Reisende auf einem Bein - Herta Müller - E-Book

Reisende auf einem Bein E-Book

Herta Müller

4,5

Beschreibung

Irene ist weder ganz abgereist noch endgültig angekommen. Ihre alte Heimat, das Rumänien Ceausescus, hat sie verloren, während ihr die neue Heimat Deutschland verschlossen bleibt: Im neuen Land stehen den Namen Dinge gegenüber, die nicht zu ihnen passen wollen, die nichts gemein haben mit den Wünschen aus der Ferne. Einsam durchstreift sie Westberlins Bahnhofslandschaften und Durchgangsorte, auch in ihren Beziehungen mit Männern bleibt sie innerlich allein. Der erste Prosaband der Nobelpreisträgerin Herta Müller ist eine bewegende Geschichte von Ferne und Nähe, Abreise und Ankunft - und der Leere dazwischen, in der wir schmerzhaft uns selbst spüren.

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Herta Müller

Reisende auf einem Bein

Carl Hanser Verlag

Die Erstausgabe erschien 1989 beim Rotbuch Verlag, Berlin.

eBook ISBN: 978-3-446-23626-4

© Carl Hanser Verlag München 2010

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

ABER ICH WAR NICHT MEHR JUNG

Cesare Pavese

1

ZWISCHEN den kleinen Dörfern unter Radarschirmen, die sich in den Himmel drehten, standen Soldaten. Hier war die Grenze des anderen Landes gewesen. Die steile Küste, die halb in den Himmel reichte, das Gestrüpp, der Strandflieder waren für Irene das Ende des anderen Landes geworden.

Am deutlichsten sah Irene dieses Ende am Wasser, das zuschlug und wegfloß. Das kurz zuschlug und lange wegfloß, weit hinter die schwimmenden Köpfe, bis es den Himmel bedeckte.

In diesem losgelösten Sommer spürte Irene zum ersten Mal das Wegfließen des Wassers weit draußen näher als den Sand unter den Füßen.

An den Treppen der Steilküste, wo Erde bröckelte, sah Irene wie in all den anderen Sommern die Warntafeln stehen: »Erdrutschgefahr.«

Die Warnung hatte in diesem losgelösten Sommer zum ersten Mal wenig mit der Küste und viel mit Irene zu tun. Die Steilküste war wie gebaut aus Erdbrocken und Sand, wie gebaut von Soldaten, damit der Sog nicht ins Land, nicht ins Innere kam, von irgendwo her.

Am Abend waren die Soldaten betrunken. Sie gingen wieder auf und ab. Die Flaschen klirrten im Gestrüpp. Weitab von den Kegelbahnen, von den tanzenden Sommerkleidern in den Kneipen standen sie, die Soldaten, unter den Trichtern der Radarschirme. Die fingen nur Licht ein und den Wechsel der Farben im Wasser. Sie gehörten der Grenze des anderen Landes, wie die Soldaten der Grenze des anderen Landes gehörten.

Himmel und Wasser waren gleich in der Nacht.

Der Himmel glimmte vor sich hin, unruhig mit verstreuten Sternen, getrieben von Ebbe und Flut. Er blieb schwarz und still. Und das Wasser tobte.

Wenn das Wasser längst dunkel war, die Wellen hoch, war der Himmel noch grau, bis die Nacht kam, von unten.

Zwei Stunden, bis die Musik der Rockband aus der kleinen Kneipe neben dem Dorf zu hören gewesen war, war Irene die Küste entlanggegangen. Jeden Abend zwei Stunden.

Es sollten Spaziergänge sein.

Am ersten Abend hatte Irene auf den Himmel hinaus und aufs Wasser geschaut. Dann hatte sich ein Strauch anders als die anderen Sträucher bewegt. Nicht vom Wind.

Hinter dem Strauch stand ein Mann. Lauter, als das Wasser schlug, und doch mit einer Stimme, als würde er flüstern, sagte der Mann:

Schau mich an. Lauf nicht weg. Ich tu dir nichts. Ich will nichts von dir. Ich will dich nur sehen.

Irene war stehengeblieben.

Der Mann rieb sein Glied. Keuchte. Das Meer nahm seine Stimme nicht mit.

Dann tropften seine Fingernägel. Dann war sein Mund zerbrochen und sein Gesicht weich und alt. Das Wasser schlug. Der Mann schloß die Augen.

Irene kehrte ihm den Rücken zu. Irene fror. Sah Rauch aufsteigen am Ende der Bucht, wo die Kähne standen.

Der Strauch bewegte sich vom Wind. Der Mann war weg.

Irene ging nicht ans Ende der Bucht. Wollte keine Menschen sehn. Wo Kähne standen, wo Rauch aufstieg, jetzt kein Gesicht.

Dann waren die Tage, die kamen, hell und leer gewesen.

Irene lebte an all den Tagen auf den Abend zu. Die Abende schnürten die Tage zusammen. Die Halsschlagader klopfte, der Pulsschlag und die Schläfen. So fest schnürten die Abende die Tage zusammen, daß es fast reichte, den ganzen losgelösten Sommer noch zu halten.

Die Abende waren keine Spaziergänge gewesen. Irene ging auf den Zeigern der Uhr.

Irene war pünktlich.

Der Mann war pünktlich.

Jeden Abend stand der Mann halb bedeckt vom Laub hinter demselben Strauch. Irene kam durch den Sand. Er hatte die Hose schon aufgeknöpft. Irene blieb stehn.

Er sagte nichts mehr. Irene schaute ihn an. Er keuchte. Keuchte jeden Abend gleich lang. Das Meer spülte die Stimme nicht weg. Sein Mund zerbrach jeden Abend auf die gleiche Art. Auf die gleiche Art wurde sein Gesicht weich und alt.

Auf die gleiche Art wurde das Wasser lauter, wenn er schwieg. Und der Strauch wurde zahm auf die gleiche Art. Bewegte sich nur noch vom Wind. Jeden Abend.

Irene suchte diesen Mann am Tag. Und am Abend, wenn er schon weg war. Suchte ihn in der Nähe der Kneipen. Und sah ihn nie. Oder so oft, daß sie ihn nicht erkannte, weil er auf den Straßen und in den Kneipen ein anderer war.

Es hätte eine Liebe sein können. Doch Irene hatte an den Tagen, als das geschah, zwischen den Abenden, nichts als das Wort Gewohnheit gefunden. Hatte ein Gefühl wie ein Versäumnis. Als wäre sie damals, in der Blöße zwischen Himmel und Sand, nicht zur Besinnung gekommen. Wie konnte Liebe pünktlich sein.

Irene suchte diesen Mann und fand Franz.

Sie hatte Franz vor der kleinen Kneipe am Rand des Bahndamms gesehen. Franz hatte auf dem Boden neben dem Eingang gesessen. Seinen Kopf an einen Stuhl gelehnt.

Franz hatte mehr gelegen als gesessen. Die Rockband spielte laut. Die Musik betäubte. Franz war betrunken gewesen.

Der Betrunkene sprach mit halbgeschlossenen Augen und sah mit offenem Mund den Himmel an. Vor seinem Gesicht standen die Beine der Dorfkinder. Die waren zerkratzt vom Gestrüpp. Und barfuß waren sie.

Der Betrunkene sprach deutsch mit den Kindern. Und sprach mit sich selbst.

Die Kinder beteiligten sich an seinen schlaffen, halben Sätzen. Lehnten seinen Kopf in der Sprache des anderen Landes an einen Strauch. Blickten um sich, als sie das taten.

Es war eine Nähe gewesen in zwei Sprachen, die sich nicht verstanden. Eine Nähe zu einem Ausländer. Eine Nähe, die verboten war.

Die Kinder kicherten unsicher. Ein wenig schadenfroh, ein wenig traurig, weil sie einiges noch nicht begriffen. Doch wußten sie, daß dieser Ausländer mit seiner Betrunkenheit bezahlte für die Schönheit an ihrem Meer.

Manchmal fuhren lange Güterzüge am Dorf vorbei. Klapperten in die Nacht und betäubten die Musik.

Dann riefen Mütter. Die Kinder überließen den Betrunkenen sich selbst, dem Boden, dem Stuhl und dem Strauch. Liefen, ohne sich umzudrehen, neben dem Bahndamm ins Dorf. Es war längst dunkel gewesen.

Die Musiker packten die Instrumente in Köfferchen. Nur die Trommel blieb zwischen den Tischen stehen.

Was geschieht mit dem Ausländer, fragte der Trommler.

Er zeigte auf den Betrunkenen, strich sich mit dem Trommelstock das Haar aus der Stirn. Steckte die Trommelstöcke in die Rocktasche und ging auf den Ausgang zu.

Komm, sagte er zu Irene. Komm schon, es reicht.

Und Irene ging quer durch die Kneipe.

Und kam nicht.

Irene ging zu dem Betrunkenen hin.

Komm, sagte Irene, komm, steh auf. Du mußt weg von hier, gleich kommt die Polizei. Hörst du.

Irene stellte den Betrunkenen an den nahen Baum. Drückte seine Beine an den Stamm, damit er nicht umfiel.

Mensch. Du, sagte Irene.

Reichte nicht zu seinen Schultern hin, da er so groß und schwer war, als er stand.

Weshalb tust du das.

Der Betrunkene tat nichts. Wankte und wankte.

Wo wohnst du, sag, wo du wohnst, ich bring dich dorthin.

Sein Gesicht war schmal. Er schaute Irene mit offenem Mund in die Augen.

Gott, wo wohn ich. In Marburg, sagte er.

Irene lachte und seufzte. Hielt ihn am Hosenriemen fest, weil er so schwer war und wankte. Und viel jünger als sie. Und seine Schuhe voll mit Sand. Und die Straßen so krumm.

Komm nach Marburg, sagte Irene.

Er schlug um sich.

Nein, nicht nach Marburg.

Nicht nach Marburg, sagte Irene. Komm ins Hotel. Wo ist dein Hotel.

Hohe Wohnblocks standen am Wasser. Hotels für Ausländer mit Blick aufs Meer. Fenster mit Blick in die Ferne. Da durfte Irene nicht hin.

Der Betrunkene fand das Hotel. Fand den Schlüssel. Fand den Fahrstuhl. Der Nachtportier telefonierte. Irene las die Zahl auf dem Schlüsselbund und fand das Zimmer. Knipste das Licht an, neben der Tür.

Auf dem Tisch lag ein Buch: Der Teufel auf den Hügeln.

Der Betrunkene riß das Fenster auf. Irene legte ihn auf eines der beiden Betten.

Heißt du Franz. Die Kinder nannten dich so.

Er verstand den Sinn der Frage nicht. Er schwieg. Graue Augen, Zähne, die an die Lippen drückten, der Rand der Schneidezähne wie eine dünne, weiße Säge.

Ich bin besoffen, aber du sprichst deutsch. Du bist nicht besoffen, wieso sprichst du deutsch.

Irene ging zum Fenster. Schaute hinaus.

Ich sag es dir morgen.

Franz wußte nichts mehr von sich. Nicht einmal, daß er schlief und daß sein Mund offen stand und trocken war und die Lippen so rauh wie die Brocken an der Küste.

Irene sah den Vorhang zu Boden hängen. Starrte hinaus, auf die Fläche, die schwarz zwischen Himmel und Wasser lag. Franz bewegte die Hände im Schlaf. So, schlafend, so beleuchtet, sah sein Gesicht abwesend aus auf dem weißen Bett.

Sehnsucht überkam Irene. Und es war keine. Es war ein Zustand der leblosen Dinge. Der Steine, des Wassers. Der Güterzüge und Türen, der Fahrstühle, die sich bewegten.

Auf der schwarzen Fläche draußen lagen die schneidigen Bahnen der Nacht.

Irene spürte am Wind im Gesicht, daß das Zimmer hoch oben lag. Die Sterne stachen in ihre Stirn. Das Wasser tobte weit unten.

Nein, sagte Irene zum Fenster hinaus.

Sie ging zum Waschbecken. Sie trank kaltes Wasser aus der Hand. Sie knipste das Licht aus. Legte sich wie Franz in den Kleidern auf das andere Bett. Spürte, wie das Zimmer in schmalen Rinnsalen zum Fenster hinauszog, in die leere Fläche, wo die Dunkelheit noch größer war.

Im Dunkeln konnte Irene nicht weinen.

Irene verschwand in den Schlaf.

Bis der Tag in die Augen schnitt.

Franz kam nackt aus dem Bad. Ein Lichtfleck tastete sich an der Wand entlang, neben dem Bett. Franz setzte sich auf den Bettrand.

Gestern abend, sagte er.

Wie kommst du hierher.

Ich weiß nicht mehr viel.

Ich auch nicht, sagte Irene. Ich hab die Ausreise beantragt.

Es ist der letzte Sommer. Ich warte auf den Paß.

Franz nickte.

Ich hab dich geschleppt, sagte Irene. Du warst schwer.

Franz streichelte Irenes Finger.

Dieses Meer, sagte Franz.

Schaute zur Decke. Irene berührte den Lichtfleck neben dem Bett.

Franz zog Irenes Finger aus dem Lichtfleck und küßte sie. Schaute auf sein leeres, zerwühltes Bett. Dann zum Fenster hinaus mit halbverdrehtem Kopf. Die Sonne war groß.

Was essen die Leute im Dorf.

Fisch.

Und am Morgen.

Fisch.

Und die Kinder.

Fisch.

Irene spürte, wie ihr Tränen an den Schläfen runter und in die Ohren krochen.

Ich will mich waschen, das ist besser als Weinen. Ich hab den Tag von gestern noch an mir.

Franz legte sich auf sie:

Ich will mit dir schlafen.

Der Lichtfleck drehte sich, flimmerte. Dann war Irenes Kopf zugeklappt. Ihre Augen geschlossen. Ihr Blick bohrte sich nach innen Gänge durch den ganzen Körper. Sie spürte Franz, seine Knochen, als gehörten sie zu ihr.

Der Körper war heiß und fand die richtigen Worte. Der ganze Körper dachte mit, dachte nach, wenn Irene was sagte.

Danach stand Irene mit Franz am Bahnhof. Franz fuhr nach Marburg.

Irene hatte ein Stück Papier mit seiner Anschrift in der Tasche. Und im Kopf die Zeichnung aus Sand. Und das Pappelblatt, das Franz dort hingelegt hatte, wo Marburg lag. Und den Stein, den Franz dort hingelegt hatte, wo Frankfurt lag.

Irene weigerte sich an Abschied zu denken.

Dann war der Zug weggefahren.

Irene war durch die Pappelallee ins Dorf gegangen. Hatte eines der Kinder, die abends in der Kneipe waren, vor einem Haus gesehen. Wind hatte geweht. Sträucher hatten sich bewegt neben Irenes Beinen.

Aus den Augen verlieren, hatte Franz gesagt.

Und Irene: Aus dem Sinn.

Unsinn, hatte Franz gesagt.

Irene ging zur Post. Irene kaufte eine Ansichtskarte, auf der die Bucht war.

Irene schrieb:

Eigentlich will ich gar nicht, daß du mir schreibst. Ich würde dir antworten. Dabei will ich dir doch schreiben. Das ist ein Unterschied.

Wann glaubst du, daß du kommst, hatte Franz gefragt.

Irene schickte die Karte voraus. Ließ sie in den Briefkasten, nach Marburg fallen. Hörte sie aufschlagen, als wäre sie nicht mehr ganz. Der Briefkasten war leer.

Das Geräusch auf dem Boden des Briefkastens war das Geräusch der Unruhe gewesen. Unruhe, die Irene selber war. Ungeduld und Warten auf den Paß.

Die Telefonistin aß Fisch.

Zimmer mit Blick in die Ferne, sagte Irene laut.

Die Telefonistin lächelte: Zog einen spitzen, weißen Knochen aus dem Mund.

Dann tobte das Meer. Irene war weit gegangen, die Küste entlang.

Irene war rasch gegangen. Sie wollte pünktlich sein.

Zwei Abende hatte sie gefehlt.

Irene blieb im Sand stehn. Der Strauch wehte nur vom Wind.

Der Mann war nicht da gewesen.

Das Wasser schlug unter die Kähne. Riß sie mit und schwemmte sie wieder in den Sand. Das Holz knirschte.

Irene hörte Stimmen, kichernde Stimmen.

Eine Pappel bewegte sich. Nicht vom Wind. Hinter der Pappel stand der Mann und rieb sein Glied.

Drei Mädchen saßen unter ihm im Sand. Sie aßen Fisch. Sie kicherten.

2

SIE HABEN die Augen geschlossen, hatte der Photograph gesagt. Sie schauen so ernst, denken Sie an etwas Schönes.

Ich kann nicht, hatte Irene gesagt, ich will auch nicht.

Er hatte geknipst.

Sie pressen die Lippen zusammen.

Irene hatte die Lippen zusammengepreßt, um die Augen nicht zu schließen.

Wenn Sie sich sehen würden, hatte er gesagt, würden Sie lächeln.

Er hatte geknipst.

Wenn Sie wüßten, wie es hinter meinen Augen aussieht.

Irene hatte den Satz nicht zu Ende gesagt. Hatte den Satz auch nicht zu Ende gedacht.

Er hatte geknipst.

Sie können die Augen öffnen. Was hinter den Augen ist, sieht man nicht. Bei mir nicht. Wollen Sie, daß man das sieht.

Ich hätte nichts dagegen. Es ist mir gleich.

Haben Sie nichts dagegen, oder ist es Ihnen gleich.

Sie sagen, man sieht es nicht. Weshalb soll ich mich entscheiden.

Weil es Sie beschäftigt, sonst hätten Sie das nicht gesagt.

Daß es mich beschäftigt, haben Sie gesagt.

Ich würde Sie gerne mit geschlossenen Augen photographieren.

Er hatte geknipst.

Das nützt nichts: Sie wollen Paßbilder. Und das Paßamt nimmt die Photos mit geschlossenen Augen nicht an.

Sie sind doch geschminkt, Sie können doch nicht leugnen, daß Sie schön sein wollen: Es ist doch gut so. Für mich ist es gut so. Oder schminken Sie sich, damit es keiner merkt.

Ich schminke mich, weil ich früher mal schön sein wollte, hatte Irene gesagt. Das ist so geblieben.

Das mit dem Schminken.

Ist jemand gestorben, hatte er gefragt.

Irene hatte den Kopf geschüttelt.

Das ist die Liebe, hatte er gesagt. Bei älteren Leuten ist es der Tod, bei jüngeren die Liebe.

Er hatte geknipst.

Dann hatte Irene Lust gehabt, die Paßphotos in den Regen zu halten, und hatte es nicht getan. War unters Dach vor den ersten Hauseingang gegangen. Hatte ein Photo aus dem Umschlag genommen und es angeschaut.

Eine bekannte Person, doch nicht wie sie selbst. Und da, worauf es ankam, worauf es Irene ankam, an den Augen, am Mund, und da, an der Rinne zwischen Nase und Mund, war eine fremde Person gewesen. Eine fremde Person hatte sich eingeschlichen in Irenes Gesicht.

Das Fremde an Irenes Gesicht war die andere Irene gewesen.

Irene hatte geträumt, daß sie den Koffer packte.

Überall im Zimmer lagen Sommerblusen.

Der Koffer war voll.

Irene legte noch Sommerblusen dazu. Sie waren schwer zu falten, weil sie so leicht waren, daß sie aus den Händen glitten.

Irene hörte Schritte hinter sich.

Ins Zimmer kam der Diktator.

Er trat auf die Sommerblusen. Sie waren für ihn wie Laub unter den Bäumen.

Er ging durchs Zimmer, als hätte er eine weite, offene Straße vor sich. Er ging zum Koffer.

Dort ist es kälter, sagte der Diktator.

Er schlug den Kragen hoch.

Er steckte beide Hände in die Rocktaschen.

Irene hatte den Paß mit dem Photo der anderen Irene in der Handtasche durch die Stadt getragen.

Durch die vier Fächer der Drehtür waren vier Briefträger, jeder in einem Fach, nacheinander, aus der Post heraus auf die Straße gegangen. Die Drehtür hatte sich noch gedreht, als die Briefträger am Rand des Gehsteigs gestanden und zu laut gesprochen hatten.

Irene ging eingeschlossen in einem Fach im Rhythmus der Drehtür in die Halle der Post.

Die Halle summte.

Irene hatte Franz anrufen wollen. Sie hatte sich in Gedanken einige kurze Sätze zurechtgelegt. Die hatten sich nicht einmal in Gedanken glaubwürdig angehört:

Ich freue mich auf dich. Ich hab so oft an dich gedacht. Ich kann es fast nicht glauben. Oder bloß: Ich komme. Und den Tag. Die Uhrzeit wußte Irene noch nicht.

Die Telefonistin hatte Irenes Paß verlangt. Sie hatte zu laut gesprochen. Sie hatte geschrieen.

Irene diktierte die Telefonnummer.

Die Telefonistin hatte die Schultern gezuckt:

Ich versteh Sie nicht.

Erst als Irene so laut wie sie gesprochen hatte, hatte sie die Telefonnummer auf ein Blatt geschrieben. Sie hatte langsam geschrieben.

Warten, sagte sie.

Mit der Fingerspitze hatte sie eine Liste abgesucht.

Marburg, hatte Irene gesagt.

Ich verstehe kein Wort.

Irene hatte geschrieen. Die Telefonistin hatte den Kopf geschüttelt:

Ist nicht da, ist nicht auf der Liste.

Irene hatte die Fingerspitzen der Telefonistin angesehen:

Neben Frankfurt.

Ist nicht im Verzeichnis.

Bitte, hatte Irene gesagt.

Ist nicht da. Da ist Hamburg, Freiburg, Würzburg. Ist alles da. Gehen Sie zur Seite. Sie stehen mir im Licht.

Die Telefonistin hatte Irenes Paß zugeklappt, ihn durchs Fenster gereicht. Hatte gesagt, Sie halten mich auf. Hatte die Frau, die hinter Irene gestanden hatte, angesehen.

Da Irene noch immer dagestanden hatte, war sich die Telefonistin mit der Fingerspitze, mit der sie die Liste abgesucht hatte, vor den Augen hin und her gefahren:

Ich bin nicht blind. Sie sind taub.

Irene war auf die Drehtür zugegangen. Hatte sich in ein Fach der Drehtür gestellt. Ein Mann mit einer grauen Pelzmütze hatte im nächsten Türfach gestanden. Der hatte mit der Fingerspitze an die Scheibe des Fachs geklopft:

In die andere Richtung, hatte er gesagt.

Irene hatte sich mit dem Gesicht in die andere Richtung gestellt.

Der Mann hatte die Drehtür gedreht. Irene war im Rhythmus seiner Schritte, die sie nicht hatte sehen können, hinaus auf die Straße gegangen.

3

DIE MÄNNER traten einzeln aus der Durchsuchungskabine in den Warteraum des Flughafens. Der Mann in Uniform bewegte den Detektor. Der piepste auf der Rocktasche eines Mannes im Anzug. Der Mann im Anzug hob die Arme hoch und drehte sich. Er hielt seine Bordkarte im Mund.

Als er in den Warteraum trat, sahen ihn alle an. Er schaute, nachdem er sich gesetzt hatte, in die Kabine. Dort wurde ein anderer Mann im Anzug kontrolliert. Beim Zuschauen korrigierte der Mann seine Sitzhaltung.

Das Flugzeug sei nun zum Einsteigen bereit, sagte eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher.

Irene fragte sich, mit welchem der Männer, die einzeln aufstanden, sie schlafen könnte. Schaute die Männer im Hinblick auf diese Frage noch einmal an. Sah an jedem, zum Unterschied von vorher, etwas Abstoßendes.

Den älteren Männern hingen die Schatten der Karriere um die Augen. Ihre Gesichter hatten sich jahrelang behauptet. Daß sie dabei gealtert waren, beruhigte Irene.

Irene sah einen älteren Mann, der einen dicken Goldring am kleinen Finger trug. Sie stellte sich vor, im Bett zu liegen und auf diesen Mann zu warten. Sie sah, wie der Mann sich auszog. Wie er den Rock auf die Stuhllehne hängte. Die Hose auf die Sitzfläche legte. Das Hemd über den Rock hängte. Wie er die Unterhose und die Socken, da er gewohnt war, sie zu verachten, auf den Teppich, unter den Stuhl fallen ließ. Wie er sich dem Bett näherte und merkte, daß er vergessen hatte, die Brille abzunehmen. Wie er diese Vergeßlichkeit benutzte, um den Goldring vom Finger zu ziehen und neben die Brille auf den Tisch zu legen.

Irene hörte sich sagen: Der Goldring muß dabei sein, wenn du das tust.

Das Förderband summte leer. Die Koffer kamen noch nicht. Irene schaute durch die Scheibe auf die Landefläche hinaus. Ihr Kopf war schwer, als wären die Wolken zu nahe gewesen. Als wären graue, zerwühlte Wolken durch ihren Kopf gezogen.

Dann hatte Irene den Verdacht, daß sie die Geschichte mit dem Mann, der Brille und dem Goldring nur erfunden hatte, weil die Ahnung bis in die Fingerspitzen reichte, daß das Gesicht von Franz jetzt hinter der Tür stehen würde. Und fern bleiben würde, auch wenn Irene ganz nahe vor seinen Lippen stand.

Franz war nicht da. Sein Gesicht stand nicht neben dem Ausgang.

Neben dem Ausgang sah sie einen Mann, der ein Schild vor der Brust hielt. Auf dem Schild stand: Irene.

Irene sah zu Boden mit dem Gefühl, daß es ihren Namen zu oft gab und daß sie nicht gemeint war.

Und der Frau, die erwartet wurde, wollte Irene Zeit lassen. Sie wollte sehen, wie sie zuging auf den Mann. Und wie sie aussah.

Irene hörte das Förderband summen. Die Passagiere waren alle an ihr vorbeigegangen.