Restlicht und Widerschein - Günther M. Bach - E-Book

Restlicht und Widerschein E-Book

Günther M. Bach

0,0

Beschreibung

Neues von Autor, Lyriker und Künstler Günther M. Bach. Mit "Restlicht und Widerschein" legt der Ostberliner ein neues Werk mit autobiographischem Touch vor. Es wird erzählt von einem illusionslosen Architekten namens Eckner, der in zwei Epochen deutscher Geschichte keine Zukunft fand und nachdenklich in den ihn umgebenden verbliebenen Zeugnissen seiner Vergangenheit gräbt; von seinem jüngeren Bruder, bei dem er die Zeichen eines verloren gegangenen Vertrauens wiederfindet; von einem Neffen, der in einem kleinen Dorf in Mecklenburg zielsicher seine ideale Lebensform verwirklicht hat; von einer guten Freundin, die ein Krebsleiden zum Anlass für ein bewusstes Leben nimmt, und von einer verloren geglaubten Jugendliebe, die nach vergeudeten Jahren zurückkehrt und eine alte Schuld vergibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 227

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ORIGINALAUSGABE

© 2022 Hirnkost KG · Lahnstraße 25 · 12055 Berlin

[email protected] · http://www.hirnkost.de

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage Juni 2022

VERTRIEB FÜR DEN BUCHHANDEL:

Runge Verlagsauslieferung · [email protected]

PRIVATKUNDEN UND MAILORDER:

https://shop.hirnkost.de

LAYOUT:

Typografie · im · Kontext

ISBN:

PRINT: 978-3-949452-55-0

PDF: 978-3-949452-57-4

EPUB: 978-3-949452-56-7

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

UNSERE BÜCHER KANN MAN AUCH ABONNIEREN:

https://shop.hirnkost.de

Hirnkost versteht sich als engagierter Verlag für engagierte Literatur. Wir drucken nicht nur

Mehr Infos: https://www.hirnkost.de/der-engagierte-verlag/

GÜNTHER M. BACH

RESTLICHT UND WIDERSCHEIN

Episoden eines fehlerhaften Lebens

Roman

INHALT

DER AUTOR

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

DER AUTOR

Günther Bach, 1935 in Stendal geboren, von Beruf Architekt und Designer, schreibt Prosa und Lyrik. Vier Romane erschienen seit 2000 beim Verlag Angelika Hörnig weitere Veröffentlichungen umfassen die Sammlung früher Gedichte Toter Briefkasten 2007, danach 2010 der Gedichtband Wirrwahr und 2014 das Artbook Lese-Zeichen beim Tobusch Verlag für Kunst und Medien. Bei Hirnkost erschienen zuletzt Gedichte von ihm in der Sammlung Ihre Papiere bitte! (2020).

1

Möglicherweise wurde es wirklich Zeit.

Gute Freunde, hatte sie gemeint, müssten einander die Wahrheit sagen. Und mit genau dieser Begründung hatte ihm die gute Freundin kürzlich erklärt, er solle sich langsam Gedanken darum machen, das Geld für seine Beerdigung zu sparen, statt ständig zu klagen, dass er schon seit Jahren keine Reisen mehr machen könne. Es sei verantwortungslos von ihm, möglicherweise seinen Bruder für die Kosten seiner Bestattung aufkommen zu lassen.

Das zu hören war ihm unangenehm gewesen und schien schon deshalb aufrichtig gemeint, aber nach einigem Nachdenken musste er ihr Recht geben. Auch wenn er zurzeit keine nennenswerten Beschwerden hatte, konnte es ihn in seinem Alter jeden Tag erwischen. Es war still geworden um ihn herum; nur selten rief ihn noch jemand an, dessen Stimme er am Telefon wiedererkannte. Auch die Zahl der Teilnehmer an den alle zwei Jahre stattfindenden Klassentreffen hatte sich merklich verringert.

An Sterben hatte er gelegentlich gedacht; nicht oft, eigentlich nur, wenn wieder einmal Nachricht kam über einen, der nicht mehr da war. Es waren dann meist die Umstände des Todes, die ihn interessierten, die eigene Erleichterung, wenn er von einem leichten Sterben hörte. Natürlich war es das, was er selbst, was wohl alle sich wünschten: ein schnelles und schmerzloses Ende. Aber immer war es weit weg geschehen; selbst den Tod der Eltern hatte er nicht selbst erleben müssen, nur am geschlossenen Sarg getrauert. Hatte er jemals einem Toten ins Gesicht geschaut? Er konnte sich nicht erinnern.

Die Musiksendung im Deutschlandfunk wurde für die Nachrichten unterbrochen. Eckner drehte den Regler auf und hörte den Sprecher berichten, dass bereits gestern wieder mehr als fünftausend Flüchtlinge vor der libyschen Küste von überfüllten Schlauchbooten gerettet worden seien, nachdem ihre SOS-Signale aufgefangen wurden. SOS – save our souls? Die Seelen zu retten war wohl eher eine jenseitige Aufgabe; hier wollten lebende Menschen aus einer Seenot gerettet werden, in die zu geraten sie vorher einen Haufen Geld bezahlt hatten. Vielleicht war Ertrinken angenehmer als Verhungern. Aber niemand sollte dafür bezahlen müssen. Er schaltete das Radio aus.

Sterben schien eine aktuelle Erscheinung zu sein.

Das eigentlich erschreckende Ergebnis seiner Überlegungen aber war die Erkenntnis, dass er, was sein eigenes Ende betraf, nie über den Zeitpunkt seines eigenen, möglichst friedlichen Abgangs hinausgedacht hatte. An das, was danach kam. Er wurde sich bewusst, dass es dabei wohl weniger um Gefühle von Trauer und Verlust bei den Hinterbliebenen ging – die Zahl derer, die sich gern an ihn erinnerten, würde sich wohl in überschaubaren Grenzen halten –, sondern eher um die Last der Entsorgung seiner selbst wie auch seiner Hinterlassenschaften. Das Erbe. Das, was von ihm blieb, wenn er selbst nicht mehr da war. Eckner sah sich in seinem Wohnzimmer um. Würde es sich überhaupt lohnen, ihn zu beerben?

Die Katze mauzte, es war Zeit für ihr abendliches Futter.

Er wusch den Napf aus, füllte ihn mit dem fein pürierten Gemisch aus Kalb und Geflügel, das sie zurzeit bevorzugte und wechselte auch das Wasser in der Keramikschale im Flur. Mit siebzehn Jahren war sie, umgerechnet nach „Katzenjahren“, so alt wie er selbst, und genau wie er hatte sie manchmal Schmerzen im rechten Hüftgelenk. Wenn sie zu ihm auf den Schoß wollte, um sich hinter den Ohren kraulen zu lassen, benutzte sie seit einiger Zeit gern die Fußbank als Zwischenstation. Früher war sie aus dem Stand auf den Tisch gesprungen. Es war kein Spaß, alt zu werden, dachte Eckner. Auch nicht für Katzen.

Bei näherer Betrachtung ergaben sich zwei miteinander zusammenhängende, wenn auch getrennt zu lösende Vorgänge: die unmittelbaren Umstände seines Sterbens und der Bestattung und danach die Regelung dessen, was seine Hinterlassenschaft betraf. Möglicherweise würde sie mehr Ärger als Freude verursachen. Er würde darüber nachdenken müssen.

Eckner hatte im Internet recherchiert, mit seinem „guten alten vierteiligen Dampfcomputer“, wie er gerne sagte, nachdem er sich nach einigem Überlegen grundsätzlich für eine Kremierung anstelle der Erdbestattung entschieden hatte.

Er hatte sich dabei an die Zeit seiner ersten Anstellung als Absolvent der Technischen Universität erinnert; es war ein Projektierungsbüro der Deutschen Post gewesen, zu Zeiten der DDR, ein eher seltsamer Start für einen jungen Architekten im Anschluss an ein relativ lockeres Studentenleben. Alle Angestellten des „Amtes“ wurden nach Rängen eingestuft und erhielten bei ihren Beförderungen sogenannte Attestierungsurkunden mit klangvollen Titeln. Er war lange genug dortgeblieben, um nacheinander Inspektor, Oberinspektor und schließlich Amtmann zu werden. Die Urkunden hatte er im Klo seiner „zu Wohnzwecken freigegebenen Ladenwohnung“ im Prenzlauer Berg mit Reißzwecken an die Wand gepinnt, sehr zum Vergnügen einiger Kollegen, die ihn gelegentlich zu Hause besuchten.

Es war einer dieser Kollegen, Walter mit Namen, der ihm von seiner Besichtigung eines Krematoriums erzählt hatte, das er im Auftrag eines Architekturbüros besucht hatte. Eckner fand keinen Gefallen an der ausführlichen und detaillierten Beschreibung des Verbrennungsvorgangs, die Walter zum Besten gab, und war bemüht gewesen, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Aber die Vorstellung des langsamen Zerfalls seiner Leiche im Sarg war ihm noch unangenehmer erschienen und letztlich würde die Bestattung einer Urne vermutlich weniger kosten.

Die Recherche im Internet zeigte ihm denn auch eine relativ große Spanne möglicher Bestattungskosten und er war erstaunt, wer alles an seinem Tod verdienen würde. Das schöne Sprichwort, dass allein der Tod umsonst sei, musste wohl auf eine andere Zeit bezogen sein. Immerhin wurde ihm klar, dass er seinem jüngeren Bruder, an dem das alles wohl hängenbleiben würde, eine Menge Arbeit ersparen konnte, wenn er so viel wie möglich vorher regelte und eindeutig als seinen Willen erkennen ließ. Er würde ein ordentliches und ausführliches Testament aufsetzen müssen. Das war er ihm wohl schuldig.

Das Telefon klingelte.

Eckner ließ es viermal läuten, hob ab und sagte in scharfem Ton:

„Ja, bitte?“

Im Hintergrund hörte er verschiedene halblaute Stimmen in einem großen Raum. Eine Stimme mit slawischer Aussprache sagte:

„Spreche ich mit Herrn Eckner?“

„Nein“, sagte Eckner und legte auf.

Ein Testament also. Der Ordnung halber. Aber jetzt würde er erst einmal spazieren gehen. Die Sonne stand schon tief, er würde unterwegs der Amsel zuhören und auf dem Rückweg ein paar notwendige Einkäufe machen. Die Katze schlief zusammengerollt auf seinem Bett.

2

Sein Bruder war jemand, auf den man sich verlassen konnte. Erst nach der Scheidung hatte er ihn wiedergesehen, viel zu spät. Eckner hatte eine Weile überlegen müssen, bis ihm der Name der Straße wieder eingefallen war, in der er wohnte, und hatte danach auch Mühe, in der langgestreckten Zeile der Reihenhäuser das richtige zu finden. Aber schließlich stand er doch vor der Tür mit dem alten Messingschild, auf dem der Name stand, der auch der seine war, und das schon vor langer Zeit und in einer anderen Stadt den seiner Eltern an der Wohnungstür angezeigt hatte.

Es schien ihm, als sei er erwartet worden, denn unmittelbar nach dem Klingeln summte der Türöffner und er sah seinen Bruder, der ihm im Treppenhaus entgegenkam. Der erste Blick zeigte ihn wenig verändert; die freundliche Ruhe, die von ihm ausging, hatte etwas Vertrautes.

„Hallo“, sagte Eckner und gab ihm die Hand. „Ich glaube, es ist eine Weile her, seit ich zum letzten Mal hier war.“

„Elf Jahre, wenn du es genau wissen willst“, sagte sein Bruder.

Aber das Lächeln war herzlich und kein Vorwurf in seiner Stimme. Durch die offene Tür trat er in das kleine Zimmer, in dem damals sein Neffe gewohnt hatte. In der Ecke neben der Tür sah er hinter einer Glasscheibe das langsame Pendel einer mannshohen Standuhr schwingen, vor – zurück, vor – zurück. Es schien eine Pause in dem Wechsel zu sein, ein Stillstand, bevor es zurückschwang.

Sein Bruder stellte zwei Weingläser auf den Tisch, und auch an die konnte Eckner sich erinnern. Im Haus ihrer Eltern hatten sie in einem dunkel gebeizten Buffet hinter Glasscheiben gestanden, schweres Bleikristall mit tiefem Schliff.

„Trinkst du immer noch den Grünen Veltliner?“, wollte Eckner wissen.

„Daran kannst du dich erinnern?“, fragte sein Bruder zurück.

Er hob sein Glas.

„Schön, dass du da bist. Auf deine Gesundheit.“

Sie stießen an, und das Klingen der Kelche schwang durch den Raum. Wie still es hier ist, dachte Eckner. Er sah sich um.

An der Wand gegenüber hing eine Gruppe von Fotos; schwarz-weiß die meisten, postkartengroß bis auf zwei, die größer waren. Eckner stand auf und trat näher heran.

Als Erstes fiel ihm das Bild ihrer Eltern ins Auge. Ernsthaft und doch freundlich der Blick in die Kamera, die Mutter mit unmerklich geneigtem Kopf in Richtung des Vaters. Gegenseitiges Vertrauen, ein Leben lang. Gab es das noch?

Das Foto der Marienkirche in ihrer Heimatstadt, aufgenommen aus dem Wohnzimmer der Eltern. Daneben sein Neffe Michael, der Musikant, der mehr als dreißig verschiedene Instrumente spielte, hier mit einem Krummhorn und in mittelalterlicher Gewandung. Auch ihn hatte er schon lange nicht mehr gesehen. War es das wert gewesen?

Dann fiel ihm eine Aufnahme ins Auge, auf der das Segel einer kleinen Jolle ein weißes Dreieck vor einen dunklen Kiefernwald zeichnete. Sein Bruder war neben ihn getreten.

„Das war, als du zum letzten Mal mit uns zusammen gezeltet hast“, sagte seine ruhige Stimme. „Ich musste mir dann einen anderen Vorschotmann suchen.“

Es war das Jahr, in dem Eckner geheiratet hatte. Das Jahr, von dem an alles anders geworden war, in dem er begonnen hatte, Wesentliches zu verlieren, ohne es zu bemerken, oder doch meinte, etwas von Wert dagegen einzutauschen.

Er erinnerte sich an den Tag: Sie waren erst dann rausgefahren, als der Wind aufzufrischen begann. Sie hatten das Großsegel gehisst, und noch bevor Eckner das Steckschwert im tiefen Wasser ablassen konnte, neigte sich das Boot unter einer Böe und das Spiel begann. Sie kreuzten hart am Wind.

Eckner hatte sich die Fockschot um das Handgelenk geschlungen, weil der Winddruck ihm das nasse Ende schmerzhaft durch die Hand zog. Dann hatte er die nackte Zehen hinter die Kante des Schwertkastens gestemmt und sich nach hinten fallen lassen, bis er waagerecht über den grünen Wellen hing. Immer schneller wurde das Boot. Und dann kam der Moment, in dem das stählerne Schwert durch die Vibration zu brummen begann. Wenn er unter den Rumpf schaute, sah er es handbreit aus dem Wasser kommen, aber sein Bruder hielt den Kurs und er konnte die Fockschot halten, auch wenn die Hand brannte wie Feuer. Das hatte er vergessen können?

„Die Sonne“, sagte Eckner, „die Sonne blendet mich.“

Er trat zurück und rieb sich die Augen. Für einen Augenblick war in der Stille nur das Ticken der Standuhr.

„Wie geht es Michael?“

Er musste sich räuspern.

„Er ist zum zweiten Mal Vater geworden. Ein Mädchen.“

War da ein Bedauern?

„Ich würde ihn gern wiedersehen“, sagte Eckner.

„Komm doch mit“, sagte sein Bruder. „Ich fahre am Wochenende zu ihm. Wir wollen zusammen zum Angeln ans Haff fahren.“

„Das müsste sich machen lassen“, meinte Eckner.

Er sah aus dem Fenster.

„Als ich Karin geheiratet habe“, sagte er übergangslos, „war ich fasziniert von ihr. Sie hatte immer ein loses Maul, aber es gefiel mir und zu einer Dolmetscherin passte es wohl auch. Sie legte damals großen Wert darauf, als Konferenzdolmetscherin bezeichnet zu werden, und das größte Kompliment machte ihr wohl einmal ein Spanier, der sie gefragt hatte, wo sie denn so gut Deutsch gelernt hätte.“

Eckner setzte sich wieder an den Tisch, hob das Glas in das Licht der letzten Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen, und trank langsam einen großen Schluck. Sein Bruder schwieg.

„Ich hatte immer geglaubt“, sagte er nach einer Weile, „wenn man eine Frau heiratet und ihr seinen Namen gibt, dann wird sie von da an ein Teil der Familie. Aber das war ein großer Irrtum. Denn das hätte ja den Wunsch vorausgesetzt, ein Mitglied dieser Familie zu werden, und diesen Wunsch hat sie wohl nie gehabt. Diese Gleichgültigkeit wäre ja vielleicht zu ertragen gewesen, aber mit den Jahren verlor sie mehr und mehr das Interesse an uns, den Eckners. Das Ende unserer letzten Gemeinsamkeiten kam mit der Geburt meines Sohnes. Es wurde mir erst lange danach bewusst. Was eigentlich umgekehrt hätte geschehen können, eine Wiederannäherung durch das Entstehen einer wirklich eigenen Familie, entwickelte sich zu einer zunehmenden Entfremdung. Sie begann, mich systematisch vor meinem eigenen Kind herabzusetzen; ein Verhalten, dem gegenüber ich mich hilflos fühlte. Dass ich allem Streit aus dem Weg zu gehen versuchte, muss Martin als Schwäche wahrgenommen haben. Von der Zeit an hatte ich das Gefühl, in ihren Augen mehr und mehr zu einem notwendigen Übel in ihrer Umgebung geworden zu sein, notwendig zur Beschaffung ihres Unterhalts und zur Erledigung der Arbeiten in Haus und Garten. Sie liebte es, sich in Gesellschaft ihrer Freunde über mich lustig zu machen. Ich selbst hatte da schon längst keine eigenen Freunde mehr.“

„Wie alt ist Martin denn jetzt?“, wollte sein Bruder wissen.

„Da muss ich rechnen“, sagte Eckner, „warte mal.“

Er dachte nach.

„Er muss jetzt sechsundvierzig sein“, sagte er nach einem Moment des Besinnens. Und wieder nach einer Pause:

„Ich glaube, dass seine Mutter mich hasst. Und ich habe eigentlich keine Ahnung, warum.“

Sie schwiegen beide eine Weile, bis der Bruder eine zweite Flasche aus der Küche holte und die Gläser füllte. Sie tranken sich zu, und weil die Sonne inzwischen hinter den Dächern der gegenüberliegenden Häuser verschwunden war, schaltete sein Bruder die Stehlampe am Fenster ein.

„Ich muss dir was zeigen“, sagte er.

Von dem Regal neben der Tür nahm er ein kleines Holzkästchen, das mit einem Schiebedeckel verschlossen war. Er zog den Deckel heraus und griff nach einer Handvoll vergilbter Fotos, die darin gestapelt waren. Die Aufnahmen zeigten meist feierlich posierende Personen in einem warmen Braunton und waren verblasst und fleckig. Eckner meinte, einige der Gesichter wiedererkennen zu können.

„Das ist unser Urgroßvater“, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger auf das Bild eines Mannes mit Uniformmütze und in Wickelgamaschen auf einem Pferd, der aufrecht und herrisch von oben herab in eine Kamera blickte.

Eines nach dem anderen nahm Eckner die Fotos von dem Stapel, und bei jedem Bild nannte sein Bruder den Namen und einige Male das Geburts- und Sterbejahr.

„Woher weißt du das alles so genau?“, fragte Eckner verwundert. Sein Bruder lächelte und legte ein in kleiner Schrift bedrucktes Blatt vor ihn auf den Tisch.

„Es ist in den letzten Monaten meine wichtigste Beschäftigung gewesen. Ich forsche nach unserer Familiengeschichte.“

Auf dem Blatt stand: „Ahnentafel der Familie Eckner“ und darunter: „Namensträger“.

Das eng beschriebene Blatt zeigte eine Tabelle mit Namen, die im Jahr 1610 am unteren Blattrand begann. Acht Generationen Eckner waren übereinander verzeichnet, die alle als Bauern in kleinen benachbarten Dörfern in Thüringen gewohnt hatten. Erst auf der Ebene ihres Vaters tauchten vier Namen nebeneinander auf, die ihrer Onkel. Von da an gab es keine Bauern ihres Namens mehr in Thüringen. Die neuen Wohnorte waren über ganz Deutschland verteilt.

Und trotzdem, dachte Eckner, trafen sie sich immer wieder, hat es immer wieder große Familienfeste gegeben, bei denen alle beieinandersaßen, fröhlich waren und Wein tranken, aus den gleichen Gläsern, aus denen auch wir jetzt trinken.

„Das Blatt ist zu klein“, sagte Eckner nach einer Weile. „Du kannst ja gar nichts mehr hinzufügen.“

„Hast du noch nie daran gedacht, dass es nach unseren Söhnen niemanden mehr geben wird, der unseren Namen weiterträgt?“, sagte sein Bruder. „Ich werde kein größeres Blatt mehr brauchen. Die Frauen unserer Söhne haben beide Töchter geboren. Mit Martin und Michael geht dieser Zweig der Familie Eckner zu Ende.“

Eckner sah nachdenklich auf das Bild seines Urgroßvaters. Dann sagte er:

„Weißt du, es ist eigentlich gar kein so schlechtes Gefühl, der Letzte zu sein. Oder, um genauer zu sein, der Vorletzte. Machen wir das Beste aus der Zeit, die uns noch bleibt.“

„Auf die letzten Eckners“, sagte sein Bruder, und sie stießen miteinander an, und dann begann die Standuhr zu schlagen, als wolle sie bestätigen, dass sich ihre Zeit vollendet habe.

3

Das leise Scharren der Krallen an seinem Bett.

Eckner brauchte nicht auf die rot leuchtenden Ziffern des Weckers zu sehen, um zu wissen, dass es vier Uhr dreißig am Morgen war. Mehr oder weniger. Es war vier Uhr vierzig.

Er schob die Decke zurück, griff nach der Brille und ging im Halbschlaf in die Küche, um der Katze das Frühstück hinzustellen. Er leerte die Schale mit dem Rest des gestrigen Futters, spülte sie aus und füllte sie aus der am Vorabend bereitgestellten Dose. Auf dem Rückweg wechselte er im Flur auch das Wasser im Trinknapf, ließ sich ins Bett fallen und zog die dünne Decke bis zu den Schultern hoch. Das war das Zeichen. Lautlos sprang seine kleine Abessinierkatze auf das Laken, stellte die Pfoten auf seine Brust und begann leise zu schnurren. Eckner klopfte dreimal mit der flachen Hand auf seine Brust und sie legte sich langsam nieder. Im Halbdunkel des Zimmers sah er in ihren kaum eine Handbreit entfernten Augen nur die schwarzen Pupillen. Das allmorgendliche Ritual. Streicheln, schnurren, träumen. Ob auch die Katze träumte, wenn er sie streichelte?

Irgendwann sprang sie unvermittelt auf, lief in die Küche und manchmal hört er noch, wie sie danach im Flur von dem frischen Wasser trank. Meist aber war er dann schon wieder eingeschlafen.

Das endgültige unfreiwillige Erwachen war gegen sieben Uhr dreißig angesagt. Mehr oder weniger. Diesmal war das Schnurren lauter und wenn er sich noch einmal umzudrehen versuchte, lief sie über das Kopfkissen und wischte so lange mit dem Schwanz über sein Gesicht, bis er seufzend die Bettdecke zurückschlug. Er schob sie zu einem Nest zusammen, in das sie sich hineinlegte, zusammenrollte und bis zum Mittag schlief. So war der Beginn seiner Tage durch eine Katze geregelt, wogegen sachlich nichts einzuwenden war. Fand Eckner.

Auch das Frühstück war zu einer kaum mehr veränderten Routine geworden. An den Wochentagen aß Eckner morgens ein leicht gesalzenes Porridge aus groben Haferflocken, das er in der Mikrowelle erhitzte und mit kalter Frischmilch übergoss, und danach zwei Scheiben getoastetes Vollkornbrot, auf die er Scheiben ungarischer Salami oder französischen Käse legte. Nur an Sonntagen – was ihm selbst unsinnig erschien, da für ihn keine Werktage mehr zählten – gab es ein hart gekochtes Ei zum Butterbrot und anstelle des Porridge buk er sich ein Paninibrötchen im Backofen auf und bestrich es mit Butter und Konfitüre.

Immer aber gab es Tee dazu, eine spezielle Mischung, die er seit Jahren von einem bekannten ostfriesischen Teehaus bezog. Etwa alle sechs Monate bestellte er fünf Pfund davon; das Paket enthielt fünf der dunkelgrünen Tüten zu je einem Pfund und er fand es beruhigend, wenn er die neue Sendung im Küchenschrank verstauen konnte. Im Gegensatz zu vielen anderen Produkten, die entweder bald wieder vom Markt verschwanden oder ständig unter dem Vorwand der Verbesserung verändert wurden, war die Qualität seiner Sorte unverändert gut geblieben. Gewohnheiten, fand Eckner, waren nicht immer Anzeichen von Gedankenlosigkeit. Sie konnten auch Ergebnis guter Erfahrungen sein.

Ein Schatten flog am Küchenfenster vorbei.

Die kleine Kohlmeise mit der kahlen Stelle am Kopf flatterte in Eile zum Futterhäuschen, holte sich einen Sonnenblumenkern und hackte energisch darauf herum, während die Schalenstückchen auf den Balkon fielen. Ebenso eilig holte sie einen zweiten und dritten Kern und flog dann so plötzlich davon, wie sie gekommen war. Immer war sie in höchster Eile. Haben Vögel Stress, dachte Eckner? Vielleicht war ihre Lebensdauer darauf eingerichtet, auf ein Leben in Eile. Schildkröten bewegten sich langsam und wurden uralt. Wenn nichts dazwischenkam. Wahrscheinlich liege ich irgendwo dazwischen, zwischen Meise und Schildkröte. Immerhin habe ich das Warten gelernt, wenn auch nicht gern.

Im Radio unterbrach der Deutschlandfunk seine Musiksendung für die Nachrichten. In der Ukraine wurde geschossen, während Deutschland darauf bestand, den Waffenstillstand einzuhalten; Griechenland lehnte die Reformvorschläge ab und forderte einen Schuldenerlass, der EU-Kommissar zeigte Verständnis, der IWF war dagegen, der Finanzminister warnte ein vorletztes Mal und die Kanzlerin war der Meinung, dass der Euro gerettet werden müsse. Das Wetter. Für den Nachmittag war Regen angesagt. Na gut.

Eckner spülte das Geschirr ab, stellte Kanne, Teller und Tasse in den Abtropfkorb und sah sich in der Küche um. Hier war kaum etwas zu finden, das einer Erwähnung im Testament wert wäre. Alles in seinem Blickfeld war notwendig und zweckmäßig, auch wenn es nicht täglich gebraucht wurde. Seine Eltern hatten noch gravierte silberne Bestecke benutzt, die ebenso wie die Kristallkelche und das Porzellan nach dem Tod ihrer Mutter bei seinem Bruder verblieben waren. Gediegen nannte man das damals, und das Wort war heute so wenig üblich wie silbernes Besteck. Ihm gefiel damals Edelstahl in modernem Design besser. Er war immer ein Anhänger des Bauhaus gewesen und überzeugt vom Primat des Funktionalismus. Er kannte niemanden, der irgendetwas von seiner Küchenausstattung würde brauchen können.

Die Katze lag auf der Polsterbank am Fenster und schlief in der Sonne. Eckner ging an ihr vorbei und schob den blauen Noren mit dem Bild des Silbernen Pavillons in Kyoto zur Seite, der sein nach Norden gelegenes Arbeitszimmer vom Flur trennte. Alle Türen in seiner kleinen Wohnung standen stets offen, an sonnigen Tagen auch die Tür zum Balkon. Es war das Wenigste, was er für seine kleine Katze tun konnte, die nie in ihrem Leben durch einen Garten laufen würde.

Eckner schaltete den Rechner ein und sah eine Weile aus dem Fenster, vor dem weiße Flocken von Pappelsamen im leichten Wind vorbeischwebten. Dann wurde der Monitor hell, er gab das Passwort ein und rief die Startseite auf. Die Werbung für das Zahlenlotto teilte mit, dass der Jackpot derzeit bei acht Millionen Euro läge. Der E-Mailcheck ergab vier neue Zugänge. Er las die Absender der Firmenwerbungen, die er ungelesen löschte, und rief zu seinem Vergnügen die Post im Spamordner auf. Eine Gloria Peter schrieb dem Dear Winner, dass er acht Millionen Pfund Sterling gewonnen habe und bat ihn um Übermittlung der personal details. Ein E. Damian stellte sich als Banker aus den Niederlanden vor, der „eine große Geldbetrag für sein Land“ zu übermitteln hatte, und schließlich teilte ihm ein gewisser Malte Schubert mit: „Ihr Geld wartet auf Sie“; diesmal nicht als Gewinn, sondern als Sofortkredit bis zu einer Höhe von 100.000 Euro. Ohne Schufa-Prüfung, zu niedrigen Zinsen und mit einer Tilgungsfrist von 120 Monaten. Kleiner Scherz.

Manchmal waren sogar kyrillische Buchstaben in den dümmlichen Texten enthalten und Eckner konnte sich nicht vorstellen, dass jemand blöd genug war, auf so etwas hereinzufallen. Er löschte alles und schaltete gleich darauf den Rechner aus. Gähnend lehnte er sich in seinem Drehstuhl zurück, verschränkte die Hände im Nacken und sah sich um. Bücher, Bilder, Bögen und Pfeile. In der Hauptsache. Drei nahezu raumhohe Kleiderschränke von IKEA nahmen den größten Teil einer Wand ein und hatten sich im Laufe der Jahre nach und nach mehr als gefüllt. Hier war Aussortieren angesagt. Das breite Bett – wie die Schränke aus Kiefer und von IKEA – war quasi eine Fehlinvestition; nur selten hatte es jemand mit ihm geteilt. Eckner gestand sich ein, dass es eine dumme Angewohnheit von ihm war, noch immer beide Bezüge und Kopfkissen zu wechseln, obwohl nur die Katze manchmal die andere Hälfte in Anspruch nahm. Darüber Bilder. Sehr verschiedene Bilder. Ein großes Tuschbild seines Lehrers Yüan Shun, der ihm in einer kleinen Kreuzberger Wohnung im Hinterhof zwei Jahre lang Unterricht in klassischer chinesischer Tuschmalerei gegeben hatte. Shun hatte es „Merkwürdige Kiefer an einem Berghang“ genannt und es nur ungern hergeben wollen. Shun selbst betrieb die Tuschmalerei nur noch gleichsam mit linker Hand; er war ein Verfechter der Moderne und experimentierte lieber mit Monitoren und elektronischer Musik. Daneben die sorgfältige Handzeichnung seines Freundes Don, einen zottigen Schäferhund mit einem regenbogenfarbenen Schwanz darstellend. Er hatte es „Eitler Köter“ genannt.

Eine andere Tuschzeichnung war von ihm selbst. Er hatte sie gemalt, nachdem er von seiner Chinareise zurückgekehrt war, deren Höhepunkt die Flussfahrt auf dem glasklaren Wasser des Li Jiang war, vorbei an den endlosen Reihen der kegelförmigen Karstberge. Manchmal war das Schiff an Wasserbüffeln vorbeigefahren, die im flachen Wasser standen und die in der Strömung schwingenden Pflanzen fraßen, die aussahen wie Gras.

Auf einem schiefergrauen Passepartout der wunderschöne getönte Kupferstich des freundlichen französischen Künstlers, in dessen Werkstatt in Rheinsberg skurrile Holzbildwerke die Räume füllten. Das Blatt zeigte den Rückenakt einer liegenden Frau, genau genommen ihren prachtvollen Hintern. Sein Neffe würde vielleicht Gefallen daran finden.

Das große Foto der beiden Catrinas, zweier elegant gekleideter Skelette mit fantastischen Hüten, die am Tag der Toten in Mexiko zu den Lebenden zurückkehren, um mit ihnen gemeinsam fröhlich zu feiern. Dort waren sie aus Pappmaché oder Zucker; diese hier waren aus Gips und wirkliche Kunstwerke. Der Händler, der sie auf dem Karneval der Kulturen zum Kauf anbot, wollte für eine von beiden mehr als zweihundert Euro haben. Eckner hätte sie ihm gegeben, wenn er das Geld gehabt hätte; stattdessen hatte er sich mit dem Foto begnügen müssen, was der Händler auch nur ungern geduldet hatte. Eine sympathische Idee, fand Eckner, das gemeinsame fröhliche Feiern mit den Toten auf den Friedhöfen. In den deutschen Gruselmärchen waren die Toten immer entweder arme gequälte Seelen oder übellaunige Gespenster, die den Lebenden Böses antun wollen. Man sollte vielleicht lieber in Mexiko sterben. Wenn es auch gerade mit dem Sterben dort ein wenig übertrieben wurde.

Überhaupt das Sterben: Hatten die Menschen früher ein anderes Verständnis vom Tod gehabt? Mit Sicherheit in der Antike, jedenfalls wollten die alten Schriften das so überliefern, auch wenn es sich dort meist um blutrünstige Helden handelte. Er hätte nicht in Sparta leben wollen. Aus dem dekadenten Rom war ebenfalls überliefert, dass man bei festlichen Gelagen damit kokettierte, und anderen beim Sterben in der Arena zuzusehen musste damals wohl der letzte Kick gewesen sein. Aber auch in der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands musste es so etwas gegeben haben. Er entsann sich, während seiner Studienzeit in Dresden im Schaufenster eines der vielen Antiquariate eine große Tischuhr gesehen zu haben. Auf dem pechschwarzen Ebenholzgehäuse stand neben dem Zifferblatt ein silbernes Skelett, das im Sekundentakt eine Sense schwang. In silbernen Buchstaben stand darüber UNA EX HIS ERIT TIBI ULTIMA, was er auch ohne Lateinkenntnisse als den Hinweis verstand, dass eine dieser angezeigten Stunden auch seine letzte sein würde. Die lakonische Feststellung hatte ihn damals sehr beeindruckt und er hatte sie bis heute nicht vergessen. Das Foto der Catrinas? Jemand würde es achselzuckend in den Müll werfen.