Religion und Stadt - Jörg Rüpke - E-Book

Religion und Stadt E-Book

Jörg Rüpke

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Beschreibung

"Religion und Stadt: Neue Blicke auf das alte Erfurt" ist eine Einladung in Erfurt und am Beispiel Erfurts über die wechselseitige Veränderung von Religion und Stadt nachzudenken. In zwölf kurzen Kapiteln geht es um die Orte und Formen solcher Veränderungen in einer Stadt, die gerade in die Liste des UNESCO Welterbes aufgenommen worden ist. Vergangenheit wie Gegenwart sind durch religiöse Traditionen wie Innovationen geprägt. Zahlreiche Fotos machen beides, Stadtgeschichte wie Religionsgeschichte, anschaulich und laden ein, solche Zusammenhänge auch andernorts zu verfolgen.

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Inhaltsverzeichnis

Religion und Stadt

Religion und Urbanität

Doppelbiographie

Monumentalisierung

Zuschauen statt Glauben

Schreiben

Individualität

Arbeitsteilung

Gruppenbildung

Zeitliche Ordnungen

Netzwerke von Städten

Jenseits der Stadt

Schluss

Bibliographie

Danksagung

Religion und Stadt

Dieses Buch ist kein Reiseführer über Erfurt, sondern eine Einladung nach Erfurt. Eine Einladung, durch die Stadt zu gehen und dabei über etwas nachzudenken, das sich nicht nur in Erfurt findet, aber hier besonders anschaulich wird: die wechselseitige Veränderung von Religion und Stadt. Es ist aber auch eine Einladung, über diese wechselseitige Veränderung an anderen Orten nachzudenken. Text wie Bilder laden dazu ein, beides zu tun.

Spätestens seit der römischen Eisenzeit sind Siedlungen auf dem Gebiet der heutigen Stadt Erfurt Knotenpunkte in verschiedenen überregionalen Netzwerken. Hier wurde ein Kamm mit der südlichsten Runeninschrift ebenso gefunden wie Wagenreste in einem Prachtbegräbnis. Der schottische Missionar Bonifatius nahm die Siedlung, die er in der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts vorfand, bereits als „Stadt" wahr. Eine Königspfalz nahm in den beiden folgenden Jahrhunderten mehrfach Reichsversammlungen auf. Das prägt die Entwicklung des Bildes dieser Stadt in den Köpfen ihrer ständigen wie vorübergehenden Bewohnerinnen und Bewohner. Es prägt auch die Religionsgeschichte Erfurts. Zwar nur kurzzeitig Bischofssitz unter Bonifatius (und wieder seit 1953), wurde Erfurter Kirchen und ihre Reliquien früh zu einem Pilgerziel. Unter den in das UNESCO-Welterbe aufgenommen Bauten der jüdischen Bewohnerschaft Erfurts sind auch zwei religiöse.

Dass das Bild der Stadt, dass die Urbanität dieser und anderer Städte gerade mit ihrer Religionsgeschichte zusammenhängen, mag überraschen. Wenn wir darüber nachdenken, was Stadt zu Stadt macht, sind es oft Merkmale, die Stadt von Nichtstadt, vom „Land" unterscheiden: Einkaufsmöglichkeiten, Bildungs- und Kulturangebote, Kliniken und Praxen, kurze Wege und öffentlicher Nahverkehr; Religiöses wird dabei oft eher auf dem Lande verortet. Aber auch Enge, Lärm, schlechte Luft, Vielfalt und Unbekannte fallen als Unterscheidungsmerkmale ein. Wer letzteres ablehnt, zieht das Leben auf dem Land vor und kommt nur zum Arbeiten, Einkaufen oder Feiern in die Stadt.

Auf der Suche nach einer Antwort fragen andere nicht nach den Unterschieden, sondern nach Ähnlichkeiten: Was gibt es in Erfurt, was andere Städte auch haben? In diesem Sinne gibt es Stadt nie als eine einzelne. Nie auch nur als Stadt mit ihrem „Hinterland". Von den frühesten Siedlungen an, die nicht mehr nur riesige Dörfer sein wollten, oder genauer: deren Bewohnerinnen und Bewohner das Gefühl hatten, in einer neuen Form des Zusammenlebens zu sein und dieses Zusammenleben neu gestalten zu wollen, kurzum: von Anfang an entstanden Städte nur in Netzwerken von Städten. Das gilt für Mesopotamien wie die Städte an Indus und Ganges, am Gelben Fluss, im Hochland von Äthiopien (Aksum) oder Mexiko (Tenochtitlán), im antiken Mittelmeerraum oder im Mittelalter West- und Mitteleuropas.

Erfurt nach Südwesten, vom Steinplatz (Foto Rüpke)

Lebten sie auch von der Produktion im Umland, so verdankten sie doch ihre Fähigkeit, sich anders als Dörfer zu entwickeln, ihrer Lage an Meeren, Flüssen und den großen Transportrouten oder dem kurzen Zugang zu ihnen. Das gilt auch für Erfurt mit seiner Furt und (im zwölften Jahrhundert) „Krämer“-Brücke über die Gera, die so für die Via Regia passierbar wurde, die auch durch Frankfurt/Main und Leipzig führte. Das gilt auch im neunzehnten Jahrhundert beim Anschluss an das preußische Eisenbahnnetz und für den heutigen ICE-Knoten.

Diese Vernetzung hatte Konsequenzen, die manchen früher wie heute unerwünscht sind. Ein älterer Erfurter Historiker, Jakobus Dominikus, schrieb im Jahr 1793 in seiner von der Akademie der Gemeinnützigen Wissenschaften zu Erfurt preisgekrönten Schrift „Erfurt und das Erfurtische Gebiet: Nach geographischen, physischen, statistischen, politischen und geschichtlichen Verhältnissen":

„Gegen das XII. Jahrhundert, wo Erfurt schon anfing, sich durch Liebe zur Unabhängigkeit und Reichsfreiheit zu berauschen, und deswegen mit anderen Städten und Völkern Bündnisse schloß, mußte sich der ursprüngliche Nationalbestand sehr vermischen. Mühlhäuser, Nordhäuser, Eichsfelder, Langensalzer siedelten sich in Erfurt an, und waren, so zu sagen, die vermittelnde Macht, wenn jene die Hülfe der Erfurter, und diese die Unterstützung von jenen nothwendig hatten. Seit der Zeit, als Erfurt an Mainz überging (1664), ist der Nationalbestand sich ziemlich gleich geblieben, nur daß Eichsfelder, Mainzer und einige Sachsen sich in Erfurt niederließen und ankauften. Die Summe der Eichsfelder ist freilich die größte" (137). Und eine Fußnote zu den Eichsfeldern ergänzt: „Die, wie manche Pflanzen, nur auf fremdem Boden gut thun". Dass diese Eichsfelder ihre eigenen (und nicht unattraktiven) Städte hatten, wird hier unterschlagen.

Gleich geblieben ist seitdem weder der „Nationalbestand" noch, was sich religiös in Erfurt tut. Aber für beides gilt weiterhin Dominikus' Beobachtung: An anderem Orte verändern sich auch Menschen. Und das gleiche gilt für Religion. Schließlich waren die Erfurterinnen und Erfurt immer beides, Städter(innen) und Religiöse, nämlich Menschen mit einer positiven oder negativen Einstellung zu Religion, Religionsarme und Religionslose eingeschlossen ‒ und all das in Bezug auf verschiedene religiöse Identitäten.

Daraus lässt sich auch eine andere Perspektive auf die Beziehung von Judentum und Erfurt gewinnen. Die Annahme, die dahintersteckt, ist, dass die Erfurter Konstellation ‒ in ihren hellen wie dunklen, gewaltsamen Momenten ‒ kein Einzelfall ist, sondern etwas Allgemeineres vertritt. Religion und religiöser Pluralismus auf der einen Seite und Stadt und Urbanität auf der anderen Seite haben immer etwas miteinander zu tun. Das galt und gilt auch andernorts.

Und das ist die Ausgangsbeobachtung dieses Buches: Die Städte der Gegenwart verändern Religion weitreichend und in ganz unterschiedlicher Weise. Orte traditioneller religiöser Praktiken werden zu „kulturellem Erbe", ja „Welterbe". Religiöse Praktiken siedeln sich auch in Läden (etwa mit kleinen Buddhafiguren) und Hinterhöfen (von evangelischen Freikirchen bis zu buddhistischen Klosterschulen) an. Religiöse Organisationen stellen städtische Dienstleistungen und Infrastrukturen bereit, von Kindergärten zu Pflegeheimen. Kinos werden zu religiösen Erlebnisräumen. Religiöse Gruppen gehen Allianzen ein („Ökumene"), religiöse Identitäten ermöglichen Distanzierungen von der Mehrheit, die in der Lebenswelt sonst kaum mehr möglich sind, vom demonstrativen Besuch von christlichen Gottesdiensten und Kopftüchern bis zum Insistieren auf koscherem Essen. Solche Veränderungen sind nicht neu, sondern waren immer ein Grundzug städtischer Religion.

Religion war immer Motor und Opfer, Gestalter und Überwinder von Stadt. Was heute Religion auszumachen scheint ‒ in ihrer medialen und organisatorischen Gestalt, ihrer Diversität, individuellen Spiritualität, aber auch staatlichen Indienstnahme -, ist zu einem wesentlichen Teil Ergebnis dieses Prozesses. Und umgekehrt haben diese neuen religiösen Praktiken und Vorstellungen städtischen Raum, städtisches Zusammenleben und Vorstellungen von Urbanität innerhalb und außerhalb von Städten geprägt.

Vermutlich gibt es für diesen Zusammenhang im europäischen Raum nur wenige Beispiele, die so schlagend sind wie die hochmittelalterliche und reformationszeitliche Christianisierung von Städterinnen und Städtern und der dadurch veränderte Umgang mit religiösen Minderheiten. Aber gerade in Anbetracht dieses Zusammenhanges möchte ich versuchen, diesen Prozess nicht nur lokalgeschichtlich am Beispiel Erfurts, sondern immer auch globalgeschichtlich und in großer zeitlicher Tiefe in den Blick zu nehmen. Erst ein solcher Blick zurück eröffnet Akteurinnen und Akteuren aus Stadt und Religion, eröffnet uns neue Szenarien für die Zukunft, für das Aushandeln des Zusammenlebens, für Stadtplanung und religiöses Handeln.