelegentlich sieht, vom Krieg verschont, von der Abrissbirne übersehen und die sich neben neueren Gebäuden seltsam ausnehmen. Die Barockfassade samt ihrem Kirchturm mit gedrehter Spitze lag hinter einem engmaschigen Drahtzaun, der das Gemäuer von den Nachbarhäusern und vorüberfahrenden Autos abschirmte. Die meisten Türen und Fenster fehlten. Im Innenhof trieb der Wind wie ein ruheloser Geist Papierfetzen und Bierdosen über den wild wuchernden Rasen auf den Gehweg. Mark und seine Freunde hatten das Gebäude von einer anderen Gruppe „Alternativer“ übernommen, die auf der Suche nach größeren Herausforderungen im Kampf gegen das Establishment nach Stockholm weitergezogen war, nachdem ihnen Berlin zu zahm geworden war.

„Ich musste die Kirche bei unserem Einzug erst einmal entwidmen“, sagte er. „Es spukte nämlich. So etwas spüre ich.“ Es war einer dieser haarsträubenden, nebenbei geäußerten Kommentare, die sich bei jedem anderen verrückt angehört hätten, aus Marks Mund jedoch normal, geradezu vernünftig klangen. Wir waren uns, der Frühling war schon fast vorbei, in einer Galerie wiederbegegnet. Wenn sie nachts durchgearbeitet hatte, schlief Gina tagsüber und stand erst spätnachmittags auf, sah trotzdem erschöpft, fast durchsichtig aus, schnappte sich aus dem Kühlschrank ein Sandwich und machte sich sofort wieder an die Arbeit. Auf mich allein gestellt, ließ ich mich von einem Ort zum andern treiben, hauptsächlich Galerien und Bibliotheken. Von der fraglichen Ausstellung hatte ich durch eine Mail erfahren, die Gina von den Zimmer-Leuten bekommen hatte. Die Galerie stellte Porträts aus, die südafrikanische Fotografen während der Apartheid gemacht hatten. Am Eingang drückte mir eine junge Frau ein Heftchen in die Hand, auf dem in fetter Helvetica der vollmundige Titel der Ausstellung stand: Apartheid, Exil und proletarische Internationale. Auch Fotografien und Videoinstallationen hiesiger schwarzer Künstler waren zu sehen. Ich ließ mich von Raum zu Raum treiben, las die Texte unter den Porträts – die meisten Fotografien waren aus den Siebziger und Achtziger Jahren und stammten von Südafrikanern, die in Ost- und Westberlin Exil gefunden hatten. Ich betrachtete die ernsten Gesichter. Was für eine Ironie der Geschichte, dass sie ausgerechnet hier vor Verfolgung und Apartheid Beistand gesucht hatten, in einer Stadt, in der nur ein paar Jahrzehnte zuvor die Nazis eine ganz besondere Hetzjagd veranstaltet hatten. Wie kamen sie mit dem Essen zurecht, der neuen Sprache, dass sie so sichtbar anders waren, mit dem klirrend kalten Winter des Exils? Die meisten von ihnen waren nach Südafrika zurückgekehrt, diejenigen, welche die Bitterkeit des Exils überlebt hatten, waren dort nun die neuen Führer, in die Positionen der weißen Unterdrücker gerückt, die ihrerseits vom düsteren Kapitel der Geschichte ins Exil verbannt worden waren.

Bald reichte mir der Anblick der einander ähnelnden grauen, freudlosen Gesichter und ich ging ins Untergeschoss zu den Videoinstallationen. Offenbar hatte ich den Raum ganz für mich, es fühlte sich etwas gespenstisch an, mitten im Raum zu stehen, umgeben von mehreren flimmernden Monitoren, auf denen Leute tonlos ihre Münder öffneten und schlossen. Ich nahm Platz in einer der Kabinen und setzte einen Kopfhörer auf. Plötzlich bekamen die stummen Gesichter Stimmen. Sie sprachen deutsch. Es riss mich beinahe hoch, als eine Hand meine berührte. Ich drehte mich um. Aus dem dunklen Raum schälte sich neben mir eine Gestalt heraus, deren rote Jacke im Dämmerlicht mit dem roten Sofa verschmolzen war, auf dem wir saßen, daher hatte ich den Mann übersehen. Er hielt mir die Hand hin. Sie war schlank und weich und kurz glaubte ich, er wäre eine Frau. Er bemerkte, wie ich stutzte, und lächelte. Er war es wohl gewohnt, für etwas gehalten zu werden, was er nicht war. Seine Hand noch in meiner sagte er: „Ich bin Mark.“

Es war der von Gina abgewiesene Porträtkandidat. Er erkannte mich ungefähr gleichzeitig. Das Schweigen hing eine Weile zwischen uns, dann deutete ich auf die drei Bildschirme. „Was soll das darstellen?“

Die Monitore bildeten ein Triptychon: links von uns war eine Frau zu sehen, rechts ein Mann und in der Mitte lief ein alter Film. Die beiden Gesichter links und rechts unterhielten sich offenbar über den Film, der lief. Alles auf Deutsch. „Bei dem Film handelt es sich um Whity von Rainer Werner Fassbinder. Und die beiden unterhalten sich darüber, wie darin die Rassenfrage behandelt wird.“ Fassbinder kannte ich, aber Whity hatte ich noch nicht gesehen.

„Die Frau da“, sagte Mark und zeigte auf die Frau mit dem Lockenkopf, „hat die Installation gemacht. Sie ist halb Nigerianerin.“ Mark war, wie sich später herausstellte, Filmstudent oder es zumindest einmal gewesen – bei Mark war nichts eindeutig. Wir saßen eine Weile in der dunklen Kabine und starrten auf den Film, dessen bedeutungslose deutsche Wörter aus dem Kopfhörer in meine Ohren drangen. Mark setzte seinen Kopfhörer ab und bot an, den Inhalt des Films zusammenzufassen; es war beeindruckend, mit welcher Intensität er das tat. Anschließend bedankte ich mich und fragte, ob ich ihn an der Bar auf ein Bier einladen könne. Mark legte den Kopfhörer weg und setzte seine Baseballkappe auf. Die Bar befand sich ebenfalls im Untergeschoss, gleich neben dem Ausstellungsraum, und war bis auf ein Paar, das auf einem Sofa in der Ecke saß, leer. Wir bestellten Bier.

„Woher kommst du?“, wollte er wissen.

„Ursprünglich aus Nigeria.“

„Kommt deine Frau auch aus Nigeria?“

„Nein, aus den USA.“

Er war Malawier, lebte aber seit mehr als fünf Jahren in Deutschland.

„Na dann, prost.“ Ich hob mein Glas.

„Auf Afrika“, sagte er.

„Auf Afrika.“

Ich versuchte, sein Alter zu schätzen. Irgendwas zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Die Baseballkappe bedeckte den oberen Teil seines Gesichts und da er kleiner war als ich, musste ich mich dauernd hinabbeugen, um ihm in die Augen zu sehen. Er war meist im Aufbruch begriffen, von Stockholm nach Stuttgart nach Potsdam gezogen und nun in Berlin gelandet. Berlin gefalle ihm am besten.

„Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin“, erklärte er mir an diesem Tag. Er war nur noch theoretisch Student, nicht mehr immatrikuliert, was mit den Studiengebühren zu tun und Auswirkungen auf seinen Aufenthaltsstatus hatte oder demnächst haben würde, weshalb er mit einigen Freunden die alte Kirche in Kreuzberg besetzt hatte. Für ein Taschengeld jobbte er gelegentlich für crew.com, einer Organisation für arbeitslose Schauspieler und Filmtechniker. Aber sein letzter Einsatz dort war schon länger her. Das alles erzählte er mir nicht damals in der Bar der Galerie, sondern später, auf mehrere Treffen verteilt. Er sah recht heruntergekommen aus, fast verwildert, seine schwarzen Converse waren dreckig und verschlissen, aber die von ihm ausgehende Lässigkeit zog mich an.

Als ich nach meinem zweiten, seinem dritten Bier meinte, ich müsse jetzt los, schlug er vor: „Komm, ich stell dich meinen Freunden vor, wir wohnen gleich um die Ecke.“

Ich folgte ihm hinaus in die Nacht. Mark schritt selbstbewusst voraus, einmal schlängelte er sich zwischen den Autos auf die andere Straßenseite durch, hob dabei matadorgleich die Hand, um einen Wagen zum Stehen zu bringen, der ihn fast umgefahren hätte. Unberührt vom lauten Fluchen der angetrunkenen Fahrer blieb er auf dem gegenüberliegenden Gehweg stehen und winkte mich ungeduldig herüber. Ich wartete, bis die Ampel auf Grün schaltete, und war nicht sicher, ob ich seine halsbrecherische Selbstsicherheit beeindruckend oder erschreckend finden sollte.

„Das ist ja eine Kirche“, entfuhr es mir halb fragend, halb konstatierend, als er das Törchen öffnete und mich hereinwinkte.

„Ja, hier leben wir momentan. Vorübergehend.“

Alle drei Mitbewohner waren anwesend. Eric, Stan und Uta. Ich nickte ihnen zu und setzte mich neben Mark. Auf Marks Bemerkung, ich sei ebenfalls Afrikaner, erzählte mir Uta sofort, ihre Mutter stamme aus Kamerun, ihr Vater sei Deutscher. Sie lag auf dem Sofa, die Beine in Stans Schoß, Stan neben ihr saß halb, lag halb und seine langen Dreadlocks fielen über seine Schultern und die Sofalehne. Wir befanden uns im sogenannten Wohnzimmer, das im Keller lag und wo früher die Sonntagsschule abgehalten worden war. An einer Wand hing eine Tafel, davor stand ein hölzernes Lesepult. Auf einem zerkratzten Kieferntisch, in dessen Maserung sich Schmutz abgelagert hatte, standen Bierflaschen. Mark machte mir eine auf. Eric hielt in der einen Hand einen Joint, mit der anderen surfte er mit einem Laptop im Internet.

„Was machst du so?“, fragte Uta in ihrem stockenden Englisch.

„Daheim in den USA unterrichte ich. Hier auch.“ Einmal die Woche gab ich den Zimmer-Fellows, die kein Englisch sprachen, Englischunterricht. Uta studierte an der Freien Universität und schrieb gerade an einem Roman.

„Einem Roman?“

„Der Roman ist tot“, verkündete Mark. „Das Kino ist die Gegenwart und die Zukunft.“

„Ist das dein Ernst?“

„Ein Film ist wie ein Roman, bloß ohne die langweiligen Stellen.“

Ich zog am Joint, der irgendwie in meine Hand gewandert war. Mir wurde schwindlig.

Das Gespräch mäanderte dahin, versiegte in nachdenklichem, nie bedrückendem Schweigen, ehe es wieder aufgenommen wurde und in eine völlig andere Richtung floss. Eric erzählte von der letzten Demonstration, an der sie teilgenommen hatten. Sie waren in Davos und bei verschiedenen G20-Treffen überall auf der Welt gewesen.

„Gegen was demonstriert ihr?“, wollte ich wissen.

Überrascht starrten sie mich an.

„Mann, gegen alles natürlich“, sagte Stan.

„Gegen alles?“

„Wir sind der Meinung, dass es eine Alternative zu der Art und Weise geben sollte, wie die Welt momentan regiert wird“, sagte Eric.

„Eine Minorität, die über die Majorität des Geldes verfügt“, ergänzte Uta.

„In Asien müssen Millionen unter menschenverachtenden Bedingungen schuften. In vielen Ländern Afrikas herrscht Krieg“, sagte Stan.

„Im 21. Jahrhundert sollte kein Kind mehr verhungern oder durch Krankheit sterben müssen“, sagte Uta.

Ich nickte. Ich hatte schon andere junge Leute wie sie in Berlin getroffen, bei Lesungen, in der S-Bahn, Männer und Frauen in ausgefransten Pullovern und abgerissenen Jeans, die meistens in einer Kommune in leerstehenden Gebäuden wohnten, eine alternative Lebensweise vertraten, sich oft nicht einig waren, wie nun diese Alternative genau aussehen sollte, eben eine Alternative zum Istzustand, sonst wäre die Sache ja sinnlos. Ich trank und rauchte, hörte zu. Auf einmal stellte sich Mark hinter den Altar und las eine Bibelstelle vor. Sein Vater war Pfarrer und er machte sich über dessen Predigtstil lustig. Mit erhobenen Händen stand er da, verdrehte die Augen und donnerte: „Der Sommer ist dahin, die Ernte ist vergangen, und uns ist keine Hilfe gekommen …“

Die anderen klatschten. Ich war mir nicht sicher, ob in Marks Stimme Selbstironie mitschwang, oder ob sich in seinem Gesicht nicht sogar echter Schmerz abzeichnete, als er sich zum Applaus verbeugte, bevor er sich wieder hinsetzte. Sie erzählten, wie er, als er vor einem Monat hier eingezogen sei, die Kirche entwidmet habe. „Ein Ort, der heimgesucht war. Ich konnte die Geister überall spüren“, erklärte er.

„Wie entwidmet man eine Kirche?“, wollte ich wissen.

„Mit Alkohol. Man gießt Alkohol in die Ecken und liest bestimmte Stellen, von deren Wirkung nur Eingeweihte wissen, laut aus der Bibel vor.“

Selbst in meinem angesäuselten und angekifften Zustand spürte ich, wie vergänglich diese Phase war. Wie lange noch, bis sie die Welt so sahen, wie sie wirklich war: niederträchtig, grausam, gleichgültig und nicht zu verändern? Wie lange würde es dauern, bis sie aus ihrem bröckelnden Elfenbeinturm auszogen und sich der restlichen Menschheit anschlossen, die, wie Flaubert sagt, in einem Meer von Scheiße schwimmt, das erbarmungslos an die Mauern jedes jemals erbauten Elfenbeinturms schlägt. Eines Tages würden sie sich rasieren und Banker werden oder zum mittleren Management gehören, BMW und Mercedes fahren; sie würden eine Familie gründen und sich mit leeren Machtsymbolen umgeben, genau jenen Dingen, die sie jetzt verhöhnten. Aber jetzt, jetzt in diesem Moment waren sie frei und rein wie der Morgentau auf einem Blütenblatt und ich fühlte den Drang, mich vorzubeugen und den Duft dieser Blume einzuatmen.

Deshalb ging ich immer wieder nach Kreuzberg zu dieser heruntergekommenen Kirche mit der verdrehten Spitze. Ich ging sogar auch dann noch hin, als ich herausfand, dass ihre Bewohner überhaupt nicht zum geknechteten Proletariat gehörten, mit dem sie sich so sehr identifizierten: Utas Eltern waren Ärzte aus dem ehemaligen Ost-Berlin, Stan bastelte an der Humboldt-Uni an seiner Dissertation, er war im Senegal aufgewachsen, wo sein Vater für einen internationalen Lebensmittelkonzern arbeitete, seine Mutter war Malerin. Auch waren sie nicht so jung wie sie wirkten. Keiner von ihnen war unter dreißig, Mark war mit genau dreißig der Jüngste, Uta einunddreißig, auch wenn sie wie zwanzig aussah, Stan zweiunddreißig, Eric fünfunddreißig und verheiratet, lebte allerdings getrennt von seiner Frau, die mit der gemeinsamen Tochter in Mannheim wohnte.

4

Dann wurde es Mai. Mark und seine Freunde luden mich zur Mai-Demonstration ein. „Das wird dir gefallen“, sagte Mark. Die Proteste am 1. Mai seien eine Tradition, die ich einmal miterleben müsse, meinten sie. Junge Leute, die Ladengeschäfte und Regierungsgebäude stürmten, Autos umwarfen und sie gelegentlich auch anzündeten, um den Status quo anzuprangern.

An diesem Tag ging die Kreuzberger Polizei frühzeitig auf Streife, schwärmte vom Hermannplatz bis zum Moritzplatz aus. Sie trug Schutzausrüstung samt kugelsicheren Westen, riegelte mit Streifen- und Mannschaftswagen einige Straßen ab, zu denen nur noch Anwohner mit Ausweis freien Zugang hatten. Um diese Absperrungen zu vermeiden, traf ich rechtzeitig vor Demonstrationsbeginn bei der Kirche ein. Alle standen schon in Stiefeln und Jeans abmarschbereit an der Tür. Mark unterhielt sich mit einer jungen Frau, die ich noch nie gesehen hatte, seiner Freundin Lorelle. Ich musste mich zusammenreißen, um die Nadeln und Ringe, die sie in Lippen, Nasenflügeln, Wangen und Augenbrauen trug und ihr Gesicht wie ein Nadelkissen aussehen ließen, und ihr Zungenpiercing nicht offen anzustarren. Das musste doch wehtun. Bestimmt verbargen sich unter ihrem ausgebeulten Sweatshirt noch weitere Piercings. Auf ihrer linken Wange prangte ein Mandala-Tattoo, dessen Rosa- und Blautöne ihr Gesicht wie ein Neonlicht erleuchteten. Ihr Haar, auf einer Seite vollständig abrasiert, war über den blonden Ansätzen ebenfalls ein Mix aus rosa und blau. Ich gab ihr die Hand.

„Nett, dich kennenzulernen“, sagte sie. „Mark hat mir viel von dir erzählt.“

Ihr Händedruck war fest. Ihre Stimme entsprach so gar nicht ihrem Äußeren, warm und leise, mit starkem amerikanischem Akzent. Sie war Amerikanerin, jedoch in Heidelberg geboren. Ihre Eltern waren bei den US-Streitkräften, mittlerweile zurück in die Staaten versetzt, sie war hiergeblieben, weil ihr das Leben in Deutschland besser gefiel. Wie Mark studierte sie Film.

Wir gingen durch Parks und Nebenstraßen, wichen den herumfahrenden Mannschaftswagen und größeren Menschenansammlungen aus. Unser Ziel war ein türkisches Café, dessen Inhaber Schwarzen keinen Zutritt gewährte, weil er der Meinung war, es seien alle Illegale und Drogendealer. Eine erstaunlich große Menge hatte sich bereits davor versammelt. Junge Leute in Jeans, Stiefeln oder Turnschuhen, manche hielten Transparente hoch, andere ihre Handys, weil sie die Demo aufnehmen wollten, taten das auch während sie in die Sprechgesänge einstimmten. Wir schlossen uns an, warfen Steine auf die Polizisten, die sich schützend vor das Café gestellt hatten, dessen Inhaber hinter der Theke kauerte. Wir marschierten um den Block, immer wieder, brachten den Verkehr zum Erliegen. Gegen Mittag war ich müde, hungrig und allmählich gelangweilt. Drüben schwenkten Mark und Uta, die in ihrer abgeschnittenen Jeans und dem feuerroten Halstuch sehr hübsch aussah, nebeneinander ihre Plakate wie Köder in Richtung Polizei. Ich beschloss, eine Auszeit zu nehmen, ging über die Straße und bestellte in einer Bäckerei ein belegtes Brötchen und einen Kaffee. Gina hatte zweimal versucht, mich zu erreichen. Als ich das Haus um sechs Uhr verlassen hatte, hatte sie immer noch in ihrem Atelier gemalt und ich hatte ihr nicht gesagt, wohin ich ging. Ich rief sie an, doch sie nahm nicht ab – wahrscheinlich schlief sie. Draußen hatte sich in der kurzen Zeit, die ich in der Bäckerei gewesen war, die Demonstrantenmenge beinahe verdoppelt und die Anspannung ringsum stieg spürbar. Zeit, heimzugehen. Auf der Suche nach Mark, um ihm mitzuteilen, dass ich mich ausklinken würde, geriet ich plötzlich in eine Woge aus Körpern mit direktem Kurs auf die Polizisten, die in Reih und Glied mit erhobenen Schlagstöcken hinter ihren Schutzschilden standen. Steine, Flaschen und Dosen zischten über unsere Köpfe hinweg gegen die Schilde. Jemand rammte mir seine Schulter in den Rücken und ich stürzte. Als ich aufstehen wollte, stießen mir Knie ins Gesicht, traten mir Füße auf die Hände. Alles rannte, verfolgt von der Polizei. Mehrmals versuchte ich, mich aufzurichten, kam aber gegen die endlose Welle aus Knien und Beinen nicht an, die über mich hinwegrollte. Ich blieb am Boden, hypnotisiert von einem matt schimmerndem, im Gehweg eingelassenen Messingquadrat – einem der sogenannten Stolpersteine. Die waren mir schon öfter aufgefallen, ganze Lebensgeschichten standen darauf, Name, Lebensdaten, Tag der Deportation, Todesort. Vier Namen, die Hartmanns: Elisabeth, Markus, Lydia und Eduard. Alle kamen nach Sobibor, alle starben am selben Tag, am 5. Dezember 1944. Ich war geblendet vom Messingglanz, schockiert von der brutalen Gleichgültigkeit der Geschichte, hatte Tränen vom Tränengas in den Augen und konnte mich vor Erschöpfung nicht rühren. Jemand zerrte mich hoch und kurz wehrte ich mich, im Glauben es wäre ein Polizist, aber es war Mark. Er lächelte euphorisch. „Alles okay?“, fragte er. Ich stand auf. Meine Handflächen waren zerschunden und brannten, meine Hose hatte an den Knien Löcher.

„Alles gut.“

Aber schon war er wieder weg, schleuderte einen Stein auf die Polizeikette. Neben mir landete ein Tränengaskanister, der sofort von einem strubbelhaarigen Jugendlichen Richtung Polizei zurückgeworfen wurde, der Rauchbogen hing wie eine Gewitterwolke in der Luft. Rechts von mir rannte Lorelle direkt auf eine schildbewehrte Reihe Polizisten zu, nutzte ihr beträchtliches Gewicht als Rammbock. Natürlich wurde sie niedergeschlagen und zu einem Polizeibus geschleift, während sie kreischend um sich trat. Vom Tränengas benebelt, stand ich da, mir liefen Augen und Nase. Ich war allein auf einer winzigen Insel und um mich herum wütete und tobte das Meer in unbändiger Wut.

„Ich muss los“, erklärte ich Mark.

„Nein, jetzt noch nicht. Er ist da. Das ist unser historischer Moment“, sagte Mark und wedelte dabei mit den Armen. „Das ist unser Sharpeville, unser Agincourt.“

Fast hätte ich über seine Übertreibung gelacht. Welcher Moment, hätte ich gern gefragt, wird das hier tatsächlich die sogenannten Kapitalisten und Rassisten umstimmen und ewigwährende Liebe und Harmonie in die Welt bringen? Und trotzdem war ich wider Willen beeindruckt. „Mit deinem abgelaufenen Visum willst du nicht verhaftet werden. Komm, wir gehen“, sagte ich.

„Wo sind die anderen?“, fragte er.

„Ich weiß nicht. Lorelle haben sie abgeführt, das habe ich mitbekommen. Los jetzt.“

Wir entfernten uns, bogen aufs Geratewohl um diese Ecke, in jene Straße, bis Sirenen und Sprechgesang ein fernes Flüstern im Wind waren. Wir setzten uns in eine Kneipe und bestellten jeder ein Bier. Mein Handy klingelte, es war Gina, doch ich war zu müde und zu durcheinander, um ranzugehen. Wir tranken unser Bier aus, aber Mark war noch nicht in Aufbruchstimmung. Er bestellte ein zweites Bier.

„So muss es sein“, sagte er und schlug auf den Tisch. „Widerstand gegen das System.“ Wir tranken aus und bestellten noch eine Runde. Allmählich spürte ich, wie ich runterkam. Draußen gingen im Dämmerlicht die rauchgelben Straßenlaternen an. Der Tag war beinahe zu Ende. Ein Streifenwagen heulte vorbei, sein blitzendes Blaulicht vermischte sich mit dem Straßenlampengelb.

„Ich sollte nach Hause.“

„Ach, komm“, sagte Mark, der bereits betrunken wirkte, „ich geb noch eine Runde aus.“ Er bestellte einen doppelten Whisky.

„Für mich nicht. Beeil dich. Ich bring dich heim, dann bin ich weg.“

Auf dem Heimweg blieb Mark an einer Currywurstbude stehen. Ein junger Typ mit alkoholgerötetem Gesicht ließ sich, obwohl seine Freundin ihn am Arm weiterziehen wollte, neben uns auf die Bank fallen. Das Gesicht in den Händen beugte er sich vor. „Scheiße“, murmelte er unentwegt vor sich hin. Das Mädchen trug ein Cosplay-Outfit und viel Make-up, hatte ihre Augen mit Kajal auf mandelförmig geschminkt. Auf der anderen Straßenseite stand in einem düsteren Zugang ein Mann mit Hoodie, der die Vorübergehenden leise „Alles gut?“, fragte, ihnen dabei aber nie richtig in die Augen sah.

„Auf nach Hause, Mark.“

Da er nicht mehr gerade gehen konnte, legte ich seinen Arm über meine Schulter, musste mich dabei komisch verbiegen, weil er viel kleiner war als ich. So schwankten wir zur S-Bahn-Station. Als wir zur verlassenen Kirche kamen, war die Tür aus den Angeln gerissen und lag im Eingangsbereich. Die Lampen brannten. Die Stühle waren umgeworfen, Papiere auf Tischen und Boden verstreut.

„Verdammte Scheiße!“

„Was ist denn da passiert?“

„Keine Ahnung. Sieht aus wie eine Razzia.“

Mark ging von Raum zu Raum, stellte Stühle wieder hin und hob Bücher auf. Sein Zimmer lag am Ende des Flurs neben der Küche. Seine dünne Matratze war zerfetzt und beinahe durchgeschnitten. Sein Rucksack, der seine wenigen Habseligkeiten enthielt, lag geöffnet mitten im Zimmer.

„Was für Arschlöcher! Das war die Polizei, die hat uns schon seit einiger Zeit im Visier.“

„Wo sind die anderen?“

Achselzuckend sah er mich an. „Ich habe keine Ahnung.“

„Was willst du jetzt machen, wo willst du schlafen?“

„Ich komm schon klar.“ Besonders überzeugend klang das nicht.

„Warum gehst du nicht zu deiner Freundin?“

„Lorelle? Das geht nicht. Sie hat eine Mitbewohnerin. Aber he, mach dir keine Sorgen. Ich komm woanders unter. Ich komm klar.“

Ich wandte mich zum Gehen. Schwankend, den leeren Rucksack in der Hand, versicherte er mir, er komme schon klar, und dann fiel mir ein, dass er sowieso nicht bei Lorelle hätte unterschlüpfen können, weil sie festgenommen worden war. Ich war müde und zerschlagen, wollte nur noch heim, unter die Dusche und ins Bett.

5

Von Marks Verhaftung erfuhr ich erst eine Woche später, als ich bei der Kirche vorbeischaute. Sie wirkte anders als sonst, die Tür war wieder eingehängt und der Garten sah aus, als wäre jemand mit dem Rechen darüber gegangen. Unter einem Baum war sorgfältig Müll zusammengetragen worden, der nur noch in Abfalltüten gestopft werden musste. Auf mein Klopfen öffnete niemand. Ich drückte die Tür auf. Die schäbigen Sofas und Lampen waren verschwunden. Das Lesepult war noch vorhanden und mir fiel ein, wie Mark dahintergestanden und aus der Bibel vorgelesen, sich über seinen Vater, den Pfarrer, lustig gemacht hatte. Ich war traurig und auch ein wenig verletzt – sie waren ausgezogen, ohne mich zu informieren. Sie hatten meine Handynummer, zumindest Mark, er hätte mich ruhig anrufen können. Aber ihr Leben war ein einziges Provisorium, wahrscheinlich waren sie von der Polizei verjagt worden und hatten mittlerweile ein anderes Gebäude besetzt; vielleicht meldeten sie sich in ein, zwei Wochen, wenn sie sich dort eingerichtet hatten. Zumindest Mark. Mir ging auf, dass sie mir fehlten; mir fehlte es, abends, wenn Gina arbeitete, in der Kirche vorbeizuschauen und ihren Gesprächen zu lauschen, die sich mit allen möglichen Themen beschäftigten, vom Klimawandel über abgefeimte Politiker bis hin zu Flüchtlingen, auch wenn ich die vier arroganterweise insgeheim naiv und hoffnungslos idealistisch fand. Jetzt musste ich mir eingestehen, dass sie sich zumindest über Andere Gedanken machten, nicht nur über sich selbst, willens waren, die Polizei mit Steinen zu bewerfen und für ihre Ideale sogar ins Gefängnis zu gehen – wie viele Leute waren dazu fähig? Ganz bestimmt nicht meine egoistischen, hyperehrgeizigen Kommilitonen von früher und definitiv nicht Ginas hypersensible, geradezu narzisstische Künstlerkollegen des Zimmer-Stipendienprogramms, die wir regelmäßig bei Abendessen, Vernissagen und Lesungen trafen. Die ganze Woche über wartete ich auf Marks Anruf. Hatte er überhaupt ein Handy? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Schließlich rief mich Lorelle an. Am Tag nach der Demo war sie aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden. „Wo sind denn alle abgeblieben?“, fragte ich. „Ich war bei der Kirche, aber da war keiner.“

Marks Grüppchen habe sich aufgelöst, erklärte sie. Stan sei zurück nach Mannheim, Eric nach Frankreich und Uta zu ihren Eltern. Das Gap-Year vom Leben, die Suche nach einer Alternative vorbei, dachte ich, die Revolution verloren. Enttäuschung durchfuhr mich.

„Und Mark?“, fragte ich. Mark sei verhaftet worden, deshalb rufe sie an. Ob wir uns treffen könnten? Lorelle wartete in einem Café gegenüber dem U-Bahnhof Neukölln auf mich. Sie bestellte einen Chai, ich einen Kaffee. Sie war anders, zurückhaltender, als hätte sie nicht geschlafen. Sogar das Mandala auf ihrer Wange wirkte weniger fluoreszierend, die Farben in ihrem Haar waren weniger festlich.

„Als ich dich letztes Mal gesehen habe“, übertönte ich mit lauter Stimme den Straßenlärm, „schlugst du gerade kreischend um dich, während du von der Polizei davongeschleift wurdest.“

„O Gott, an dem Tag war ich dermaßen high. Am nächsten Morgen haben sie mich freigelassen. Das ist Routine. Man könnte sagen, das macht den Kampf so spannend.“

„Was ist jetzt mit Mark?“

Ein junger Mann mit schulterlangem Haar und länglichem Trauerkloßgesicht kam an unseren Tisch, beugte sich zu Lorelle und flüsterte ihr schüchtern etwas ins Ohr. Er roch nach Kot, Urin und abgestandenem Schweiß. Seine dicken, ausgelatschten Stiefel standen vor Dreck. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keins.“ Er wandte sich an mich. Ich sah weg und er schlurfte zum nächsten Tisch.

Offenbar war Mark an dem Tag, als ich ihn zur Kirche begleitete, nochmals losgezogen und hatte noch mehr getrunken, war dann zurück in die Kirche, wo er laut Musik laufen ließ, die eine Polizeistreife anlockte. Man fragte ihn, weshalb er sich dort aufhalte und wo sein Wohnsitz sei, und als er anfing, die Polizisten zu beschimpfen, nahmen sie ihn mit. Die Lage verschärfte sich, als sich herausstellte, dass sein Visum abgelaufen war. Jetzt war er ein Fall für die Einwanderungsbehörde.

„Und wo ist er jetzt?“

„Sitzt in Abschiebehaft. Ich habe ihn gestern besucht und er meinte, ich solle dich anrufen. Er hat sonst niemanden. Er braucht Hilfe. Die wollen ihn zurück nach Malawi schicken – was Schlimmeres kann ihm gar nicht passieren. Er kann nicht zurück.“

Wie entschieden sie klang: Er kann nicht nach Malawi zurück. Wie meinte sie das?

„Was … was kann ich denn tun?“, fragte ich.

„Er braucht einen Anwalt.“

„Was ist mit diesen Menschenrechts-NGOs – Amnesty International, können die ihm nicht helfen?“

„Mit denen habe ich schon gesprochen, aber das fällt nicht direkt in deren Gebiet. Immerhin haben sie mir die Adresse eines Anwalts gegeben. Der gehört einer anderen Organisation an, die haben sich auf solche Fälle spezialisiert und sie arbeiten unentgeltlich.“

„Hast du ihn schon angerufen?“

„Ja, und er hilft gern, aber er braucht Geld für Aktenzugang, Kopien und so weiter.“

„Wie viel?“

„Ungefähr zweihundert Euro. So viel habe ich leider nicht …“

„Klar, kein Problem.“ Ich war erleichtert, dass es nur zweihundert waren. Ich hätte Gina nur äußerst ungern um die Summe gebeten. Die Kanzlei des Anwalts lag in Mitte, zwanzig Minuten S-Bahn-Fahrt von dem Gebäude entfernt, in dem Mark inhaftiert war. Es war eine kleine Kanzlei mit zwei Schreibtischen, einer für den Anwalt, der andere für die Rechtsanwaltsgehilfin, eine steife, sauertöpfisch dreinschauende Frau. Ihr schwarzer Rock reichte bis zur Wadenmitte, ihre himmelblaue Bluse war bis oben zugeknöpft, die Spitzenrüschen um den Hals hielten ihren Kopf wie eine Klammer aufrecht; auf der Brust trug sie ein Namensschild: Frau Grosse. Es gab nur einen Besucherstuhl, daher blieb ich stehen. Der Anwalt hieß Julius Maier, „aber sagen Sie einfach Julius“, meinte er und erhob sich aus seinem Stuhl, um mir die Hand zu geben. Er war zartgliedrig, geradezu durchsichtig neben der gestreng-gewichtigen und überaus präsenten Frau Grosse. Sein Vater sei aus Burkina Faso, fügte er hinzu, wie um seine Glaubwürdigkeit zu untermauern, seine Mutter Deutsche. Lorelle gab ihm den Umschlag mit den zweihundert Euro. Er zählte das Geld und reichte es an Frau Grosse weiter, die ebenfalls nachzählte, das Geld in den Umschlag und diesen in eine Schublade steckte. Ich wartete geradezu darauf, dass sich um ihre Taille eine Kette mit dazugehörigem Schlüssel materialisierte, mit dem sie die Schublade zusperren würde. Sie bemerkte meinen Blick und quittierte ihn mit einem Stirnrunzeln; ich wandte mich ab.

„Zuallererst muss Ihr Freund beweisen, dass er nicht illegal hier ist, und dafür muss er den Nachweis erbringen, dass er immer noch Student ist.“

„Er kam als Student her, das ist aktenkundig. Warum glauben die ihm das nicht?“, fragte ich.

„Das ist aktenkundig, stimmt. Aber die Lage ist nicht ganz so einfach. Mittlerweile ist er nicht mehr immatrikuliert und hat daher gegen die Visumsbedingungen verstoßen.“

„Ist das was Ernstes?“

„Sehr. Ihm droht Abschiebung oder Haft.“ Der Anwalt wartete auf einen Kommentar meinerseits, redete dann weiter. „Am hilfreichsten wäre es, wenn er beweisen kann, dass er eine Visumsverlängerung beantragt hat. Ich habe mit ihm gesprochen und er sagte, das habe er versäumt.“

„Kann er das denn nicht nachträglich tun?“

„Dazu benötigt er ein Schreiben der Hochschule, das bestätigt, dass er immer noch immatrikuliert ist – aber das ist nicht so einfach. Er meinte, er sei im letzten Jahr nicht zur Uni gegangen. Bevor er hierhergekommen ist, hat er eine andere Hochschule in Potsdam besucht. Sein Stipendium läuft aus. Offenbar ist er demnächst mit dem Studium fertig, ihm fehlt nur noch die Abschlussarbeit.“

Eine geradezu kafkaeske Situation – für einen Gerichtsprozess musste er beweisen, dass er eine Visumsverlängerung beantragt hatte (was nicht der Fall war), doch um eine Visumsverlängerung zu beantragen, musste er beweisen, dass er immer noch Student war (was rein theoretisch der Fall war, auch wenn er keine Förderung mehr erhielt und seit einem Jahr das Unigelände nicht betreten hatte und weil er mehrmals die Hochschule gewechselt hatte, waren seine Unterlagen durcheinander, verheddert wie das Haar eines Rastafaris). Trotzdem sah der Anwalt optimistisch aus, Lorelle hingegen skeptisch und ich wahrscheinlich verwirrt.

„Es wäre tatsächlich einfacher, wenn er einen Asylantrag stellt“, erklärte er.

„Wie ein Flüchtling?“

„Genau.“

„Das macht er nie im Leben“, sagte Lorelle.

„Warum nicht, das vereinfacht die Sache …“

„Weil er kein Flüchtling ist, sondern Student.“