Remember when Love was new - Anne Goldberg - E-Book

Remember when Love was new E-Book

Anne Goldberg

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Beschreibung

"Er hielt mich fest und ließ mir alle Zeit der Welt, dasselbe zu tun. Mich festhalten. An ihm und an dem Gefühl, dass er mir fehlte."

Dreizehn Jahre ist es her, dass Hamish Findlay Aileens Herz gebrochen hat - mit einer SMS. Dreizehn Jahre, in denen Aileen es geschafft hat, ihre Jugendliebe hinter sich zu lassen. Eine Kleinstadt aber vergisst nicht, und so findet die große Neuigkeit im schottischen Stonehaven schnell den Weg zu ihr: Hamish ist in die Heimat zurückgekehrt, gemeinsam mit seinem Sohn.

Doch was ist der Grund für seine Rückkehr? Und wo ist eigentlich die Mutter des Jungen? Als der kleine Nick sogar in Aileens Klasse kommt und dort Unruhe stiftet, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich mit Hamish auseinanderzusetzen - und mit der Erkenntnis, dass ein gebrochenes Herz vielleicht heilt, aber niemals loslässt. Nicht ganz und gar.

Der zweite Band der emotionalen und dramatischen Romance-Reihe von Anne Goldberg.

Und wenn du nicht genug von Anne Goldberg bekommen kannst: Es gibt von ihr außerdem noch diese Romane im beHEARTBEAT-Programm:

Only One Song

Only One Letter

Only One Note

Remember when Dreams were born

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Ende

Sechzehnjähriger Aberfeldy

»Leena«

Glitzernde Missetaten

Das Pfützen-Prinzip

»Mittelfinger« oder: Der Zauber alter Gesten

Blut und Tränen

... Weil Mädchen stärker sind und uns das heimzahlen.

Martin – Fick dich – Calhoun

Was wäre, wenn ...?

Fünf Stiche

Kopflose Ponys

Der Weg zur Monsterhöhle

James fucking Blunt

Schwarze Disteln

Paranoia

Die Sache mit dem Apfel und dem Stamm

... in einträchtiger Erinnerung an Staub und Blowjobs

Marys Erbe

Scheiß auf Henry Cavill

Das beste Gefühl der Welt

Ein andermal

Sieben

Die Tapferkeit der Findlay-Männer

Große Worte von kleinen Menschen

Dumpfes Klirren

Die Liste

Keine scheiß Pfütze ...

... sondern das Meer

Die Aufpasserin

Das Mädchen, das ich geschubst habe

Der größte Schwachsinn aller Zeiten

Fuck

Hallo, Nicky

Slàinthe

Anfang

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Vor über zehn Jahren hat Hamish Aileens Herz gebrochen– mit einer einzigen SMS. Eine schwere Zeit, in der Aileen es nur mühsam gelungen ist, ihre Jugendliebe zu vergessen. Aber eine Kleinstadt vergisst nicht. Und so findet die große Neuigkeit schnell den Weg zu Aileen: Hamish ist nach Stonehaven zurückgekehrt – gemeinsam mit seinem Sohn.

Doch was ist der Grund für seine Rückkehr? Und wo ist die Mutter des Jungen? Als der kleine Nick als Schüler in Aileens Klasse für Unruhe sorgt, muss sie sich mit Hamish auseinandersetzen – und mit der Erkenntnis, dass ein gebrochenes Herz vielleicht heilt, aber niemals loslässt.

Anne Goldberg

Remember when Love was new

Für Ellen und für Hannah

Hört um Himmels willen niemals auf, Unsinn zu machen.

Ende

Dumpfes Klirren.

Das scheint sich zu widersprechen, ich weiß. Aber das tut es nicht.

Dumpfes Klirren ... so klingt ein Herz, wenn es zerbricht. Wenn es auf dem rauen Boden der Wirklichkeit aufschlägt und in tausend Teile zerspringt.

Als ich das herausfand, war ich achtzehn Jahre alt und stand im Getränkelager unseres Pubs. In meiner Hand hielt ich den Zettel, auf dem alles stand, was ich nach vorn zum Tresen bringen sollte. Ich weiß noch, dass der Zettel kariert war und außerdem zerknittert, weil ich ihn für die paar Meter zum Lager in die Tasche meiner Jeans gesteckt hatte.

Ich weiß auch noch, dass ich eine Flasche Craft Beer in der Hand hielt, als ich das Vibrieren meines Handys spürte. Das Bier hielt ich in der einen Hand und angelte mit der anderen nach dem Telefon, das in derselben Tasche steckte, aus der ich Mums Zettel gezogen hatte.

Ich ahnte, dass er mir geschrieben haben musste. Vor einer Viertelstunde hatte ich ihm die Frage geschickt, ob es dabei blieb, dass er am Wochenende in der Stadt sein würde. Und nun bildete ich mir ein, spüren zu können, dass die neue Nachricht seine Antwort war.

Mit achtzehn spürt man ziemlich viel. Den rasenden Puls zum Beispiel, mit dem man die Nachricht des Menschen öffnet, mit dem man fast jedes erste Mal geteilt hat, das von Belang ist. Nicht nur die guten ...

Seine wenigen Worte waren nicht die Antwort auf meine Frage. Sie waren ein weiteres erstes Mal. Während ich sie dreimal, viermal, fünfmal las, glitt das Bier aus meinen Fingern.

Wenn eine volle Flasche auf Beton aufschlägt, klingt es anders als bei einer leeren. Da ist kein kristallklares Zerbersten von Glas. Stattdessen kann man genau hören, wie die Flüssigkeit durch die Risse dringt und das Geräusch, mit dem alles zerspringt, ertränkt. Als würde das alles unter Wasser passieren ... und viel, viel langsamer. Dabei ist das Unsinn. Wenn volle Flaschen auf dem Boden aufschlagen, zerbrechen sie genauso schnell wie leere. Nur die Sauerei ist größer.

Mit Herzen verhält es sich ganz genauso. Es kann gar nicht anders sein. Sie schlagen auf der Realität auf, zerbrechen, und alle Gefühle und Träume und Hoffnungen ergießen sich auf den Boden. Das geht schnell und passiert immer mit einem dumpfen Klirren. Ausnahmslos.

Einfach, weil leere Herzen gar nicht wirklich kaputtgehen könnten.

Wenigstens glaube ich das.

Sechzehnjähriger Aberfeldy

Aileen

Die Lebensdauer von Geheimnissen beträgt durchschnittlich drei bis vier Monate. In einer Kleinstadt wie Stonehaven überleben sie allerdings nicht länger als maximal fünf Tage. Diese Stadt ist noch nie der natürliche Lebensraum für Geheimnisse gewesen. Als würden sie an den Klippen zerschellen oder bei der nächsten Flut im Meer ertrinken – wie ein Betrunkener, der den Pier entlangtorkelt, stolpert und in die Wellen fällt.

Was sich hier allerdings schon immer wohlgefühlt hat, sind Neuigkeiten und Gerüchte. Es ist, als würden sie mit jedem Lippenpaar, über das sie kommen, und mit jedem Ohr, in das sie geflüstert werden, mehr an Kraft gewinnen.

Ich weiß das. Wenn die eigenen Eltern den ältesten Pub der Stadt besitzen, weiß man solche Dinge. Ich hatte mein Leben an einem Ort verbracht, der gleichermaßen Quell und Knotenpunkt solcher Geschichten ist. Für ein Kind war das paradiesisch, und als Teenager hatte ich mich geradezu mächtig gefühlt mit all dem Wissen, das ich vor jedem anderen hatte. Und als Erwachsene ... Nun, der Blick auf manche Dinge ändert sich mit der Zeit.

Beim Gläserpolieren bekam ich mit, dass Sean Gillanders nicht auf einer monatelangen Geschäftsreise in Amerika war, sondern auf Entzug. Das wusste ich, noch ehe ich so richtig verstand, was ein Entzug überhaupt ist.

Mit zwölf war ich eine der Ersten gewesen, die wussten, dass Samantha Craig eine Affäre hatte, und erfuhr es sofort, als herauskam, mit wem.

Dann war da noch die Geschichte von Marshall McHay, der beim Jahreswechsel vor sechs Jahren so betrunken gewesen war, dass Robin Findlay spontan hatte einspringen und an seiner Stelle den Feuerball bei der Parade schwenken müssen.

Sechs Tage später hatte ich bereits gewusst, dass Robins Frau gestorben war, während die Gäste im Pub noch immer davon sprachen, was für eine tolle Figur er an Hogsmanay gemacht hatte – wie in seinen besten Jahren. Ich hatte Mühe gehabt, ihnen nicht zu sagen, dass das nun keine Rolle mehr spielte.

Als drei Tage später sein Sohn in der Stadt aufgekreuzt war, hatte mir das niemand sagen müssen. Manche Neuigkeiten brauchen keine Worte. Ihnen genügt so ein ganz bestimmter Blick von Menschen, die einen kennen und mögen.

Vor allem Mum trug diesen Gesichtsausdruck mit Vorliebe. Jedes Mal, wenn Hamish Findlay in der Stadt war, sah sie mich auf diese von Mitleid und Vorsicht geschwängerte Art an. Es war nie von Belang, wie oft ich versicherte, dass es mir gut ging. Dieser Gesichtsausdruck war Granit. Töchterliche Beteuerungen konnten nichts daran ausrichten.

An jenem Märzabend begleitete er Mums Mimik schon seit dem Betreten des Pubs – und zwar auf die unangenehmste Art, die es gab: ungetrübte Sorge in ihren Augen ohne auch nur ein Wort, das dazu über ihre Lippen kam. Ich konnte diesen Blick sogar spüren, während ich am Stolpertisch saß und Kronkorken sortierte. Diesen inoffiziellen Namen hatte der Tisch direkt rechts am Fenster schon gehabt, als ich vier gewesen war. Er hatte noch nie gerade gestanden, weil der Dielenboden an dieser Stelle uneben war. Also war er gestolpert. Ganz einfach.

Abgesehen von dieser charmanten Eigenschaft lag der Tisch direkt im Schein der Straßenlaterne draußen. Durch den dichten Nebel sickerte nur wenig Licht bis zu mir, doch ich bildete mir ein, dass es mehr war, als die gedimmten Lampen im Pub hergaben. Außerdem war die Alternative ein Platz am Tresen – in direkter Konfrontation mit Mums perfektioniertem Blick der sorgenumwobenen Neuigkeiten.

»Wie lange brauchst du noch? Ich will die Spülmaschine anstellen.«

»Ich bin gleich durch.« Mit etwas Glück war ich schneller, als Mum den Mut gefasst haben würde, mich auf die Ursache ihres Mienenspiels anzusprechen.

»Das hast du vor einer Viertelstunde schon gesagt. Was willst du überhaupt mit den ganzen Dingern?«

»Rasseln«, murmelte ich und hielt einen weiteren Kronkorken ins Licht. Seine Zacken waren beim Öffnen der Tonicflasche, zu der er gehört hatte, völlig verbogen worden. Also sortierte ich ihn zu den ungeeigneten Exemplaren.

Mum seufzte. »Ich bin vermutlich selbst schuld, wenn ich frage, hm?«

Der nächste golden glänzende Flaschenverschluss war einigermaßen intakt und landete in dem Plastikkorb vor mir. Ich beschloss, dass dieser der letzte sein würde, um die Geduld meiner Mutter nicht überzustrapazieren. Es war spät, Dad hatte an diesem Abend nicht helfen können, weil er zu große Schmerzen hatte, und ihre Tochter verlangte ihr nicht nur ab, Müll zu sammeln, sondern zögerte mit der Begutachtung dessen auch noch den wohlverdienten Feierabend hinaus.

»Meine Kollegin will mit ihrer Klasse Rasseln basteln. Und dafür braucht sie die Dinger. Und da ich an der Quelle sitze ...« Ich deutete auf den Korb vor mir, in dem noch viel zu wenige Verschlüsse lagen. Und ich Idiotin hatte Debbie versprochen, mich darum zu kümmern. »Siebenundzwanzig Kinder und je eine Rassel mit zehn Kronkorken. Wir brauchen also eine Menge. Ich fürchte, die hier werden nicht reichen.« Ich wandte mich zu Mum um, die gerade mit einem Tuch über das alte Schild des Pubs wischte. Seinerzeit hatte es noch draußen gehangen – ein altes Holzbrett, auf das die Form einer Distel eingebrannt worden war. Die Geschichte hatte ich in meiner Kindheit so häufig gehört, bis sie zu meiner eigenen geworden war. Wie gute Geschichten es nun einmal tun.

»Und dafür ist es wichtig, dass die Kronkorken perfekt aussehen?«

»Das sind Neunjährige. Es wird schon genug Gejammer geben, weil nicht jeder nur goldene kriegt oder rote oder was auch immer in Debbies Klasse gerade angesagt ist.« Solche Trends waren tagesaktuellen Schwankungen unterworfen. Ich würde also ohnehin keine Chance haben, das zu berücksichtigen. Lediglich den Zustand der Kronkorken konnte ich beeinflussen. Mit allem anderen musste meine Kollegin sich dann selbst rumschlagen.

»Ich könnte Samstag aushelfen«, bot ich an und schnappte mir den Korb mit den auserwählten Exemplaren sowie die Tüte mit denen, die weg konnten. »Den Unterricht für nächste Woche habe ich eh fast fertig vorbereitet. Und den Test kann ich auch Sonntag korrigieren. Also ...« Ich stutzte, als Mum sich der Bar zuwandte und die Hand nach etwas ausstreckte. »Gibt es was zu feiern?«

Sie hatte zwei Tumbler aus dem Regal gezogen – und die Flasche Aberfeldy. Den sechzehnjährigen, nicht den zwölfjährigen. So gern ich diesen Scotch mochte, ich hoffte inständig, das Mum ihn nicht konsultierte, um zu thematisieren, was auch immer ihr auf der Seele lag. Oder wer auch immer.

Sie schnaufte. Ich war nicht sicher, aber ich glaubte zu sehen, wie sie dabei sogar die Nase rümpfte. »Wenn du mich fragst, dann ganz im Gegenteil.« Bis zu dem Punkt hatte ich noch vermeintlich ahnungslos den Müll entsorgen und den Plastikkorb in die Spülmaschine stellen können. Diese Scheinheiligkeit endete mit dem Moment, in dem Mum eines der Gläser vor mir auf der Arbeitsplatte abstellte. Das andere behielt sie in der Hand. »Es gibt Neuigkeiten.« Während sie das in einer unglaublich bedeutungsschweren Tonlage sagte, goss sie mir einen Doppelten ein und sich selbst etwa die Hälfte.

Ich sah auf das großzügig gefüllte Whiskyglas vor mir. »Hm.« Was sollte ich auch sonst darauf erwidern? Vor mir stand ein doppelter Scotch. Nicht der beste, den das Black Thistle führte, aber definitiv einer der guten. Das war mehr Aufwand, als sie sonst betrieb, um mir mitzuteilen, dass meine Jugendliebe in der Stadt war. Whisky, Neuigkeiten und dieser Gesichtsausdruck bedeuteten in Kombination nie etwas Gutes. Vor allem bedeuteten sie ernsthaftere Dramen als längst verheilten Herzschmerz. »Mum, ist alles okay?«

Mum atmete tief durch die Nase ein. Ihre vollen Lippen hatte sie zusammengekniffen, was ihr Gesicht zu einem vollendeten, wütenden Gesamtbild gestaltet hätte, wären ihre Gesichtszüge nicht so weich geraten, dass das fast unmöglich war. Ich wusste das – ich hatte fast das gleiche Gesicht. Wahrscheinlich würden nicht einmal meine Schüler meinen Zorn ernstnehmen, wenn ich nicht exzessiv wütende Blicke geübt und perfektioniert hätte. Mein Badezimmerspiegel musste eine Zeit lang angenommen haben, ich würde ihn abgrundtief hassen.

»Ich habe heute gehört, dass er wieder zurück ist.«

»Im Ernst?« Ich keuchte. Vor allem vor Erleichterung. Es gab überhaupt keine schlimmen Neuigkeiten. Offenbar hatte meine Mutter lediglich eine neue Vorliebe für maßlose Übertreibung entwickelt. Sechzehnjähriger Aberfeldy, verdammt noch mal. War ihr nicht klar, was für einen Schrecken sie mir damit einjagte? »Sein Dad wohnt hier. Natürlich ist Hamish hin und wieder da. Das ist nun wirklich kein Grund ...« Ich deutete auf das Glas. »Ehrlich, Mum. Die letzten Male bin ich ihm nicht mal begegnet. Hättest du mich nicht die ganze Zeit angesehen, als würde ich jeden Moment in Tränen ausbrechen, hätte ich gar nicht gewusst, dass er da ist. Das alles ist dreizehn Jahre her – eine Ewigkeit.« Ich schüttelte den Kopf. Allein schon, um Mums Blick auszuweichen und stattdessen zur Spülmaschine zu schauen, die sich obendrein hervorragend dazu eignete, um in ihre Richtung zu deuten und damit einen Themenwechsel einzuleiten. »Also noch mal wegen Samstag. Ich hätte Zeit auszuhelfen und kann noch ein paar von den Dingern abgreifen. Und einer von euch kann sich einen freien Abend genehmigen. Was meinst du?«

Mum reagierte überhaupt nicht, sondern sah mich weiter nur mit diesem Blick voller »Ich weiß, das ist hart für dich. Du kannst mir das sagen« an. Manchmal glaubte ich, dass ihr Herz damals noch ein kleines bisschen mehr gebrochen war als meins. Sie hatte den hochgeschossenen, dürren Bengel wirklich gern gehabt und sich in ihm getäuscht. Vielleicht nahm sie ihm diesen Hochverrat übler als die Tatsache, dass er mit einer SMS aus fünfzehn Wörtern mit mir Schluss gemacht hatte. »Leena, es tut mir leid. Aber das mit uns funktioniert nicht mehr. Es ist vorbei.« Drei kurze Sätze. Drei Sätze, die geklungen hatten wie das lieblose Resultat aus dem »Wie mache ich mit meiner Freundin Schluss«-Baukasten für Anfänger.

»Also?«, hob ich noch einmal an und nippte wenigstens an dem Scotch. Er war zu gut, um ihn zu Demonstrationszwecken wegzukippen. »Was sagst du nun zu einem freien Samstag?«

Herrgott, konnte sie endlich aufhören, mich so anzusehen? »Laut Catherine ist er nicht nur zu Besuch hier. Anscheinend ist er wieder bei Robin eingezogen. Eingezogen, Aileen. Sie hat gesehen, wie er Kisten ins Haus getragen hat.«

»Vielleicht muss er ja irgendwas lagern. Ein altes Kinderbett oder so. Müssen wir wirklich darüber spekulieren?«

»Sie sagt auch, dass er den Jungen mit dabei hat.«

»Dann machen sie einen Männerurlaub bei Grandpa.« Ganz toll. Nun spekulierte ich doch. Und das nicht mal besonders gut. Ich schob lediglich die Optionen weg, die ich beschissen fand. Hamish, der mit Kaleigh und seinem kleinen Sohn nach Stonehaven zurückzog, um ... Keine Ahnung, wieso. Dreizehn Jahre hin oder her, ich hatte wirklich keine Lust, ständig dem Dreiergespann einer Vorzeigefamilie über den Weg zu laufen. Falls nicht sogar schon Sprössling Nummer zwei auf dem Weg war.

»Männerurlaub? Mitten im Schuljahr?«

»Mum, das geht uns nichts an.«

»Wie du meinst. Mir war nur wichtig, dass du es nicht als Letzte und durch einen blöden Zufall erfährst. Und wenn dieser Kerl auch nur einen Fuß durch diese Tür setzt ...«

Da war sie also endlich – die unvermeidbare Kastrationsdrohung. »Hm«, machte ich nur und nahm einen weiteren Schluck vom Scotch – eine Eigenart, die ich mir von Dad abgeguckt hatte. Wenn man nichts Sinnvolles zu sagen hat, einfach Grunzen und Scotch trinken.

Und Mum hatte gelernt, diese Stille auszuhalten. Ohne ein weiteres Wort stellte sie die Whiskyflasche zurück ins Regal. Dann lehnte sie sich neben mir gegen die Arbeitsplatte hinter der Theke und nahm einen Schluck aus ihrem eigenen Glas. »Falls dein Angebot mit Samstag noch steht ... Ich hätte wirklich große Lust, mal wieder bei meinem Buchclub vorbeizuschauen. Da war ich zwar drei Wochen nicht, aber vermutlich hängen sie immer noch beim selben Buch fest.«

»Das mit dem ... Mann?« Das war nicht sehr präzise, aber mir fiel beim besten Willen der Titel nicht ein. Ich glaubte, mich daran zu erinnern, wie Mum mir etwas von der Lebensgeschichte eines Mannes erzählt hatte. Teils fiktiv, teils real. Aber ich kam einfach nicht auf den Namen, weil mein Kopf viel zu beschäftigt damit war, sich zu fragen, wie er mittlerweile aussah. Hamish. Nicht der halbrealistische Mann.

Das letzte Mal hatte ich ihn auf der Beerdigung seiner Mutter gesehen. Er hatte einen Bart gehabt, ein Baby und nicht mehr als ein halbes Lächeln zustande gebracht, als ich ihm gesagt hatte, dass es mir leidtat. Ich hatte Mary gern gehabt. Es war unfair gewesen, dass sie gestorben war – und furchtbar, dass ihr Sohn trotz des Bartes und des Babys ausgesehen hatte wie der Teenager, in den ich mich verliebt hatte. Und der so unbedingt hatte stark sein wollen für seine Mutter, die damals das erste Mal gegen den Krebs gekämpft hatte.

Wie lange war das jetzt her? Ich wusste noch, dass ich für die Beerdigung extra nach Stonehaven gefahren war, obwohl ich erst zwei Wochen zuvor meinen Job in Aberdeen angetreten hatte. Für drei Jahre, ehe Dads Unfall passierte ... Also war Marys Beerdigung sechs Jahre her. Oh Gott, sechs Jahre, die vorbeigegangen waren wie zwei. Aber auch sechs Jahre, in denen sich vielleicht Hamishs Haare gelichtet hatten wie die seines Vaters. Möglicherweise war er dick geworden oder einfach nur ein riesiges Arschloch. Großstädte konnten das mit Menschen machen. Und für einen Jungen aus Stonehaven war Edinburgh definitiv eine ziemlich große Stadt.

»Moira ist ja der festen Überzeugung, dass alles davon reine Fiktion ist, aber Edina hatte sich die Mühe gemacht ...«

Ich konnte Mums Ausführungen kaum folgen. Da waren sechs Jahre, die viel präsenter waren. Sechs Jahre war es her, dass ich Hamish das letzte Mal begegnet war. Richtig begegnet. Seither hatte ich ihn ein paarmal aus der Ferne gesehen. Zweimal war ich sogar umgedreht, um eine ebensolche Begegnung zu vermeiden. Ich konnte wirklich gut damit leben, meiner ersten großen Liebe nie wieder über den Weg zu laufen.

Was mir schwerer fiel, waren das höfliche Lächeln oder ein förmlicher Händedruck. Oberflächlichkeiten und der Austausch von Phrasen mit einer Person, der man einmal alles anvertraut hatte – alle Gedanken, alle Gefühle, den eigenen Körper ... Das war schwieriger. Doch wenn Catherine recht behielt, würde ich nicht darum herumkommen, mich genau daran zu gewöhnen.

Fuck.

»Jolyn hat letztens vorgeschlagen, dass wir rein experimentell natürlich vielleicht mal andere Lektüre ...«

Sechs Jahre.

Ich versuchte, mich zu erinnern, wie alt Hamishs Kind bei Marys Beerdigung wohl gewesen war. Es war kein Neugeborenes mehr gewesen, definitiv nicht. Aber ob nun ein halbes Jahr oder ein ganzes ... Keine Ahnung. Es war schier unmöglich, sich klare Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, während eine Befürchtung langsam in mein Bewusstsein sickerte. Oder klatschte. Denn Befürchtungen bestehen aus nichts Geringerem als Matsch. Und egal, wie gut man sie mit rationalen Gedanken wegwäscht, irgendwo bleibt immer noch etwas in den Haaren kleben.

Sechs Jahre. Sechs Jahre und ein paar Monate. Es war Herbst gewesen, das Kind war schon einige Monate alt und ... Platsch.

Oh fuck. Fuck, fuck, fuck.

»Was meinst du?«

Ich sah meine Mutter an und traf auf einen neugierigen und abwartenden Blick. »Was?«

»Was du dazu sagst?«

Scheiße, wie waren wir von Büchern zu einer Frage gekommen, auf die ich eine Antwort geben musste? Bücher waren das Thema, bei dem Mum ewig erzählen konnte, ohne dass irgendjemand je zu Wort kommen musste. Nicht einmal, wenn er es gewollt hätte.

Immerhin tat sie mir den Gefallen, nachzuhelfen, wenn auch nicht allzu viel: »Dein Dad ist von der Idee ja sehr begeistert, aber ich bin etwas skeptisch. Und wenn wir ehrlich sind, bleibt die meiste Arbeit an mir hängen, wenn er sich nicht einen zweiten Arm wachsen lässt.«

Wie? Aber wir hatten doch gerade über Bücher gesprochen ... Was für eine Idee meinte sie? »Vielleicht ...« Ich räusperte mich und versuchte, diesen Gedanken wegzutreiben, der sich längst klumpig in meinen Eingeweiden breitmachte. »Vielleicht sollten wir das eher zu dritt besprechen? Pro und Kontra zusammenführen und ... Ich kann ja helfen, wenn ich Zeit habe. Also bei der Durchführung. Nicht nur bei der Pro-Kontra-Liste.«

Ich fand mein Ausweichmanöver eigentlich einigermaßen elegant. Doch ich konnte von Mums Gesicht ablesen, dass es nicht nur wackelig, sondern krachend zusammengestürzt war.

»So sehr in Gedanken, hm?« Und – zack – als hätte jemand einen Schalter angeknipst, war da wieder dieser sorgenvolle Blick. »Ich habe überhaupt nichts von einer Idee erzählt. Ich wollte nur wissen, ob du zuhörst.« Ihr Mundwinkel zuckte für ein leichtes Ach-mein-Mädchen-Lächeln, dann streckte sie ihren Arm nach dem Aberfeldy aus und öffnete ihn wieder. Mein Glas war bereits leer. Doch das Brennen in meinem Hals war nicht stark genug, um die matschigen Befürchtungen aus meinen Gedärmen zu spülen. Mum goss mir noch einen Doppelten nach und sich selbst diesmal auch. »Willst du drüber reden?«

Auf gar keinen Fall. Ich wollte ja nicht mal daran denken.

Sechs Jahre.

Ich schüttelte den Kopf und nahm einen großen Schluck von dem Whisky. So, wie man es tat, wenn er wirken und nicht schmecken sollte. Ich brauchte keinen Genuss, sondern etwas, das in der Lage war, simpelste Mathematik auszulöschen. Doch es gelang nicht. Stattdessen brodelte der Matsch jetzt in meinem Inneren wie Lava und spuckte mir hypothetische Szenen ins Gesicht, von denen ich nicht wollte, dass sie in die Realität rutschten.

Ein winziger Hamish, der vor mir in der Klasse saß. Ein großer Hamish, der gelangweilt einen Elternabend über sich ergehen ließ und mich mit Miss Harris ansprach. Er und seine Frau bei einer Schulaufführung, auf der ihr Sohn die Hauptrolle bekommen und den Text vergessen hatte. Ich würde ihre Hände schütteln und ihnen sagen, dass es mir leidtat.

Genauso wie vor sechs Jahren.

Als dieser kleine Junge noch auf einem Beißring rumgekaut und gesabbert hatte. Als er nicht genau das richtige Alter gehabt hatte, um vielleicht, mit nur ein bisschen Pech in meine Klasse zu kommen.

Sechs Jahre später allerdings ...

Ich leerte das Glas mit einem einzigen Zug und seufzte.

Fuck.

»Leena«

Aileen

Der Beutel mit dem Kräutertee ertrank in dem dampfenden Wasser, das sich über ihn ergoss. Er kämpfte nicht einmal, sondern sackte augenblicklich kraftlos auf den Grund der Tasse.

Und ich stand da, an das winzige Regal mit Kaffee, Tee und Gebäck gelehnt, und sah dieser kummervollen Szene zu. Mehr als das brauchte es nicht, um Deborah Galbraith in schallendes Gelächter ausbrechen zu lassen. Es war dreckig und gehässig und aufrichtig. So, wie man es von dieser Frau zu erwarten hatte.

»Wie schlimm ist es? Eins bis zehn.«

Ich zuckte mit den Schultern und sah den Teebeutel an, dessen Schicksal sicher fataler war als die Mail meines Rektors, die mich vor zwei Tagen erreicht hatte. Genau einen Tag, nachdem ich mit Mum gesprochen hatte. Wenn man es so wollte, hatte sie mich in letzter Minute vorgewarnt: »Liebe Miss Harris, ich möchte Ihnen mitteilen, dass Sie einen neuen Schüler in Ihrer Klasse begrüßen werden ...« Und so weiter und so fort.

»Vier«, antwortete ich Debbie und sah ihr dabei sogar in die Augen – sie mir allerdings nicht. Stattdessen taxierte ihr Blick mich von oben bis unten.

»Vier«, schnaufte sie. »Wer’s glaubt. Keine Strickjacke, aber ein Blazer. Kein Kaffee, sondern lächerlicher Tee. Und was zur Hölle ist mit deinen Haaren passiert? Das ist keine Vier, das ist eine Elf.«

»Das sind Locken«, stellte ich klar. »Die sind nicht neu, die hab ich immer.«

»Mh«, machte Debbie und ließ es sehr eindeutig nach einem belustigten »Soso ...« klingen. »Und weil die immer mühelos so aussehen, bindest du sie sonst zusammen. Verstehe ...«

»Ach, halt die Klappe.« Meine Schlagfertigkeit war an diesem Morgen definitiv nicht auf der Höhe.

Debbie nippte an ihrer Kaffeetasse und grinste mich über den Rand hinweg an. »Keine Bange, ihm werden die Augen rausfallen, und er wird sich auf der Stelle in dich verlieben. Ich sehe jetzt schon vor mir, wie Herzchen aus seinen Augen purzeln.«

Ich verdrehte die Augen und ließ mir ein genervtes Aufstöhnen nicht nehmen. »Er ist verheiratet. Ich will keine scheiß Herzen. Ich will nur ...« Ich seufzte. Ich wollte mich nur nicht fühlen wie das verletzte achtzehnjährige Mädchen, das sich fragte, warum sie nicht mehr gut genug für ihn war. Ich wollte nicht einmal ein paar Sekunden von diesem Gefühl zurück.

»Ich versteh schon.« Debbie stellte sich neben mich und stupste mich mit ihrer Schulter an. »Weißt du, ich habe nie so umwerfend ausgesehen wie an dem Tag, als Daniel und ich die Scheidungspapiere unterzeichnet haben. Ich wollte ihn nicht zurück. Aber manchmal braucht man das ... Für sich selbst. Ich kann das nachvollziehen. Aber dieser Tee macht mich fertig ...«

»Leb damit. Ich ...« Ich verstummte, als die Tür zur Lehrerküche sich öffnete und Drew in Begleitung ihres allgegenwärtigen Gähnens den Raum betrat. Debbie hatte die Theorie, dass unsere Kollegin zur passiven Aggressivität neigte – und zwar allen Menschen gegenüber, die sich nur mit fremden, aber nicht mit eigenen Kindern herumplagten und damit automatisch ein unerschöpfliches Maß an Freiheit, Freude und Schlaf genießen mussten. Das war eine Einschätzung, die ich nicht teilte, was Debbie meist mit dem Kommentar honorierte, ich würde solche Nuancen deutlicher hören, wenn ich erst einmal ihr historisches Alter von 43 Jahren erreicht hätte.

»Guten Morgen ihr zwei«, seufzte Drew und wandte sich dann direkt der Thermoskanne mit frischem Kaffee zu. »Gott sei Dank. Ich wäre verloren, wenn ihr nicht schon Kaffee gekocht hättet.«

Höchst aggressiv. Ganz klare Sache.

Ich lächelte, wünschte einen guten Morgen und entsorgte den ersoffenen Teebeutel. Allein damit, ihn an einem Löffel auszuwringen, beschäftigte ich mich unnötig lange, um nicht in einen Dialog über Frühblüher verwickelt zu werden, während mich ganz andere Themen beschäftigten.

Mr Glenn hatte mir nicht viel über meinen neuen Schüler verraten können. Dominic Findlay, sieben Jahre alt. »Sein Vater hat mich eindringlich darauf hingewiesen, dass der Junge zurückhaltend ist. Er bittet um etwas Geduld mit Dominic, falls der etwas länger braucht, um aufzutauen.«

Ich konnte mir gut vorstellen, wie Hamish meinem Chef sehr eindringlich genau das mitteilte. Allerdings sah ich dabei den Teenager vor mir, der es gehasst hatte, sich an irgendwelchen »super aufregenden und spannenden« Projekten beteiligen zu müssen. Und nun stand er hier und versuchte, seinen Sohn vor allem zu bewahren, was dem Kleinen zuwider sein könnte.

Debbie hingegen interessierte es einen Scheiß, ob der Junge ein Chaot oder ein Sensibelchen war oder wie sehr mich diese wenigen Informationskrümel an den jungen Hamish erinnerten, den ich kannte. Sie brannte für die Frage, was zur Hölle er eigentlich in Stonehaven zu suchen hatte. Ihre Theorien begannen bei einer Affäre seiner Frau, gingen weiter zu einer Affäre seinerseits, was sie dann aber als »lückenhaft« wieder fallen gelassen hatte. Scheidung war ein Thema oder genau das Gegenteil, und die Familie war in Hamishs Heimat zurückgekehrt, um hier Wurzeln zu schlagen. »Oder er hat seine Frau umgebracht. Hat die schon wer gesehen?« Das war ihre liebste Theorie, ohne Frage.

»Und was wird dein Ferienprojekt?«

Ich schreckte hoch und riss meinen Blick von den Reflektionen der Lampe auf der Oberfläche meines Tees los. »Wir ... ähm ... Tiere.« Ich schüttelte den Kopf und widerstand dem Drang, meine Augen zu reiben. Make-up, erinnerte ich mich. Ganz blöde Idee.

Debbie neben mir lachte leise. »Ich hab ihr schon gesagt, dass es dämlich ist, den Kaffee wegzulassen. Tee ...« Es folgten ein Schnaufen und ein dazu passendes Kopfschütteln.

»So?« Auf einmal leuchteten Drews Augen, wie Augen einer geplagten Mutter wohl immer leuchteten, wenn sie glaubte, eine zukünftige Mitleidende vor sich zu haben. »Gibt es etwas, was du erzählen möchtest?«

»Definitiv nicht, nein«, sagte ich so deutlich, wie die Freundlichkeit es gerade so noch zuließ. Ich wusste mittlerweile, dass man in diesen Dingen unmissverständlich sein musste. Es hatte zwei angebliche Schwangerschaften, eine vermeintliche Hochzeit und drei mutmaßliche Kündigungen gebraucht, bis ich diese Lektion gelernt hatte. »Wir basteln Tiere. Heute wollen wir abstimmen, was für welche.«

»Oh, das klingt großartig.« Aus irgendeinem Grund war dieser Glanz in Drews Augen immer noch nicht ganz verschwunden. Hervorragend. »Falls ihr irgendwo noch Schuhkartons habt oder andere Kartons mit Deckeln, ich bin dankbarer Abnehmer. Meine Klasse will unbedingt Erinnerungsboxen basteln, ehe es nächstes Jahr in die Sekundarstufe geht. Als ob sie sich dann nie wiedersehen würden ...« Sie zuckte mit den Schultern.

»Wir werden Ausschau halten«, versprach Debbie, woraufhin Drew sich mit ihrem Kaffee und zu vielen Dankesworten auf ihre ganz offensichtlich aggressive Art und Weise verabschiedete.

»Wir sollten auch los, hm?« Debbie sah auf ihre Uhr und stürzte den restlichen Kaffee herunter, während ich meinen Tee noch nicht einmal angerührt hatte. »Wie sieht es jetzt aus? Eins bis zehn.«

Ich sah auf meine Tasse und war unschlüssig, ob ich den Tee wegschütten oder mitnehmen sollte. Meine Hände wären beschäftigt – Vorteil. Allerdings war die Tasse so ziemlich die hässlichste, die wir zu bieten hatten. Allein, dass ich überhaupt darüber nachdachte, ließ wohl keine Antwort unter Fünf übrig. »Sieben?«

»Hm. Sieben kann ich akzeptieren«, meinte Debbie. »Denk dran, was wir gesagt haben: Sechs Jahre sind ewig. Und er hat ein Kind und eine Frau. Mehr als genug Gründe, um viel zu schnell und schlecht gealtert zu sein. Ganz im Gegenteil zu dir, du sexy Lockenkopf.«

»Ich bin so dankbar für deinen Beistand.«

»Na los ... Und lass den Unsinn hier, wenn du kein Gerede willst.« Damit nahm sie mir die Tassenentscheidung ab und kippte meinen Tee weg, ehe sie mir meine Tasche in die Hand drückte und mich aus der Küche dirigierte. »Ich verspreche, ich werde ihn nicht anglotzen, falls er schon dasteht.«

»Das setze ich ehrlich gesagt voraus.«

»Ich werde ganz normal wirken«, flüsterte Debbie mir zu, während wir den Gang entlangliefen und um die Ecke zu unseren Räumen bogen. »Du kannst mir ja kurz erzählen, wie viele Kronkorken du für meine Kids schon ... Oh. Okay. Wer hätte gedacht, dass all deine Wünsche so sehr erhört werden ...«

Debbie wäre fast stehengeblieben, als mein Klassenzimmer in Sichtweite kam und damit der kleine Dominic Findlay und seine Begleitperson. Lichtes Haar, ein deutlicher Bauchansatz und ein Bart, den so viel Grau durchzog, dass es kaum etwas von dem Braun übrig gelassen hatte, das ich kannte.

»Das ist Hamishs Vater«, raunte ich Debbie zu. »Offenbar ist sich der werte Herr zu fein, seinen Sohn selbst herzubringen.«

Sie lachte nur verhalten, womit sie völlig recht hatte. Ich hatte genervter geklungen, als ich es war. Dabei war das erste Gefühl, das ich gehabt hatte, Erleichterung mit höchstens einem winzigen Funken Enttäuschung gewesen. Nicht Wut.

»Aufsicht in der ersten Pause?«, fragte sie nur und schubste mich damit zurück in die Normalität eines Schultages.

»Aufsicht in der ersten Pause.« Ich lächelte ihr dankbar zu und steuerte dann das Duo aus Robin und Dominic Findlay an. Hamishs Vater nickte mir zu, ein Lächeln in seinem Gesicht, aber keine Überraschung.

Hamish hat ihm gesagt, dass ich hier sein werde, dachte ich. Er hat es gewusst und seinen Dad geschickt. Mehr muss man eigentlich nicht wissen, mh?

Ich grüßte Robin mit einem Nicken, einem Händeschütteln und einer Phrase, die ich schon vergaß, kaum dass sie mir über die Lippen gekommen war. Dann wandte ich mich der eigentlichen Hauptperson zu und beschloss, dass es gut war, dass Hamish nicht hier war. Es ging um seinen Sohn und darum, dem Kleinen einen guten Start zu bereiten. Das war leichter, wenn ich mich nicht fragte, ob ich beobachtet wurde und weshalb.

»Hi.« Ich ging in die Hocke, bis ich etwa auf Augenhöhe mit Dominic Findlay war. Dieselben aschblonden Haare. Dieselben blaugrauen Augen mit demselben entschlossenen Blick. Mich hätte nicht gewundert, hätte ich auch dieselbe Narbe an seiner linken Augenbraue entdeckt. »Hi, ich bin Miss Harris, deine Klassenlehrerin. Und wie nennen wir dich?«

Der Junge sah kurz zu seinem Großvater auf, dann nahm er die Hand, die ich ihm entgegenstreckte. »Nick.«

»Freut mich, Nick.« Ich erwiderte den zarten Händedruck und ließ seine Hand dann wieder los. »Du kannst dir aussuchen, wie wir es machen. Du und ich können zusammen in die Klasse gehen oder ich hole Ben kurz her. Ben ist sieben, und er liebt Mathe. Er hat den Platz neben dir und wird dir alles zeigen und dir deine Mitschüler vorstellen. Ich weiß, er freut sich schon, dich kennenzulernen. Die anderen übrigens auch. Also, was sagst du? Willst du mit mir in die Klasse gehen oder lieber mit Ben?«

Diesmal schaute Nick nicht zu seinem Großvater, sondern zu der offenen Tür hinter mir, aus der ich das Stimmengewirr meiner Klasse hörte. Gut möglich, dass längst ein oder zwei der Kinder hinter meinem Rücken um den Türrahmen schielten, um einen ersten Blick auf den neuen Jungen zu werfen.

»Lieber mit Ben«, war die abschließende Entscheidung.

»Gute Wahl«, versicherte ich und erhob mich wieder. »Warte kurz hier, und in der Zwischenzeit kannst du schon überlegen ob du lieber Kraken magst oder Mäuse oder Raupen. Das werde ich euch nämlich gleich alle fragen.« Ich schenkte ihm und auch Robin ein kurzes, zuversichtliches Lächeln, dann ging ich in den Klassenraum, um nach dem kleinen sympathischen Rotschopf Ausschau zu halten, den ich als Nicks Paten bestimmt hatte.

Benedict McLean stand neben dem Aquarium, das die Klasse als Gemeinschaftsprojekt betreute. Als ich ihn ansprach, wandte er sich nicht einfach zu mir um, sondern wirbelte regelrecht in meine Richtung. »Ist er da?«

Ich nickte. »Das ist er. Sein Name ist Nick, und ich glaube, er ist ein bisschen nervös.«

Ben winkte mit der Souveränität eines altklugen Siebenjährigen ab. »Das ist ganz normal«, sagte er gewichtig. »Ich sag ihm einfach, dass er keine Angst haben muss. Und ich hab zwei blaue Stifte dabei, falls er seinen vergessen hat.«

Falls Nick seinem Vater im Wesen auch nur annähernd so sehr ähnelte wie im Aussehen, dann war ihm der blaue Stift vermutlich herzlich egal, aber er würde zu schätzen wissen, dass jemand für ihn daran gedacht hatte.

»Vielleicht zeigst du ihm erst seinen Platz und wie er seine Tasche an den Tisch hängen kann. Und danach noch die Bücher oder die Fische, bis es klingelt. Einverstanden?«

Ben nickte nur und flitzte ohne ein weiteres Wort nach draußen. Als ich selbst ihm etwas gemächlicher folgte und den Flur vor dem Klassenzimmer wieder betrat, sah ich längst, wie er freudestrahlend auf den kleinen Nick einredete, der interessiert zuhörte und sich ohne ein Wort des Abschieds an seinen Großvater von seinem neuen Klassenkameraden entführen ließ.

Robin sah ihm mit einem Kopfschütteln und einem tiefen Seufzen nach. »Er ist ein bisschen zurückhaltend«, murmelte er, als würde er mir gestehen, er hielte seinen Enkel für etwas zurückgeblieben. »Aber er ist ein guter Junge.«

»Mh, den Hinweis hat Hamish bei der Anmeldung schon gegeben. Keine Sorge, ich denke, wir werden bestens auskommen«, versicherte ich und deutete unnötigerweise in Richtung Klassenzimmer. »Ben ist ein Schatz. Ich wüsste kein Kind, das nicht mit ihm befreundet sein will. Er wird Nick helfen, sich hier einzufinden. Wir kriegen das hin. Gibt es ...« Ich stockte kurz. Das war eine ganz normale Frage, die ich jedem Eltern- oder Großelternteil stellen würde. Nur bei ausgerechnet diesem fühlte es sich an wie die triefende Neugier einer Ex-Freundin. Da halfen weder der Blazer noch die Locken. »Gibt es irgendetwas, das ich außerdem wissen sollte? Themen, die ich lieber vermeide oder Fragen, die ich besser nicht stelle.«

Robin sah mich an, und ich konnte erkennen, dass er zu einer Antwort ansetzte, ehe er schließlich doch den Kopf schüttelte.

Ich nickte. »Alles klar.« Das war wohl die herkömmliche Antwort auf eine Lüge.

»Außer vielleicht ... Es wäre schön, wenn er sich selbst der Klasse vorstellen kann. Er ist sehr nervös, aber ihm ist das wichtig. Wir haben das gestern Abend mit ihm geübt, bis er zufrieden mit sich war.« Wieder sagte er das, als wäre es eine Information, die man nicht gern teilte. Warum? »Und er hat dieses Gespenst dabei. Er sollte das nicht, aber er fühlt sich sicherer damit. Hamish ist heute in Edinburgh und erst am Abend zurück. Das macht Nick immer ein bisschen unruhig. Deswegen durfte er es mitnehmen. Das ist hoffentlich in Ordnung. Er weiß, dass das Ding in seiner Tasche bleiben soll.«

»Das ist absolut in Ordnung. Solange er die anderen nicht damit ablenkt ...«

»Das wird er nicht«, versicherte Robin mir und sah noch einmal etwas wehmütig zu der Tür, hinter der sein Enkel verschwunden war. Ob es seltsam für ihn war, Nick ausgerechnet in meine Obhut zu geben?

»Ich pass auf ihn auf«, versprach ich. »Falls dir noch etwas einfällt, was ich bei Nick beachten soll, dann ruf einfach an. Das Sekretariat gibt mir das dann weiter.«

»Das werde ich.« Er brummte zustimmend und löste seinen Blick von dem Eingang zum Klassenzimmer. »Das werde ich.« Dann reichte er mir seine Hand zum Abschied. »Es war nett, dich mal wiederzusehen, Leena.«

Leena.

Wann hatte mich das letzte Mal jemand Leena genannt? Der Spitzname war irgendwie mitsamt meiner Schulzeit verschwunden. Die Menschen, die mich so genannt hatten, waren meine Freunde gewesen, die sich nach unserem Abschluss in alle Himmelsrichtungen verteilt hatten. Und Hamish.

Dreizehn Jahre.

Dreizehn Jahre, ein Blazer, bestmöglich hergerichtete Locken und Make-up. Alles Nonsens. Für Robin Findlay war ich immer noch Leena – das Mädchen, das aufkreuzte, wenn sein Sohn einen schlechten Tag hatte und unausstehlich war. Das Mädchen mit den zerrissenen Jeans, den blondierten Haaren und dem angesteckten Nasenpiercing, weil sie sich ein echtes nicht traute.

Und für einen kleinen Moment waren diese dreizehn Jahre nie vergangen, und ich keinen Tag älter als achtzehn.

Es ist schon erstaunlich, was so ein einfacher Name mit der Zeit anstellen kann.

Glitzernde Missetaten

Aileen

Ich sah zwei kleinen Händen dabei zu, wie sie sich hinter dem durchgedrückten Rücken des Jungen gegenseitig hielten. Nick hatte sich vor die Klasse gestellt, ohne dass ich ihn dazu aufgefordert hatte. Und nun sah der Junge sich einem viel größeren Publikum gegenüber, als er es von zu Hause kannte.

Größer, aber nicht halb so beängstigend, flüsterte ich ihm in Gedanken zu. Das kriegst du hin.

Tatsächlich räusperte er sich und atmete dann ein Mal tief ein, hielt die Luft an und ließ sie wieder aus seinen Lungen. »Ich heiße Dominic Findlay. Aber alle nennen mich Nick. Hallo.« Er lächelte und löste seine linke Hand von der anderen, um sie zu einem kurzen, schüchternen Gruß winken zu lassen und dann gleich wieder hinter seinem Rücken zu verstecken. Vermutlich hatte er es genau so geübt. Mit Sicherheit sogar.

»Ich bin sieben Jahre und vier Monate alt. Also fast siebeneinhalb. Mein Lieblingsessen diese Woche ist Toffee Pudding. Und meine Lieblingsfarbe ist Blau. Aber das ist sie immer.« Noch einmal praktizierte er das Räuspern mit dem darauffolgenden tiefen Atemzug. Aber so recht ließ sich die Unsicherheit wohl nicht abschütteln. Seine Hände hielten sich hinter seinem Rücken noch fester als vorher. »Ich bin erst vor ein paar Tagen nach Stonehaven gezogen, aber mein Grandpa wohnt schon immer hier. Er hat eine alte Katze. Sie heißt Smudge, aber ich glaube, sie mag den Namen nicht. Aber sie heißt eben so.« Er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen »Tja, nichts zu machen«. Smudge gab es also immer noch ...

»Am liebsten mag ich Rechnen und alles über Tiere. Und die Gruselgeschichten von meinem Dad.« Noch ein tiefes Durchatmen, das diesmal ohne ein Räuspern auskam. »Fertig.«

Ben war der Erste, der klatschte, und während die anderen es ihm nachmachten, reckte er schon ungeduldig seinen Arm in die Höhe. »Miss Harris? Miss Harris?«

»Ja?«

»Können wir uns jetzt auch alle vorstellen? Damit Nick weiß, wer wir sind?«

Die soziale Ader dieses Jungen konnte ohne Anstrengung ganze Unterrichtstage sprengen, wenn man es zuließ. »Das würde etwas zu lange dauern. Vorschlag: Jeder schreibt seinen Namen auf ein Schild. In seiner Lieblingsfarbe. Und das stellt ihr vor euch auf den Platz. Dann weiß Nick schon ziemlich viel über euch.«

Die ersten Kinder holten auf meinen Vorschlag hin ein Blatt Papier hervor, um es zu einem Schild zu falten, während Ben sich zu seinem neuen Kumpel beugte und so laut flüsterte, dass ich es verstand. »Meine Lieblingsfarbe ist auch Blau.«

»Cool.« Nicks Raunen verstand ich nicht, aber es ließ sich leicht von seinen Lippen ablesen.

Ich ließ den beiden diesen emotionalen Moment und wandte mich dem braungelockten Mädchen in der zweiten Reihe zu. »Sarah, ich habe Nick vor der Stunde erzählt, dass er überlegen soll, ob er lieber Oktopusse mag, Mäuse oder Raupen. Willst du noch mal für alle erklären, warum ich das wohl gefragt habe?«

Sie nickte, aber was aus ihrem Mund purzelte, war nicht die Erklärung, nach der ich gefragt hatte, sondern Worte, die unfassbar aufgeregt klangen. Wie Worte eben klingen, wenn eine Siebenjährige sie viel zu lange für sich behalten musste. »Wir haben heute die gleichen Haare, Miss Harris.« Sie breitete ihre Hände aus und riss ihre Augen auf, um ihr Staunen nicht nur hörbar sondern für alle sichtbar zu machen. »Ge-nau. Gleich!«

»Deine sind noch ein bisschen länger«, stellte ich fest. »Meine gehen nur bis hier.« Mit der Handkante deutete ich die Höhe kurz unterhalb meiner Schulter an, wo meine Haare nun einmal endeten. Der Stolz der Kleinen, dass ihre ihr bis zu den Schulterblättern reichten, war unübersehbar. »Wo wir das nun geklärt hätten. Weißt du noch, worum ich dich gebeten hatte?«

»Ja, natürlich.« Ihre Entrüstung war regelrecht spürbar. »Die Ferientiere.« Mit dieser Erklärung wandte sie sich zur Seite und sah in Richtung Nick und Ben. »Wir basteln alle ein Ferientier und geben ihnen Namen. Heute stimmen wir ab, was für ein Tier wir alle basteln, damit wir alle das gleiche haben und keiner traurig ist. Und dann nimmt ein anderer es mit in die Ferien und hat ganz viele Abenteuer mit dem Tier. Und die können wir dann eine Stunde lang erzählen, wenn Ostern vorbei ist. Eine ganze Stunde!«, betonte sie noch einmal. »Das ist spezifisch lange, um ganz viele Abenteuer zu erzählen.«

Spezifisch. Das war das Wort, das sie seit dem Wochenende so häufig nutzte, dass es hin und wieder sogar am richtigen Platz landete. Aber eben nur hin und wieder.

»Und, Nick? Was meinst du? Machst du mit?«

Er nickte heftig und sagte brav »Ja, Ma’am.« Und ich wollte mir einbilden, dass sein Dad ihm das beigebracht hatte. Einfach nur, weil er die Vorstellung zum Totlachen fand, wie sein Sohn mich mit Ma’am ansprach. Ich ertappte mich dabei, dass ich diese Idee wirklich mochte, weil das hieß, dass es ihn beschäftigte, dass Nick in meiner Klasse landete und nicht in Debbies oder Drews oder irgendjemandes sonst.

»Die anderen hatten seit gestern Zeit, um zu überlegen, für welches Tier sie sich entscheiden wollen. Bist du auch bereit?«

Diesmal beschränkte sich seine Antwort auf ein vorfreudiges »Ja«. Es zog das erste strahlende Grinsen mit sich, das dieser Junge zeigte. Es war nicht dasselbe Grinsen wie das seines Vaters. Da waren sympathische Grübchen in seinen Wangen, die Hamish nicht hatte. Das Strahlen in den Augen allerdings ...

Ich schob das Gefühl beiseite, das sich leise anbahnte wie das Knarren, mit dem alte Holzkisten sich öffneten. Solche, die voll sind mit alten Erinnerungen und zerschlagenen Wünschen.

Ich schob es beiseite und ergab mich stattdessen der Erleichterung darüber, dass Robin Findlay seinen Enkel wohl richtig einschätzte. Ein guter Junge. Und ich ließ ein innerliches Aufatmen darüber zu, dass wir bestens miteinander auskommen würden. Genau, wie ich es versprochen hatte.

Nun, wäre ich nicht so feige gewesen und hätte dieses Knarren wenigstens einen Moment lang ausgehalten, vielleicht wäre wenigstens eine Erinnerung hindurchgeschlüpft. Möglicherweise sogar jene, die die Erkenntnis in sich trug, dass auch gute Menschen Schwierigkeiten bedeuten konnten.

Manchmal sogar ziemlich große.

Zwei Tage.

Es brauchte nur läppische zwei Tage, um jene leise Ahnung in mir zu wecken, für die mein Beruf mich in den letzten sieben Jahren sensibilisiert hatte. Die Indizien waren die üblichen: Stifte und Lineale, die bei einigen Kindern verschwanden. Namensschilder, die plötzlich am Geburtstagskalender fehlten. Fischfutter, das erst nach langem Suchen hinter einer Reihe mit Kinderlexika auftauchte. Sarah und Timothy waren bereits panisch geworden und hatten den Fischen im Aquarium versichert, dass sie nicht verhungern würden, während Ben wild entschlossen war, auf dem Schulhof Würmer auszugraben, um den akuten Mangel an bunten Futterflocken auszugleichen. »Wie beim Angeln. Wir dürfen sie nur nicht an einen Haken machen, sonst beißen die Fische auf die Spitze drauf und sind tot.« Das war die pragmatische Einschätzung des Sprosses einer der Fischerfamilien im Ort.

Insgesamt waren das zu viele Vorkommnisse für zwei Tage. Allerdings fehlte mir noch der finale, sachdienliche Hinweis, um meinen Verdacht zu besiegeln.

»Du bist ein feiges Huhn.« Das wiederum war Debbies Sicht auf das Geschehen. »Wer soll es sonst sein, wenn nicht der kleine Findlay? Hat alles angefangen, als er in die Klasse gekommen ist.« Sie warf einen argwöhnischen Blick zu den Schaukeln, neben denen Nick stand und Ben und Sarah dabei zusah, wie sie versuchten, mit den Zehenspitzen die Wolken zu berühren.

»Seamus«, murmelte ich, was ich tatsächlich nicht für allzu abwegig hielt. »Der und Freddie sind eigentlich bekannt für so einen Unsinn. Vielleicht halten die das für einen guten Zeitpunkt – jetzt, wo jeder den Neuen verdächtigen würde.«

Debbie schnaubte. »Sind die meisten Sachen nicht hinter den Büchern wieder aufgetaucht? Als ob Seamus Webb und Freddie Allen sich je freiwillig in die Nähe von Büchern begeben würden. Die zwei hätten versucht, die Stifte das Klo runterzuspülen. Aber Bücher sprechen eher für ... He!«, rief sie in Richtung Rutschturm. »Samara Murphy! Runter geht es über die Leiter oder die Rutsche. Zweite Warnung!« Die Viertklässlerin mit dem blonden Pferdeschwanz rutschte wieder von dem Geländer, das die Kinder eigentlich vor einem Sturz bewahren sollte, falls die sich nicht gerade für zu cool hielten, um sich an solche Belanglosigkeiten zu halten. »Noch so ein Ding, und ich muss deiner Mum wieder eine Nachricht schreiben. Verstanden?«

Ich glaubte, ein vielleicht eingeschüchtertes, womöglich aber auch angepisstes »Ja, Mrs Galbraith« zu hören, mit dem Debbie sich zufriedengab.

»Oder sie stiften Nick an«, nahm ich den Faden wieder auf. »Er ist ein ziemlich ruhiges Kind. Vermutlich ist er leicht zu beeinflussen, und die machen sich einen Spaß daraus, ihm Mutproben aufzugeben.«

»Feiges Huhn. Gib einfach zu, dass du keine Lust auf Probleme mit dem Bengel hast. Ich meine ... Allein die Vorstellung, Elterngespräche mit dem Ex und seiner Frau ...« Sie schüttelte sich etwas zu theatralisch, traf den Nagel aber auf den Kopf.

Mit Glück waren solche Dinge mit einem Gespräch unter vier Augen erledigt. Nicks und meinen Augen. Meistens folgte allerdings noch mindestens eine Wiederholung, die eine Nachricht an die Eltern nach sich zog. Und wenn ich ehrlich war, hatte ich schon auf diesen Schritt keine Lust. Ich kannte Nick doch erst seit Mittwoch. Das waren zwei Tage, in denen ich ehrlich froh gewesen war, den Jungen nicht die ganze Zeit anzuglotzen wie etwas, das man einfach nicht fassen konnte. Da war ein Siebenjähriger, der seine Augenbrauen ganz genauso zusammenzog wie sein Dad, wenn er etwas beobachtete, was er dämlich fand. Ob das nun Mädchen waren, die in Dreiergruppen neue Tänze auf dem Hof übten oder ein Constable, der eine Gruppe frisch Volljähriger ermahnte, nur weil sie ein Sixpack Bier mit sich führten. Der Blick war in beiden Fällen derselbe, und ich hatte mich noch nicht genug daran gewöhnt, um in Nicks Schulheft Sätze zu schreiben wie: »Sehr geehrter Mr Findlay, Nick ist in der Schule dadurch auffällig geworden, dass er Eigentum von Mitschülern sowie das Fischfutter des Aquariums entwendet hat. Ich war eigentlich der Meinung, dass Nick ein netter Junge ist, aber hey, das dachte ich bei Ihnen ja auch, hm?«

»Andererseits stell ich mir das auch großartig vor«, sinnierte Debbie weiter, und ich erkannte ein unübersehbar süffisantes Grinsen auf ihrem Gesicht. »Lass dich einfach mal ganz kurz drauf ein, ja? Elterngespräch – du und die Findlay-Eltern. Mummy Findlay und Daddy Findlay sitzen auf diesen Winzstühlen für die Schüler und du siehst aus wie vorgestern. Mit Rock. Das betont deine Beine, wenn du dich super autoritär an deinen Tisch lehnst. Mummy Findlay wird dich hassen – allein schon, weil Daddy Findlay aus dem Sabbern nicht rauskommt. Was nebenbei bemerkt entsetzlich abturnend aussieht. Denn wir erinnern uns: schütteres Haar, das er sich in einem viel zu tiefen Scheitel über den Kopf kämmt, weil er denkt, er könnte damit irgendwas vertuschen. In meinem Kopf schwitzt er auch die ganze Zeit. Vermutlich irgendeine Stoffwechselstörung, aber auch Nervosität. Also, wenn das nicht ...«

»Vor allem ist es ziemlich explizit«, stellte ich fest, konnte mir ein Grinsen jedoch nicht verkneifen.

»Alles Erfahrungswerte. Ich würde sogar wetten, er trägt ...«

»Miss Harris?« Die Dringlichkeit, mit der Finola Calhoun mich ansprach, zerschlug meine Hoffnung darauf, mir Debbies Vorstellungen von Hamishs Outfit anzuhören.

»Ja, Finola?«

»Miss Harris, ich muss dir was ganz Wichtiges sagen.« Die Atemlosigkeit in ihrer Stimme machte deutlich, wie wichtig es war, dass sie mir mitteilte, was sie auf dem Herzen hatte.

»Ist etwas passiert?« Ganz automatisch ging ich in die Hocke und ließ meinen Blick über die klassischen Stellen für mögliche Verletzungen gleiten. Stirn, Knie, Hände. Kein Blut. Nicht einmal Dreck. Allerdings hatte ich hier auch Finola Calhoun vor mir, für die diese Schule wohl noch den Award für den gepflegtesten Umgang mit ihrer Uniform ins Leben rufen würde.

»Ja! Etwas Desaströses!« Ja, das klang mir ganz nach einem Lieblingswort ihrer Mutter.

Ich nickte geduldig und wartete auf Finolas Ausführungen zu dieser desaströsen Beobachtung, stattdessen interpretierte sie meine Stille aber wohl so, wie ihre Eltern ihr beigebracht hatten, Schweigen von anderen Menschen zu deuten: »Das ist etwas ganz Schlimmes!«

Ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Debbie sich die Hand vor den Mund schlagen musste und sich abwandte, um den Kontrollgang ohne mich fortzusetzen. Na herzlichen Dank auch.

»Ich weiß, Finola. Willst du mir auch erzählen, was passiert ist? Was ist so schlimm? Ist jemand verletzt?« Ein schwacher Versuch, diesem Kind den Unterschied zwischen apokalyptischen Notfällen und unerfreulichen Ereignissen beizubringen.

»Ja, Lizzy ist hingefallen. Aber es ist nicht so schlimm. Mr McCoy hat das gesagt.«

Ich nickte und wartete geduldig auf die Pointe ihrer Ankündigung. »Aber Davinas Stift ist verschwunden! Der mit dem Glitzer und den Federn! Weißt du, welcher Stift?«

Wieder nickte ich. »Den kenne ich, ja.« Das Ding war ihr ganzer Stolz und hatte leider die entsetzliche Angewohnheit, Glitzer an ihren Fingern zu hinterlassen. Feenstaub, wie sie meinte. Dummerweise verteilte dieser Feenstaub sich dann auch auf ihrem Tisch, ihren Haaren oder wahlweise in meiner Schultasche, wenn dort ein Test landete, den die Kleine ganz schrecklich unbedingt mit diesem Stift hatte schreiben müssen, weil sie mit einem anderen Stift die Antworten nicht wusste. »Davina ist sicher sehr traurig, dass der Stift weg ist. Habt ihr denn schon hinter den Büchern nachgesehen? Die meisten verschwundenen Sachen sind dort ja wieder aufgetaucht.«

Finola schüttelte den Kopf. »Nicht bei den Büchern. Er war oben bei der Rutsche!« Das verkündete sie mit einem Tonfall, der klarmachte, dass dieses desaströse Level wohl kaum noch zu überbieten war. »Und, Miss Harris? Ich hab noch was gesehen.« Jetzt senkte sie ihre Stimme, und ihre Miene verlor die Aufregung einer Siebenjährigen und legte eine Ernsthaftigkeit an den Tag, die mich viel zu sehr an ihre Mutter erinnerte.

»Was hast du denn noch gesehen?«

»Glitzer.« Mit einem kleinen Zeigefinger deutete sie zu den Schaukeln. »An Nicks Hose.«

Ach, Scheiße. Das war er dann wohl, der sachdienliche Hinweis, auf den ich auch gut und gern hätte verzichten können. »In Ordnung.« Erst, als ich das sagte, merkte ich, dass es wie ein resigniertes Seufzen klang. »Ich werde mit ihm reden, aber erst nach dem Unterricht und in Ruhe. Falls er den Stift versteckt hat, hat er es bestimmt nicht böse gemeint.«

»Aber das war ziemlich böse von ihm. Davina hat geweint!«

»Das hat er bestimmt nicht gewusst.« Hervorragend. Nun akzeptierte ich Nick schon als Verantwortlichen für das Ganze und nahm ihn gleichzeitig in Schutz. Na, kommt dir das bekannt vor, ... Leena? »Tust du mir einen Gefallen und tröstest Davina? Ich rede mit Nick. So hat jede von uns eine wichtige Aufgabe.«

Finola nickte. »Na gut.« Dabei seufzte sie mit einer Inbrunst, die deutlich machte, dass Trost wohl eher zu den lästigeren Bürden als Freundin gehörte.

Kurz sah ich ihr nach, bis sie ihre Mitschülerin erreicht hatte, die den schmerzlich vermissten Stift festhielt und noch immer ganz rote Wangen hatte. Ich beobachtete, wie sie dem Mädchen eine Hand auf die Schulter legte und dann genauso zu den Schaukeln deutete wie eben. Finola Calhouns Zeigefinger war einfach wie dafür gemacht, auf andere zu zeigen.

Beispielsweise auf einen siebenjährigen Jungen, der neben der Schaukel stand und seinen neuen Freund anfeuerte, noch höher zu schaukeln. Der nicht rumnörgelte, dass er selbst auch an der Reihe sein wollte, sondern jubelte, als Ben es wirklich noch ein klitzekleines Stück höher schaffte.

»Täter überführt?« Debbie stand wieder an meiner Seite und folgte meinem Blick.

»Mh.«

Meine Freundin stieß mich sachte mit der Schulter an und beugte sich zu mir. »Dann ist der kleine Findlay also wirklich der Quell all dieser desaströsen Taten. Das heißt übrigens schlimm. Falls du das nicht weißt ...«

»Ach, halt die Klappe.« Ich grinste und schüttelte den Kopf, während ich beobachtete, wie Ben seinen Schwung vorsichtig ausbremste und dann Nick den Platz auf der Schaukel anbot. Der schüttelte nur den Kopf und wich sogar einen Schritt zurück, um seinem Freund den Vorrang zu lassen.

»Was für ein Arschloch«, flüsterte Debbie neben mir. »Man sieht förmlich das Blut an seinen Händen kleben.«

»Glitzer«, berichtigte ich. »Ich fürchte, diesmal ist es Glitzer.«

Das Pfützen-Prinzip

Aileen

In der Regel genügt der allererste Blick, um zu wissen, ob man einen Übeltäter vor sich hat oder nicht. Seit ich die magischen Worte ausgesprochen hatte – »Nick, bleibst du bitte noch kurz hier?« –, saß der Junge wie erstarrt an seinem Platz – inmitten seiner Mitschüler, die aufgeregt um ihn herumwuselten und aus dem Klassenzimmer strömten.

Er war keines der Kinder, die sich nach dem ersten Schockmoment gelassen und cool gaben. So, wie Hamish es getan hätte. Dominic Findlay drückte seinen Rücken durch und starrte auf seine Hände, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Es wirkte, als wappnete er sich für ein Donnerwetter und nicht nur einen Tadel seiner Lehrerin. Während ich den übrigen Kindern ein schönes Wochenende wünschte und sehr gemächlich meine Tasche packte, schweifte mein Blick immer wieder zu dem kleinen, ängstlichen Delinquenten. Und ich fragte mich, wie zur Hölle meine Kollegen in Edinburgh solche Streiche geahndet hatten, dass die Aussicht auf einen Anschiss ihm so eine Angst machte.

»Miss Harris?« Ben stand vor meinem Schreibtisch und sah sorgenvoll zwischen seinem Sitznachbarn und mir hin und her. »Kriegt Nick jetzt doll Ärger?«

»Mal sehen«, sagte ich und bemerkte, wie Nick leicht den Kopf hob und vermutlich lauschte. »Das kann er dir ja Montag erzählen, hm?«

»Ich kann auch draußen auf ihn warten.« Seine Augen weiteten sich ein wenig, als wäre ihm genau damit der rettende Einfall gekommen. Mit seiner neuen Erkenntnis wandte er sich an Nick. »Soll ich draußen auf dich warten?«

Nick sah Ben kurz an, dann schüttelte er den Kopf mit der Endgültigkeit eines Mannes, der jeden Moment den Kuss einer Guillotine in seinem Nacken erwartete. Die Worte, die er dazu mehr nuschelte als sagte, wollten nicht so recht zu diesem Bild passen. »Mein Dad holt mich ab.«

Mein Magen machte einen unnötigen, aber dennoch spürbaren Hüpfer nach vorn. Fast wie damals, als ich in der Klasse gesessen und Hamishs Stimme schon gehört hatte, noch ehe er den Raum betrat und zielsicher sein Grinsen in meine Richtung warf. Damals war dieses Gefühl aufregend gewesen, neu und das Allergrößte.

Und dreizehn Jahre später? Nun, da war es lästig, albern und überflüssig. Aber davon ließ sich so ein hüpfender Magen nicht beeindrucken.

Ich wartete noch einen Moment, bis Ben auf den Flur hinausgetreten war, und schloss dann die Tür zum Klassenzimmer. Kurz überlegte ich, ob ich an meinem Tisch stehen bleiben sollte, aber nach den letzten Tagen schätzte ich Nick nicht als einen Schüler ein, der dieses kleine nonverbale Extra an Autorität brauchte. Also setzte ich mich stattdessen neben ihn auf Bens freien Platz. »Nick, ich will kurz mit dir über etwas reden. Weißt du vielleicht schon, worüber?«

Natürlich wusste er das. Die unübersehbar geweiteten Augen, als ich ihn gebeten hatte zu bleiben, waren Beweis genug. Doch der Junge zuckte mit den Schultern und schwieg. Vielleicht würde das Gespräch also doch nicht so schnell zum Ziel führen, wie ich mir das erhofft hatte.

»Du hast sicher mitbekommen, dass in den letzten Tagen immer wieder Sachen von den anderen Kindern verschwunden sind, oder?«

Diesmal nickte er und starrte dabei konsequent weiter auf seine Hände. Wusste er, wie verräterisch seine Mimik war?

»Davina war heute sehr traurig, als ihr Stift weg war. Sie hat sogar geweint, Nick.« Ich sah ihn an und glaubte zu erkennen, dass er nun die Luft anhielt. »Jemand hat mir erzählt, dass du Glitzer an deiner Hose hattest. Ich frage mich also, ob du vielleicht weißt, wie der Stift zur Rutsche gekommen ist.«

Wieder ein Schulterzucken. Und wenn ich nicht irrte, sah ich ein leichtes Zucken, mit dem Nicks Kinn sich bewegte.

»Wirklich keine Idee? Möglicherweise war es ja ein Gespenst, das die Klasse ein bisschen ärgern will, könnte das sein?«

Nicks Kopfschütteln war deutlicher als seine bisherigen Reaktionen. »Sir Boo ärgert keinen. Er ist immer in meiner Tasche. Er kann ja auch gar nichts anfassen, weil er ein durchsichtiges Gespenst ist.«

Genau genommen war Sir Boo ein Nachtlicht. Ich hatte bisher zweimal beobachtet, wie Nick es aus seiner Tasche holte, kurz anschaltete und wieder verstaute. Keine Ahnung, was genau das Gespenst ihm bedeutete, aber es schien ihm wichtig zu sein. Sein Anker. Kinder, die Veränderungen durchmachten, hatten oft einen solchen Ankerpunkt, der ihnen in der neuen Umgebung oder in der neuen Situation Halt gab. Das war meist ein Gegenstand – ein Spielzeug oder ein Bild. Vor zwei Jahren hatte ich ein Mädchen unterrichtet, das ein altes Opernglas mit sich herumgetragen hatte, nachdem ihre Grandma verstorben war.

Und für Nick war es eben dieser kleine, leuchtende Geist.

»Und könnte es sein, dass Sir Boo in deiner Tasche auf ein paar Sachen aufpasst, die dort gar nicht sein sollten?«

Keine Reaktion.

»Namensschilder vielleicht? Oder der Pinsel, den Marcus immer noch sucht?« Wobei dieser Junge immer irgendetwas suchte. Dafür brauchte es keine diebischen Mitschüler. »Wenn ich Sir Boo jetzt frage, was würde er mir wohl verraten?«

»Sir Boo ist keine Petze wie Finola.« Nicks Stimme klang belegt, als er das klarstellte. Das mit Finola hatte er also mitbekommen. Oder das Mädchen hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn selbst auf ihre Beobachtung hinzuweisen. Beides hielt ich für wahrscheinlich.

Ich neigte meinen Kopf etwas zur Seite und suchte Nicks Blick, doch der starrte weiter verbissen auf seine kleinen Fäuste. »Nick, sieh mich bitte an.«

Das tat er auch – mit bebender Unterlippe und glänzenden, blau-grauen Kulleraugen.

»Ich möchte nicht, dass du mich anlügst, okay?«

Er nickte und gab sich allergrößte Mühe, die Tränen wegzublinzeln. Ach Scheiße, ich wollte nicht, dass er heulte. Er sollte doch nur seine kleinen Missetaten zugeben und mir versprechen, damit aufzuhören. Und sich daran halten. Nichts weiter. Stattdessen sahen mich diese Augen durch einen Tränenschleier hindurch an, und ich fragte mich, ob mein Herz denselben kleinen Knacks spüren würde, wenn es andere Augen wären, die mich so anschauten.

»Nick, hast du die Sachen von den anderen versteckt?«

Auf meine Frage hin schafften Nicks Tränen den Weg auf seine Wangen und kullerten ungehindert über die gerötete Haut. Und er nickte.

»Verrätst du mir auch, warum du das gemacht hast?«

Statt einer Erklärung gab er mir eine Frage, mit der ich so nicht gerechnet hatte. »Rufst du jetzt die Polizei?«

»Die Polizei?«