Rettende Umweltphilosophie - Jürgen Manemann - E-Book

Rettende Umweltphilosophie E-Book

Jürgen Manemann

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Beschreibung

Die ökologische und klimatische Katastrophe gefährdet die Grundfesten unserer planetaren Existenzbedingungen. Angesichts der dadurch verursachten Zerstörungen plädiert Jürgen Manemann für eine Rettende Umweltphilosophie. Diese erschüttert die Kaltstellungen des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf Natur durch die Konfrontation mit Andersheit und Anderheit in Natur. Rettende Umweltphilosophie zielt auf ein (Zusammen-)Leben, das alle Menschen, Tiere, Pflanzen, Arten, Berge, Flüsse, Ökosysteme und die Erde als Teil der Moralgemeinschaft umfasst. Indem sie sich engagierend und aktivierend um die Handlungsfähigkeit der Menschen sorgt, begründet sie eine Pflicht zum Aktivismus. Rettende Umweltphilosophie schärft den Blick für Utopisches und lässt Neues im Kaputten und in Zwischenräumen aufblitzen.

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Jürgen Manemann

Rettende Umweltphilosophie

Von der Notwendigkeit einer aktivistischen Philosophie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Antonia Wind

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839469309

Print-ISBN: 978-3-8376-6930-5

PDF-ISBN: 978-3-8394-6930-9

EPUB-ISBN: 978-3-7328-6930-5

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

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Fürden tiefgründigen Benni,den eigenwilligen Joschi&die temperamentvolle Lilly

Inhalt

 

Am Anfang: das Erschrecken

I.Engagierte Wissenschaften

II.Rettende Umweltphilosophie

II.1Mit dem Besonderen beginnen

II.2Ehrfurcht vor dem Leben

II.3Ethische Nötigung

III.Umwandlung der Wissenschaften

III.1Mehr als Fachwissenschaft

III.2Vom Überschreiten der Natur in der Natur

III.3Aktivität und Passivität

III.4Wissenschaft im »Zeitalter des Lebendigen«

IV.Zurück zu den Sachen selbst: die Natur

IV.1Nature Writing

IV.2Vom Eigenwert der Natur

IV.3Wider den Ökofaschismus

V.Seinsethik

V.1Schwache Ontologie

V.2Sympoiesis

V.3Sinn für Ungerechtigkeit

V.4Gemeinwohlorientierung

V.5Empfindliche Vernunft

VI.Die Praxis rettender Umweltphilosophie

VI.1Zwischen Engagement und Desengagement

VI.2Aktionsformen

VI.2.1Das Dokumentationszentrum Klimaverantwortung

VI.2.2Ziviler Ungehorsam

VI.2.3Community Organizing

VI.2.4Politischer Ungehorsam

VI.3Die Praxis praktischer Philosophie

VI.3.1Lebenspraxis

VI.3.2Das Handlungs-Paradox

VI.3.3Maritime Schönheit

VI.3.4Minimalismus

VI.3.5Widerstandsfestigkeit

VI.3.6Aktiv-Kontemplative Achtsamkeit

VI.3.7Suffizienz

VII.Das Utopische

VII.1Das Noch-Nicht

VII.2Das Kaputte

Dasemphatische Nein zum Nichtsein

Dank

Literatur

Am Anfang: das Erschrecken

Am Anfang steht das Erschrecken. Es lässt sich nicht abmildern, minimieren – im Gegenteil. Es wächst an. Auch wenn es mir nicht möglich ist, den Schrecken zu bannen, so ist es mir noch möglich, nicht vor ihm zu erstarren.

Das Erschrecken hat viele Facetten. Es entzündet sich nicht zuletzt an unserem Vermögen, zu verdrängen, es nicht wahrhaben zu wollen, sich selbst zu betrügen. Aber diese Abwehr gelingt meist nicht wirklich. Oft finden zumindest Teile des Grauens Eingang in unser (Unter)Bewusstsein. Und dort wirken sie weiter, subkutan. Sie lösen mit der Zeit Pathologien aus. All das ist verständlich und resultiert aus Ängsten, vor allem aus der Angst vor Verzweiflung. Einzig die Neutralisierung unserer Gefühle und Emotionen könnte uns davor bewahren. Aber der Preis wäre hoch: Wir*1 würden unsere Humanität verlieren. In der Wissenschaft im Allgemeinen und der Philosophie im Besonderen gibt es die Versuchung, eine solche Neutralisierung als wissenschaftliche Forderung zu behaupten und sie mit dem Etikett der Objektivität auszuweisen. Dagegen hat der Philosoph Vittorio Hösle bereits 1990 seine Stimme erhoben:

»Wenn sich keiner der großen Philosophen dem Notruf der eigenen Zeit entzogen hat – das gilt auch und zumal für diejenigen, die es in der Metaphysik, der Theorie der höchsten Prinzipien, am weitesten gebracht haben: Platon, Aristoteles, Longinos, Cusanus, Fichte –, dann ist dort, wo nicht nur das Schicksal des eigenen Volkes, sondern das Schicksal der Menschheit und eines großen Teils der belebten Natur auf dem Spiele steht, Indifferenz Verrat an der Sache der Philosophie.«2

Diese Mahnung sprach er in einem Vortrag an der Akademie der Wissenschaften der damaligen UdSSR in Moskau aus. Unter dem Titel »Philosophie der ökologischen Krise« veröffentlichte er ein Jahr später seine »Moskauer Vorträge«.3 Neben den Arbeiten von Klaus Michael Meyer-Abich, Dieter Birnbacher und Günther Altner gehört Hösles Buch zu den ersten Beiträgen im deutschsprachigen Raum, die sich ausdrücklich dem Themenfeld der Umweltethik widmeten und den weiteren umweltethischen Diskurs maßgeblich mitgeprägt haben.4

Damals wandte Hösle den kategorischen Imperativ Immanuel Kants auf die ökologische Fragestellung an. Daraus folgte für ihn »der einfache, aber bestürzende Satz, daß der Lebensstandard des Westens nicht moralisch ist«, sei es doch nicht möglich, diesen auf alle Erdteile zu übertragen, da die Erde dann kollabieren würde.5 Für Hösle gab es nur eine Lösung: Das Paradigma der Wirtschaft müsse dem der Ökologie weichen.6 Mit Ernst Ulrich von Weizsäcker teilte er die Überzeugung,

»daß das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Umwelt sein wird. Gute Politik wird diejenige sein, die die natürlichen Grundlagen unserer Lebenswelt global sichert – nicht mehr diejenige, die das quantitative Wachstum der Wirtschaft bzw. die Befriedigung der unsinnigsten Bedürfnisse ermöglicht (…).«7

Im Jahr 2000 veranstaltete Hösle eine Vortragsreihe zum Thema »Für ein nachhaltiges Verhältnis zur Umwelt. Philosophie und Fachdisziplinen im Gespräch«. In seinem Beitrag wies er unter anderem darauf hin, dass es »auf die Dauer der eigenen Selbstachtung abträglich« sei, »sich sagen zu müssen, daß man durch das eigene Verhalten zu einem Zustand der Welt beiträgt, der elementare Grundrechte und Grundgüter gefährdet, und wenn es sich als schwierig erweist, das eigene Verhalten zu korrigieren, dann mag es naheliegen, das Problem zu verdrängen.«8 Am Ende betonte er: »Die Aufgaben, die das neue Jahrhundert zu lösen hat, um eine nachhaltige Gesellschaft zu schaffen, sind enorm. Es wird ein ökologisches Jahrhundert werden, oder es wird zu Katastrophen führen, die wohl all das in den Schatten stellen werden, was wir aus der menschlichen Geschichte kennen.«9

In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten wurden weitere, sehr elaborierte Umwelt- und Klimaethiken vorgelegt. Gleichzeitig spitzte sich die ökologische und klimatische Krise immer weiter zu. Die 1,5-Grad-Grenze wird überschritten werden. Zwar hat es durchaus Veränderungen in der Klimapolitik der letzten Jahre gegeben, aber diese gleichen eher einem Auf-der-Stelle-treten. Und das ist gefährlich. Neben Defätismen (»Ist es nicht eh schon egal?«, »Sollten wir* nicht besser das Leben jetzt genießen?«) breiten sich Zweckoptimismen aus: »Wer weiß, vielleicht wird ja doch noch in nicht allzu ferner Zukunft eine Technik erfunden, die uns retten wird?«. Selbst ein überkommen geglaubter technischer Größenwahn feiert fröhliche Urständ: »Warum nutzen wir* nicht Techniken des Climate Engineerings im großen Stil?« Eine solche Situation ist der Nährboden für Verdrängungen, Selbsttäuschungen, Lähmungen, »Erschöpfungsdepressionen« (A. Ehrenberg).

In der Politik hat sich ein zukunftsfeindlicher Fortschrittsglaube formiert, dessen Dogmen Effizienz und Wachstum sind. Eine solche Politik ist zukunftsfeindlich, weil sie weiterhin dem Extraktivismus verhaftet bleibt – wenn auch wider Willen. Schließlich verbraucht auch eine grüne Ökonomie, die auf Wachstum setzt, endliche Ressourcen.10

Und die Umwelt- und Klimaethiker*innen? Sie sitzen in diversen Expert*innenräten: Sachverständigenräten, Klimaräten etc. Aber sie konnten bislang mit ihren handlungsleitenden Antworten nicht wirklich etwas ausrichten, zumindest nichts, was tatsächlich politische Auswirkungen gezeitigt hätte, die sich an der 1,5-Grad-Grenze orientiert hätten. Zwar haben Ethiker*innen »einerseits konstruktiv an der Formulierung von Leitlinien, Regeln und Zielen von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen« mitgearbeitet, andererseits haben sie »aber auch bestehende Ziele, Deklarationen und Strategien kritisch« hinterfragt.11 Gehört wurden sie jedoch nicht. Im politischen Feld dominieren unabhängig von der parteipolitischen Bindung der Entscheidungsträger*innen ökonomische und technologische Fragestellungen, die die ethischen Perspektiven immer wieder an den Rand drängen oder allenfalls nur soweit berücksichtigen, als die Grundplausibilitäten, in denen jene gründen, nicht tangiert werden.12

Verstärkt wird diese Situation noch durch das Prestige- und Machtgefälle zwischen den Natur/Technikwissenschaften auf der einen und den Geistes/Kulturwissenschaften auf der anderen Seite. Wie sollte das auch anders sein, leben wir* doch in einer spätmodernen Gesellschaft, die fortschrittsversessen ist und dabei Fortschritt mit technischem Fortschritt und ökonomischem Wachstum gleichsetzt. Aber diesem Fortschritt wohnt eine, von seinen Verfechter*innen oft verdrängte, teilweise bewusst verschwiegene Dynamik inne, die sich immer wieder ins Gegenteil verkehrt oder zu verkehren droht. Der Soziologe Ulrich Beck hat diese Mechanismen seit der Katastrophe von Tschernobyl scharfsinnig analysiert. Die industrialisierte Modernisierung ist längst gekippt. Sie hat aus Agierenden Reagierende gemacht, die, Beck zufolge, in erster Linie damit beschäftigt seien, das Schlimmste zu verhindern. So werden wir* immer wieder neu in Krisenzustände hineingetrieben.13 Das Bewusstsein dieser Zusammenhänge ist immer noch unterentwickelt, weil Technikwissenschaften gedächtnislos sind. Die bittere Erkenntnis von Hiroshima und Nagasaki, dass es Techniken gibt, denen wir* kognitiv-emotional nicht gewachsen sind, scheint vergessen.14

Diese Amnesie verändert unser Menschsein. Mit welchem Recht, so fragt der Literaturwissenschaftler Robert Harrison, bezeichnen wir* uns noch als homo sapiens sapiens, als ein Wesen, das mit zwei Weisheiten ausgestattet ist:

»Die eine ist mit dem Geist oder der Intelligenz in uns verbunden, die experimentiert, erfindet, entdeckt, berechnet und im allgemeinen durch Erkenntnis und Manipulation der Außenwelt umfassenden Wandel zustande bringt. Die andere ist jene auf unserem Bewußtsein von Sterblichkeit beruhende Altersweisheit der Spezies, die den Göttern, den Gräbern der Toten, den Gesetzen und Schriften der Nationen, dem Gedächtnis der Dichter und der Archäologie der Gelehrten zur Entstehung verhalf. Von diesen beiden Arten von sapientia ist eine ›älter‹ als die andere, nicht weil sie früher entstanden ist, sondern weil sie das Frühere in Gedächtnis und Gewahrsam aufnimmt. Während der Geist der Neuerungen die Zukunft freilegt, ererbt die Weisheit die Vermächtnisse der Vergangenheit und gibt sie weiter.«15

Ohne die sapientia des Gedächtnisses sind wir* dem Zwang der Technik ausgeliefert, denn diese drängt auf Anwendung.

Auch Ethik will angewandt und Moral gelebt werden. Deshalb belassen es Moralphilosoph*innen auch nicht bei metaethischen Fragestellungen über die Möglichkeiten und Grenzen moralischer Wahrnehmungen. Sie leiten aus Werten und Argumenten ethische Normen ab und bringen diese in politische und gesellschaftliche Debatten ein. Im Feld angewandter Ethik beteiligen sie sich darüber hinaus auch an Problemlösungen. Ethik ist also mitnichten ein Elfenbeinturm. Aber im politischen Feld hat sie einen schweren Stand. Auf sie wird immer wieder neu ein häufig unsichtbarer Zwang zur Praktikabilität ausgeübt, durch den sie auf eine Praxis verpflichtet wird, die sie in ihrer potenziellen praktischen Wirkung nicht nur einschränkt, sondern teilweise sogar kaltstellt.

Angesichts der ökologischen und klimatischen Katastrophe ist es an der Zeit, die Umwelt- und Klimaethiken aus diesen Fesseln zu befreien. Dafür steht das Projekt einer rettenden Umweltphilosophie.

1Das »Wir*«, von dem ich im Folgenden häufig Gebrauch mache, ist mehr als ein Stilmittel, um Leser*innen zu adressieren. Es soll Warnung sein: Die Rede vom »Wir« steht immer in der Gefahr, Andere zu vereinnahmen oder auszuschließen. Das »Wir*« soll dazu dienen, Leser*innen für die Rede vom »Wir« kritisch zu sensibilisieren. Es hat somit auch die Funktion, die Unzulänglichkeit und das Ärgernis, die jeder Verallgemeinerung immanent sind, anzuzeigen. Es soll Fragen evozieren: Wer spricht hier, wie, warum, in welcher Situation und mit welcher Absicht von »Wir«? An dieser Stelle möchte ich des Weiteren darauf hinweisen, dass alle Übersetzungen von mir angefertigt wurden.

2V. Hösle, Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, München 21994, 15. Ich werde im Folgenden nicht auf die politisch-philosophischen Perspektiven von Hösle eingehen, die m.E. gerade aus anti-schmittianischer Sicht fragwürdig sind.

3So der Untertitel des Buches.

4Vgl. K. Ott/J. Dierks/L. Voget-Kleschin, Einleitung, in: dies. (Hg.), Handbuch Umweltethik, Stuttgart 2016, 1–18, 4.

5Vgl. V. Hösle, Ökologische Krise, 25.

6Vgl. ebd., 33.

7Ebd., 34.

8Ders., Dimensionen einer Krise. Das Umweltproblem im 21. Jahrhundert, in: L. Di Blasi/B. Goebel/V. Hösle (Hg.), Nachhaltigkeit in der Ökologie. Wege in eine zukunftsfähige Welt, München 2001, 9–36, 11.

9Ebd., 35.

10Vgl. U. Herrmann, Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden, Köln 2022, 111–198.

11K. Ott/J. Dierks/L. Voget-Kleschin, Einleitung, 7.

12Diese Erkenntnis hat im angelsächsischen Sprachraum zur Entwicklung des Umweltpragmatismus geführt, der die Frage aufgeworfen hat, »wie Umweltethiker, trotz ihrer theoretischen Differenzen, als Teil der Umweltbewegung mehr politischen Einfluss ausüben können« (P. P. Thapa, Art.: Umweltpragmatismus, in: Handbuch Umweltethik, 203–207, 203).

13Vgl. U. Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt 1993, 85.

14Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 71988, 45.

15R. P. Harrison, Wie alt sind wir?, in: Zukunft denken. Nach den Utopien. Sonderheft Merkur 9/10 (2001), 785–793, 791.

I. Engagierte Wissenschaften

Rettende Umweltphilosophie knüpft an die Debatte über engagierte Wissenschaften an. Unter dem Begriff »Engagierte Wissenschaften« wird heutzutage vieles subsumiert. Ganz allgemein geht es dabei zunächst darum, Wissenschaft und Öffentlichkeit in ein neues Verhältnis zu setzen. Insbesondere junge Wissenschaftler*innen beklagen die Inselsituation, in der sich ihres Erachtens Wissenschaft immer noch befindet. Zur Engagementpraxis engagierter Wissenschaft gehört nicht nur, Wissen bereitzustellen, sondern auch, Bürger*innen zu helfen, Wissenschaftsmündigkeit auszubilden. Wissenschaftskommunikation ist aus Sicht engagierter Wissenschaft deshalb auch mehr als Wissensvermittlung und die damit einhergehende Suche nach immer neuen Formaten der Kommunikation. Engagierter Wissenschaft geht es um die Etablierung eines kritischen Diskurses zwischen Wissenschaftler*innen und Bürger*innen, in dem engagierte Bürger*innen erfahren, dass auch sie zur Wissensproduktion beitragen und dass ihnen ein bedeutender epistemischer Status für die Forschung zukommt.1 Wissenschaftler*innen, die Wissenschaft außerhalb der institutionalisierten Formen des Wissenschaftsbetriebes anerkennen, sprechen deshalb von »Citizen Science«. Als solche vermag engagierte Wissenschaft auch ein besonderes Sensorium für epistemische Ungerechtigkeiten auszubilden. Die Philosophin Miranda Fricker hat diesen Begriff eingebracht, einerseits, um auf Missachtungen von Individuen und Gruppen hinzuweisen, deren Glaubwürdigkeit von vornherein in Abrede gestellt und deren Wissen einfach ignoriert wird, andererseits, um hermeneutische Ungerechtigkeiten auszuweisen, die durch einen »ungerechten Mangel an Verständlichkeit« verursacht werden.2

Engagierte Wissenschaft bedeutet aber nicht nur die Einbeziehung des Wissens zivilgesellschaftlicher Engagementpraxis in die Forschung. In ihrem emphatischen Gebrauch verlangt sie auch ein zivilgesellschaftliches Engagement von Wissenschaftler*innen. Engagierte Wissenschaft besitzt deshalb einen melioristischen Grundzug. Sie zielt darauf ab, »die Welt zu einem besseren Ort zu machen«3 – so formuliert es die Global Young Academy.

Engagierte Wissenschaft schaltet sich »jenseits akademischer Diskurse in öffentliche Debatten oder politische Entscheidungsprozesse« ein.4 Dieses aktive Selbstverständnis spiegelt sich mittlerweile auch in der wissenschaftlichen Politikberatung wider. Engagierte Wissenschaftler*innen reduzieren diese nicht auf die Aufgabe, bloß auf Fragen der Politik zu antworten. Politikberatung aus Sicht engagierter Wissenschaft verlangt, sich in Entscheidungsfindungsprozesse einzubringen, unter anderem dadurch, dass im Kontext interdisziplinärer Beratungsdiskurse auch eigene Handlungsoptionen und Positionen formuliert werden, die konträr zu den politischen Vorgaben stehen.5 Dabei besitzt engagierte Wissenschaft ein Wissen von den Gefahren, die das Engagement im politischen Feld mit sich bringt. Ständig muss sie aufpassen, von der Politik nicht instrumentalisiert zu werden. Überdies hat sie darauf zu achten, dass die Bezüge auf wissenschaftliche Erkenntnisse von der Politik nicht dazu benutzt werden, um öffentliche Willensbildungsprozesse abzubrechen.6 Gegen derartige Versuchungen ist u.a. immer wieder daran zu erinnern, dass es Wissenschaft nur im Plural gibt. Statt von »der Wissenschaft« im Singular wäre deshalb besser von »den Wissenschaften« zu sprechen. Der Plural verweist nicht nur auf die Pluralität der Disziplinen, sondern auch auf die Pluralität innerhalb der einzelnen Fächer.7

Auf Seiten der Wissenschaften gibt es die Gefahr der Selbstüberschätzung, mit der die Versuchung einhergeht, Demokratie durch Expertokratie zu ersetzen: »Politiker*innen schrumpfen in dieser technokratischen Vision auf bloße Vollzugsorgane eines bürokratischen Apparats zusammen, dessen Funktion es ist, naturwissenschaftlich-technologische Erkenntnisse möglichst reibungslos in gesellschaftliche Verwaltung zu überführen.«8 Wissenschaften sollten aber auch demokratiefähiger in dem Sinne werden, dass sich die Institution Wissenschaft demokratisiert:

»Es gilt deshalb, die gesellschaftlichen Ungleichheiten aufzudecken, die sich (…) in der Institution Wissenschaft widerspiegeln. Nur so geraten systemische Asymmetrien, Vereinseitigungen und Exklusionen in der Wissensproduktion und aneignung in den Blick.«9

Dazu müssen Wissenschaften ihre eigenen Verstrickungen in gesellschaftliche, politische und ökonomische Machtverhältnisse erkennen und immer wieder neu offenlegen; denn:

»Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf Humanität schon verzichtet.«10

Engagierte Wissenschaften können

»die Qualität der Forschung verbessern, die Wirkung steigern, das Ansehen der Wissenschaft in der Öffentlichkeit erhöhen und die Anwendbarkeit der Forschung für die Lösung von Problemen der realen Welt verbessern. Genauer gesagt ermutigt die Praxis des Engagements die Wissenschaftler*innen, akzeptablere Forschungsprotokolle zu entwickeln, für die Gemeinschaft wichtige Forschungsfragen zu definieren und zu bewerten und die Ergebnisse auf eine Weise zu kommunizieren, die bei einem breiten und vielfältigen Publikum Anklang findet.«11

Eine engagierte Wissenschaft, die sich als »transformative Wissenschaft« begreift, arbeitet sich bewusst im Horizont »reflexiver Modernisierung« (U. Beck) aus.12 Dabei versteht sie sich als aktiver Teil dieser Transformationsprozesse. Sie beinhaltet zudem »ein umfassendes institutionelles Reformprogramm für die Wissenschaft«13. Eine transformative Wissenschaft, »die sich institutionell entgrenzt, kann damit einen Beitrag dazu leisten, dass moderne Gesellschaften lernen, mit den von ihnen produzierten ökologischen und sozialen Nebenfolgen angemessen umzugehen«14.

Auch rettende Umweltphilosophie ist eine transformative Wissenschaft. Sie übernimmt eine aktive Rolle in den Transformationsprozessen, auf welche sie aber gleichzeitig permanent wissenschaftlich und machtpolitisch reflektiert.15

1Vgl. Massachusetts Institute of Technology, The Evolving Culture of Science Engagement, in: https://www.cultureofscienceengagement.net/2013convening/report (abgerufen am 28.02.2023).

2Vgl. M. Fricker, Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens, München 2023, 22.

3Global Young Academy, GYA in Brief, in: http://Globalyoungacademy.net/about/ (abgerufen am 28.02.2023).

4Die junge Akademie, Engagierte Wissenschaft, in: https://www.diejungeakademie.de/aktivitaeten/arbeitsgruppen/engagierte-wissenschaft/ (abgerufen am 28.02.2023).

5Ein solches aktives Beraten zeigt sich etwa in der Arbeit des Sachverständigenrates für Umweltfragen.

6Vgl. M. Dreiwes/A. Honnacker/J. Manemann/J. Rüegger, Corona. Antworten auf eine kulturelle Herausforderung, Hannover 2020, 4. (https://fiph.de/veroeffentlichungen/buecher/Corona_FIPH.pdf?m=1592484286&, abgerufen am 31.03.2023).

7Vgl. ebd., 5.

8Ebd., 4.

9Ebd., 6.

10M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt 1972, 56.

11E. Cope/, Engagement Science: An Overview of the Landscape of Engaged Research (Jan 15, 2019), in: (abgerufen am 28.02.2023).

12Vgl. U. Schneidewind, Transformative Wissenschaft – Motor für gute Wissenschaft und lebendige Demokratie, in: GAIA, 24/2 (2015), 88–91, 88. Zur Kritik an diesem Ansatz: M. Dreiwes, Uneingestanden politisch? Eine rettende Kritik der Transformativen Wissenschaft, in: https://www.Philosophie-Indebate.de (abgerufen: 15.04.2023).

13U. Schneidewind, Transformative Wissenschaft, 88.

14Ebd., 90.

15Siehe: J. Herberg/J. Staemmler/P. Nanz (Hg.), Wissenschaft im Strukturwandel. Die paradoxe Praxis engagierter Transformationsforschung, München 2021.

II. Rettende Umweltphilosophie

Rettende Umweltphilosophie begreift sich als engagierte, transformative Wissenschaft, geht jedoch über die bisher genannten Kennzeichen hinaus, da sie aktivierend und aktivistisch ist. Als solche erweist sie sich auch als kritisches Korrektiv bestehender Klima- und Umweltethiken. Anders als diese Ethiken steht sie nicht in einem distanzierten Verhältnis zu dem »Ensemble von gelebten Überzeugungen, Gefühlen (…) und Haltungen«1. Sie begreift sich als Teil gelebter Moral.

»Umweltphilosophie« ist ein Mantelbegriff, der Umweltethik, Umweltästhetik, Umweltpolitik, naturphilosophische Reflexionen sowie Klimaethik umfasst. »Umwelt« bezeichnet zunächst einmal all das, was uns umgibt. Gemeinhin bezeichnen wir* mit »Umwelt« unsere »natürliche Umwelt«, wohl wissend, dass es reine, wilde Natur kaum noch gibt, »allenfalls in der Tiefe, im Hochgebirge oder auf fernen Planeten«2. Nichtsdestotrotz gibt es so etwas wie Natur, etwas, »das nicht vom Menschen gemacht wurde, sondern (weitgehend) aus sich selbst entstanden ist, neu entsteht und sich verändert (so wie Tiere, Pflanzen, Steine, Flüsse, Berge, Planeten)«3. Hierbei mag es sich um »menschlich überformte Natur« handeln, aber dennoch ist diese Natur »nicht etwas vom Menschen Gemachtes, sondern eben nur von ihm Überformtes (…).«4 Die Philosophin Angelika Krebs gibt ein Beispiel:

»Den Schwarzwald haben Menschen zwar angelegt, aber nicht gemacht, die Altstadt von Freiburg haben sie gemacht. Natürlich sind die Übergänge zwischen Überformen und Machen fließend (…).«5

An anderer Stelle stellt sie fest:

»Wer glaubt, dass etwas nur deswegen nicht mehr Natur sein kann, weil es von uns berührt ist, der verkennt, dass nicht jede Unterscheidung zwischen einander gegenüberstehenden Begriffen eine Dichotomie sein muss. Er wird blind für das Natürliche im Kultivierten.«6

Für den Philosophen Michael Hauskeller lässt sich heute nicht mehr eindeutig bestimmen, »wo Natur anfängt und der menschliche Bereich aufhört«7.

In der Umweltphilosophie geht es aber gegenwärtig nicht nur und nicht in erster Linie um Natur, Tiere, Pflanzen etc. als bloße Umwelt des Menschen. Von Umwelt zu sprechen heißt heute vor allem, von Umwelt als Zerstörtes, Bedrohtes, zu Rettendes zu sprechen.

II.1 Mit dem Besonderen beginnen

Umweltphilosophie, die retten will, beansprucht mehr und weniger zu sein als Fachphilosophie. Sie ist weniger, weil sie es immer mit konkreten Umwelten konkreter Lebewesen zu tun hat. Sie vermag es nicht, starke Theorien und Systeme zu entwickeln, dafür ist sie zu sehr im Konkreten verstrickt. Und so findet rettende Umweltphilosophie ihre Grundlage auch nicht vornehmlich in abstraktem Wissen, das, wie Michael Hauskeller deutlich gemacht hat, immer Wissen des Allgemeinen ist, sondern in der Wahrnehmung des Besonderen.8 Der Ausgangspunkt der Umweltphilosophie ist Leben, und lebendig ist »nur das Besondere, nicht das Allgemeine«9. Aufgabe rettender Umweltphilosophie ist deshalb eine »Singularisierung« (M. Hauskeller), durch die das Einzelne in den Blick tritt:

»Man kann das Leben nur in seinen individuellen Manifestationen erleben: in einem einzelnen Menschen oder auch in einem Vogel oder in einer Blume. Es gibt kein Leben ›der Massen‹, es gibt kein Leben in der Abstraktion.«10

Rettende Umweltphilosophie wendet sich deshalb gegen Abstraktionen, die das Besondere nivellieren. Sie steht zum einen kritisch gegen einen reduktionistischen naturwissenschaftlich-mechanistischen Blick auf Natur; zum anderen richtet sie sich gegen Singularisierungen, die zwar in sich different, auch vielfach gebrochen sind, aber dennoch im Abstrakten verfangen bleiben, weil es ihnen nicht gelingt, anderes in seiner Individualität und Einzigartigkeit freizusetzen.11So ist Singularisierung in der spätmodernen Gesellschaft zu einem Zwang zur »Besonderung« (A. Reckwitz) verkommen, der immer wieder neu durch »Affektintensivierungen« angestachelt wird, teils von außen stimuliert, teils vom Selbst angefeuert.12 Die daraus hervorgehenden Singularitäten sind nicht aus Anerkennungsverhältnissen geboren, sondern Produkte selbsthergestellter und »hochdynamische[r] soziale[r] Fabrikation«,13 die gegen das Allgemeine in Stellung gebracht werden. In einer Gesellschaft derartiger Singularitäten kann das Verhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen nur in Opposition gedacht werden.

Rettende Umweltphilosophie geht vom Besonderen aus, verweigert sich jedoch einer oberflächlichen binären Betrachtungsweise des Besonderen und Allgemeinen. Die Rede vom Besonderen avanciert zur schlechten Abstraktheit, wenn sie ihre Angewiesenheit auf das Allgemeine nicht erkennt. Das Allgemeine ist nicht nur Bedrohung des Besonderen, denn das Besondere bedarf zur Unterscheidung des Allgemeinen:

»Nur in der Reichweite von begrifflicher Unterscheidung und Darstellung, nur dort also, wo etwas als ein Soundso charakterisiert werden kann, ist es möglich, auch auf die Singularität dieses Objekts zu achten – und damit: es nicht auf eine Bestimmung zu bringen, sondern bei einem Namen zu rufen. Um diesen Berg, dieses Gerät oder diesen Menschen in seiner Besonderheit anzusprechen, bedarf es der Begriffe ›Berg‹, ›Gerät‹ und ›Mensch‹.«14

Das Besondere und das Allgemeine sind deshalb, so der Philosoph Martin Seel, in ihrem Spannungsverhältnis zu thematisieren.15 Das Besondere trägt das Allgemeine in sich, und das Allgemeine vermag auch, das Besondere in seiner Dignität anzuerkennen, indem es dieses als bedeutenden Teil eines größeren Ganzen ausweist. Das Besondere besitzt somit eine individuelle Allgemeinheit. In der Beobachtung einer Biene auf einer Lavendelblüte schwingt mehr mit als die Bewunderung für genau dieses eifrige, tänzelnde, anmutende Wesen. Ich weiß, dass diese Biene unendlich mehr ist als die aktuelle Erscheinung, weil ich sie auch als allgemeine Biene sehe. In diesem Sinne wäre das Besondere im Allgemeinen aufgehoben, ohne durchgestrichen zu sein.

Nichtdestotrotz sind heute die Gefahren, die mit dem Fokus auf das Allgemeine einhergehen, größer als diejenigen, die mit der Rede vom Besonderen verbunden sind.16 Überdies ist das Besondere das Basale, weil es das Lebendige ist. Das Allgemeine als abstraktes Wissen besitzt keine Lebendigkeit.17 Angesichts gegenwärtiger und zukünftiger Bedrohungen erinnert rettende Umweltphilosophie an die Gefahren des Allgemeinen, schützt doch abstraktes Wissen nicht davor, andere Menschen und nichtmenschliche Lebewesen zu verletzen.18 Zudem weiß sie, dass das Abstrakte Ausdruck von Entfremdung sein und/ oder solche produzieren kann. Rettende Umweltphilosophie zeichnet sich dadurch aus, dass sie aufgrund der Nähe, die sie zu Menschen, Tieren, Pflanzen und zu allem, was sie wahrnimmt, besitzt, nicht nur ein Wissen hat, sondern auch eine Erfahrung, mit der die Erkenntnis einhergeht, dass dieser Mensch, der mir begegnet, nicht bloß ein Alter Ego, sondern einzigartig ist; dass dieses Tier nicht bloß Vieh ist; dass diese Pflanze nicht bloß Gewächs ist – sondern, dass dieser Mensch, dass dieses Tier, dass diese Pflanze etwas ist, das jeweils sein bzw. ihr Leben leben will.19 Der Landethiker und Pionier der Umweltethik, Aldo Leopold, schrieb 1949 in seinem berühmten Werk »Ein Jahr im Sand County«: »Ethisch können wir nur handeln, wenn wir in Beziehung zu etwas stehen, das wir sehen, fühlen, verstehen, lieben oder worauf wir vertrauen können.«20

Hauskeller berichtet von einer älteren Dame, die in London

»zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt worden sei, weil sie zu wiederholten Malen und trotz gerichtlicher Verwarnungen das Fütterungsverbot für Tauben mißachtet hatte. Als Begründung gab sie an, daß sie dem Zwang, die Tauben zu füttern, nicht hatte widerstehen können, sobald sie ›in ihre kleinen Gesichter geblickt‹ habe.«

Hauskeller interpretiert das Verhalten folgendermaßen: »(…) die Tauben wurden ihr gleichsam ganz präsent in der Art einer vollkommenen sinnlichen Erkenntnis des Taube-seins. Oder man könnte sagen: die Frau hat ihre Seele gesehen.«21

II.2 Ehrfurcht vor dem Leben