Return Man - V.M. Zito - E-Book

Return Man E-Book

V.M. Zito

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Beschreibung

Er geht dahin, wo die Toten sind

Die Welt ist nicht mehr dieselbe: Horden von Untoten haben die USA überrollt, und das Land ist nun aufgeteilt in den Osten, wo sich die letzten lebenden Menschen verschanzt haben, und den Westen, wo die Zombies Jagd auf Menschenfleisch machen. Nur ein Mann wagt es noch, in die verseuchten Gebiete zurückzukehren, um im Auftrag der Lebenden ihren untoten Verwandten die letzte Gnade zu erweisen und Spezialeinsätze im Land der Toten auszuführen: Henry Marco. Dies ist seine Geschichte ...

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Seitenzahl: 676

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Das Buch

Die Welt ist nicht mehr dieselbe: Horden von Untoten haben die USA überrollt, und das Land ist nun aufgeteilt in die sogenannten Sicheren Staaten im Osten, wo die Überlebenden ein einigermaßen normales Leben führen können, und die Evakuierten Staaten im Westen, wo Zombiehorden Jagd auf Menschenfleisch machen. Nur der ehemalige Neurologe Henry Marco ist in Arizona zurückgeblieben, um im Auftrag der Lebenden ihren untoten Verwandten die letzte Gnade zu erweisen. Aber dieses Leben hat seinen Preis: Marco ist zum Außenseiter geworden, zum Staatenlosen, denn niemand – ob lebendig oder tot – darf die Grenze zu den Sicheren Staaten überqueren. Bis ihm eines Tages die konservative Regierung der Sicheren Staaten die Einreise und ein Leben in Wohlstand in Aussicht stellt, wenn er zuvor einen allerletzten, geheimen Auftrag erfüllt – einen Auftrag, der ihn nach Kalifornien führt, dorthin, wo die Seuche ihren Anfang nahm. Doch die Reise durch das Reich der Toten kann Marco mehr als nur das Leben kosten …

Der Autor

V.M. Zito ist Creative Director einer Werbeagentur und lebt mit seiner Familie in Connecticut. Wenn er am Wochenende nicht gerade auf einsamen Waldwegen joggt, schreibt er Horrorgeschichten. Return Man ist sein erster Roman.

www.twitter.com/HeyneFantasySF@HeyneFantasySF

www.heyne-magische-bestseller.de

V. M. ZITO

RETURN

MAN

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THERETURNMAN

Deutsche Übersetzung von Martin Gilbert

Deutsche Erstausgabe 03/2013

Redaktion: Marcel Häußler

Copyright © 2012 by V. M. Zito

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-10259-3

Für Krissie und Maggie.

Ihr habt mich ins Leben zurückgeholt.

Der Roark-Auftrag

1.1

Die Leiche hockte mit entblößtem schlaffem Oberkörper im schlammigen Wasser am Ufer des Sees und schnappte nach Elritzen, die zwischen den mit Algen bewachsenen Steinen umherhuschten. Marco beobachtete sie durch sein Fernglas. Manchmal erstaunten die Toten ihn schon– sie hatten so flinke Finger und wirkten doch so unkoordiniert. Wie Kleinkinder. Er sah, wie die Leiche zugriff und die leeren Hände aus dem Wasser zog. Dann starrte sie auf ihre Handfläche, während ihr Reptiliengehirn nach der Ursache für dieses Missgeschick forschte. Nachdem ihr auch das nicht gelang, versuchte sie, den nächsten Fisch zu fangen, der wie ein silberner Blitz durchs Wasser schoss.

Marco kniff die Augen zusammen.

Da. An der linken Hand des toten Mannes.

Ein Ehering.

Er zoomte den Ring heran. Schmuck war wie ein Sechser im Lotto, wenn es um die Identitätsbestimmung ging. Haut verweste, Haar fiel aus; dicke Menschen schrumpften, und dünne Menschen wurden von Fäulnisgasen und Bakterien aufgebläht. Wenn man aber das Glück hatte, Schmuck an der Leiche zu finden– ein identifizierbares Schmuckstück, das nicht abgerissen oder abgebissen worden war, dann hatte man den Beweis. Wenn man den Schmuck präsentierte, bezweifelte niemand, dass man den Job erledigt hatte.

Unterhalb seines Standorts tauchte die Leiche wieder die Hand ins Wasser und wühlte den Schlick auf.

»Komm schon«, murmelte Marco. »Komm schon. Zeig’s mir.«

Die Leiche spreizte die Finger, als ob sie ihn gehört hätte.

Was natürlich unmöglich war. Den Hochsitz, auf dem Marco nun schon seit drei Tagen campierte, hatte er in sicherer Entfernung zweihundert Meter bergauf eingerichtet– er verbarg sich hoch oben in einer jungen Drehkiefer, die ihm gute Deckung bot und mit den langen grünen Nadeln die Zeltplane tarnte. Die Plattform maß nur anderthalb Meter im Quadrat; mit der ganzen Ausrüstung hatte er nicht einmal genug Platz, um beim Schlafen die Beine auszustrecken. Eine morgendliche Muskelverspannung nahm er für die sichere Höhe jedoch gern in Kauf. Der Ansitz war nur über die eisernen Stäbe zu erreichen, die er in regelmäßigen Abständen in den Baumstamm getrieben hatte; ausgeschlossen, dass eine Leiche sie zu erklimmen vermochte.

Die Anleitung für den Bau eines Hochsitzes hatte er einem Jägermagazin entnommen, das er vor ein paar Monaten aus einer aufgegebenen Buchhandlung hatte mitgehen lassen– zusammen mit ein paar Gegenständen aus einem geplünderten Sportartikelgeschäft. Mit seiner gediegenen akademischen Ausbildung kam er hier nicht mehr weiter; Jägermagazine und topografische Karten waren die Lektüre, mit der er sich fortan befassen musste. Bevor die Zivilisation kollabiert war, hatte er nicht den Hauch einer Ahnung vom Überleben in der Wildnis gehabt. Nun ging er ohne eine vergilbte, mit Eselsohren verzierte Ausgabe von Camping für Anfänger im Rucksack nirgendwo mehr hin.

Plötzlich verspürte er einen Stich am Hals. Er schlug nach der Mücke und zerdrückte sie auf der Haut.

Mein Gott. Er fühlte sich total verdreckt und erschöpft. Er hatte diese Leiche nun schon seit fast einem Monat verfolgt. Und der Marsch zum See war eine ausgesprochene Strapaze gewesen. Er hatte den Jeep ungefähr dreißig Kilometer weiter südlich abstellen müssen, wo die Bergstraße vom Wrack eines neun Meter langen Ryder-Trucks blockiert wurde. Der Hänger hatte sich zwischen den Bäumen verkeilt– wohl schon vor Jahren, der Korrosion an der aufgerissenen Ladefläche nach zu urteilen. Die Innenausstattung war verschimmelt, die Instrumentenkonsole zerstört, und überall waren Fetzen von orangefarbenem verrostetem Metall verstreut. In der Kabine saß noch der Fahrer; ihm fehlten die Arme, und er war zum Skelett verwest. Irgendein Idiot, der bei der Evakuierung seinen ganzen Krempel mitgenommen hatte. War wie ein Irrer die Serpentinenstraße entlanggerast und hatte schließlich die Kontrolle über das Fahrzeug verloren.

Es war unmöglich, das Wrack aus dem Weg zu räumen, und der Wald war so dicht, dass nicht einmal ein Geländefahrzeug hindurchgekommen wäre. Auf der Karte hatte Marco eine Alternativroute zum See gesucht, doch es wäre ein Umweg von drei Stunden gewesen, bei dem er allzu viel Benzin verbraucht hätte, das sowieso schon zur Neige ging. Also hatte er beschlossen, das Risiko einzugehen, die restliche Strecke zu Fuß zu bewältigen, und war einen Tag lang mit Rucksack und gezogener Waffe marschiert.

Im Vergleich dazu war der Baum hier ein sicherer Hort. Aus großer Höhe genoss er einen freien Blick über den Wald bis zum Ufer– über den künstlichen Strand, die Docks und die einfachen Ferienhäuser, die sich am westlichen Zufluss des glitzernden Lake Onahoe drängten. Alles ruhig.

Dennoch verspürte er plötzlich einen Anflug von Unbehagen, als ob irgendetwas nicht stimmte. Er stieß den Atem aus und musterte den Ring an der Leiche.

Trotz des Schmutzes war der breite goldene Ring gut zu erkennen. Zwölf Millimeter ungefähr. Rechteckige Diamanten in einem gefrästen linearen Muster: Passte auf die Beschreibung, die Joan Roark ihm gegeben hatte. Ehefrauen waren gut darin, wie er selbst schon festgestellt hatte. Männer hatten Mühe, sich an Details zu erinnern– den Preis vergaßen sie komischerweise nie–, aber die Frauen? Sie zeichneten einen Ring aus dem Gedächtnis nach, wenn man ihnen Papier und Bleistift hinlegte.

Marco strich abwesend mit dem Daumen über den Platinring an seiner linken Hand. Der Ring schlackerte um den dünnen Finger. Marco wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er bei einer heftigen Handbewegung über den Knöchel rutschte und zu Boden fiel, ohne dass er den Verlust bemerkte. Er musste mehr essen, um den körperlichen Verfall aufzuhalten. Bis dahin sollte er den Ring einfach abnehmen und irgendwo deponieren, wenn er einen Job erledigte– oder ihn wie eine Hundemarke an einer Kette um den Hals tragen.

Wirklich eine gute Idee. Das würde ihn auch daran erinnern, weshalb er diesen Krieg überhaupt führte.

Danielle…

Marco verkniff es sich, den Gedankengang zu beenden. Er steckte das Fernglas in die aus Netzgewebe bestehende Seitentasche des Rucksacks und konzentrierte sich wieder.

Auf die Leiche.

Ja, es deutete alles darauf hin, dass er Andrew Roark gefunden hatte.

Er warf einen Blick auf den Computerausdruck, der neben ihm an der Zeltplane hing: ein Farbfoto, das Joan eingescannt und von ihrem Zuhause im Osten, den Sicheren Staaten, gesendet hatte. Ein Bild von Roark, als er noch unter den Lebenden weilte.

Das Foto zeigte nur seinen Kopf– Kopfschuss, assoziierte Marco spontan, immer auf den Kopf zielen, die einzige Möglichkeit, einer Leiche wirklich den Garaus zu machen – und stammte aus dem Jahresbericht von Roarks Firma: Tylex, ein großes Fortune-500-Unternehmen. Andrew J. Roark, Finanzvorstand, ein Topmanager in den Fünfzigern. Teurer Zwirn, Doppelkinn, ein Stiernacken, der in einem gestärkten weißen Kragen eingezwängt war.

Roark hatte rosige Wangen und eine große gebogene Nase, die ihm das Aussehen von Bibo, dem Vogel aus der Sesamstraße, verlieh. Ein freundlicher Typ, fand Marco, jemand, der gerne lachte. Ein von Herzen kommendes Lachen– jemand, der sich in seiner Rolle als Chef nicht wohlfühlte; jemand, der auf der Unternehmensfeier eine Baseballkappe trug und den Leuten sagte, dass sie ihn Andy nennen sollten. Er hatte klare, kluge blaue Augen; das kurze Haar glänzte silbern an den Schläfen und dunkel auf dem Kopf.

Die Leiche unten am Fluss hatte blinde weiße Säcke anstelle von Augen und ein paar Haarsträhnen auf einer verwesten Kopfhaut. Aber alles andere stimmt, sagte Marco sich. Mit etwas Fantasie. Wenn man den Tribut berücksichtigte, den die zwei Jahre gefordert hatten, seit der Tod eingetreten war. Die Haut war fleckig wie Gorgonzolakäse, die Ohren verschrumpelt, und die Nasenspitze fehlte– sie war abgefressen worden. Doch wenn man das alles ignorierte, was sah man dann?

Marco nickte. Er war ziemlich überzeugt, dass das Ding da unten Roark war. Und doch…

Er wusste es nicht mit Sicherheit.

Nicht, bis er diesen Ring aus der Nähe sah.

1.2

Langsam, um möglichst keine Geräusche zu verursachen, streckte Marco auf dem Hochsitz die Hand aus und griff nach seinem Gewehr– eine kompakte Ruger I-A, die er letztes Jahr glücklicherweise neben der verstümmelten Leiche eines Jägers in Utah gefunden hatte. Eine gute Waffe. Mit einem langen Lauf, aber nicht zu schwer, eigens für die Jagd in den Bergen konzipiert: zielgenau auf fast dreihundert Meter. Große Durchschlagskraft.

Er nahm die Leiche ins Visier. Erstaunlicherweise hatte sie nun doch etwas gefangen. Einen Frosch, der sich im Schlick versteckt hatte. Der Laubfrosch ragte aus der Faust der Leiche hervor. Er wand sich und zappelte mit den Beinen. Der tote Mann führte die Hand zum Mund, schob den mit Schlick überzogenen Frosch hinein und biss mit einem heftigen Ruck des Kopfs zu. Ein brauner Brei quoll ihm zwischen den Zähnen hervor.

Marco schauderte. Kermit der Frosch hatte Pech gehabt. Das war das Problem mit Verstecken– sowohl unten im Schlamm als auch oben im Baum.

Man wiegt sich in Sicherheit, bis man feststellt, dass es doch nur eine trügerische Sicherheit ist.

Marcos Halswirbel knackten, als er den Wald unter und neben sich inspizierte und nach ungewöhnlichen Schatten zwischen den geraden dunklen Stämmen suchte. Er lauschte nach den Geräuschen von Füßen, die durch totes Laub schlurften. Doch er hörte und sah nichts Verdächtiges. Selbst die Luft schien an diesem Morgen rein zu sein und trug im Nieselregen die unverfälschten Gerüche des Waldes heran.

Doch er war trotzdem besorgt, denn die Toten vermochten sich auch gut zu verstecken. Manchmal schienen sie förmlich wie aus dem Nichts aufzutauchen. Und aus Erfahrung wussteer, dass ein Gewehrschuss eine ganze Horde anziehen konnte.

Auch wenn der Wald sich schier endlos auszudehnen schien, die Stadt Wilson lag direkt auf der anderen Seite des Bergs, ungefähr acht Kilometer die Route 78 entlang. Wilson mit seinen fünftausend Einwohnern– ehemals fünftausend Einwohnern–, eine Oase in der Wildnis von Montana, in der die Leute, die früher am See ihre Sommerferien verbracht hatten, sich mit Vorräten eingedeckt hatten.

Der Lebensmittelladen, das Kino, die Videothek, deren Sortiment zum größten Teil noch aus VHS-Kassetten bestand. Marco hatte der Versuchung widerstanden, auf dem Marsch der Stadt einen Besuch abzustatten, um seine Vorräte aufzustocken. Stattdessen hatte er sie in einem großen Bogen umgangen. Orte wie Wilson bedeuteten Gefahr. Gott bewahre, dass er fünftausend Leichen aufweckte. Zumal sie, soweit er wusste, ohnehin schon hier draußen waren und Waldspaziergänge unternahmen. Jedes unvorsichtige Geräusch konnte eine Meute anlocken, die dann wie ein Rudel Hunde um seinen Baum herumtobte, und er würde Kugeln verschwenden müssen– oder noch schlimmer, es würden schließlich so viele kommen, dass ihm die Munition ausging. Er würde hier festsitzen, während Wilson eine gottverdammte Bürgerversammlung unter ihm abhielt.

Verdammt. Er wollte erst auf Nummer sicher gehen, bevor er etwas unternahm.

Er konzentrierte sich auf die Erinnerung an das Fotoalbum, das Joan Roark ihm gezeigt hatte. Der Lebensweg eines Menschen. Ein jüngerer und schlankerer Andrew Roark– selbst die Nase wirkte kleiner– im weißen Smoking an seinem Hochzeitstag, das schwarze Haar straff zurückgekämmt, eine Zigarette im grinsenden Gesicht. Roark im Lauf der Jahre, während er älter wurde und an Gewicht zulegte, sich besser kleidete und in einem schöneren Haus wohnte. Geburtstage, Weihnachtsfeiern, Halloween in einem Vogelscheuchenkostüm mit den Kindern. Dann Roark wieder mit Mitte fünfzig, an einem Banketttisch, mit einem strahlenden Lächeln, den Arm um Joan gelegt, vor ihnen Champagnergläser auf einem weißen Tischtuch. Er hielt drei Finger in die Kamera. »Unser dreißigster Hochzeitstag«, hatte Joan gesagt.

Und ihr letzter.

Aber es waren die Urlaubsbilder, an die Marco sich am lebhaftesten erinnerte. Eine Bilderchronik, die Jahrzehnte umspann. Andrew und Joan am See. Auf den ersten Fotos waren nur die beiden allein zu sehen, als frisch Vermählte. In einem Kanu, am Strand, in einer Hängematte auf der Veranda einer Ferienhütte aneinandergekuschelt. Dann kam ein Kind dazu, und dann noch eins. Die Kinder wurden älter, und dann waren es schon Enkelkinder, die Schlauchboot fuhren, auf dem Rasen herumtollten und am Dock mit Roark angelten. Auf einem der letzten Bilder waren Joan und Andrew wieder im Kanu zu sehen und winkten in die Kamera.

Lake Onahoe war ihr Urlaubsziel. Jeden Juli, dreißig Sommer lang. »Er hat ihn so geliebt«, hatte Joan gesagt. »Er konnte es nicht erwarten, bis der Juni vorbei war und er endlich wieder zum See fahren konnte.«

Aus diesem Grund hatte Marco auch die Reise nach Montana unternommen. Er hatte schon drei Wochen mit zwei erfolglosen Suchaktionen vergeudet. Zuerst Roarks Heimatstadt und dann sein Büro in Seattle.

Doch an diesem Ort schien er nun den Jackpot geknackt zu haben.

Roarks Leiche war fast fünfhundert Kilometer weit gewandert, nur um hier zu verrotten.

Alle Toten machten das. Sie suchten sich irgendeinen Ort aus, an dem sie dann ihr Unwesen trieben. Das war allerdings keine bewusste Entscheidung; die Leichen besaßen nämlich kein Denkvermögen, sondern wurden von einem Impuls angetrieben, der auch für Marco unerklärlich war. In seiner Eigenschaft als Neurologe– du bist jetzt ein Ex-Neurologe, korrigierte er sich– hatte er aber zumindest eine Vermutung. Ihre Gehirne waren auf das Stammhirn reduziert worden. Die Hirnfunktionen liefen nur noch im primitiven Reptilienkomplex ab, der von Zorn, Angst, Überlebensdrang und Hunger dominiert wurde. Dennoch fanden im neuronalen Netzwerk noch rudimentäre Aktivitäten statt: Es floss ein sehr schwacher Strom von der Amygdala in den präfrontalen Cortex. Ein Rest des emotionalen Gedächtnisses des höheren Gehirns.

Er bezweifelte jedoch, dass das ein Trost für die Toten wäre. Andererseits schien es sie auch nicht zu kümmern. Es wirkte einfach wie eine Gravitationskraft, die ihre kalten Körper dorthin zog, wo die Restwärme ihres Lebens nachglühte.

Für Roark war dieser See der Ort, wo auch das enden würde.

Marco legte die Ruger an und suchte das Seeufer ab; ein letztes Mal hielt er durch das Zielfernrohr Ausschau nach möglichen Gefahren, bevor er zum Schuss ansetzte. Im Fadenkreuz schien das Seeufer ruhig. Nichts Neues, nichts, was er zuvor übersehen hätte. Auch keine Anzeichen dafür, dass irgendjemand im Hinterhalt lag.

Konzentrier dich, sagte er sich. Vorsicht war natürlich geboten– doch wenn er übervorsichtig war, würde die Leiche vielleicht wieder zwischen den Bäumen verschwinden, und dann hätte er sein leichtes Ziel verloren. Und Marco hatte nicht die geringste Lust, dem toten Mann durch dichten Wald und gebirgiges Gelände zu folgen. Also schlang er den Gewehrriemen um den äußeren Arm, um im Sitzen einen sicheren Schuss platzieren zu können.

Er stellte das Visier ein. Zweihundert Meter, ins schwarze Loch des verschrumpelten Ohrs der Leiche. Der kalte Schaft aus Walnussholz drückte gegen Marcos Wange.

Er sah, wie sich Roarks Unterkiefermuskeln anspannten. Die Kiefer zerkauten noch immer den knorpeligen Frosch. Die Leiche ließ emotionslos den Blick über den See schweifen.

Marco wartete, bis sie den Kopf wieder ruhig hielt.

Jetzt. Das Fadenkreuz kam mit der Mitte des Ohrs zur Deckung.

Ein kurzes Zögern…

…und Marco feuerte.

1.3

Der Knall der Ruger hallte zwischen den Bäumen wider, und die Kiefernadeln vibrierten millionenfach. Er sah, wie ein Stück der Schädeldecke der Leiche weggesprengt wurde, seitlich wegflog und wie ein flacher Kiesel zweimal über die Wasseroberfläche hüpfte. Das Echo des Schusses wurde von den Bergen auf der anderen Seite des Sees zu Marco zurückgeworfen. Er schaute halb betäubt zu, wie die Leiche mit dem Gesicht nach unten ins flache Wasser fiel und es mit dieser ekligen Flüssigkeit verunreinigte, die diese Dinger absonderten– es war kein richtiges Blut, sondern schwarz und flüssig wie Durchfall. Dann blieb sie reglos dort liegen.

Was auch immer von Andrew Roark in diesem wiederbelebten Stück Fleisch noch übrig gewesen war– nun war es endgültig verschwunden.

Alle Körperteile waren gleichermaßen tot.

Marco sah, wie die Leiche etwa einen Meter vom Ufer entfernt auf den Wellen schaukelte. Der See und der Wald verharrten nach dem Schuss in totaler Stille. Er stellte sich vor, wie die Insekten, die Vögel und die anderen Tiere den Atem anhielten und ihre Herzen wie Presslufthämmer in der Brust schlugen.

Er warf die leere Patronenhülse aus und setzte das Gewehr auf der Plattform ab. Dann legte er den Kopf zurück und schloss die Augen. Er lauschte, sog den vitalisierenden Duft der Kiefern ein und atmete durch den Mund wieder aus. Er wartete. Minuten vergingen. Die Stille drohte ihn zu überwältigen.

Nach dem Schuss hatte er dieses eigenartige Gefühl verspürt– wie die Trauer um einen Menschen, den er gekannt hatte und der ihm wichtig gewesen war. Marco wusste, dass persönliche Gefühle keine Rolle spielen durften. Dennoch vermochte er sie nicht zu verdrängen. Das wäre auch kaum möglich gewesen. In den letzten zwei Monaten war Roark eine Art Gefährte geworden, der Marcos ganzes Denken beherrscht und ihn bei der Planung vor so manche Herausforderung gestellt hatte. Das klang pathetisch, aber es war die Wahrheit. Und nun war es vorbei.

Roark war zurückgegeben worden.

Also saß Marco da und wartete darauf, dass die Trauer und die Stille verflogen.

Allmählich erwachte die Tierwelt wieder zum Leben. Eichhörnchen keckerten. Meisen und Ammern kehrten auf ihre Bäume zurück und verständigten sich mit lautem Gezwitscher. Zikaden stimmten wieder ihren Gesang an. Marco ließ noch einmal zehn Minuten verstreichen, nur um sicherzugehen, und lauschte den Geräuschen des Waldes– aber er erkannte keinerlei Anzeichen von Gefahr. Er griff wieder zum Fernglas und kontrollierte die Leiche.

Roarks verrenkter Körper trieb ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo Marco ihn niedergestreckt hatte, im flachen Wasser und schlug gegen die Felsen. Das trübe Wasser des Sees strömte unter der Leiche dahin, und die vom Berg kommenden Winde wühlten den See auf und verursachten starken Wellengang. Scheiße, sagte Marco sich. Die Leiche wurde von Fäulnisgasen aufgebläht und bekam dadurch Auftrieb. Wenn das aufgewühlte Wasser sie von den Felsen wegbewegte, nur ein Stück weit nach rechts, würde der Kadaver auf den See hinausgetrieben, wo das Wasser am tiefsten war.

Er würde zwar nicht untergehen– aber Marco hatte auch keine Lust, rauszuschwimmen und ihn zu bergen.

Genug sinniert. Beweg deinen Arsch.

Mit geübten Bewegungen holte er zwei Handfeuerwaffen– eine Polizeipistole Glock .40 und eine Kimber, die er in Phoenix in einem verlassenen Einsatzfahrzeug der Anti-Terror-Einheit SWAT gefunden hatte– aus der Seitentasche des Rucksacks und steckte sie in sein Brustholster. Aus einer anderen Tasche zog er ein Jagdmesser, nahm die Messerscheide vom Gürtel ab und verstaute drei Reservemagazine in der Weste. Außerdem nahm er noch ein Nylonseil mit für den Fall, dass er die Leiche bergen und an Land bringen musste, dann robbte er zur Rückseite des Hochsitzes, drehte sich um und trat auf die erste Trittstange…

…als er es hörte.

Bei diesem Geräusch traten ihm immer die Tränen in die Augen, und es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter.

Der Schrei. Erstickt, gurgelnd und röchelnd… kein leises Stöhnen, sondern ein schriller Schrei, der einem durch Mark und Bein ging und der sich unnatürlich einer Kehle zu entringen schien, deren dazugehörige Lungen schon längst versagt hatten.

Irgendwo im Osten. Noch immer weit entfernt– Gott sei Dank– stieg ein lang gezogenes Wimmern über die Bäume auf, aber Marco sah nichts außer Wald. Schwer atmend schwang er sich wieder nach oben auf die Plattform. Kurz darauf folgte ein zweiter Schrei. Also mehr als eine Leiche. Dann ein dritter Schrei und ein vierter. Und dann waren es zu viele, um sie noch zu zählen. Marco schauderte. Gütiger Gott, wie er dieses Geräusch hasste.

Er hasste es, weil sie dadurch noch am menschlichsten wirkten. Der erbärmliche Laut war der Berührungspunkt zwischen seiner Existenz und ihrer; der schlechte Scherz, dessen Opfer sie alle waren. Sie litten. Er litt. Und wo er sie nun hörte, hörte er auch den Schmerz. Die Frustration, die Furcht, die ihm jede Nacht die Brust zuschnürten, wenn er in seinem Zimmer auf der Basis einzuschlafen versuchte. Dann wollte er immer schreien, hütete sich aber, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Er durfte seine Seelenqualen auf keinen Fall laut herausschreien.

In dieser Hinsicht beneidete er sie sogar.

Er suchte den östlichen Horizont ab. Eine kleine Gruppe durcheinanderwirbelnder schwarzer Flecken erschien etwa drei Kilometer entfernt über der Baumlinie. Truthahngeier. Marco hatte herausgefunden, dass die Vögel ein hervorragendes Frühwarnsystem waren, wie Kanarienvögel in einem Bergwerk. Sie wurden von Verwesungsgeruch angelockt; und wenn sie erst einmal eine Leiche erspäht hatten, folgten sie ihr tagelang und flogen immer wieder Angriffe auf den wandelnden Kadaver, wobei sie im Sturzflug an einem Bein oder am Hals pickten. Zwei oder drei Vögel konnten eine Leiche bei »lebendigem Leib« auffressen. Das war auch nur gerecht, falls es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt noch gab.

Bei größeren Ansammlungen von Toten blieben die Vögel normalerweise in der Luft und hielten Ausschau nach einzelnen, versprengten Leichen. Ihre Anwesenheit war Marco früher schon zugutegekommen und hatte ihm mehr als einmal den Arsch gerettet, sodass er sie inzwischen fast schon als Verbündete betrachtete. Das spricht Bände, sagte er sich manchmal verdrießlich. Meine einzigen Freunde sind Geier. Damals in der Basis hatte er die Angewohnheit gehabt, morgens gleich nach dem Aufwachen aus dem Fenster zu schauen und den Himmel nach Geiern abzusuchen. Als wollte er sich vergewissern, ob es regnen würde.

Um herauszufinden, was für ein Tag es werden würde. Viele Geier bedeuteten nämlich einen schlechten Tag.

Das unheimliche Heulen schwoll wieder an und ertönte nun lauter als je zuvor. Marco vermutete, dass die Horde der Leichen– bei dem Lärm, den sie veranstaltete, schätzte er ihre Anzahl auf etwa fünfzig– seinen Standort vielleicht in einer halben Stunde erreicht haben würde. Dabei kalkulierte er mit ein, dass das Terrain uneben und mit Wurzeln und Felsbrocken übersät war. Vielleicht zogen sie aber auch gar nicht in seine Richtung. Mit etwas Glück würden sie ihn links liegen lassen.

Er runzelte die Stirn. Es gab eigentlich keinen Grund für das Unbehagen, das er verspürte. Er selbst hatte nur einen kurzen Weg zum See, einen kleinen Abstecher: die Leiche überprüfen, den Ring bergen und auf den Hochsitz zurückkehren. Höchstens eine Viertelstunde. Mit der geschlossenen Zeltplane würden sie ihn hier oben niemals entdecken. Es war zwar keine ideale Situation, aber eine akzeptable. Auf jeden Fall besser, als wenn er zugelassen hätte, dass die Leiche in die Mitte des Sees abtrieb.

Geistesabwesend zwirbelte er das linke Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger– diese Angewohnheit hatte er als Kind schon gehabt, wenn er nachdachte. Er drückte den Knöchel in ein kleines dreieckiges Loch im Ohrläppchen. Es hatte die Konturen eines Zahns und war entstanden, als er im Alter von sieben Jahren von einem Hund gebissen worden war. Das war vor nunmehr fünfunddreißig Jahren an einem Sommermorgen geschehen, als er im Garten zwischen die Hecken gekrochen war, um nach einem Gummiball zu suchen. Ohne Warnung war Frankie, die gelbäugige Töle der Nachbarn, mit gefletschten Zähnen durch die Hecke gebrochen. Diese furchtbare Schrecksekunde verfolgte Marco noch bis heute. Das wütende animalische Knurren, der schwarze Kopf, der explosionsartig durch die Blätter brach, das Gewicht des warmen, stinkenden Tiers, das ihn in den Gartenmulch drückte.

Er wird mich fressen, hatte er sich wie in Trance gesagt, als Krallen sein Hemd zerrissen und ihm den Rücken zerkratzten.

Seine erste Lektion, dass Monster nicht nur in der Einbildung existierten. Sie konnten einen auch im wirklichen Leben heimsuchen.

Bis zum heutigen Tag hatte er eine Heidenangst vor Hunden.

»Ach, zum Teufel«, sagte er sich schließlich. »Packen wir’s an.«

Im Bewusstsein, dass die Zeit drängte, setzte er wieder einen Fuß auf die oberste Stange und führte dann den rechten Fuß nach, bis er die darunterliegende Stange spürte. Zügig kletterte er den Baum hinab. Er presste sich eng gegen den Stamm und hörte, wie das Holster in schnellem Rhythmus gegen das immergrüne Holz schlug.

Am Boden sondierte er das Terrain. Die großen Farne, die den Waldboden wie ein Teppich überzogen, leuchteten grün und standen voll im Saft. Tautropfen glitzerten an Spinnweben zwischen den Farnwedeln, und Sonnenlicht stach wie weiße Speere durch die Baumwipfel. Die einzige Auffälligkeit war eine Schneise aus teils zertrampelten Pflanzen, die nach Süden führte– eine Spur, die er gestern auf dem Weg zum See selbst gezogen hatte. Er entsicherte vorsichtshalber die Glock und folgte dem Pfad.

Es war ein gutes Gefühl, die Beine auszustrecken, die verkrampften Glieder zu entspannen und sich wieder einmal zu bewegen.

Ungefähr dreißig Meter bergab wurde die Luft schon deutlich wärmer, und als er sich umschaute, sah er einen leichten Nebel über sich. Er hatte in einer Gebirgswolke gesessen, ohne es überhaupt bemerkt zu haben. Der Dunst verschleierte aber auch die zertrampelte Vegetation. Könnte von Vorteil sein, sagte er sich.

Oder auch nicht. Marco bezweifelte, dass die Leichen über die geistigen Fähigkeiten verfügten, ihn zu verfolgen. Er sollte lieber auf die Umgebung achten und sich markante Landschaftsmerkmale einprägen. Wie zum Beispiel einen großen grauen, abgeplatteten Felsbrocken und einen halb umgestürzten Baum, der schräg aus einem Hügel aus ineinander verschlungenen Wurzeln wuchs. Marco fügte sie seiner mentalen Landkarte hinzu. Er durfte es nicht riskieren, sich auf dem Rückweg zum Hochsitz zu verirren.

Und schon gar nicht, wenn Monster hinter ihm her waren.

Je näher er dem See kam, desto lichter standen die Bäume, und die Luft roch wie in einem muffigen Keller. Dann stieß er auf ein Gewirr von Fußabdrücken– manche von nackten Füßen, andere nicht– in der weichen Erde.

Dieser Bereich war vor Kurzem noch »heiß« gewesen.

Er machte sich deswegen aber nicht allzu viele Sorgen. Er hatte diese Spuren schon vor ein paar Tagen, an seinem ersten Morgen am See, gesehen und überprüft. Dann war er zu den Ferienhäusern gegangen, um sich zu vergewissern, dass er allein hier draußen war. Die acht identischen Häuser hatten in Reih und Glied vor ihm gestanden– ansehnliche Gebäude, aus rotbraunen Baumstämmen errichtet: Sie waren zweigeschossig und hatten einen angebauten Kamin aus Stein. Die Fenster glichen dunklen Höhlen.

Sämtliche Türen waren verschlossen, was er beruhigend fand. Die ehemaligen Bewohner waren wahrscheinlich aus eigenem Antrieb gegangen. Sie waren noch am Leben gewesen und dem Gewaltausbruch entkommen. Wahrscheinlich waren sie schon wieder zu Hause, als die Evakuierungsbefehle von der Regierung kamen. Er bezweifelte zwar, dass er hier noch jemanden finden würde, aber er musste sich natürlich überzeugen. Er schlug bei jeder Vordertür die Glasscheibe ein, wobei er mit seiner Isomatte den Schall dämpfte, und kroch dann mit gezogener Waffe durch die schattigen Flure. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und machte jedes Mal einen Satz, wenn ein Eichhörnchen über das Dach huschte.

Verlassen– alle verlassen. Sicher. Ausgeräumt waren sie auch, die Kommoden und Schränke leer. Auf dem Esstisch von Haus Nummer sieben– gleich neben dem Haus der Roarks– fand er eine handschriftliche Notiz:

Jay, du bist hoffentlich nicht hierhergekommen. Falls doch– wir mussten zu Kim und Robert nach Connecticut gehen. Bitte ruf an. Tut uns leid. Wir wussten nicht, wo du warst, und die Armee hat gesagt, dass wir nicht länger hierbleiben dürften. Es geht uns gut. Wir haben uns der Eskorte angeschlossen. Dir geht es hoffentlich auch gut. Dad hat gesagt, wir sollten dir die Remington dalassen, falls du kommst. Sie ist im Schrank im Flur.

Marco überprüfte den Schrank. Nichts außer ein paar Drahtkleiderbügeln und Sägespänen auf einem Sperrholzregal. Er steckte den Zettel in die Weste. Es war nämlich auch eine Telefonnummer daraufgekritzelt, und er spielte mit dem Gedanken, nach der Rückkehr zur Basis zu versuchen, telefonisch nach Connecticut durchzukommen. Um sich zu erkundigen, ob Jay überhaupt dort eingetroffen war.

Wie dem auch sei, diese Fußabdrücke waren schon nicht mehr so ausgeprägt, denn der Schlamm wurde vom morgendlichen Sprühregen neu modelliert. Außer an einer Stelle– dort befanden sich frische, scharf konturierte Abdrücke in den rostfarbenen Kiefernadeln.

Seine Hand schloss sich um die Glock. Er musterte die neuen Abdrücke und folgte ihnen in beiden Richtungen. Nach Norden wichen sie von seinem eigenen Pfad ab und verschwanden im Wald; nach Süden zogen sie sich im Zickzack zwischen den restlichen Bäumen hindurch zur sandigen Uferböschung. Genau in die Richtung, die Marco auch eingeschlagen hatte.

Roark, sagte er sich und entspannte sich. Dort hatte Marco die Leiche erstmals erspäht, als sie vom Waldrand zum Wasser trottete.

Mit neuem Mut folgte Marco den Spuren die letzten fünfzig Meter zum Strand. Am Waldrand verloren die Spuren sich im feinkörnigen Sand. Kein Problem. Er ging zielstrebig aufs Wasser zu und in Richtung des Docks und der Hütten am anderen Ende des Strands am Ufer entlang. Eine halbe Minute später sah er auch schon die mit schleimigen Algen überzogenen Felsen, wo er die Leiche niedergestreckt hatte.

»Scheiße«, sagte er.

Die Leiche war nicht mehr da.

1.4

»Scheiße«, sagte Marco wieder– diesmal noch zorniger.

Er ließ den Blick über den See schweifen bis zu dem Bereich, wo das Wasser tiefer wurde. Wie er schon befürchtet hatte, schwamm die Leiche etwa zehn Meter vom Ufer entfernt, bekleidet mit einer vollgesogenen dunkelgrünen Hose, Arme und Beine gespreizt. Die Seite des Kopfs, aus der ein Stück herausgeschossen worden war, zeigte nach oben und zog Wasser. Die Leiche trieb mit jeder Sekunde weiter ab und hinterließ eine Spur aus Gehirnmasse und Schädelknochensplittern.

Marco begriff sofort, dass das Seil, das er mitgenommen hatte, ihm nichts nützen würde. Die Idee, die Leiche wie ein Cowboy mit dem Lasso einzufangen, erschien ihm nun reichlich absurd, während er zu dem immer kleiner werdenden Ziel spähte.

Er rieb sich die Stirn. Er hatte im Grunde nur zwei Möglichkeiten. Auf den See hinauszuschwimmen– was bedeutete, dass er die Waffen an Land zurücklassen und sich ausziehen müsste, wenn er nicht die ganze Nacht in durchnässter Kleidung verbringen wollte. Bei den vielen Leichen, die sich hier herumtrieben, durfte er es nämlich nicht riskieren, ein Feuer anzuzünden. Oder er machte wieder kehrt, ging zum Hochsitz zurück und hakte diesen Tag einfach ab. Joan Roark würde sich dann eben auf sein Wort verlassen müssen– auch ohne einen konkreten Nachweis, dass er den Job erledigt hatte. Daswäre zwar die schlechteste Lösung, aber vom Vertrag gedeckt.

Allerdings gefiel ihm keine dieser Optionen.

Hoffnungsvoll schaute er in Richtung des Docks. Neben einer Pfahlkonstruktion lag ein ausgebleichtes rotes Kanu kieloben im Sand. Doch schon von hier aus erkannte er ein Loch im Rumpf, wo das Holz aufgrund mangelnder Pflege während mehrerer Winter einfach zerbröselt war. Das Boot war nicht seetüchtig.

Im Bewusstsein, dass seine Unschlüssigkeit ihn nur Zeit kostete, blickte er über die Schulter zurück. Der Berg verstellte ihm die Sicht nach Osten, sodass er nicht zu erkennen vermochte, wie weit die Geier schon vorangekommen waren. Doch seine innere Uhr sagte ihm, dass er besser schnell eine Entscheidung treffen sollte.

Fluchend bückte er sich, schnürte die Stiefel auf und kickte sie weg. Dann zog er die Hose aus.

Er legte die Hose, die Weste und das lange ClimaCool-Hemd ab, doch das Holster mit der Kimber hängte er sich wie einen Gürtel um den Hals. Völlig unbewaffnet wollte er nun auch wieder nicht gehen. Und wenn er ausgesprochenes Glück hätte, würde es ihm vielleicht sogar gelingen, den ganzen Weg in den See hinauszuwaten. Er legte die Glock auf die zusammengefaltete Kleidung und griff nach dem Messer. Das wollte er auch noch mitnehmen.

Das Wasser war kälter, als er es im September erwartet hätte– selbst für Montana. Mit zusammengebissenen Zähnen watete er schnellstmöglich ins Wasser und ignorierte den Kälteschock in den Hoden, als sie ins Wasser eintauchten. Der Seeboden bestand aus einem Flickenteppich aus Gestein und zähem Schlick. Als Kind hatte er das Gefühl von Schlamm zwischen den Zehen immer gehasst; er hatte Angst vor Blutegeln gehabt, die dort vielleicht verborgen waren. Doch nun konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er war ein ängstlicher Junge gewesen, der sich vor allem und jedem fürchtete.

Ihr müsstet mich jetzt mal sehen. Wenn es nur Blutegel sind,die heute an mir nagen, kann ich mich noch glücklich schätzen.

Nach zwei Dutzend Schritten reichte das Wasser ihm schon bis zur Mitte der Brust, doch dann stabilisierte der Pegel sich, und er kam noch einmal doppelt so weit, ohne tiefer einzutauchen. Wenn man im Wasser stand, war es schwierig, die Leiche zu sehen. Und er verausgabte sich auch noch sinnlos, indem er sich auf etwas zubewegte, das sich schließlich als ein Baumstamm entpuppte– bevor er dann eine fettige Spur bemerkte, die wie ein Ölfleck auf der Wasseroberfläche aussah.

Das stammte von der Kopfwunde. Marco folgte dieser Spur und erspähte wenig später Roark, der nur ein paar Meter vor ihm trieb.

Er kämpfte sich durchs Wasser zur Leiche hinüber. Roarks bloßer Rücken ragte wie ein Walbuckel aus dem Wasser; die weiße Haut war purpurfarben verfärbt und mit Quetschungen und Blutergüssen übersät– fast schon wieder ästhetisch wie die Muster auf einem Schmetterlingsflügel. Marco griff mit der freien Hand nach der Leiche, um sie festzuhalten, bevor sie noch weiter abtrieb. Doch dann überlegte er es sich anders. Mit dem Messer stach er der Leiche in den Rücken. Ein neuer Strom schwarzer Flüssigkeit entsprang zwischen zwei Rippenknochen und tropfte in den See. Marco schaute zu.

Die Leiche zuckte nicht einmal.

Zufrieden packte Marco die Leiche an den Schultern und drehte sie um. Der tote Roark wandte nun das Gesicht der Sonne zu; der Mund stand offen und zeigte zwei Reihen kariöser brauner Zähne. Das Ding stank förmlich zum Himmel.

Marco musterte die toten Augen und den sperrangelweit geöffneten Mund. Eine erlegte Leiche war aus der Nähe oft ein schauderhafter Anblick, der das ursprüngliche Erfolgserlebnis ins Gegenteil verkehrte. Manchmal wünschte er sich, sie würden friedlich aussehen, erleichtert oder vielleicht sogar dankbar. Er hatte einmal eine Geschichte von Edgar Allan Poe gelesen– Die Tatsachen im Falle Waldemar–, wo ein alter Mann widernatürlich unter Hypnose am Leben erhalten worden war, nur um zu Staub zu zerfallen, nachdem man ihn aus der Trance befreit hatte. Befriedigend war das nicht. Eine Rauchwolke, ein lautes Zischen. Ein greller Blitz. Irgendetwas Spektakuläres. Stattdessen das hier: ein totes armes Schwein, das überhaupt nicht wusste, wie ihm geschah.

Normalerweise machte Marco ein paar Aufnahmen, aber er hatte seine Digitalkamera in der Basis zurückgelassen. Joan Roark hatte ausdrücklich auf Fotos verzichtet, was Marco nur recht war; der Ring war schließlich der eigentliche Nachweis. Marco zog Roarks linken Arm aus dem Wasser– die Haut war zäh wie Leder– und packte das Handgelenk. Der goldene Ring funkelte wieder nach dem reinigenden Bad im See.

Und plötzlich sträubten sich Marco die Nackenhaare.

Er kannte dieses Gefühl. Die unterbewusste Wahrnehmung eines Hintergrundgeräusches. Manchmal bezeichnete er es scherzhaft als »Zombie-Sinn«. Er wirbelte herum und schaute aufs nahe Ufer.

Und da waren sie. Zwanzig Leichen, vielleicht auch mehr.

Das Blut gefror ihm in den Adern, als würde plötzlich kaltes Seewasser durch den Kreislauf gepumpt.

Da hatte sich eine desolate Truppe im Sand versammelt. Männer und Frauen mit grauer Haut und leeren Augen, mit zerrissenen, löchrigen Kleidern behangen wie in einem düsteren Porträt aus der Großen Depression. Ihr Haar war fettig und verfilzt, mit Blut und weiß Gott noch was verkrustet.

Da standen sie nun und sahen ihn mit baumelnden Armen und schwankenden Leibern an– diesen gespenstischen langsamen Tanz vollführten sie manchmal, während sie darauf warteten, dass ein anderer Instinkt einsetzte. Er selbst stand reglos da, um sie nicht zum Angriff zu reizen. Doch er wusste, dass das unvermeidlich war. Sie hatten Hunger. Ihre toten Augen richteten sich mit emotionslosem Interesse auf ihn, und sie reckten die Hälse. Ruhig zog er die Kimber.

Sie machen es spannend, sagte er sich. Gleich geht der Tanz los.

Das konnte aber unmöglich die Horde sein, die er früher gehört hatte– die aus dem Osten. Ausgeschlossen, dass sie so schnell gewesen wären. Sein Gesicht rötete sich vor Wut auf sich selbst; er war so auf die eine Bedrohung fixiert gewesen, dass er ein Dutzend anderer Gefahren ignoriert hatte. Wahrscheinlich hatten diese Dinger in der Nähe gelauert, im Wald hinter den Ferienhäusern im Hinterhalt gelegen und waren erst aus der Deckung gekommen, als sie ihn ins Wasser hatten gehen sehen.

Sie würden jetzt jede Sekunde angreifen. Er ignorierte die innere Stimme, die flüsterte: Du bist im Arsch. Roarks Körper schlug gegen seine Hüfte. Er verschaffte sich einen festen Stand und richtete die Kimber auf eine Leiche am Ufer– einen schmächtigen Mann ohne Hemd, der einen Bolotie um den Hals trug. Marco zielte sorgfältig. Das war der einzige Schuss, bei dem er sich Zeit lassen konnte.

Also mach was draus.

Die Szenerie vor ihm war lautlos; er hörte, wie eine Bremse summend an ihm vorbeiflog.

Die Pistole knallte.

Und die Hölle brach los.

1.5

Der Schädel der hageren Leiche wurde zurückgeschleudert, als die Kugel einschlug, und feuchte weiße Gehirnmasse ergoss sich über ihren Rücken; der tote Mann verdrehte die Augen und plumpste aufs Hinterteil, bevor er umkippte. Die anderen Leichen stießen ein Gebrüll aus– ein wütendes Grollen wie aus einer Kehle, wie ein Schlachtruf, und Marco wollte fast verzagen, als das Rudel der Toten losstürmte und mit lautem Plätschern im See ausschwärmte.

Mach weiter. Er suchte schnell ein neues Ziel und gab innerhalb von fünf Sekunden drei Schüsse ab, wobei er die Front der Angreifer von links nach rechts anvisierte. Für dich. Für dich. Und für dich.

Es gelang ihm aber nur ein einziger Kopfschuss, mit dem er eine männliche Leiche mit aufgedunsenem Oberkörper und langem feuchtem Bart niederstreckte, und er sah, dass ein weiterer Schuss die knochige Schulter einer grimmig blickenden alten Frau ohne Ohren durchschlug. Sein Schuss auf eine Jugendliche in einem pinkfarbenen Hello-Kitty-T-Shirt ging ins Leere. Mit erzürntem Heulen setzten die Wesen ihren amphibischen Vormarsch fort und rückten ihm immer dichter auf den Leib.

Sie waren nicht einmal schnell– auf dem tückischen Seeboden kamen sie sogar noch langsamer voran als Marco–, aber sie hatten sich gefährlich weit aufgefächert, sodass er entsprechend viel Zeit für die Bekämpfung von Einzelzielen brauchte. Allerdings hatte er auch nicht vor, sich nur auf die Waffe zu verlassen. Es war natürlich richtig, ein paar Leichen aus dem Rudel herauszuschießen, dadurch ihre Anzahl zu verringern und seine Fluchtmöglichkeiten zu verbessern. Aber ein Massaker veranstalten? Das wäre nur der Wagemut eines Vollidioten gewesen. Er hatte während der Evakuierung schon zu viele feuernde Soldaten draufgehen sehen, die zu spät erkannt hatten, dass der Feind aus dem toten Winkel vorgerückt war. In diesem Fall wurden Männer und ihre nutzlosen Waffen von einer gefräßigen Masse von Leichen förmlich verschlungen.

Rückzug. Immer die beste Option. Vergiss nicht– du kannst sie nicht alle töten.

Die Leichen kamen plätschernd und mit rudernden Armen immer näher.

Zu viele, um zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen, und schon gar nicht im Wasser. Sie würden ihn sich schnappen, ihn festhalten und zerreißen.

Er zermarterte sich das Gehirn auf der Suche nach dem besten Fluchtweg. Noch weiter in den See hinaus? Die Toten konnten zwar nicht schwimmen… aber sie mussten auch nicht atmen. Sie würden sich einen Weg auf dem Seeboden suchen, wo sie vor seinen Blicken verborgen waren, und dann würden sie auftauchen und ihn an den Fußknöcheln packen. Scheiße, vielleicht waren schon Leichen da unten und wateten auf ihn zu; er hatte schon gesehen, wie bei Unterwasserangriffen Leute aus Ruderbooten gezerrt wurden…

Als er die Lage peilte, stellte er fest, dass sie sich ihm schon bis auf etwa sechs Meter genähert hatten.

Er musste eine Entscheidung treffen. Jetzt.

Das Ufer, wo die Ferienhäuser standen– fünfzig Meter zur Linken, der Angriffsrichtung entgegengesetzt. Perfekt. Er würde dorthin fliehen, zwischen den Häusern untertauchen und sie dann in der allgemeinen Verwirrung abschütteln. Er gab noch einen Schuss auf die nächste Leiche ab, einen jungen Mann in Armeeklamotten; die Kugel durchschlug das rechte Triefauge des Soldaten. Zufrieden ging Marco im Wasser zwei Schritte auf die Ferienhäuser zu, bevor es ihm wieder einfiel.

Roark. Der Ring.

Scheiße. Er wirbelte herum und ging zum im Wasser treibenden Körper zurück. Der Angriff musste nun jeden Moment erfolgen. Schon als er sich umdrehte, wusste er, dass es ein Fehler war– doch da er ein sturer Hund war, musste er es jetzt auch durchziehen. Mit einem schummrigen Gefühl und den Blick unverwandt auf die Horde gerichtet, die ihn fast schon erreicht hatte, packte er Roarks Hand und spürte, wiedie Finger sich spreizten. Du musst ihn finden, Gott verdammt.

Da. Kaltes hartes Metall. Er zerrte in einer Aufwallung von Panik daran, und mit einem Ruck und einem schmatzenden Geräusch löste sich der Ring und riss Roarks verwestes Fleisch gleich mit ab, als hätte er Fleisch von einer Schweinehaxe gelöst. Marco steckte sich hastig den Ring auf den Daumen– selbst als Toter hatte Roark noch dickere Finger als er– und stolperte einen Schritt zurück, um einem ausgebleicht wirkenden schwarzen Mann auszuweichen, der ihn über Roark hinweg mit einem Hechtsprung angreifen wollte. Drei weitere Leichen attackierten ihn knurrend von links. Die Zeit war abgelaufen.

Noch während er sich bemühte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, hob Marco die Waffe.

Und dann stürzte er doch.

Er verfing sich mit dem Fuß an irgendeinem unsichtbaren Hindernis, einem Stein oder Ast, der im Schlick vergraben war, und er schrie auf, als er mit dem Kopf untertauchte. Dunkelheit umfing ihn. Die Stille unter Wasser war furchtbar. Er trat aus, versuchte, sich wieder aufzurichten und spürte, dass sein Bein ein anderes Bein berührte– sie sind auf mir, schrie er stumm, und glaubte schon zu spüren, dass kalte Hände ihn am ganzen Körper packten–, und dann kam er wieder frei und tauchte etwa einen Meter weiter wieder auf. Gierig sog er im hellen Tageslicht frische Luft ein.

Die Toten waren nun überall, und auf dem See breitete sich eine Schicht aus schwarzem fäkalienartigem Blut aus, das gegen seine nackte Brust plätscherte. Gott sei Dank wurde die Auferstehung nicht durch die Haut absorbiert; er war im Lauf der Jahre schon in genug Leichenschleim gebadet worden, um sich dessen sicher zu sein. Entschlossen wagte er den Durchbruch in Richtung der Ferienhäuser und schlüpfte zwischen zwei Leichen in Jäger-Steppwesten hindurch; und im Rennen wischte er sich einen ätzenden Schlickklumpen aus dem Auge. Und dann wurde ihm schockartig bewusst, dass seine rechte Hand leer war.

Die Kimber war weg.

Blödes abgefucktes Arschloch. Er hatte sie unter Wasser fallen lassen. Dort würde er sie nie mehr finden.

»Scheiße!«, schrie er, und es war wirklich ein gutes Gefühl, sich endlich einmal Luft zu machen. Er musste sich jetzt nicht mehr zurückhalten.

Er packte das Messer fester und hielt zielstrebig auf die Ferienhäuser zu. Je flacher der See wurde, desto schneller wurde er; schließlich tauchten die Knie aus dem Wasser auf, und er erreichte das Ufer mit einem deutlichen Vorsprung vor den Leichen, die noch immer in der Tiefe zappelten. Er hatte sie vom Ufer weggelockt, und nun musste er nur noch um den See herumlaufen und die Kleider und die Glock holen und…

…und da kam das Gesindel von Osten.

Sie strömten auf ganzer Länge des Seeufers aus dem Wald und versuchten, ihm den Fluchtweg zwischen den Ferienhäusern und dem Wald abzuschneiden. Mehr als die fünfzig, von denen er ausgegangen war. Hundert, vielleicht auch mehr. Vielleicht auch deutlich mehr, verdammt noch mal.

Da der Angriff plötzlich von zwei Seiten gleichzeitig erfolgte, blieb er stolpernd stehen. Die Armee der Leichen spürte seine Gegenwart– sie drehten ihm alle auf einmal das Gesicht zu; so perfekt synchronisiert, dass er sich fragte, ob die verdammten Dinger auf eine ihm unbekannte Art und Weise zu kommunizieren vermochten.

Wir haben dich umzingelt.

Er hatte keine Chance mehr, den Wald zu erreichen.

Gib es auf.

Als Junge war er immer derjenige gewesen, der beim Blinde-Kuh-Spielen in Panik geriet. Er blieb mitten in der Verfolgungsjagd stehen und ließ sich fangen; einfach nur deshalb, weil die Erlösung der Gefangennahme ein besseres Gefühl war als der Schrecken der Jagd. Und dieses Gefühl verspürte er jetzt wieder. Er bekam weiche Knie, und für einen Moment spielte er tatsächlich mit dem Gedanken, sich einfach in den feuchten Sand zu setzen. Wie ein buddhistischer Mönch im Schneidersitz dort zu hocken, schicksalergeben und transzendent, während sein Bewusstsein mit dem klaren blauen Himmel, dem frischen Wasser und den saftigen grünen Bäumen am anderen Ufer verschmolz. Er hätte noch einen letzten Blick riskiert, die Augen geschlossen und auf ein schmerzloses Ende gewartet.

Aber er wusste, dass es doch schmerzhaft sein würde.

Sehr sogar.

Also zwang er sich, auf den Beinen zu bleiben, öffnete die Augen noch weiter und suchte nach einem Ausweg. Ein Ausweg, gottverdammt, wiederholte er wie eine Beschwörung des Lebens. Zur Linken wurden die Ferienhäuser von einer Mauer aus Leichen abgeschnitten, die ihn förmlich niederzuwalzen drohte; ganz weit rechts befand sich das alte Dock. Die windschiefe und baufällige Anlage schob sich wie eine sinnlose Sackgasse in den See hinaus. Aber das beschädigte Kanu daneben…

Zum zweiten Mal an diesem Tag dachte er über das Kanu nach.

Und diesmal hatte er eine Idee.

Keuchend rannte er am Ufer zurück, auf dem schmalen Streifen des Niemandslands zwischen den beiden Horden der Untoten– denen, die aus den Wäldern torkelten, und denen, die ihn vom Wasser her verfolgten.

Die Gelegenheit wäre in ein paar Sekunden schon wieder vorbei– die Leichen kamen schnell näher. Er konzentrierte sich auf das Kanu vor sich, doch die toten Gesichter am Rand seines Blickfelds konnte er unmöglich ignorieren. Die dunklen, wilden Gesichter sahen ihn mit gefletschten Zähnen an, während er an ihnen vorbeirannte.

Die letzten Meter zum Dock legte er im Sprint zurück. Er hatte Angst vor der eigenen Courage angesichts des Risikos, das er einging.

Seine Gedanken überschlugen sich.

Ich muss verrückt geworden sein. Das wird doch nie im Leben funktionieren…

1.6

Das Kanu war schon vor langer Zeit umgedreht und parallel zum Dock auf den Strand gelegt worden– wie eine auf den Kopf gestellte längliche Holzschüssel. Das Boot lag leicht schräg im Sand und lud Marco geradezu ein, darunter Zuflucht zu suchen. Aus vollem Lauf machte er einen Hechtsprung. Durch den harten Aufprall wurde ihm die Luft aus der Lunge gepresst, und mit einem Grunzen schob er sich unter das umgekippte Boot, als ob er in einen engen Höhleneingang eindrang. Er schrammte mit den Ellbogen über Kieselsteine und sein Bauchnabel füllte sich mit feuchtem Sand.

Die Luft hier in diesem düsteren Bunker roch nach Moder und tranigem Fisch, und unsichtbare Spinnweben verfingen sich im Gesicht und an den Armen. Sonnenlicht drang durch das klaffende Loch im Boden des Kanus. Er kam sich vor wie ein kleines Tier, das sich in seinem Bau zusammenkauerte. Er legte die Wange in den Sand und lugte durch den Spalt, durch den er sich gequetscht hatte, auf den Strand. Dutzende grotesker Füße, nackt und purpurfarben angeschwollen, schlurften auf das Kanu zu.

So weit, so gut.

Schwitzend rammte er das Messer ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt in den hölzernen Bootsrumpf– bis zum Heft, damit es nicht wieder herausfiel. Nun hatte er beide Hände frei. Beeil dich, sagte er sich; falls die Leichen da draußen sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen das Boot warfen, würde er zerquetscht werden. Mit einigen Verrenkungen ging er in die Hocke und drückte mit den Schultern gegen den Bootsrumpf, um das Kanu anzuheben…

…aber das gottverdammte Ding bewegte sich keinen Zentimeter.

Mistding! Das Kanu war schwerer, als er vermutet hatte. Obwohl er sich so sehr anstrengte, dass ihm fast das Blut aus den Ohren quoll, rührte es sich nicht. Doch so dünn Marco auch war, er hatte ausgeprägte Muskeln– sein Körper war gestählt durch ein intensives Training im Fitnesskeller, das er für zwei oder drei Stunden an Tagen absolvierte, an denen er einen richtigen Hass auf die Welt hatte. Er stieß nun einen zornigen Schrei aus… und spürte, wie das Kanu sich schließlich doch bewegte. Während der Bootsrumpf sich ihm wie ein Joch in den Nacken grub, löste das Kanu sich mit einem Schauer herabrieselnden Sands vom Boden.

Und los geht’s!

Stolpernd kam er auf die Füße, noch immer halb gebückt– das umgedrehte Kanu überwölbte seinen Rücken wie der Panzer einer komischen Schildkröte. Der Bug ragte wie ein Rammbock nach vorn, und er war bereit loszulaufen. Doch ehe er noch den ersten Schritt tat, ertönte draußen ein lautes Geräusch, gleich neben seinem Ohr; das Boot wackelte, und die Erschütterungen setzten sich an seinem Rückgrat fort.

Das Gewicht des Kanus verlagerte sich abrupt, als sich die ersten Leichen daraufstürzten, und er hatte große Mühe, es über dem Kopf im Gleichgewicht zu halten. Die physikalische Maxime war ganz einfach: Wenn es kippt, bin ich tot.

Der Ansturm gegen das Boot verstärkte sich und verschmolz mit dem Rauschen des Bluts in seinen Ohren. Seine Beine zitterten schon; doch dann kamen weitere Leichen von links und wirkten dem Angriff von rechts entgegen, womit sie es ihm unwillentlich ermöglichten, sich doch aufrecht zu halten. Seine Sicht war in alle Richtungen auf seine nackten weißen Zehen und eine kurzes Stück zu den Seiten beschränkt. Das Kanu war von hundert Leichen umstellt, von denen er nur ihre krummen Beine und verfaulten Füße sah.

Und im nächsten Moment setzten die Leichen zu einem Frontalangriff auf den Bootskörper an.

Das Kanu wurde mit Schlägen eingedeckt. Sie hallten fürchterlich laut, und er betete, dass das Boot nicht einfach über ihm zerbersten würde. Zornige Schreie mischten sich in den Gewaltausbruch; die Leichen wurden durch seine improvisierte Verschanzung verwirrt, doch diese Verwirrung würde nicht ewig anhalten.

Und nun neigte das Kanu sich nach oben, während sie versuchten, es ihm zu entreißen. Jetzt wurde es brenzlig. Er versuchte mit aller Kraft, das Boot unten zu halten. Er musste den Ausbruchsversuch jetzt starten. Er nahm abrupt Anlauf, wodurch das Boot ihnen förmlich durch die Finger glitt und er entlastet wurde– er hörte, wie sie Halt suchend am Rumpf kratzten, doch das Holz war durch Wind und Wetter blank poliert. Mitsamt der Kanu-Rüstung stolperte er vorwärts durch den Sand.

Der spitze Bug teilte die Menge und beförderte die Leichen, die sich ihm entgegenstellten, unsanft aus dem Weg. Er nahm Geschwindigkeit auf und schrie triumphierend, als wäre jeder dumpfe Schlag, jeder Kopf, der vom metallenen Bugspriet gerammt wurde, ein Kohlebrocken, der in seinen imaginären Dampfkessel geworfen wurde.

Klatsch. Klatsch. Klatsch.

Er stürmte vorwärts wie eine Lokomotive, die mit dem Kuhfänger Vieh von den Schienen räumte. Die Schläge vermochten ihn kaum noch zu bremsen. Eine weißhäutige männliche Leiche fiel zu Boden und rollte unter das Kanu. Sie zischte und versuchte, ihn an den Fußknöcheln zu packen, doch er stieg einfach darüber hinweg und widerstand dabei dem Drang, ihr einen Tritt gegen die Stirn zu versetzen.

Wenn er doch nur die Stiefel angehabt hätte.

Das Kanu lastete immer schwerer auf Marco, aber er lief trotz der schmerzenden Beine weiter. Nur dass er keine Ahnung hatte, wohin er überhaupt lief. Mit gesenktem Blick orientierte er sich am aufgeschäumten dunklen Sand am Ufer. Er konzentrierte sich auf seine Fußabdrücke, in denen sich das Wasser sammelte, und hoffte, dass er wenigstens in die Richtung seines Ausgangspunkts lief, wo Roarks Leiche ins Wasser gefallen war.

Als er das Gros der Verfolger schließlich abgehängt hatte, wurde er beinahe durch einen Seitenaufprall umgerissen. Es gelang ihm gerade noch, das Gleichgewicht zu bewahren, und er sah zwei dicke Beine, elefantöse Stampfer mit Geschwüren und dicken Adern, unter dem linken Rand des Kanus. Eine dicke Leiche hatte ihn von der Seite angegriffen und hing nun wie eine Klette an ihm; sie drückte mit ihrem ganzen Gewicht gegen das Boot und zwang Marco, seitlich in den See auszuweichen. Erst einen Schritt, dann zwei Schritte, drei– das Wasser stieg ihm schon bis zu den Schienbeinen.

Noch tiefer, und er wäre im Arsch.

Verzweifelt wuchtete er das Boot mit den Schultern nach oben. Er bekam eine Hand frei und packte das Messer, das noch immer im Rumpf steckte; er riss es heraus und rammte die Klinge mit einer heftigen, fließenden Bewegung in den aufgedunsenen, verrotteten Bauch neben dem Kanu. Er drehte das Messer herum…

…und schlitzte dem toten Mann den Bauch auf, sodass die Eingeweide herausquollen. Dann tranchierte das Messer noch den Brustkorb und entglitt schließlich Marcos Griff. Weg war es. Die Leiche stieß ein Bellen aus, als ihre Eingeweide aufs Ufer fielen. Perplex ließ sie das Boot los und machte einen Hechtsprung, um die Innereien wieder aufzusammeln. Marco rannte aus dem Wasser ans Ufer zurück.

Das schreckliche Heulen wurde mit zunehmender Entfernung immer schwächer. Er lief schnell weiter. Obwohl er schon ziemlich ausgepumpt war, wollte er es nicht riskieren, das Tempo zu verlangsamen. Nach weiteren hundert Metern wurden seine Anstrengungen dann belohnt. Er hatte den Kleiderstapel und die Glock wiedergefunden.

»Noch mal Glück gehabt«, sagte er mit rauer Stimme.

Schwer atmend beugte er sich vornüber, und es gelang ihm, das Kanu abzusetzen, ohne darunter zusammenzubrechen. Das Boot klatschte ins flache Wasser und scheuchte dieselben Elritzen auf, die Roark vor einer Stunde gejagt hatte.

Er peilte hastig die Lage. Wie er schon vermutet hatte, waren die Leichen schon ziemlich weit zurückgefallen; sie verfolgten ihn zwar noch, doch der langsame Vormarsch der kompakten Horde war nicht halb so gefährlich wie eine Umzingelung. Er hatte überlebt. Und er würde auch in Zukunft überleben. Zitternd nahm er die Glock und die Kleider auf, steckte die wunden Füße in die Stiefel, und dann machte er kehrt und lief in nördlicher Richtung zu den Bäumen.

Seinen früheren Weg fand er ohne Schwierigkeiten wieder. Am Waldrand hielt er noch einmal inne und drehte sich um.

Der Strand wimmelte nur so von toten Männern und Frauen. Arme und Beine zappelten wie die Glieder hässlicher Marionetten, als sie ans Ufer torkelten. Männer und Frauen, sagte Marco sich. Manchmal neigte man dazu, das zu vergessen. Er fragte sich, wie viele Familienangehörige und Freunde in den Sicheren Staaten hatten, die um sie trauerten, krank vor Sorge waren und sich bang fragten, wo sie jetzt wohl waren.

Mein Gott, was war die Welt nur für ein beschissener Ort geworden. Wo die Toten so lebendig waren und die Lebenden sich so tot fühlten. Er bezweifelte, dass man das jemals wieder rückgängig zu machen vermochte.

Aber verdammt, er konnte zumindest helfen, das Beste aus dieser Situation herauszuholen.

Mit grimmigem Gesichtsausdruck lief er den Berg hinauf, am verkrüppelten Baum und dem abgeplatteten Felsbrocken vorbei in den Nebel und die Schneise im Farnwald. Oben auf dem Hochsitz schloss er die Zeltplane und war wieder sicher wie in Abrahams Schoß. Er lauschte dem Stöhnen der Toten, die durch den Wald zogen, und schließlich verhallte das Geräusch, als die Horde seine Spur verlor. Und während er darauf wartete, dass sie endgültig verschwanden und dorthin gingen, wohin ihre gequälten Seelen sie lotsten, hielt er Roarks Ring– ja, er war sich jetzt völlig sicher, dass er Roark gefunden hatte– und las wieder die Worte, die in die Innenseite graviert waren.

Gemeinsam bilden wir einen Kreis des Lebens. Deine Joan.

Aufbau der Fleisch-Falle

2.1

»Noch etwas«, sagte Joan Roark. Ihr körniges Bild, das aus den Sicheren Staaten übertragen wurde, erschien auf dem Computerbildschirm auf Marcos Schreibtisch. Er saß im Dunkeln in seinem Arbeitszimmer; es war noch eine Stunde bis zur Morgendämmerung. Um Mitternacht war er in die Basis zurückgekehrt– in das Haus, das vor der ein Jahr lang Danielle und ihm gemeinsam gehört hatte. Arme und Beine schmerzten vom Fieber, das ihn auf der Reise befallen hatte. Monatelange Unterernährung und Schlafmangel hatten sein Immunsystem radikal geschwächt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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