Öl auf Wasser - Helon Habila - E-Book

Öl auf Wasser E-Book

Helon Habila

0,0

Beschreibung

Port Harcourt, Nigeria, im Delta des Niger. Eine Frau verschwindet. Dies wäre keine Nachricht in den Medien wert, würde es sich nicht um eine Britin, die Ehefrau eines hochrangigen Mitarbeiters einer ausländischen Ölgesellschaft, die im Delta und vor der Küste Öl bohren, handeln. Die Entführung ist offensichtlich das Werk einer Rebellengruppe, die gegen die Ölgesellschaften kämpft, die das Land ausbeuten und zerstören. Als eine Lösegeldforderung eingeht, wittert der junge Journalist Rufus die Chance zu einer großen Story und macht sich mit dem gealterten Starreporter Zaq auf die Suche nach der Entführten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 363

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



A F R I K AW U N D E R H O R N

Reihe für zeitgenössische afrikanische LiteraturHerausgegeben von Indra Wussow

H E L O N H A B I L AÖ L A U F W A S S E R

R O M A N

AUS DEM ENGLISCHENVON THOMAS BRÜCKNER

Titel der Originalausgabe:

Oil on Water, Hamish Hamilton, London

© 2010 Helon Habila

Lizenzrechte über David Godwin Associates, London

Lektorat: Angelika Andruchowicz

© 2012 Verlag Das Wunderhorn GmbH

Rohrbacherstraße 18

D-69115 Heidelberg

www.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gesamtgestaltung: sans serif, Berlin

Umschlagabbildung: © Peter Essick (plainpicture)

Foto Seite 2: © Jide Alakija

ISBN 978-3-88423-452-5 (ebook)

Dem Andenken meines Cousins Gabriel

Dank

Ich möchte mich bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben, dieses Buch Wirklichkeit werden zu lassen. Es sind ihrer zu viele, um sie alle namentlich zu erwähnen. Meinen Agenten bei David Godwin Associates danke ich besonders für ihren Zuspruch und ihre Unterstützung, und meinen Lektorinnen Juliette Mitchell und Donna Poppy für ihre unschätzbaren Anmerkungen und Vorschläge.

Mein Dank gilt meiner Frau Susan und den Kindern, dass sie es mit mir ausgehalten und mich durch jene finsteren und düsteren Augenblicke des Schreibens geleitet haben.

ERSTER TEIL

1.

Ich gehe einen vertrauten Weg. Die Ereignisse links und rechts sind säuberlich gelistet und datiert, doch auf halber Strecke lässt die Erinnerung meine Hand fahren und Nebel steigt auf und verhüllt Orte und Gesichter, und mir bleibt nur, mich verloren durch die Dunkelheit zu tasten und die verschwommenen Augenblicke im Weitergehen neu zusammenzufügen, die Gesichter und Orte, sogar die Gefühle. Manchmal muss ich, wenn ich nicht vom Weg abkommen will, an deutlich erkennbare Markierungen zurückkehren und kann erst dann, mit diesem Sicherheitsnetz unter mir, auf weniger gesichertes Gelände springen.

Ja, es stimmt, es gab einen Unfall, ein Feuer. Eine Explosion im Lager mit den Ölfässern. Der Wind trug das Feuer von Haus zu Haus, und innerhalb weniger Minuten stand die halbe Stadt in Flammen. Viele starben. Auch Johns Vater. Man erzählt sich, dass er starb, als er versuchte, meine Schwester Boma zu retten, und sie umgekommen wäre, wenn er nicht gewesen wäre. Mein Vater kam ins Gefängnis. Seit damals raucht er nicht mehr. Meine Mutter ist in das Dorf ihrer Eltern zurückgegangen. Sie lebt immer noch dort. Und während meine Schwester brannte und meine Familie auseinanderbrach, war ich in Lagos, hörte mir einen Vortrag an, aß in einem chinesischen Restaurant zu Abend, versuchte, das Rätsel vom verrückten Vergewaltiger zu lösen, und erfuhr erst von der Tragödie, als ich mit meinem Abschlusszeugnis als Journalist wieder nach Hause kam.

Nein, es war kein Unfall an der Pipeline, wie ich es dem Weißen erzählt und in meinem Artikel geschrieben habe. Aber es hätte unschwer einer sein können, wie in zahllosen anderen Dörfern auch. Mein Vater ist immer noch im Gefängnis. Boma und ich gehen ihn noch immer besuchen, und jedes Mal, wenn er ihr Gesicht sieht, wendet er sich ab und seine Hände zittern, und sie geht seit kurzem nicht mehr hin. Mutter kommt einmal im Monat aus dem Dorf herüber und besucht ihn. Ab und zu begleite ich sie und beobachte, wie sie miteinander umgehen: Manchmal haben sie eine Menge zu besprechen, und manchmal starren sie sich nur schweigend an. Zuletzt bin ich vor gut einem Monat mit ihr mitgegangen. Ich saß etwas abseits, aber ich konnte hören, was sie beredeten: Sie erzählte ihm vom Leben im Dorf, auf dem Hof, wie gut dieses Jahr die Ernte war. Er hörte ihr zu, nickte und starrte sie die ganze Zeit an, versuchte, ihren Blick einzufangen, doch sie mied seine Augen, solange sie erzählte. Und sie rief mir zu: Rufus, komm her. Warum stehst du so weit weg, dort, am Fenster? Der Wärter tat so, als läse er Zeitung, aber er beobachtete uns die ganze Zeit. Ich erinnere mich, dass der Raum nach den gerösteten Erdnüssen roch, die Mutter Vater mitgebracht hatte. Ich erinnere mich, dass der Wärter einen Kahlschädel hatte. Mutter sah dünner aus, dunkler.

Der Nebel lichtete sich so plötzlich, wie er aufgekommen war, und die Sonne strahlte, und ich bewegte mich wieder auf sicherem Grund, auch wenn ich wusste, dass der Nebel wiederkommen, sich vor das Auge meiner Erinnerung schieben und es einen Augenblick lang blenden konnte.

Nach einiger Zeit sahen Himmel und Wasser und das dichte Blattwerk an den Ufern völlig gleich aus: blau und grün und blaugrün umschleiert. Die ganze Landschaft kam mir vor wie ein bloßer Taschenspielertrick des Lichts, dampfend und die Gestalt ändernd, hinter dem Nebel aufscheinend und vergehend. Es war noch früh am Morgen, doch wir hockten bereits seit über zwei Stunden in diesem Boot, hatten das offene Meer hinter uns gelassen und fuhren einen Nebenfluss hinauf in Richtung Westen. Seit langer Zeit schon war Irikefe Island, die ihrer einzigartigen, sichelförmigen Küste wegen auch Halbmondinsel genannt wurde, hinter uns versunken, verschluckt von der Entfernung und einer Finsternis, die dieser Dunst, der wie Rauch von den Flussufern aufstieg, über uns warf. In der Flussmitte war das Wasser klar, näher an den Ufern aber stand es brackig, eingeschlossen von den Mangroven, in deren Zweigen der Dunst in Klumpen hing wie Baumwollbällchen. Vor uns wölbte er sich wie eine Brücke über das Wasser. Manchmal, wenn wir in einen besonders schmalen Seitenarm einbogen, wurde unser leichtes Holzkanu derart von diesem dichten, grauen Etwas umfangen, dass wir einander nicht mehr sehen konnten, während wir stumm durch das Wasser glitten. Ich war nass, mir war kalt und ich hatte Hunger, und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob es eine gute Idee gewesen war, mit Zaq auf die Suche nach der entführten Engländerin zu gehen. Heute folgten wir bereits den neunten Tag ihrer Spur. Die anderen Journalisten waren längst nach Port Harcourt zurückgekehrt, und ich war überzeugt, dass dieses Abenteuer – oder vielmehr: dieses andauernde Missgeschick – für sie jetzt nur noch eine Episode war, Anekdotenwährung, mit der man sich an einem faulen Tag im Presseclub einen Drink erkaufen konnte.

Zaq tat sie mit einer Handbewegung ab.

»Das ist der Unterschied zwischen großen Reportern und der Masse.«

Er war zweifelsohne einer der besten, die das Land je hervorgebracht hatte, und deshalb respektierte ich seine Meinung, doch in diesem Augenblick wären mir Essen, trockene Sachen und ein Dach über dem Kopf entschieden lieber gewesen als Größe oder Hochachtung. Nur so als Beispiel.

»Rufus, mein Freund, sag mir, was suchen wir eigentlich?«

Es war keine Frage, aber ich antwortete trotzdem.

»Die Frau. Und den Professor.«

»Ich sagte ›was‹ und nicht ›wen‹. Vergiss mal einen Augenblick lang die Frau und ihre Entführer. Wir suchen eigentlich nicht nach ihnen, sondern nach einer höheren Bedeutung. Denk dran, die Geschichte ist nicht das Endziel.«

»Sondern?«

»Der Gehalt der Geschichte, und nur ein paar wenige Glückspilze finden das jemals heraus. Ich glaube, dass du das instinktiv begriffen hast, sonst wärst du nämlich nicht hier. Wird alles gut ausgehen, wirst schon sehen.«

Sein Hemd war unter den Armen und auf dem Rücken durchnässt. Er kämpfte immer noch mit dem Fieber, das ihn plötzlich befallen hatte, nachdem wir Port Harcourt verlassen hatten, und je stärker sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, desto mehr geriet er über alles Mögliche ins Philosophieren: eine Fledermaus, die über unsere Köpfe flog, einen toten Fisch im ölverseuchten Wasser, eine Ballung Regenwolken am klaren Himmel. Ich war trotzdem froh, dass sein Verstand noch zum Philosophieren in der Lage war. Je weiter wir in den Wald vordrangen, desto öfter ertappte ich mich dabei, dass ich ihm Fragen stellte. Ich hatte keine Ahnung, was er mit der Geschichte und ihrem Gehalt meinte, aber vielleicht fand ich das noch heraus, bevor dieser Trip zu Ende war. Im Augenblick hoffte ich nur, dass er durchhielt, bis wir wieder in Port Harcourt waren und festes Land unter den Füßen hatten. Letzten Endes war die ganze Sache nicht so gut gelaufen, wie ich gehofft und er es versprochen hatte, schon gar nicht für ihn, doch redete er vielleicht gar nicht über sich, sondern von mir. Vielleicht fühlte er, dass er im Fluss seines Lebens an einem Punkt angelangt war, hinter dem eine Umkehr unmöglich wurde.

Im Boot lagen ein Beutel Trockenfrüchte und eine Plastikflasche voll Wasser, die uns, wie der alte Mann sagte, Naman, der Priester, mitgegeben hatte. Zaq holte seine letzte Flasche Whisky hervor, seufzte schwer, als er sie öffnete, und nahm einen Schluck.

»Ist es nicht ein bisschen zu früh dafür?«

»Ist nie zu früh. Nimm auch einen Schluck, Rufus. Wird dich warmhalten.«

Ich stieß die Flasche weg, schlug sie ihm fast aus der schwachen Hand.

»Kannst du nicht warten, bis wir ein wenig sicherer sein können, wo wir sind? Wir könnten uns schließlich verfahren haben …«

»Wird alles gut gehen. Der Alte hier wird sich um uns kümmern.«

Der alte Mann lächelte sein breites, ermutigendes Lächeln und nickte eifrig mit dem zwergenhaften Kopf. Neben ihm hockte sein Sohn, eingehüllt in den dichten Rauch, der aus dem Außenbordmotor des Boots quoll; seine Gestalt tauchte im Spiel des Winds aus dem Dunst auf und verschwand wieder darin. Der Junge sah aus, als wäre er höchstens zehn Jahre alt, war aber vielleicht älter, weil sein Wachstum durch Unterernährung gebremst worden war. Sein Haar war rötlich und dünn, die Arme waren so knochig wie die seines Vaters. Beide waren in die gleichen formlosen und verblichenen, schlichten Hemden und Hosen gekleidet, ihre Hände sahen vom Meerwasser rau und schwielig aus, sie rochen nach Fisch und schienen so urwüchsig wie Tang. Das Wasser, das von den Bootsflanken aufspritzte, hatte sie durchnässt. Der Junge bemerkte, dass ich ihn ansah und erwiderte meinen Blick ohne Selbstbewusstsein, mit unschuldsvollen und neugierigen Augen, sodass ich wegsah. Wir tuckerten weiter den enger werdenden Fluss hinauf, nur gefolgt vom Brüllen des dröhnenden Motors.

»Wissen Sie, wo die Rebellen stecken?«

»Nein, Sah. Leute sagen, möglich bei Abakiri.«

Es war ein einziges Rätselraten. Die Rebellen hielten ihre Lager geheim, weil ihr Leben davon abhing; davon und von ihrer Fähigkeit, beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten durch die Patrouillen der Bundesarmee, mit denen sie sich im ständigen Kriegszustand befanden, ihre Zelte zusammenzupacken und den Standort zu wechseln. Wenn sie die Presse einluden, Geiseln zu besuchen oder ausführliche Interviews über die Gründe ihres Kampfes gegen die Regierung geben wollten, taten sie das stets in einem Dorf oder auf einer verlassenen Insel weit weg von ihrem Lager. Fest stand jedoch, dass sie sich nie allzu weit von den Pipelines und Bohrinseln und Raffinerien entfernten, die sie fortgesetzt in die Luft zu jagen drohten, womit sie sich ihr Überleben sicherten. Wenn es dem Alten gelang, uns zu ihrem tatsächlichen Lager zu bringen, und wir es schafften, wohlbehalten von dort zurückzukehren, dann gehörten wir zu den wenigen Reportern, die das vollbracht hatten. Mein Bauchgefühl sagte mir, im nächsten Dorf auszusteigen, mich auf den Rückweg nach Port Harcourt zu machen und die Weiße zu vergessen, weil die Rebellen sie letztlich sowieso freilassen würden; die perfekte Story zu vergessen, weil es so etwas wie eine perfekte Story überhaupt nicht gab und ich bereits genügend aufgeschrieben hatte, um von meinem Redakteur mit offenen Armen empfangen zu werden; Irikefe Island zu vergessen, wo wir die letzten fünf Tage festgesessen hatten, bevor der Alte und sein Sohn uns holen kamen, und vor allem Zaq mit seinem verzweifelten, übertriebenen Ehrgeiz hinter mir zu lassen. Sollte doch das Leben so weitergehen wie früher: einfach, vorhersehbar, ausgefüllt mit Myriaden eigener Angelegenheiten. Nur: Welcher Journalist hungert nicht nach der perfekten Story, an der wir hier, wie Zaq erklärte, und dem stimmte ich vorbehaltlos zu, so nahe dran waren, wie ein Reporter nur je herankommen konnte. Der bloße Gedanke daran, umzukehren, ließ mich erkennen, wie armselig und minderwertig das Leben nach der Aufregung der letzten Tage wäre, und während wir immer weiter stromaufwärts fuhren, und uns weiter und weiter vom Meer entfernten, unternahm ich nichts, um aus der Sache auszusteigen. Ich fühlte, wie sich Hoffnung und Zweifel in meiner Brust abwechselten. Ich fühlte, wie sich ein Hunger in mir regte, etwas, das ich noch nie zuvor gespürt hatte, eine Überzeugung fast schon, dass mir bestimmt war, hier zu sein, auf diesem Boot, auf dieser Fährte. Es war, als wehte eine Brise durch einen lang vergessenen Teil meines Gehirns. Ich wusste, dass Zaq diese aufkeimende Hoffnung in meinen Augen lesen konnte; er konnte sie benennen und beschreiben, wie unwiderstehlich ihre Anziehungskraft war.

Weit voraus tauchte, plötzlich wie ein Wunder, eine riesige Klippe aus dem Wasser auf. Stufen waren ungleichmäßig in den Fels gehauen und führten zu einem Baumdickicht, das die Grenze eines Dorfes beschrieb. Wir legten an und kletterten die tückischen Steinstufen hinauf, mussten aber oft innehalten, um wieder zu Atem zu kommen.

»Wer lebt hier?«

Der Alte zuckte die Schultern.

»Niemand.«

»Wo sind die Leute hin?«

»Sind fort wegen zu viel Kampf.«

Das Dorf sah aus, als hätte eine tödliche Epidemie in ihm gewütet. Das Quadrat einer Betonplattform beherrschte das Dorfzentrum. Sie sah aus wie ein Opferaltar. Um die Plattform herum lag zurückgelassenes Bohrgerät verstreut; einiges schien neben dicken Grasbüscheln direkt aus den breiten Rissen im Beton zu sprießen. Hoch oben in der verrosteten Takelage flogen die Wespen aus ihren Nestern oder schlüpften hinein. Neben der Plattform verkündete ein verwittertes Anschlagbrett: OIL WELL NO. 2. 1999, 15,000 METRES. Unweit der herrenlosen Plattform begannen die Häuser. Wir gingen von einem plumpen Ziegelbau zum nächsten, von Gehöft zu Gehöft, aber sie waren alle verlassen. Weit geöffnete Fenster, die schief in geborstenen Angeln hingen, und die Dächer darüber hatten große Löcher, durch die das grelle Sonnenlicht einfiel. Hinter einem Haus entdeckten wir ein Hühnergehege mit vielleicht zehn Hühnern, allesamt tot und verwesend; unter den Federn taten sich die Maden gütlich. Wir hielten uns die Nasen zu und gingen zum nächsten Gehöft hinüber, aber auch dort war es kaum anders: Kochtöpfe standen leer und kalt auf erloschenen Herden; daneben befanden sich volle Wassertöpfe, auf deren Oberfläche dicht an dicht Moskitolarven gediehen. Wir brauchten weniger als eine Stunde, um durch das kleine Dorf zu ziehen, gingen von einem verlassenen Haushalt zum nächsten, machten Fotos, hofften darauf, wenigstens einen zufälligen Nachzügler zu entdecken, einen Überlebenden, eine Stimme, die wir interviewen konnten.

Wir fuhren weiter. Zaq sah aus, als müsste er sich gleich übergeben; sein Gesicht war schweißbedeckt, und er musste mehrmals die Flasche ansetzen, bevor die Wachheit in seine Augen zurückkehrte. Wir machten öfter Pausen und der Fluss wurde jedes Mal enger, wenn wir weiterfuhren. Bald darauf befanden wir uns in einem dichten Mangrovensumpf; das Wasser unter uns stank nach Fäulnis und Schwefel; in Schwärmen stiegen die Insekten von der Wasseroberfläche auf und ballten sich über unseren Köpfen zu schwirrenden Wolken zusammen, stachen uns in Arme und Gesichter und Ohren. Der Junge und der alte Mann schienen die Insekten gar nicht zu bemerken; sie hatten die Augen zu Schlitzen zusammengezogen und konzentrierten sich darauf, das Boot zwischen den knorrigen Luft wurzeln hindurch zu steuern, die wie nach Atem schnappende Rüssel aus dem Wasser wuchsen. Die Luft war vom schwer lastenden Gestank toter Körper erfüllt. Wir folgten einer Flussbiegung und sahen Vogelkadaver vor uns, auf Äste drapiert, die schlaffen Flügel schwarz und glitschig vom Öl; tote Fische schaukelten mit den weißen Bäuchen nach oben zwischen den Baumwurzeln.

Das nächste Dorf war fast eine Kopie des ersten: die gleichen leeren, gedrungenen Bauten, der gleiche gesättigte und abscheuliche Gestank, die Leere, der Ölschlick und die gleiche unbestimmbare Traurigkeit in der Luft, als ob eine Geisterhorde über den zerlöcherten Zinkdächern schwebte, die nicht fortziehen wollte und doch nicht die Macht besaß, zu bleiben. Im Zentrum entdeckten wir den Dorfbrunnen. Durstig bückte ich mich unter den feuchten, bemoosten Tragbalken und spähte in die Finsternis hinunter, aber ein ranziger Geruch wurde aus seiner heißen Tiefe heraufgetragen und schlug mir ins Gesicht. Benommen wandte ich mich ab; mir war schlecht. Dort unten lag etwas Organisches tot und verwesend herum, vielleicht ein menschliches Wesen, und dieser Gestank mischte sich mit dem unverwechselbaren Ölgeruch. Am anderen Ende des Dorfes sickerte ein winziger Bach dem großen Fluss zu, an dem wir unser Boot zurückgelassen hatten. Die Grasnarbe, die am Ufer wuchs, erstickte unter einem Ölfilm, jeder Halm war mit Flecken übersät, wie Leberflecken auf der Hand eines Rauchers.

Wir fühlten uns ausgelaugt, und deshalb machten wir uns wieder auf den Weg. Wir schoben das Boot in tieferes Wasser und kletterten hinein. Zaq schien inzwischen jede Energie – und sogar den Willen, die Flasche an die Lippen zu setzen, eingebüßt zu haben: Sie lag unbeachtet zu seinen Füßen. Die pissefarbene Flüssigkeit schwappte mit jeder Bewegung des Bootes vor und zurück. Er saß da, hatte die Hände breit neben sich auf dem Sitz abgestützt, als klammerte er sich ans nackte Leben, und ich wartete bei jedem Schaukeln des Bootes darauf, dass sich die Kotze aus seinem Mund ergoss. Aber irgendwie behielt er alles bei sich.

»Möchtest du, dass wir im nächsten Dorf anhalten?«

»Nein, keine Dörfer mehr!«

Ich war müde und schlapp und fragte mich, wann der Alte anhalten, die Hacken in den Boden schlagen und verlangen würde, dass wir umkehrten, aber er sagte nichts, fuhr einfach immer weiter, tiefer und tiefer in das Land hinein. Der Fluss war an manchen Stellen so seicht und der Morast so dick, dass wir den Motor abstellen und das Boot schieben mussten, ungeachtet des kalten, dreckigen Wassers, das uns in Schuhe und Hemden und Hosen sickerte, und des faulen Geruchs, der sich in den Haaren festsetzte, und des Juckens auf unseren verdreckten Gesichtern. Als wir wieder in offenes Wasser kamen, änderte der Alte die Richtung und nahm Geschwindigkeit auf. Ich fragte nicht, wohin wir fuhren. Ich hoffte nur, dass der Ort in der Nähe und bewohnt war.

»Ich hab Freund in Nachbardorf. Is gut Mann. Wir machen kleine Rast dort, vielleicht auch schlafen für Nacht. Is gut Mann.«

»Wie weit ist es bis dahin?«

»Nich sehr weit, bloß bisschen.«

Wir fuhren geräuschlos wie ein Geisterschiff, das Brüllen des Motors von der gesättigten Luft gedämpft. Kein Vogel oder Fisch oder irgendein anderes Lebewesen der See war an der schwarzen, teilnahmslosen Wasseroberfläche zu sehen – wir waren allein. Als wir ankamen, begrüßte uns eine Gruppe Schmuddelkinder mit Rufen und neugierigen Blicken. Wir ließen das Boot in der Obhut des Jungen zurück und machten uns auf den Weg zu den rostroten Dächern, aus denen dieses winzige Uferdorf bestand. Nach wenigen Minuten sprang der Junge aus dem Boot und schloss sich den Kindern an, die einen alten, geflickten Lederball über den Sand kickten. Der Alte führte uns eine breite Straße entlang, die das Dorf in zwei Hälften teilte. Auf jeder Seite standen Häuser, die wie Schachteln aussahen und mit irgendwie spöttischem Grinsen auf die Hauptstraße herunterschauten. Die Häuser glichen eher den Bäumen und dem Wald hinter ihnen als einer menschlichen Siedlung. Frauen und Kinder starrten uns neugierig an, doch sobald wir winkten oder ihnen einen Gruß zuriefen, schlossen sie schnell die Türen oder wandten sich einer Arbeit zu. Wir standen jetzt vor einigen offenen Verschlägen und Hütten und Buden, die durch enge Durchgänge voneinander getrennt wurden. Alle vorstellbaren Waren sah man dort ausgestellt – von Badeseife und Reinigungsmitteln bis zu Ölsardinenbüchsen, die sich neben Milchtüten und Kekspackungen zusammendrängten; in Regalen und unter Tischen standen Kästen mit Coca Cola und Fanta; es gab getragene Kleidung, Radiobatterien, Plastikspielzeug und sogar Dachpappennägel in aufgebrochenen Packungen zu kaufen. Inmitten dieser Verschläge standen Frauen mit speckigen Schürzen um die Hüften, die mit Maßkellen und lauten Stimmen Garri aus Eisenschalen in die Plastiktüten schaufelten, die ihnen die Kunden hinhielten. Dieser Teil des Dorfes war so anders als der, durch den wir gerade gekommen waren, dass ich mich fragte, ob wir noch im selben Dorf waren. Die Frauen riefen uns grüßend zu, als wir vorübergingen und zeigten auf ihre Waren, um uns heran zu locken. Der letzte Stand in der Reihe gehörte einem Grobschmied.

»Is Laden von mein Freund Karibi.«

Der Alte ging hinein. In einem Winkel des Verschlags standen vier Männer beieinander und unterhielten sich leise. In der Mitte hockte ein junger Mann vor einer Feuerstelle voll glühenden Metalls, der kurz zu uns aufblickte und sich sofort wieder seiner Arbeit zuwandte. Die Männer hörten auf zu reden, und einer schüttelte dem Alten die Hand; die anderen nickten ihm grüßend zu und drehten sich dann mit ernsten Gesichtern zu uns um. Der Alte sprach eine Weile mit dem Mann, während die anderen zuhörten und ab und zu eine Bemerkung einwarfen. In ihren Gesichtern und Gesten war tiefste Verblüffung zu lesen. Kurz darauf gesellte sich der Alte mit besorgtem Blick wieder zu uns.

»Ist das Ihr Freund?«

»Ja. Sagt, wir müssen fort. Können nich bleiben.«

»Wir sind aber gerade erst angekommen. Stimmt etwas nicht?«

»Ja. Haben gehört, Soldaten kommen heute her. Wollen ihn holen.«

»Weswegen holen?«

Der Alte zuckte die Achseln und drehte sich zu den Männern im Verschlag um.

»Sagen, er hilft Rebellen.«

»Und warum versteckt er sich nicht?«

»Sagt, is unschuldig, deshalb rennt nich weg. Nirgendwohin. Karibi is wichtig Mann in Dorf. Is sehr stolz Mann.«

Wir standen da und wussten nicht recht, was tun. Ich sah Zaq an. Hier würde sich ganz offensichtlich ein Ereignis mit Nachrichtenwert entfalten, und vielleicht sollte ich lieber, statt zu verschwinden, meinen Fotoapparat bereithalten und den Mann um einige Hintergrundinformationen bitten? Doch bevor sich dieser Gedanke in Taten umsetzen ließ, überschlugen sich die Ereignisse bereits. Lärm wie von stampfenden Füßen, Staub wirbelte hoch und senkte sich auf die engen Durchgänge und Stände und Verschläge, Menschen eilten durch die Durchlässe, rissen in ihrer Hast Tische und ganze Verkaufsstände um. Dann war ein Gewehrschuss zu hören. Einen Augenblick lang stand alles still. Als ich mich umdrehte, um den Alten zu fragen, was los sei, stand plötzlich eine verschreckte Marktfrau vor mir, die Augen blind vor Angst. Im nächsten Augenblick lag ich flach auf dem Rücken, und ihre beträchtliche Masse presste mich auf den staubigen Boden, dann war sie wieder auf den Beinen und lief fort, wendig, fast fliegend. Noch lange danach erinnerte ich mich an ihren Marktgeruch und ihre blicklosen Augen über meinen, und an das Stöhnen, verängstigte Laute, die ständig aus ihrer Kehle drangen, Geräusche, von denen sie gar nicht wusste, dass sie sie erzeugte. »Sie sind da! Die Soldaten sind da!«

Sie tauchten aus Verschlägen und Häusern und Durchgängen auf, schwangen Peitschen und Gewehre und feuerten ab und zu in die Luft, um noch größeres Chaos auszulösen. Ein Mann stürzte aus einer Hütte und sah sich einem Soldaten gegenüber; er riss die Hände in die Höhe, um sich zu ergeben, während der Soldat mit einer einzigen, fließenden Bewegung sein Gewehr umdrehte und den Kolben an den Kopf des Mannes schmetterte. Der Mann fiel in die Türöffnung zurück, und der Soldat zog, auf der Suche nach dem nächsten Ziel, weiter. Ich lag immer noch auf dem Boden und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, was mich vor einem gebrochenen Kiefer oder einem zerschmetterten Schädel bewahrte. Karibi und seine Freunde, denen sich jetzt auch seine Söhne angeschlossen hatten, standen Schulter an Schulter, ohne sich zu rühren, und sahen zu, wie sich das Pandämonium auf sie zu bewegte – wie eine Welle, die weit draußen auf dem Meer ihren Ursprung genommen hatte und nun unaufhaltsam auf die Küste und sie zugerast kam und in dieser Bewegung noch an Kraft und Wut gewann. Mehr als zehn Soldaten umzingelten die Schmiede und umringten die schweigenden, trotzigen Männer. Ein Soldat, ein Sergeant, trat in den Verschlag und richtete sein Gewehr auf Karibi.

»Du kommst mit.«

Seine Leute stürmten vor und griffen sich Karibi, der sich nicht wehrte und nichts erwiderte. Die anderen Männer schauten zu, sahen die Soldaten wütend an, schwiegen aber. Sie fesselten ihm die Hände auf dem Rücken und schleiften ihn die breite Dorfstraße entlang fort. In der Ferne klagte eine Frau mit lauter Stimme. Immer wieder rief sie Gott an: Tamuno! Tamuno!

2.

Wir fuhren weiter bevor sich der Staub gesetzt hatte. Zusammen mit den Dorfbewohnern gingen wir zum Flussufer, um zuzusehen, wie die beiden Schnellboote, mit denen die Soldaten gekommen waren, über das Wasser davonflogen und aus dem Blickfeld verschwanden. Karibi saß, die Hände auf dem Rücken gefesselt, aufrecht zwischen zwei Soldaten und starrte zum fernen Horizont. Sein Sohn sagte, man brächte ihn nach Port Harcourt, wo er der Verbrüderung mit den Rebellen angeklagt und für schuldig befunden werden würde.

»Aber er ist unschuldig. Er ist doch unschuldig?«

Es war sinnlos, Zaq das zu fragen, das war sogar mir klar: Woher sollte er wissen, wer unschuldig war und wer nicht; und hatten wir den Mann nicht gerade eben erst kennengelernt? Doch der Anblick Karibis ließ mich nicht los. Stoisch und trotzig im Angesicht der Bedrohung durch die Soldaten – nur ein Unschuldiger konnte so gelassen, so selbstsicher sein, oder?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!