Ressourcenorientierte Konzepte in der Altenhilfe - Susette Schumann - E-Book

Ressourcenorientierte Konzepte in der Altenhilfe E-Book

Susette Schumann

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Beschreibung

Das Buch befasst sich mit dem ressourcenorientierten Pflegekonzept der Aktivierend-therapeutischen Pflege, das geriatrische Patientinnen und Patienten bei ihrer Alltags- und Lebensgestaltung unterstützt. Als pflegerische Anforderung nimmt der ressourcenorientierte Pflegeprozess Interventionen in den Blick, die ältere Menschen in ihrer Selbstständigkeit und Selbstbestimmung fördern. Dabei werden unter anderem die Handlungsschwerpunkte Beziehungsgestaltung, Bewegung und Mobilität sowie Selbstpflege thematisiert sowie der Fokus auf Lernen als Basis der Aktivierend-therapeutischen Pflege gelegt. Arbeits- und Lernaufgaben unterstützen die Leser und Leserinnen bei ihrem Wissens- und Kompetenzerwerb. Der Band eignet sich besonders als ständige Begleitung für Weiterbildungsteilnehmende im geriatrischen Bereich und ist gut zur Prüfungsvorbereitung geeignet.

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Seitenzahl: 146

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Altenhilfe verstehen und umsetzen

 

Hrsg. von Susette Schumann

 

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/altenhilfe-verstehen+umsetzen

Die Autorinnen

Dr. Susette Schumann, Gesundheits- und Krankenpflegerin, Präsidentin der DGATP e. V.

Anja Schulz, Fachkraft für Geriatrie, pflegerische Bereichsleitung im Ev. Geriatriezentrum Berlin GmbH, Mitglied in der DGATP e. V.

Susette Schumann/Anja Schulz

Ressourcenorientierte Konzepte in der Altenhilfe

Ein Lern- und Arbeitsbuch für die Aktivierend-therapeutische Pflege

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-042206-3

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-042207-0

epub:     ISBN 978-3-17-042208-7

Vorwort

Das vorliegende Lern- und Arbeitsbuch richtet sich an Pflegende, die sich intensiv mit dem Konzept der Aktivierend-therapeutischen Pflege auseinandersetzen möchten. Motivation kann persönliches Interesse, Anregungen aus Fort- und Weiterbildungen oder die Vorbereitung zu einer Abschlussprüfung sein. Neben der Darlegung des neuesten Wissens rund um die Aktivierend-therapeutische Pflege finden sich auch Fragen zur Selbstreflexion, zur Erkundung, Möglichkeiten für die Dokumentation von Notizen und die Bearbeitung eines Aktivierend-therapeutischen Pflegeprozesses anhand eines Fallbeispiels aus der geriatrischen Praxis.

Fragen zur Erkundung und zur Selbstreflexion sollen zum Selbststudium anregen und neugierig machen. Die im Buch dargestellten Inhalte lassen sich in der pflegerischen Praxis finden und umsetzen.

In jedem Kapitel oder bei den praktischen Übungen zur Umsetzung des Aktivierend-therapeutischen Pflegeprozesses findet sich Raum für eigene Notizen. Eigene Ideen, Anmerkungen und Fragen lassen sich kontinuierlich dokumentieren und ergänzen den Lernprozess mit Unterstützung dieses Buches.

Das Konzept der Aktivierend-therapeutischen Pflege erlangt immer mehr Bedeutung in pflegerischen Bereichen, in denen Rehabilitationsangebote gemacht werden. Insbesondere in der geriatrischen und neurologischen Frührehabilitation wird die intensive Auseinandersetzung mit der Aktivierend-therapeutischen Pflege erkannt, denn hier ist das Pflegekonzept verpflichtend anzuwenden. Näheres regeln in beiden Bereichen die Vorgaben zur Abrechnung einer Fallpauschale als Vergütung für eine sehr komplexe und aufwändige Krankenhausbehandlung.

Die Aktivierend-therapeutische Pflege richtet sich an ältere Menschen, pflegebedürftige Personen oder neurologische Patient*innen.1 Das vorliegende Lern- und Arbeitsbuch nimmt die Besonderheiten der Zielgruppe ebenfalls auf, haben sie doch großen Einfluss auf die Gestaltung des Aktivierend-therapeutischen Pflegeprozesses.

Die beiden Autorinnen dieses Buches wünschen eine angenehme Lektüre, ein anregendes Selbststudium und viele neue Erkenntnisse rund um die Aktivierend-therapeutische Pflege.

Susette Schumann und Anja Schulz  Berlin, Florstadt im September 2023

Piktogramme

   Erkundungsaufgabe(n)

  Frage(n) zur Selbstreflexion

 Definition

  Merke

  Empfehlung

 Fallbeispiel

1     In diesem Werk wird hinsichtlich der Pluralformen der »Gender-Stern« oder die neutrale Form genutzt, um alle Geschlechter anzusprechen. Wenn bei bestimmten Begriffen, die sich auf Personengruppen beziehen, nur die männliche Form gewählt wurde, so ist dies nicht geschlechtsspezifisch gemeint, sondern geschah ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit.

Inhalt

Vorwort

1         Das Alter und alte Menschen

2         Das Alter aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie

2.1        Das Altersbild des produktiven Alterns

2.2        Ressourcen und Kompetenzen im Alter

2.2.1    Die individuellen Ressourcen von älteren Menschen

2.2.2    Ressourcen als Basis für Alltagskompetenzen

2.3        Ein differenziertes Altersbild im bio-psycho-sozialen Modell

3         Das Prinzip lebenslanges Lernen: Rehabilitation als ein Lernangebot

4         Besonderheiten der Lebensspanne Alter

5         Die Lebenssituation im Alter

6         Der ressourcenorientierte Pflegeprozess

6.1        Einführung in die Grundlagen der Rehabilitation und Frührehabilitation

6.2        Grundlagen der (Früh-)Rehabilitation

6.3        Der person-orientierte Ansatz in der Rehabilitation

6.3.1    Die fördernde Prozesspflege

6.3.2    Aktivierend-therapeutische Pflege

6.3.3    Die praktische Umsetzung des Aktivierendtherapeutischen Pflegekonzepts

6.3.4    Ein Fallbeispiel: Frau B. – die Gestaltung eines Aktivierend-therapeutischen Pflegeprozesses

7         Handlungsschwerpunkt Beziehungsgestaltung als Ausdruck von Personorientierung

7.1        Wahrnehmung, Interaktion und Beziehung

8         Grundzüge einer gemeinsamen Entscheidungsfindung und Ermittlung des mutmaßlichen Willens bei Menschen mit einer Demenz

8.1        Die Ermittlung des mutmaßlichen Willens

9         Bewältigungsstrategien älterer Menschen

9.1        Der Stellenwert von Beziehungsgestaltung in der Aktivierend-therapeutischen Pflege

9.2        Die Ermutigung älterer Menschen zu Kommunikation mit den Pflegenden

10       Handlungsschwerpunkt Bewegung und Mobilität

10.1     Ermüdung, Erschöpfung und Immobilität

10.2     Förderung der Mobilität: Bewegungskonzepte und Grundprinzipien des Empowerments

10.3     Eine Störung der Mobilität: ein erhöhtes Risiko zum Stürzen

11       Der Handlungsschwerpunkt Selbstpflege

11.1     Aktivierend-therapeutische Körperpflege und Kleiden

11.2     Essen und Trinken

11.2.1  Förderung der Mundgesundheit

11.2.2  Schluckstörungen

11.3     Ausscheiden

12      Gemeinsame Festlegung des Bedürfnisses und des Bedarfes von Teilhabe

13      Teilhabe aus der Perspektive der älteren Menschen

14      Lernen im Alter als Basis für die Aktivierend-therapeutische Pflege

14.1     Lernstrategien im Alter

15      Teilhabe im Rahmen der Aktivierend-therapeutischen Pflege

Literatur

Stichwortverzeichnis

1       Das Alter und alte Menschen

Gerontolog*innen, Geriater*innen und Pflegewissenschaftler*innen erforschen diese sehr lange und abwechslungsreiche Lebensspanne. Die Komplexität der Lebensspanne Alter führt zu vielfältigen Forschungsfragen, die von verschiedenen Forschungsdisziplinen beantwortet werden wollen. In der Folge führt die Komplexität des Themas dazu, dass sich auch Lehrende und Lernende ebenfalls mit den unterschiedlichen Forschungsperspektiven beschäftigen sollten.

Von besonderem Interesse ist die Lebensspanne Alter, da die demografische Entwicklung der Bevölkerung zu immer mehr alten Menschen führen wird. Schon jetzt sind von den ca. 80 Millionen Bundesbürger*innen ungefähr 20 % über 67 Jahre und älter. Schätzungen des Bundesamtes für Statistik gehen davon aus, dass sich diese Verteilung bis zum Jahr 2070 fortsetzen wird und ca. 22 % der Menschen über 67 Jahre alt sein werden (vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022a). Gründe für die Zunahme alter Menschen in der Bevölkerung sind die Möglichkeiten der modernen Medizin, die zu einer immer weiter steigenden Lebenserwartung und einer längeren Phase eines aktiven Alters bei guter Gesundheit führen. Aufgrund des Wohlstands in der Bundesrepublik Deutschland ist es nahezu allen Menschen möglich, sich gesund und ausreichend zu ernähren, sich zu kleiden sowie sich sinnvoll in Beruf und Freizeit zu beschäftigen. Bedrohungen ihrer körperlichen Unversehrtheit sind nur im Ausnahmefall zu erwarten, was ein sicheres Leben ermöglicht. Nicht zuletzt ein komplexes Gesundheitssystem mit dem Angebot von Kranken- und Pflegeversicherung bietet Sicherheit auch in gesundheitlichen Problem- oder krankheitsbedingten Krisensituationen.

Fragen zur Selbstreflexion

•  Wie alt sind Ihre Patient*innen im Durchschnitt?

•  Wie alt war Ihre jüngste Patientin/Ihr jüngster Patient?

•  Wie alt war Ihre älteste Patientin/Ihr ältester Patient in der geriatrischen Frührehabilitation?

Alte Menschen treten im täglichen Leben als Familienmitglieder, als Bürger*innen, als Konsument*innen, als geriatrische Patient*innen oder als pflegebedürftige Personen auf. Sie nehmen bis ins hohe Alter verschiedene Rollen in ihrer Familie, aber auch in der Gesellschaft wahr. Als Familienmitglieder kümmern sie sich um ihre Kinder und Enkel, auch wenn sie mit zunehmendem Alter und Einschränkungen immer weniger Aktivitäten gestalten können. Anstelle von gemeinsamen Aktivitäten tritt dann oft eine finanzielle Unterstützung, selbst wenn es ihnen schwerfällt, kleinere Summen ihres Einkommens an die Enkel abzutreten. Als Bürger*innen engagieren sie sich in Ehrenämtern, nehmen an Wahlen teil und möchten ihre Wohn- und Lebensumgebung mitgestalten. Als Konsument*innen sind sie von besonderem Interesse für zahlreiche Branchen, da alte Menschen in der Regel über stabile Einkommen als Rente oder Pension verfügen, die sie für Verbrauchsgüter oder Freizeitaktivitäten ausgeben können und wollen.

Einige ältere Menschen erleben gesundheitliche Krisen, weil chronische und akute Erkrankungen zu Einschränkungen in der Alltags- und Freizeitgestaltung führen. Deshalb müssen sie häufig Einrichtungen des Gesundheitswesens aufsuchen. Nicht selten münden diese Probleme in Pflegebedürftigkeit. Von den ca. 5 Millionen pflegebedürftigen Personen leben laut Pflegestatistik 793.461 Personen in einer stationären Pflegeeinrichtung, also 16 %. Allerdings leben 84 % der pflegebedürftigen Personen zu Hause und werden dort von ihren Angehörigen allein oder gemeinsam mit ambulanten Pflegediensten betreut (vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022b). Die Erfahrungen in der Arbeit mit älteren Menschen zeigen allerdings, dass sie sich sehr selten und frühzeitig mit dem Risiko einer Pflegebedürftigkeit auseinandersetzen. Das führt meist zu einem akuten Auftreten von Pflegebedürftigkeit, die nur unter Zeitdruck, mit wenigen Entscheidungsalternativen und unter persönlichem Druck bewältigt werden kann. Die drohende Pflegebedürftigkeit ist aus ihrer Sicht eher das Risiko von anderen. Das eigene Risiko wird aus verständlichen Gründen unterbewertet, denn Pflegebedürftigkeit ist keine Lebenssituation, die anzustreben ist. Sie ist von persönlicher Abhängigkeit und dem Angewiesen Sein auf personelle Hilfestellung geprägt und das ist unvereinbar mit den eigenen Vorstellungen eines guten Lebens im Alter.

Eine Frage zur Selbstreflexion

Welche Fragestellungen beschäftigen geriatrische Patient*innen, wenn sie sich bewusst werden, pflegebedürftig zu bleiben?

2       Das Alter aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie

Die Lebensspanne Alter kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Eine wichtige ist die der Entwicklungspsychologie. Sie befasst sich mit der Entwicklung des Menschen vom Kind bis zum alten Menschen. In jeder Lebensspanne muss der Mensch Lern- und Entwicklungsschritte bewältigen, die zur Kompetenz und Erhaltung beitragen.

Die Lebensspanne Alter kann vom 65. bis zum 95. Lebensjahr reichen und ist damit die längste im menschlichen Leben. In der Literatur wird zwischen dem dritten und vierten Lebensalter unterschieden. Das dritte Lebensalter umfasst die Lebensjahre 65 bis 80 Jahre. Mit dem 80. Lebensjahr beginnt das vierte Lebensalter, auch als Hochaltrigkeit bezeichnet (vgl. Wurm et al., 2010). Folglich können in einer langen bis sehr langen Lebensspanne zahlreiche Entwicklungsmuster und -phänomene im Umgang mit neuen Lebensanforderungen gefunden werden (vgl. Brandtstädter, 2007). Neue Lebensanforderungen im Alter umfassen den Umgang mit gesundheitlichen Einschränkungen, mit Krankheiten, mit Pflegebedürftigkeit, aber auch mit dem Verlust von nahestehenden Menschen. Das Leben in Abhängigkeit von anderen Menschen oder in Einsamkeit erfordert eine angepasste Zukunftsplanung, die von Angst vor der Zukunft beeinflusst werden kann.

2.1       Das Altersbild des produktiven Alterns

Trotz sämtlicher negativer Einflüsse auf das Leben älterer Menschen sind sie in der Lage, ihre eigenständige Produktivität zu erhalten. Viele von ihnen möchten »produktiv« im Sinne von unabhängig bleiben, um anderen Menschen nicht zur Last zu fallen. Dies spiegelt sich auch in einem Altersbild wider.

Bei Altersbildern handelt es sich um Beschreibungen des Verhaltens und der Meinung über »typische« alte Menschen. Ihre Bedeutung ist im Alltag älterer Menschen nicht zu unterschätzen, denn sie sind unbewusst in den Köpfen von Mitarbeiter*innen oder Familienmitgliedern präsent und beeinflussen ihre Entscheidungen und ihr Handeln. Sie trauen älteren Menschen nicht mehr so viel zu und neigen deshalb zur Übernahme vieler Aktivitäten. Die unreflektierte Übernahme von Alltagsaktivitäten, auch wenn sie gut gemeint sind, verhindert Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, da die älteren Menschen keine Gelegenheit dazu bekommen (BMFSFJ, 2010). Nicht alle älteren Menschen bringen dann die Kraft auf, sich ihre Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten zu erhalten oder zu erkämpfen.

Die fehlende Reflexion des eigenen Altersbilds anderer Menschen, z. B. die defizitorientierte Sicht auf das Altern, kann zur Beschneidung von vorhandenen Ressourcen und Alltagskompetenzen führen, in deren Folge ältere Menschen nicht befähigt und ermächtigt werden, sondern sich eingeengt und fremdbestimmt fühlen. So ist eine sehr große Fürsorge von Familienmitgliedern eine Ursache dafür, dass sie viele Alltagstätigkeiten für die alten Menschen übernehmen, anstatt es ihnen zu überlassen, es selbst zu tun. Auch die Angst der Pflegenden, dass ein alter Mensch zu Schaden kommen könnte und sie selbst dafür die Verantwortung tragen, führt sehr schnell zur Übernahme von Alltagstätigkeiten durch Pflegende, z. B. sich bewegen bei einer vorliegenden Sturzgefahr.

Im Krankenhausalltag macht sich ein defizitorientiertes Altersbild bereits an der Wortwahl von Pflegenden bemerkbar. Die unreflektierte Nutzung des Begriffes »Pflegefall«, »dement«, »kommt aus dem Heim« durch Pflegende birgt die Gefahr, in der Selbst- und Fremdwahrnehmung mit dem Verlust der individuellen Persönlichkeit und der Autonomie verbunden zu werden. Auch auf Unterstützung und Pflege angewiesene Menschen haben das Recht, sich nicht nur über ihre Behinderung, Erkrankung, ihren Lebensort, Pflegeaufwand und ihren Unterstützungsbedarf definieren zu lassen. In Pflegeeinrichtungen werden ältere Menschen deshalb bewusst als Bewohner*innen und als Kurzzeitpflegegäste bezeichnet, um ihre Person ins Zentrum zu stellen und nicht ihre Abhängigkeit von personeller Hilfe (vgl. BMFSFJ, 2010).

Fragen zur Selbstreflexion

•  Fällt es Ihnen schwer, bei alten Menschen ihre Ressourcen und Kompetenzen zu sehen?

•  Was verstehen Sie unter dem Begriff der Ressource?

•  Was verstehen Sie unter dem Begriff der Alltagskompetenz?

Die Befähigung und Ermächtigung alter Menschen und damit ihre Produktivität hängt davon ab, ob die vorliegenden Ressourcen und Alltagskompetenzen differenziert in der Pflege ermittelt werden. So kommt es häufig vor, dass chronisch kranke oder pflegebedürftige Menschen lediglich in defizitbestimmten Kategorien wahrgenommen werden, obwohl sie bei der Bewältigung ihrer Pflegebedürftigkeit seelische und geistige Stärke zeigen und deshalb Vorbild für andere Menschen sein könnten. Trotz ihrer Pflegebedürftigkeit können sie konfliktbereit, durchsetzungsfähig und konsequent sein. Sie vertreten ihre eigenen Anliegen und möchten damit ihrem Bedürfnis nach einem selbstgesteuerten Leben Nachdruck verleihen. Dafür werden sie oftmals als »starrsinnig« bezeichnet, obwohl es sich um eine berechtige hartnäckige Zielverfolgung handelt, welche alternativlos ist, da es sich um eine Bewältigungsstrategie handelt. Sie bringen dadurch die eigene Stärke auf, ihre Pflegebedürftigkeit in ihr Leben zu integrieren, um sie akzeptieren zu können (vgl. Halisch & Geppert, 2000) und um ihre Lebensvorstellungen gegen andere Menschen zu behaupten.

Nicht selten unterschätzen alte Menschen selbst ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, weil sie das ihnen zugedachte defizitorientierte Altersbild übernehmen. Sie schildern folglich ihre Ressourcen und vorhandenen Alltagskompetenzen nicht (vgl. BMFSFJ, 2010) und nehmen sich keine neuen Ziele vor.

2.2       Ressourcen und Kompetenzen im Alter

Sowohl der Begriff der Ressource als auch der der Kompetenz findet Berücksichtigung in unserem alltäglichen Sprachgebrauch und wird dort oftmals synonym verwendet. Im fachlichen Kontext werden Ressourcen und Kompetenzen getrennt voneinander verwendet.

Die vorliegenden Ressourcen eines alten Menschen bilden die Grundlage für die Bewältigung von Alltagskompetenzen, z. B. der Mobilität und der Selbstversorgung. In der Regel bedarf es zur selbstständigen Ausführung einer Alltagskapazität ein ganzes Bündel von Ressourcen, z. B. Fein- und Grobmotorik, Motivation etc. (vgl. Schumann, 2020).

2.2.1      Die individuellen Ressourcen von älteren Menschen

Es gibt insgesamt fünf verschiedene Gruppen von individuellen Ressourcen: die körperlichen, die psychischen, die emotionalen, die kognitiven und sozialen Ressourcen (Abb. 1). Das Zusammenspiel von allen vorhandenen Ressourcen hat stets eine positive Auswirkung für den Betroffenen. Sollte eine Ressource nicht vorhanden sein, kann diese nicht durch eine andere kompensiert werden und es ergibt sich dann daraus resultierend eine Negativentwicklung für den Betroffenen.

Unter körperlichenRessourcen sind die funktionalen Fertigkeiten zu verstehen. Sie bilden die Basis für die Erhaltung einer funktionalen Selbstkontrolle, z. B. der alte Mensch kann seine Extremitäten umfänglich nutzen und gehen, weil die Fein- und Grobmotorik oder die Rumpfstabilität intakt sind und genügend Kraft, Ausdauer und Koordination aufgebracht werden kann. Die Selbstkontrolle von körperlicher Bewegung ermöglicht eine weitgehend unabhängige Alltags- und Freizeitgestaltung (vgl. Schumann, 2020).

Abb. 1:    Übersicht über die verschiedenen Arten von individuellen Ressourcen (Schumann, 2020, S. 29)

Empfehlung

Die vorhandenen Ressourcen können am besten im Dialog mit den älteren Menschen herausgefunden werden. Eine ressourcenorientierte Leitfrage könnte sein: Was können Sie gut allein ausführen? Was funktioniert gut in Ihrem Alltag?

Bei den psychischenRessourcen handelt es sich um die seelische Verfassung, z. B. die Fähigkeit zur eigenen Vergebung oder bei anderen Menschen und eine Handlungsorientierung für die Umsetzung von angestrebten Zielsetzungen.

Psychische Ressourcen können eine Belastung wie das Angewiesen Sein auf die Hilfe anderer Menschen abmildern oder den Mut wachsen lassen, sich an neuen Herausforderungen des Alltags auszuprobieren und auf den gewünschten Erfolg zu hoffen (vgl. Schumann, 2020).

Empfehlung

Eine Leitfrage könnte lauten: Welchen Situationen sehen Sie optimistisch entgegen? So kann herausgefunden werden, inwieweit ältere Menschen von erfolgversprechenden eigenen Zielsetzungen berichten.

Die Leitfrage zur Einschätzung der persönlichen Bereitschaft zur Vergebung könnte lauten: Fällt es Ihnen leicht, eigene Fehler zu verzeihen? (vgl. Schumann, 2020).

Die emotionalenRessourcen umfassen den gefühlsmäßigen und affektiven Umgang mit persönlichen Missgeschicken oder Verlusten, wie z. B. einer Erkrankung oder eines kritischen Lebensereignisses, z. B. eines Sturzes. An die emotionale Ausnahmesituation und Verunsicherung schließen sich unterschiedliche Verhaltensstrategien an, die sich als ein aktives oder passives Verhalten der alten Menschen äußern. Dahinter steht eine affektbezogene Bewältigungsstrategie, Erlebnissen mit offen gezeigter Angst, Trauer, Wut, dem Bedürfnis nach häufigem Erzählen oder mit sozialem Rückzug zu begegnen. Sie führen bestenfalls dazu, die emotionale Selbstkontrolle durch die nötige emotionale Stärke zur Gestaltung des Alltags wieder zu erlangen.

Emotionale Ressourcen setzen Motivation und Ausdauer frei, mit körperlichen oder sozialen Verlusten umzugehen oder Strategien zu entwickeln, diese zu kompensieren. Diese Kompensation gelingt gut, wenn alte Menschen nach ihrem persönlichen Ziel gefragt werden (vgl. Schumann, 2020).

Empfehlung

Für die Einschätzung der aktuellen emotionalen Befindlichkeit kann die folgende Leitfrage gestellt werden: Was bewegt Sie zurzeit? Sie zielt darauf ab, die inneren belastenden emotionalen Vorgänge oder die persönliche Erlebniswelt im Ansatz zu erfahren, um abzuschätzen, welche positiven oder negativen Auswirkungen diese auf die Wiedererlangung von Ressourcen oder Kompetenzen haben können. Auch folgende Leitfrage eignet sich: Was möchten Sie in den nächsten Wochen im Krankenhaus oder in der Rehabilitation erreichen? Was können wir für Sie tun?

Unter kognitivenRessourcen werden Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Konzentration verstanden. Sie sind nötig, um Sachverhalte zu verstehen, um sich mit ihnen gedanklich zu beschäftigen und um sie sich zu merken. Alle kognitiven Ressourcen bilden erstens die Grundlage für die Fähigkeit, sich auf der Basis aktueller Information zu entscheiden und um mögliche Konsequenzen in Erwägung zu ziehen.

Kognitive Ressourcen bilden zweitens die Grundlage für das Lernen, das auch bei älteren Menschen von Bedeutung ist. Die lernende Aneignung neuer Problemlösungen, z. B. Techniken oder die Nutzung von Hilfsmitteln im Haushalt, sind immer auch mit Lernen verbunden.