Revengeful Tears - Maria Väth - E-Book

Revengeful Tears E-Book

Maria Väth

4,0

Beschreibung

Kann man den Schmerz seiner Vergangenheit lindern, wenn man ihn mit jemandem teilt? Nachdem der Mörder ihres Sohnes ungeschoren davongekommen ist, beschließt Bi, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie will Gleiches mit Gleichem vergelten und braucht dafür die Hilfe eines ganz bestimmten Mannes. Als sie ihm nach monatelangen Recherchen endlich gegenübersteht, ist sie sich eines ganz sicher. Er wird ihr Leben verändern. Cash ist kein gewöhnlicher Auftragskiller. Er wählt seine Aufträge nach seinen eigenen Kriterien, während die Bezahlung für ihn nebensächlich ist. Als Bi ihn eines Tages aufsucht, ist er sofort überzeugt. Der Mörder passt genau in sein Schema und ihn zu töten, würde nicht nur sein eigenes Leben leichter machen. Nur gibt es da ein Problem, denn Bi möchte es selbst tun. Noch nie wollte Cash mit jemandem zusammenarbeiten. Am wenigsten mit einer Frau wie Bi. Ihre Art, die Dinge anzupacken, weckt Sehnsüchte und Empfindungen, die er fest unter Verschluss hält. Weder Bi noch Cash haben mit der Intensität gerechnet, die ihre Kooperation begleitet. Aber um ihr Ziel erreichen zu können, ist es notwendig, sich ganz auf den anderen einzulassen.

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REVENGEFUL TEARS

Maria Väth

© 2022 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

© Umschlaggestaltung Andrea Gunschera

© Maria Väth

ISBN Taschenbuch: 9783967820782

ISBN eBook-mobi: 9783967820799

ISBN eBook-epub: 9783967820805

:

www.sieben-verlag.de

Für Sandra,

für all die Dinge, für die du stehstfür deine selbstlosen Taten und klugen Wortefür Zeit, die wir gemeinsam verbrachtenund für die Stärke, die das Leben dir gab und der Tod dir niemalsnehmen kann.

Wo kämen wir hin,wenn alle sagten,wo kämen wir hin,und niemand ginge,um einmal zu schauen,wohin man käme,wenn man ginge.

>Kurt Marti<

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Epilog

Danksagung

Prolog

Sollte ich sterben, weiß ich wofür.

Eins

Schon jetzt bricht er die Regeln

Bi

Seit Ewigkeiten fiebere ich dem Moment entgegen und spüre, wie er mich jetzt, wo er da ist, in einen leichten Rausch versetzt. Das ist meine beste Chance, vielleicht meine einzige.

„Bist du der, den sie Cash nennen?“, frage ich also und versuche dabei so beiläufig wie möglich zu klingen.

„Wer will das wissen?“

„Bist du es oder bist du es nicht?“

„Nein.“

„Wirklich nicht? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du derjenige bist, den ich suche.“ Ich rutsche auf den Barhocker neben ihn. Mein Knie berührt dabei kurz das seine, was aber kein Grund für ihn ist, zu reagieren. Sein Blick ruht unverändert auf dem Glas Whiskey in seiner Hand. Er sieht mich nicht an. Nicht mal ein kleines Blinzeln in meine Richtung, ganz so, als wäre ihm völlig egal, wer ihn da nun von der Seite anquatscht.

„Du musst dich irren“, sagt er nur, hebt sein Glas und nimmt einen Schluck.

„Man sagt, du wärst bereit, alles zu tun.“

„Sagt man das?“

„Skrupellos und effektiv.“

Er antwortet nicht, sondern nimmt einen weiteren Schluck Whiskey und lässt ihn länger im Mund als unbedingt nötig. Er genießt seinen Scotch. Oder vielleicht verhindert er damit, dass Worte fallen, die lieber ungesagt bleiben sollten.

„Äußerst brutal“, füge ich hinzu.

Langsam stellt er sein Glas auf den Tresen zurück, aber er schaut mich noch immer nicht an. Ich hingegen betrachte ihn ganz genau, denn schließlich will ich wissen, ob es stimmt, was über ihn erzählt wird.

Er ist jemand, von dem beinahe jeder weiß, den aber niemand zu Gesicht bekommt. Fast könnte man meinen, er sei bereits tot, so viele Legenden ranken sich um ihn. Aber wie es aussieht, ist er alles andere als das. Er ist so präsent, wie ein Mann nur sein kann. Wenn ich das leise Kribbeln in meinem Körper richtig deute, geht er mir schon jetzt mächtig unter die Haut, und das nur, weil er dicht neben mir sitzt. Vielleicht sind es die Mythen über ihn, die meine Aufregung steuern, vielleicht auch seine Ausstrahlung. Obwohl er nicht viel spricht, sagt er mir alles, was ich wissen muss.

Er ist nicht besonders groß, nicht mal einsachtzig, und auch seine Figur entspricht nicht dem eines Ochsen, wie ich es von dem einen oder anderen gehört habe. Aber deshalb ist er absolut nicht weniger furchteinflößend. Es macht ihn für mich sogar noch sehr viel interessanter, weil er mit seiner Körpergröße schon jetzt die Regeln bricht.

„Es soll ziemlich schwierig sein, dich zu finden“, fahre ich fort und lasse ihn dabei nicht aus den Augen. „Aber da ich das ganz einfach geschafft habe, bin ich mir nicht mehr sicher, ob alles, was man sich sonst über dich erzählt, wirklich wahr ist.“ Ich zucke mit den Schultern und bedeute dem Barkeeper mit einer schnellen Handbewegung und einem kleinen Lächeln, mir auch einen Whiskey zu bringen. Dann betrachte ich wieder das Profil des Mannes neben mir.

Viel ist von seinem Gesicht nicht zu sehen, denn die Kapuze seines Pullovers, die er sich tief über die Augen gezogen hat, verdeckt das meiste davon. Ich sitze zu seiner Linken und bis auf einen kleinen Teil des Kinns, Mundes und der Nase kann ich nichts erkennen. Nur, dass er einen dunklen Bart hat. Nicht besonders lang, jedoch eindeutig vorhanden. Ein Blick auf seine Hände verrät mir, dass ich mit dem richtigen Kerl rede, denn die Geschichte um seinen fehlenden kleinen Finger an der linken ist besonders kurios.

Als mir der Barkeeper ein Glas Whiskey vor die Nase stellt, scheint dessen Blick zu sagen: Lauf, Kleine. Lauf, solange du noch kannst. Aber ich beachte ihn nicht, denn ich habe nicht vor, in Angstschweiß auszubrechen, weil der Mann neben mir mein Feind sein könnte. Eher im Gegenteil. Ich will mit ihm zusammenarbeiten.

„Gibt es etwas, das du nicht tust?“, frage ich weiter. „Irgendwelche Grundsätze, die du niemals brichst?“

Sein Mundwinkel zuckt, bevor er antwortet. „Zum Beispiel?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht niemals kleine Großmütterchen schubsen, um ihnen den Rollator wegzunehmen.“

Nun lächelt er, ich sehe es genau, auch wenn es nicht sehr lange anhält. Das ist mein Zeichen.

„Wie stehst du zu einer Frau in Nöten? Hilfst du ihr?“, frage ich und nippe probehalber an meinem Whiskey. Der ist gar nicht so schlecht.

„Das kommt darauf an, welche Not ihr zusetzt“, erwidert er schließlich gelassen.

„Machst du da Unterschiede?“

Der Moment ist erfüllt von knisterndem Schweigen und ich halte unwillkürlich die Luft an. Schließlich dreht er mir langsam das Gesicht zu. Du lieber Himmel! Überrascht stoße ich die Luft aus meinen Lungen. Es ist nicht die Narbe, die sich von seiner rechten Schläfe hinunter über seinen Wangenknochen und dann in einem kleinen Bogen bis unter das Ohr zieht, um irgendwo im Schatten seiner Kapuze zu verschwinden, die mich so reagieren lässt. Sondern es sind seine Augen, auf dessen Intensität ich absolut nicht gefasst war. Sie sind grün und somit der einzige Farbfleck in seiner dunklen Erscheinung. Sein Blick unter diesen langen Wimpern lässt meine Knie weich werden. Selbst im Sitzen habe ich plötzlich Angst, das Gleichgewicht zu verlieren und unkoordiniert vom Hocker zu rutschen. Heilige Scheiße!

Ich habe alles Mögliche über diesen Mann gehört, allerhand Gerüchte, Halbwahrheiten und sicher auch ganz viele Dinge, die wirklich so passiert sind, aber ich kann mich nicht erinnern, dass mir auch nur ein einziger erzählt hätte, wie attraktiv er ist. Und das ist er, bei Gott, das ist er wirklich. Er strahlt Selbstvertrauen aus und die Aura, die ihn umgibt, ist erfüllt von dunklen Geheimnissen, denen man zur eigenen Sicherheit lieber nicht auf den Grund gehen sollte. Und doch will ich sofort alles über ihn wissen. Als ich mich wieder gefangen habe, nehme ich wahr, dass sein Kinn äußerst kantig ist und seine Nase ein wenig nach rechts geneigt, ganz so, als wäre sie mal gebrochen gewesen.

„Bist du diese Frau?“, fragt er und ich weiß im ersten Moment nicht, was er meint. Irritiert lege ich den Kopf auf die Seite, dann fällt es mir ein. Ach ja, richtig, die Frau in Nöten.

„Du machst also auch da Unterschiede?“, frage ich zurück.

Sein Blick streift kurz meinen Mund, bevor er mir wieder fest in die Augen sieht. „Wer bist du?“

„Nenn mich Bi.“

Seine Stirn runzelt sich. „Bi?“

„Ja, Cash, nenn mich Bi.“

Er nickt. „Wer schickt dich?“

„Ich schicke mich selbst“, erwidere ich grinsend. „Aber wenn du wissen willst, wer mir verraten hat, wo ich dich finde, dann ist die Antwort wohl Fabio.“

Wieder nickt er und während er kurz darauf sein Glas Whiskey in einem Zug leert, starre ich auf seine Hand mit dem fehlenden Finger. Ist auch nur eine Geschichte über ihn wahr? Ich zweifle plötzlich daran. Wahrscheinlich steckt sehr viel mehr dahinter, als die Leute erzählen. Oder aber es ist gar nichts dran an dieser lebenden Legende.

Im nächsten Augenblick zieht er ein wenig Geld aus seiner Hosentasche, legt es auf den Tresen und steht auf. Ich starre ihn an, weil ich nicht sofort kapiere, warum er plötzlich gehen will, aber als mich sein Blick erneut trifft, weiß ich es. Wir können nicht weiterreden, nicht hier. Mit einer minimalen Kopfbewegung bedeutet er mir, ihm zu folgen, also suche ich hastig ebenfalls etwas Geld zusammen, das ich gleich darauf neben meinen Whiskey feuere, der bis auf den kleinen Schluck unberührt auf dem Tresen steht. Der Barkeeper macht große Augen und ich spüre seinen Blick im Rücken, als ich eilig dem Mann folge, der mehr Fragen aufwirft, als Antworten gibt. Mit jedem weiteren Schritt hoffe ich, dass sich das nun ändern wird. Allerdings ist sein nächstes Ziel die Herrentoilette und ich bin nicht ganz sicher, ob ich ihm dorthin folgen soll. Ich muss es tun, sage ich mir, denn ich kann nicht riskieren, ihn aus den Augen zu verlieren. Entgegen meiner Behauptung war es nämlich ganz und gar nicht einfach gewesen, ihn zu finden. Wenn er mir jetzt entwischt, werde ich ihn nie wiedersehen, das weiß ich. Nicht nur, weil Fabio das mindestens zweimal deutlich gemacht hat, sondern auch wegen all den anderen Geschichten. Und weil ein einziger Blick in sein Gesicht ausreicht, mir sicher zu sein, dass er der Richtige ist, um mir zu helfen.

Also gehe ich einfach hinterher, schließe die Tür und warte, bis er damit fertig ist, den Raum abzuschreiten und gründlich in jede Ecke zu sehen. Ganz offensichtlich sind wir allein. Als er sich zu mir umdreht, durchläuft ein Schauer meinen Körper, und während er mich von oben bis unten mustert, bekomme ich eine Gänsehaut. Ich mache es ihm nach und betrachte ihn mit mindestens dem gleichen Interesse. Auch wenn er selbst kein Riese ist, ist er noch immer größer als ich, was an sich nicht so schwer ist, da ich lediglich einseinundsechzig messe. Er trägt einen dunkelblauen Kapuzenpullover und darüber eine Weste mit einigen Aufnähern, eine schwarze Jeans und Boots mit Stahlkappen. Er sieht genauso aus wie alle Biker in dieser Bar, dennoch unterscheidet er sich von den anderen. Es muss mit seiner Ausstrahlung zusammenhängen.

Gerade als ich etwas sagen will, weil mir diese gegenseitige Musterung irgendwie an die Nieren geht, legt er einen Finger auf seine Lippen und bedeutet mir, still zu sein. Gehorsam schließe ich den Mund wieder und lege fragend den Kopf schief. Er kommt näher und lauscht an der Tür. Und dann wirft er sich mit einem lauten Rums dagegen und ich erschrecke dermaßen, dass mir ein kleiner Schrei entschlüpft. Er sieht mich an und lächelt, bevor er mit den Händen an der Türplatte reibt und gleich darauf noch mal dagegen knallt, allerdings nicht mehr so stark. Völlig perplex beobachte ich sein eigenartiges Verhalten, verstehe aber erst, was er da treibt, als er rhythmisch gegen das Brett zu bollern beginnt. Er muss mein Auftauchen begründen, dem Ganzen einen Sinn geben, für Ablenkung sorgen. Ich nehme an, dass er unter Druck steht, weil er wahrscheinlich gerade bis über beide Ohren in einem Job steckt. Ich will ihm keineswegs irgendwas versauen, darum unterstütze ich ihn kurzentschlossen in seinem Vorhaben, und stöhne laut auf.

Er sieht mich an und seine Augen blitzen, als ich gleich noch ein unterdrücktes Seufzen von mir gebe. Ich verziehe das Gesicht und zucke zur Erklärung die Schultern. Ohne mit der Hand den Takt zu verlieren, beobachtet er in der nächsten Minute jede meiner Bewegungen. Es gibt sicher Frauen, die es sich gern von einem Fremden auf einer stinkenden Herrentoilette besorgen lassen, aber ich kann mir durchaus schönere Orte dafür vorstellen. Ungeduldig tippe ich mit dem Zeigefinger auf mein Handgelenk und ernte dafür ein schiefes Grinsen. Als ich erneut stöhne und ein Wimmern von mir gebe, das klingt, als würde ein Hund um sein Leben hecheln, ändert er den Rhythmus und steuert uns so dem Finale entgegen. Eins, zwei, drei harte Stöße, dann ist er offiziell fertig und ich schreie auf und halte mir im selben Moment die Hand vor den Mund, als wolle jemand mein Vergnügen geheim halten. Das war’s. Erledigt. Aber ich bin keineswegs befriedigt, denn mit meinen eigenen Zielen bin ich keinen einzigen Schritt weiter.

Seine grünen Augen mustern mich durchdringend, als ich meine Jacke aufknöpfe und mein Shirt ein Stück aus der Hose ziehe, als hätte ich nach unserem Techtelmechtel nicht die Konzentration gehabt, mich wieder vernünftig anzuziehen. Oder die Zeit. Und dann reibe ich mir wild mit beiden Handinnenflächen die Wangen, schließlich soll es so aussehen, als wäre ich gerade durchgevögelt worden. Er lächelt und kommt näher, so nah, dass ich seinen Duft wahrnehme. Vielleicht liegt es nur an dem miesen Umgebungsgestank, aber in diesem Moment glaube ich, nie etwas Angenehmeres gerochen zu haben. Holzrauch und irgendetwas Süßliches, verbunden mit der Frische gewaschener Kleidung. Diese Kombination vernebelt mir kurzzeitig das Hirn.

„Wenn du mir folgst, bist du tot“, raunt er mir ins Ohr und ich merke, wie die Kapuze seines Pullovers seitlich an meinem Gesicht entlangstreicht. „Wenn du bleibst, ebenso.“

Ich nicke bedächtig und warte mit einer Antwort, bis er mir in die Augen sieht. Was er auch tut, nur ist er irgendwie viel näher, als eben noch. Ich spüre seinen warmen whiskeygetränkten Atem auf meiner Haut und erschaudere.

„Das macht keinen Unterschied“, erwidere ich beinahe tonlos und sehe, wie ein Muskel unter seinem linken Auge zuckt. Er hat verstanden.

„Ich finde dich“, erklärt er ebenso tonlos, tritt einen Schritt zurück und geht zur Tür. Bevor er sie allerdings öffnet, dreht er sich noch mal zu mir und streift sich in einer fließenden Bewegung die Kapuze vom Kopf. Einige längere dunkelblonde Strähnen fallen ihm sofort in die Stirn, über seinen Ohren und am Hinterkopf ist sein Haar jedoch kurzgehalten. An der linken Seite seines Halses prangt ein großes Tattoo, während auf der anderen Seite die lange Narbe seine Haut zeichnet. Sein Blick hält mich gefangen, sekundenlang, als wolle er sich ganz genau einprägen, wie ich aussehe. Oder als wolle er abschätzen, ob ich seine Zeit wert bin. Seine Worte klingen in meinen Ohren nach, als wären sie eine Drohung, aber als er beinahe unmerklich nickt, bevor er sich abwendet, um den Raum zu verlassen, weiß ich, dass sie ein Versprechen sind. Er findet mich.

Zwei

Ein verdammt guter Grund

Cash

„Bi?“, frage ich, sobald Fabio das Gespräch entgegennimmt. Einen Augenblick lang bleibt es still, dann lacht er los.

„Sie hat dich also tatsächlich gefunden? Nicht zu fassen. Die Frau ist clever.“

„Sie sagt, du hast es ihr verraten.“

„Na ja.“ Es scheint ihm unangenehm zu sein. „Nicht direkt. Ich habe ihr einen Tipp gegeben. Meinen Berechnungen zufolge hätte sie frühestens nächste Woche dort aufkreuzen sollen, wenn du längst in …“

„Was will sie?“, unterbreche ich ihn.

„Hat sie das nicht gesagt?“

„Ich hatte keine Zeit für die Geschichte einer Bi.“

Er lacht erneut, giggelt sogar. Anscheinend findet er die ganze Sache wahnsinnig amüsant. „Tja, also ich habe mich auch gefragt, was das soll. Ich meine: Hetero, homo, Bi?“

„Was will sie von mir?“

„Frag sie.“

„Ich habe keine Zeit“, rufe ich ihm erneut ins Gedächtnis.

„Oh, glaub mir“, erwidert er. „Dafür hast du Zeit.“

Ich sehe auf die Uhr. Siebenundzwanzig Sekunden. „In Ordnung.“ Dann lege ich auf, schalte das Telefon aus und entferne den Akku. Fabio weiß, dass ich niemals länger als nötig in der Leitung bleibe, einfach, um auf Nummer sicher zu gehen. Was er nicht weiß, ist, dass ich mich lange vor unserem Gespräch entschieden habe, mit ihr zu sprechen.

Ich sehe zu der Pension auf der anderen Straßenseite, in der sie abgestiegen ist. Sie ist recht übersichtlich, nur zehn Zimmer und eine Gemeinschaftsküche, nicht gerade anonym, aber dafür mit einem Vorteil, der diesen Makel wieder wett macht. Das Gebäude ist zweistöckig und recht schmal, was im Klartext heißt, dass man ein Zimmer auf der Vorderseite betreten und auf der Rückseite wieder verlassen kann. Perfekt für jemanden, der auf der Flucht ist. Ich frage mich, ob sie sich dieses Vorteiles bewusst war, als sie das Zimmer angemietet hat.

Langsam steige ich aus dem Auto und gehe auf die zweite Tür von links zu. Erdgeschoss, sehr gut, denn wenn es schnell gehen muss, kann eine Höhenüberwindung von drei Metern tödlich sein. Kurz überlege ich anzuklopfen, aber dann entscheide ich mich um, ziehe ein kleines Helferlein aus der Tasche meiner Lederjacke und öffne beinahe lautlos die Tür. Langsam schwingt sie auf, ohne ein einziges Geräusch von sich zu geben. Es ist zwei Uhr nachts und das Licht ist schon seit Stunden ausgeschaltet, ich gehe also davon aus, dass sie schläft. Als sich der Lauf einer Pistole an meinen Kopf drückt, werde ich jedoch eines Besseren belehrt. Ohne Zeit zu vergeuden, schlage ich ihr das Ding aus der Hand, packe ihren Arm, um ihn ihr schmerzhaft auf den Rücken zu drehen, und halte ihr im nächsten Moment ein Messer an die Kehle.

„Eigentlich ganz gut“, gestehe ich leise dicht an ihrem Ohr. „Nur darfst du niemals zögern, abzudrücken.“

„Ich wollte nicht abdrücken.“

„Eine Schwäche, für die du irgendwann bezahlen musst.“

„Ich will dich lebend, Cash.“ Sie flüstert es, was mir irgendwie zusetzt. Nicht, weil sie es trotz meiner Überlegenheit überhaupt nicht unterwürfig tut, sondern weil ihre Wortwahl irgendwas in mir auslöst. Es gibt viele Menschen, die meine Hilfe brauchen, und es gibt genügend, die sie bekommen, aber noch keiner hat gesagt, dass er mich will. Lebend. In meiner Welt ist der Tod etwas, das greifbarer ist und viel einfacher, als all das Beschissene um uns herum.

Ich lasse sie los und schließe die Tür. Nun liegt das Zimmer in vollkommener Dunkelheit. Nur schemenhaft nehme ich ihre Gestalt wahr und sehe, wie sie zum anderen Zimmerende hinübergeht, um die Vorhänge beiseitezuziehen. Im nächsten Augenblick ist der Raum in seichtes Mondlicht getaucht. Innerhalb einer Sekunde schätze ich die aktuelle Lage ein. Sie ist allein. Und sie hat tatsächlich geschlafen. Zumindest hat sie im Bett gelegen, denn die Laken sind zerwühlt. Außerdem trägt sie nur Shirt und Boxershorts. Ich verbiete mir einen längeren Blick auf ihre nackten Beine und sehe ihr stattdessen ins Gesicht. Sie lächelt.

„Hältst du immer, was du versprichst?“, fragt sie.

„Ich mache keine Versprechen.“

„Hm. Heute Nachmittag klang es wie eins.“

„Was willst du?“

„Jemand muss sterben.“

Alle Achtung, sie kommt gleich zum Punkt, das muss ich ihr lassen.

„Was habe ich damit zu tun?“

„Es ist das, was du machst.“

„Wer sagt das?“

„Dein Jobprofil. Du bist Auftragsmörder.“

Ich lache beinahe auf. „Bin ich nicht. Auftragsmörder stellen keine Fragen. Sie tun, was man ihnen zahlt. Sie haben kein Gewissen und keine Seele.“

„Und du hast beides?“

„Was willst du?“, frage ich erneut.

„Das habe ich gerade gesagt“, beharrt sie.

„Ich töte niemanden ohne Grund.“

„Das musst du auch nicht. Es gibt einen Grund.“ Sie geht ein paar Schritte, um die Waffe aufzuheben, die ich ihr aus der Hand geschlagen habe. Sie betrachtet sie, als würde sie erwarten, dass der kleine Sturz sie zerstört hat. Hat sie nicht. Bedächtig wischt sie mit einer Hand darüber, wiegt sie in den Händen, positioniert sie richtig und zielt dann umstandslos mit ausgestreckten Armen auf meinen Kopf. Sie entsichert.

„Rache“, flüstert sie.

Ohne mit der Wimper zu zucken, erwidere ich ihren Blick. Hat sie vor, mich umzubringen? Habe ich jemanden auf dem Gewissen, der ihr nahestand? Es wäre nicht unmöglich, solche Fehler passieren. Aber nicht mir. Ich weiß genau, wer durch meine Hand stirbt, und kenne jede einzelne Lebensgeschichte bis ins kleinste Detail. Von ihr habe ich weder gehört, noch habe ich sie je gesehen. Daran würde ich mich erinnern, ich bin sicher. Was also soll das? Sie zielt auf mich, als würde sie es ernst meinen, aber sie drückt nicht ab.

Ich setze mich in Bewegung und gehe langsam auf sie zu. Sie rührt sich nicht, weicht nicht zurück, auch nicht, als ich so nah bin, dass die Waffe meine Stirn berührt. Ich halte nicht inne, sondern schiebe weiter, immer weiter. Mache Druck. Jetzt weicht sie doch einen Schritt zurück, dann knicken ihre ausgestreckten Arme ein, danach weiten sich ihre Pupillen alarmiert, weil sie mit dem Rücken gegen die Wand stößt. Ich bleibe stehen. „Drück ab“, raune ich. „Jetzt.“

„Willst du sterben?“, fragt sie leise.

„Nicht hier. Nicht heute.“

Ganz langsam nimmt sie die Knarre runter, sichert und wirft sie auf das Bett. Dann sieht sie mich wieder an. „Ist es leicht, jemanden umzubringen?“

„Es ist niemals leicht.“

„Kannst du mir trotzdem beibringen, es zu tun?“

„Ganz bestimmt nicht.“

„Aber irgendwer muss es machen. Ihn töten.“

„Gib mir einen Grund und ich tue es. Darum bist du doch hier.“

„Ja“, gibt sie zu. „Aber ich will es selbst machen.“

Ich atme tief ein und trete einen Schritt zurück. Entschlossen reckt sie ihr Kinn in die Höhe. Ich betrachte sie ausgiebig. Heute Nachmittag in der Biker-Bar war ich durch ihr plötzliches Auftauchen in einer Lage, die mir jede weiterführende Analyse verbot. Sie war ein Faktor, mit dem ich nicht gerechnet habe, und musste deshalb so schnell wie möglich verschwinden. Noch nie habe ich Unschuldige in irgendwas hineingezogen. Entgegen meiner Erwartungen hat sie mein Verhalten verstanden und akzeptiert, was auch der Grund dafür ist, dass ich jetzt hier in ihrem Zimmer stehe.

Sie hat mein Interesse geweckt. Ob ich es will oder nicht, ihre Art gefällt mir. Ihr Äußeres ebenfalls. Mit ihrem langen rotbraunen, teilweise mit geflochtenen Strähnen durchsetztem Haar, dem Nasenpiercing, das an einen Bullen erinnert, den man an der Stange führen muss, damit er nicht alle mit seinen Hörnern aufspießt, und den zahlreichen Steckern in ihren Ohren, sieht sie aus wie ein Hippie. Nur die Knarre passt irgendwie nicht ins Bild. Friedliebend ist sie also keineswegs. Auf den Mund gefallen auch nicht. Da ich nichts sage, denkt sie wohl, sie muss mich ködern, dabei bin ich längst bereit, ihr zuzuhören.

„Du bekommst Geld dafür“, sagt sie. „Mehr, als du an einem Tag zählen kannst.“

„Mich interessiert kein scheiß Geld“, gebe ich zurück.

„Was interessiert dich dann? Was willst du, damit du mir hilfst?“

„Einen verdammt guten Grund.“

„Nur einen?“, fragt sie leise. „Ich gebe dir vier. Vielleicht mehr.“

„Fang an.“

„Lennart.“

„Und weiter?“ Ich kenne keinen Lennart.

„Paul. Jimmy. Rouven.“

Fragend ziehe ich die Augenbrauen in die Höhe, aber vorerst antwortet sie nicht. Sie stößt sich von der Wand ab, geht an mir vorbei und sucht sich einen Pullover, in den sie mit einer schnellen Bewegung schlüpft, ganz so, als würde das folgende Gespräch ein bisschen Wärme erfordern. Dann sieht sie mir wieder ins Gesicht.

„Das sind die Namen der Jungen, die er verschleppt, gequält und getötet hat“, erklärt sie. „Als sie starben, waren sie zwischen sieben und elf Jahre alt.“

Für einen winzigen Moment schließen sich meine Augen. Sofort sehe ich Bilder vor mir, die mich schon mein ganzes Leben lang verfolgen. Mein Herz beginnt seinen Takt zu ändern, was mir einen Augenblick lang die Luft nimmt. Als ich die Frau vor mir wieder anschaue, ist eine Sache klar. Sie hat mich an der Angel. Ich soll verdammt sein, wenn ich ihr jetzt nicht helfe.

„Was ist deine Motivation in dieser Sache?“, frage ich.

Sie scheint irritiert. „Wie meinst du das? Meine Motivation ist, diesen Scheißkerl umzubringen.“

„Woher kommt deine Wut?“

„Findest du das etwa in Ordnung?“, fragt sie erbost.

„Woher dein Schmerz?“

„Was?“

„Ich will wissen, warum du zitterst.“

Das nimmt ihr kurz die Sprache und sie verschränkt abwehrend die Arme vor der Brust. Durch das Halbdunkel hindurch starren wir uns an. „Ich zittere nicht“, argumentiert sie schließlich und beißt sich nach dieser Lüge selbst auf die Lippen.

„Emotionen sind dein Untergang, das ist dir doch klar, oder? Wenn du Schwäche zeigst, lange, bevor es überhaupt angefangen hat, meilenweit entfernt von deiner Zielperson, dann wirst du es niemals können. Lass mich das machen, das ist mein Job. Und ich bin gut darin, das wissen wir beide.“

„Einen Scheiß weiß ich“, erwidert sie bebend.

„Und doch bist du hier. Weil du hoffst, dass auch nur ein Bruchteil dessen, was dir erzählt wurde, wahr ist. Ich kann dir versichern, dass du deine Entscheidung nicht bereuen wirst. Gib mir ein paar Informationen und ich kümmere mich darum.“

„Und lässt mich außen vor? Vergiss es.“ Entschieden schüttelt sie den Kopf. „Ich will dieses miese Schwein selbst umbringen. Es wird ganz langsam passieren, denn er soll leiden, wie all die unschuldigen Kinder, die ihm alle scheißegal waren. Ich will die Letzte sein, die er in seinem Leben zu Gesicht bekommt, damit er sich selbst im Tod noch an mich erinnert. Er soll verdammt noch mal in der Hölle schmoren für das, was er getan hat.“ Sie atmet schnell und schwer, so inbrünstig hat sie ihren Wunsch dargelegt.

„Und wofür brauchst du dann mich, wenn doch alles schon so klar ist? Warum gehst du das Risiko ein und erzählst jemandem von deinem Vorhaben? Warum nimmst du nicht deine schmucke kleine Pistole, gehst zu ihm, schießt ihm seinen elenden Schwanz weg und genießt deine Rache, solange er langsam verblutet? Warum der Umweg über mich?“

„Ich brauche jemanden mit Erfahrung.“

„Nein, du brauchst jemanden, der die Eier hat, das durchzuziehen. Denn du hast sie nicht. So einfach ist das.“

„Ich werde lernen.“

„Du wirst sterben.“

„Nicht, wenn du mir hilfst.“

„In diesem Fall wirst du uns beide wahrscheinlich schneller in den Knast katapultieren, als unser kleines Abenteuer auf dem Klo heute gedauert hat. Aber ich verrate dir was: Ich habe keine Ambitionen, in irgendeinem Loch zu verrotten. Lieber ballere ich mir selbst das Hirn weg. Mir bleibt also die Wahl zwischen atmen und einem blutleeren Körper. Für was werde ich mich wohl entscheiden, hm?“

„Du wirst mir helfen.“

„Hörst du zu?“, frage ich und lege den Kopf schief. „Verstehst du meine Sprache?“

Sie nickt und lässt die Arme sinken. „Besser, als du glaubst. Und genau darum wirst du mir auch helfen“, behauptet sie entschieden.

Ich seufze auf. „Gib mir einen Namen.“

„Nein.“

„Ich sehe vielleicht so aus, aber dumm bin ich nicht. Ich kann mir die Informationen auch selbst beschaffen.“

„Da bin ich sicher.“

„Gut, dann wäre das ja geklärt. Leg dich wieder hin.“ Ich deute auf das Bett, bevor ich entschlossen zur Tür marschiere. Ich habe genug. Zum Diskutieren fehlt mir nicht nur die Begeisterung, sondern auch die Zeit.

„Weißt du, warum ich sicher bin, dass du mir helfen wirst?“, fragt sie und ich halte unwillkürlich inne, um mir das anzuhören. „Weil du weißt, wie gut es sich anfühlt, wenn man seine Rache bekommt. Wie sehr man sie nach jahrelanger Pein braucht. Das kann kein anderer erledigen, man muss es selbst tun. Du hast deinen Frieden schon vor langer Zeit gemacht, jetzt hilf mir, dass ich meinen finden kann.“

Gott, was für ein Miststück! Ich drehe mich zu ihr um und breite meine Arme aus. „Sehe ich etwa so aus, als wäre Frieden ein Wort, das ich kennen würde? Du hast keine Ahnung.“

„Du hast das Schwein umgebracht, das dein Gesicht …“

„Ich habe viele Menschen umgebracht“, falle ich ihr ins Wort. „Das heißt gar nichts. Es zeigt lediglich, wie krank ich bin.“

Sie starrt mich an, dann schüttelt sie den Kopf, als wolle sie mein Gesagtes aus ihren Gedanken verbannen. „Hilfst du mir?“

Okay, ich revidiere meine Meinung. Sie ist ein Miststück mit Eiern. Wer sich mir so entgegenstellt, hat wahrscheinlich noch sehr viel mehr als die. Ich kann sehen, dass diese ganze Angelegenheit emotionalen Wert für sie hat. Das ist meistens so. Die Frage ist nur, ob mir das reicht. „Wer ist er?“

„Hilfst du mir?“

„Wen willst du töten?“

„Einen Vergewaltiger und Mörder.“

„Davon gibt es viele.“

„Und das macht es besser?“, fragt sie und runzelt verständnislos die Stirn.

„Wen hat er umgebracht?“

„Was?“

„Wen willst du rächen?“

„Meinen Sohn.“

Ich antworte nicht auf ihre Offenbarung, denn irgendwas in die Richtung habe ich mir schon gedacht. Der Bruder wäre mein erster Tipp gewesen, aber dass es sich um ihren Sohn handelt, macht die Sache noch komplexer. Sie ist nicht die erste, die durch mich Gerechtigkeit sucht, aber sie ist die erste, die sich selbst die Hände schmutzig machen will. Vielleicht hat sie recht. Die Befriedigung, wenn man Gleiches mit Gleichem verrechnet, wiegt verdammt schwer.

„Hilfst du mir?“, fragt sie erneut und ihre Stimme klingt jetzt leicht zittrig. Jedoch noch immer entschlossen. Sie wird nicht so leicht aufgeben. Das ist gut. Durchhalten ist die wichtigste Eigenschaft, die man für diese Art Vorhaben braucht. Gleich nach kaltblütig.

„Ich stünde nicht mehr hier, wenn es nicht so wäre.“

Drei

Mit dem Feuer spielen verbrennt dich

Bi

Nachdem er das gesagt hat, breitet sich Stille im Zimmer aus. Mein Puls rast in ungeahnter Geschwindigkeit durch meine Adern und lässt meinen Körper beben. Habe ich es geschafft? Wird er mir tatsächlich helfen? O Gott. Ich spüre, wie eine schwere Last von mir abfällt, etwas, das mich seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr frei atmen lässt. Jetzt ist es leichter, denn mein Ziel rückt in greifbare Nähe. Der Gedanke, dass ich mich hier auf einen Mörder einlasse, um einen anderen Mörder umzubringen, streift nur am Rande durch meine Gedanken, denn eigentlich ist das unwichtig. Alles in meinem Schädel ist erfüllt von meinem Rachedurst.

Ich hatte nie sehr viel, genau genommen waren Mom und ich allein, aber zwischen all dem Nichts und unserem baufälligen Wohntrailer gab es die leise Hoffnung, es eines Tages besser zu haben. Sicher zu sein. Das traf nicht ein, denn Mom starb viel zu früh und mit ihr meine Chance auf ein normales Leben. Ich schlug mich trotzdem durch, auf unkonventionelle Weise, dies jedoch sehr viel besser, als ich es mir selbst je zugetraut hätte. Ich fand Ziele, die ich verfolgen konnte, und schließlich eine Aufgabe, die meinem Dasein einen Sinn gab. Mehr brauchte ich nicht. Nur ein wenig Zuversicht. Bis ein dahergelaufener Bastard mir diese nahm, meinem Sohn die Zukunft raubte und Rachegefühle in mir weckte, die weit über das normale Maß hinausgehen. Sie brennen in meinen Augen, zerquetschen mein Innerstes und zwingen mich zum Handeln. Das ist mehr als die Suche nach Gerechtigkeit, die seit Moms Tod durch meine Adern pulsiert. Es sind mit Rache gefüllte Tränen und der Wunsch nach Vergeltung. Für jede Kleinigkeit, die er Lennart angetan hat, wird er bezahlen, in dreifacher Höhe. Das schwöre ich bei dem Schlagen meines Herzens.

Cash mustert mich durchdringend.

In diesem Licht sind seine Augen viel dunkler als am Nachmittag in der Bar. Und seine Narbe, die dicht an dem rechten äußeren Augenwinkel vorbeiläuft, ist wesentlich intensiver in ihrer Wirkung. Fast sieht es so aus, als würde er Blut weinen, das ihm bis etwa zur Mitte seiner Wange in den Bart hinein herunterläuft und dann in einem Bogen nach hinten verschwindet. Ganz so, als wäre er plötzlich losgerannt und der Gegenwind hätte die blutigen Tränen seinen Hals entlang gedrückt. Dieser Anblick beruhigt mich seltsamerweise und lässt mich ganz automatisch ein leises „Danke“ durch die Lippen stoßen.

„Es macht keinen Sinn, mir zu danken, solange du nicht das bekommen hast, was du brauchst“, antwortet er. „Wir zwei sind nichts als Fremde füreinander. Sobald ich vorhabe, das zu ändern, wirst du es merken.“

„Warte“, rufe ich, weil er im Begriff ist zu gehen. Leichte Panik erfasst mich. „Was soll das heißen? Willst du mich hinhalten?“

„Wir spielen nach meinen Regeln.“

„Und die wären?“

„Die, die ich aufstelle. Ich sage Bescheid, wenn es losgeht.“

„Weil ich erst weit hinten auf deiner Liste stehe? Irgendwo nach dem Job hier und dem nächsten in Texas?“

Er runzelt die Stirn. „Wer bist du? Meine Managerin?“

„Cash, bitte.“ Ich gehe zu ihm und würde ihn am liebsten schütteln, damit er merkt, wie ernst es mir ist, aber im letzten Moment halte ich meine Hände zurück und balle sie stattdessen zu Fäusten. „Ich habe nicht Monate damit zugebracht, Leute auszuspionieren und deine Spur zu verfolgen, nur um mich jetzt einfach so von dir abspeisen zu lassen.“

„Was willst du von mir?“, fragt er schnaubend. „Ich habe bereits zugesagt.“

„Nimm mich mit.“

Nicht mal einen Atemzug später hält er mir sein Messer an die Wange, genau unter das linke Auge. Seine andere Hand schließt sich um meinen Nacken. Mein Herz überschlägt sich, denn ich habe weder mit dieser Schnelligkeit gerechnet, mit der er mich plötzlich gefangen hält, noch mit der Präzision seines Blickes. Plötzlich steigt Angst in mir auf, weil mir bewusst wird, wer er eigentlich ist. Ich meine, er tötet Menschen, einfach so, und ich stehe hier im dunklen Zimmer in irgendeinem Kaff in Alabama und versuche, mit ihm zu verhandeln. Bin ich naiv, dass ich glaube, ich hätte auch nur irgendeinen Einfluss? Ein Mitspracherecht?

Das Blatt seines Messers drückt kalt an meine Haut und die Spitze ist so dicht vor meinem Auge, dass ich sie nur verschwommen wahrnehme. Ich versuche zu ignorieren, dass mich eine falsche Bewegung meine Sehkraft kosten könnte, und halte stattdessen seinem Blick stand.

„Das vergiss mal ganz schnell wieder“, sagt er leise.

„Warum sollte ich?“

„Mit dem Feuer spielen verbrennt dich.“

„Ich habe nichts mehr zu verlieren.“

„Dein Leben, Bi“, flüstert er und kommt mit seinem Gesicht ganz nah. „Es gibt keine Chance auf ein zweites.“

„Denkst du, das weiß ich nicht?“

„Ich denke, das siehst du nicht“, antwortet er ruhig. „Ich weiß genau, wie du dich fühlst, aber Übereifrigkeit ist tödlich, das kannst du mir glauben.“

„Es ist alles durchdacht. Aus diesem Grund bin ich hier.“

„Das bleibst du auch. Alles andere ist Wahnsinn.“

„Ich will nur lernen“, hauche ich schließlich tonlos, weil mich seine unmittelbare Nähe irritiert. Ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Haut und fühle mich dadurch sehr viel lebendiger als ich sollte. Seit Lennarts Tod ist alles, was ich tue, nur noch stumpf und ohne Farbe, aber allein die Aufregung des heutigen Tages, die Vorfreude, die Begegnung mit dem Mann, der mir bei meiner Rache helfen soll, erweckt irgendwas in mir zu neuem Leben. Es muss einfach klappen. Anders geht es nicht.

„Die Dinge, die ich tue, sind nicht gerade welche, die man lernen sollte“, sagt er und klingt dabei fast liebevoll. Wahrscheinlich bilde ich mir das aber auch bloß ein, weil die Hand in meinem Nacken ein wenig lockerlässt, ganz so, als wolle sie lieber streicheln, anstatt hart zuzupacken.

„Du bist nicht derjenige, der das bestimmt“, antworte ich selbstbewusst und lege meine Finger auf seine Hand mit dem Messer. Ohne Widerstand schiebe ich sie aus meinem Gesicht. „Ich muss vorbereitet sein. Wie soll das alles sonst funktionieren? Würde es mir nur um seinen Tod gehen, wäre ich nicht auf deine Hilfe angewiesen, das kannst du mir glauben. Aber er soll leiden.“ Ich atme holprig. „Er soll das Gleiche durchmachen, was er meinem Sohn angetan hat. Und den anderen Jungs, die er entführt hat. An denen er seine kranken Fantasien ausgelebt und die er dann einfach weggeschmissen hat, als wären sie nichts weiter als Müll. Ich will, dass sein absolut schlimmster Albtraum wahr wird. Und dass er mich schließlich anbettelt, sterben zu dürfen. Und dann soll er weiter leiden. So lange, bis ich entscheide, dass es genug ist. So lange, bis ich ihm schließlich mit Vergnügen den Stein aus der Stelle in seiner Brust schneide, an der eigentlich ein Herz sein sollte.“

Während meiner Rede hat sich Cashs Miene deutlich verhärtet und auch der Griff um meinen Nacken ist wieder fester geworden.

„Wo kommst du her?“, fragt er und seine Lippen bewegen sich dabei nur minimal.

„Aus der Hölle.“ Das ist das Erste, was mir in den Sinn kommt.

Er nickt fast unmerklich. „Und du bist sicher, dass du dort wieder hinwillst?“

„Ja.“

„Du kannst danach nicht zurück. Nie wieder.“

„Ich will nicht zurück.“

„Es gibt niemanden, der auf dich wartet? Eltern, Freunde, der Vater deines Sohnes?“

Ich schüttle den Kopf. „Niemanden.“

Die Intensität, mit der er mich ansieht, ist beinahe unerträglich. Es ist, als würde sein Blick durch jede Pore in mich dringen, dicht unter meiner Haut entlangkriechen und sich dann durch mein Innerstes fressen, als wäre er ein hungriges Tier. Als Cash wieder spricht, bin ich leer. Nur sein fester Griff hält mich noch auf den Beinen.

„Denk genau nach“, raunt er. „Wer tötet, hat kein Recht auf Leben.“

Ich blinzle verwirrt. Wie meint er das? „Du lebst doch auch.“

„Ich glaube nicht, es jemals getan zu haben“, sagt er verächtlich schnaubend und schüttelt dann den Kopf, um das Thema zu wechseln. „Ich kümmere mich um den Kerl, wenn du willst. Er ist nur einer von vielen, denen ich mit Freude die Eier aus dem Leib reiße. Ich tue das liebend gern, ohne zu zögern. Und mit all den Wünschen, die du diesbezüglich hast. Ich halte ihn am Leben, monatelang, nur, damit er den Schmerz in all seinen Facetten spüren kann. Und dann bringe ich es zu Ende und entsorge ihn so, dass niemand ihn jemals finden wird. In Einzelteilen. Bis nichts mehr übrig ist. Ich brauche nicht viel dazu, nur ein paar Informationen. Und eventuell ein bisschen Kohle, um die Kleinigkeiten zu regeln. Ich bin zuverlässig und genau, mach dir keine Sorgen. Und wenn ich es erledigt habe, kannst du nach vorn blicken und neu beginnen. Du wirst mich nie wiedersehen und bald vergessen haben, was gewesen ist. Und vielleicht wirst du auch irgendwann lernen, mit dem Verlust deines Sohnes zu leben, vielleicht sogar weitere Kinder bekommen. Und in fünfzig Jahren stirbst du zufrieden und mit einem Lächeln auf den Lippen im Bett deines geliebten Mannes.“ Er macht eine kurze Pause, aber Zeit zum Luft holen oder gar um etwas zu erwidern habe ich trotzdem nicht.

„Oder du wirfst dein Leben weg und wirst nie mehr ein Auge schließen können, ohne Bilder zu sehen, die dich wünschen lassen, tot zu sein. Du wirst immer einen Blick hinter dich werfen und dich selbst verabscheuen, weil du dich auf ein Niveau herabgelassen hast, das nicht nur ekelhaft und höchst verwerflich ist, sondern das dich zerstört. Jeden Tag ein Stück mehr. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem du es nicht mehr schaffst, Gründe zu finden, dein Tun zu rechtfertigen, und dir einen Strick nimmst. Wenn du Glück hast, erledigt das vorher schon irgendwer anders für dich, wenn nicht, bleiben dir ab heute also noch ein paar Jahre, in denen du ganz allein mit dir selbst und deinen Erinnerungen zurechtkommen musst. Überleg dir genau, was du willst. Im Moment stehen noch alle Türen offen, jedoch nicht mehr, wenn du durch die dunkelste von allen trittst.“

Langsam zieht er seine Hand aus meinem Nacken und bringt mit einem Schritt zurück ein wenig Abstand zwischen uns. Mein Herz fühlt sich trotzdem an, als würde es direkt in meiner Brust zerquetscht werden. Das Engegefühl ist schrecklich. Ich kann kaum atmen. Das ändert sich auch nicht, nachdem die Tür hinter ihm schon lange ins Schloss gefallen ist.

Unwillkürlich falle ich gedanklich in die dunklen Tage meiner Kindheit zurück, an denen ich allein war und Angst die Luft um mich herum unbrauchbar machte. Jetzt ist es auch so, nur sind es keine seltsamen Geräusche oder gar böse Menschen, die das Gefühl auslösen, sondern die zu fällende Entscheidung. So oft schon stand ich an demselben Punkt, im Nacken die qualvolle Möglichkeit, einen Fehler zu machen. Die falsche Seite zu wählen. Aber jedes Mal komme ich zum gleichen Ergebnis. Es muss sein.

Jahrelang tat ich die Dinge für Mom, für Frauen allgemein, die unter machtbesessenen Männern leiden, und für all diejenigen, die das brauchen, was ich anderen nehme. Aber nun geht es um Kinder, die ein Recht auf ein glückliches und langes Leben haben. Es geht um Lennart, meinen Sohn, und darum, dass er nicht verdient hatte, auf diese Weise zu sterben. Da bleibt einfach keine Alternative. Und kein Platz für Zweifel. Ich werde das Schwein töten, und zwar mit all der Überzeugung, die in mir wohnt. Mit Kraft, die mein Schmerz mir gibt. Und mit Cashs Hilfe.

Vier

Zusammen in den Sonnenuntergang

Cash

Als ich sehe, wie sie die Bar betritt, muss ich zugeben, dass ich damit nicht gerechnet habe. Ich dachte, sie schließt sich in ihrem Pensionszimmer ein, bis ich mir die Mühe mache, sie noch einmal aufzusuchen. Aber ganz offensichtlich nimmt sie die Dinge lieber selbst in die Hand. Ich weiß, dass das lediglich für ihr Auftauchen gilt, denn meine Rede in der Nacht war überzeugend genug, sie in ihrer Meinung zu ändern. Vor allem, weil jedes Wort wahr ist. Die Frau ist nicht dumm, sie kann nicht dumm sein, wenn sie mich gefunden hat, und auch wenn sie kurzzeitig alles vergessen hat, was recht ist, hatte sie nun genügend Zeit, um darüber nachzudenken, das Richtige zu tun.

Sie kommt direkt auf mich zu, setzt sich wie am Tag zuvor auf den Hocker neben mir und winkt den Barkeeper heran. „Einen Whiskey, bitte.“ Und dann greift sie einfach mein Glas, hebt es an ihren Mund und trinkt es aus, als wäre es Wasser. Als sie es auf den Tresen zurückstellt, treffen sich unsere Blicke.

„Dafür könnte ich dir die Finger abschneiden“, mahne ich und deute kopfnickend auf mein leeres Glas.

„Ruhig Blut, ich habe dir gerade einen neuen bestellt“, antwortet sie und schaut auf meine linke Hand. Ich wette, sie fragt sich, wie ich den einen Finger verloren habe. Die Antwort darauf wird sie nie erfahren. Als sie mir wieder in die Augen sieht, ist ihre Miene bitterernst. „Das ist also das, was du tust? Du betrinkst dich zwei Tage hintereinander in einer Bar?“

„Betrinken würde ich das nicht gerade nennen.“

„Egal, wie du es nennst, es bleibt ein Fakt. Die Frage ist, ob du trinkst, weil der Job noch vor dir liegt, oder weil du bereits erledigt hast, wofür dich irgendwer hierher geschickt hat.“

„Gibt es eine Antwort, die dich zufriedenstellt?“, frage ich und beobachte, wie der Barkeeper meinen Whiskey vor ihr abstellt. Sie schiebt ihn mir sofort herüber.

„Nicht wirklich.“

„Dann kann ich mir die Luft ja sparen.“

Sie dreht ihren Körper zu mir, stützt ihren Ellenbogen auf dem Tresen ab und legt den Kopf in ihre Hand, als wäre er viel zu schwer, um ihn ohne Hilfe zu halten. Oder als hätte sie vor, mit mir zu flirten. Sie starrt mich an. Mindestens zwei Minuten lang. Aber ich beherrsche dieses Spiel und beachte sie gar nicht. Ich tue einfach so, als säße keine Frau neben mir, die mich mit Blicken aus dem Gleichgewicht zu bringen versucht. Bestimmte Dinge auszublenden, gehört zu meinem Leben seit ich denken kann.

„Kann ich dir noch was bringen, Süße?“, fragt der Barkeeper schließlich, weil ihm wohl leidtut, dass sie auf verlorenem Posten kämpft.

„Vielleicht die Rechnung für meinen Freund hier“, antwortet sie. „Er hat genug.“

Ich ziehe die Augenbrauen in die Höhe und nicke schließlich zur Bestätigung, als der Kerl hinter der Bar mir stumm zu verstehen gibt, keine Szene zu machen. Als würde ich das wollen. Ich spiele also mit und werde offiziell von der Frau, die ich erst einen Tag zuvor vorgeblich auf dem Klo gefickt habe, aus der Bar geleitet. Anstandshalber tue ich so, als würde mir ein weiteres Abenteuer bevorstehen, und grinse dem Barkeeper zwinkernd zu. Er reagiert beinahe angewidert und wendet sich ab.

Draußen bleibt Bi stehen, wahrscheinlich, um mit mir zu reden, aber ich laufe einfach weiter, den Blick fest auf die Motorräder gerichtet, die fein säuberlich nebeneinander aufgereiht stehen. Ich mag diese Art Gefährt, denn es lässt mich zumindest einen kleinen Moment glauben, frei zu sein. Als ich ein Bein über eine der Maschinen schwinge, steht Bi plötzlich neben mir.

„Ist das deins?“, fragt sie und betrachtet ehrfurchtsvoll die schwarze Harley. Sie wiegt mindestens dreimal so viel wie ich und ist dabei auch noch zehnmal schöner. Ein wahrer Traum von einem Bike.

„Sie gehört mir nicht.“

„Dann hast du sie geliehen?“

„Ich leihe sie jetzt.“

„Bitte?“

„Ich nehme sie und dann reiten sie und ich zusammen in den Sonnenuntergang.“

Mit großen Augen blickt sie erst mich an und dann zurück zur Bar. „Du klaust die Maschine?“, fragt sie tonlos.

„Es sei denn, du verhinderst, dass ich diesen schrecklichen Fehler begehe.“

Ich kann sehen, wie sie überlegt, kann praktisch spüren, wie Unsicherheit in ihr aufsteigt, und weiß, dass es unumgänglich ist, Klarheit zu schaffen. Jetzt oder nie.

„Wem gehört das Motorrad?“, fragt sie leise, bevor ich irgendwas anderes sagen kann.

„Unserer Zielperson.“

„Unserer?“ Sie ist sichtlich überrascht, dass ich sie in meine Pläne einbeziehe.

Ich zucke die Schultern. „Bist du hier, um mir zu sagen, dass der Job nicht mehr zu haben ist?“

„Nein“, antwortet sie bestimmt.

„Dann betrachte dies als ein Vorstellungsgespräch.“ Ein Vorstellungsgespräch, ha! Wie überaus treffend.

Irritiert verengt sie den Blick und versucht zu verstehen, was ich da von mir gebe.

„Hey! Runter von meinem Bike, du Arschloch“, brüllt es plötzlich vom Eingang der Bar zu uns herüber. Ich sehe nicht hin, denn schließlich kenne ich die Stimme und weiß, zu wem sie gehört. Bi hingegen starrt ihn einen Moment an, bevor ihr Blick wieder zu mir schießt.

„Willst du mit oder nicht?“, frage ich und starte die Harley. Den Schlüssel dazu habe ich mir etwas früher am Abend besorgt. Eigentlich aus einem ganz anderen Grund, jetzt jedoch spielt mir das wunderbar in die Karten.

„Hast du den Arsch offen?“, schreit der Kerl, dessen Stimme nun schon wesentlich dichter ist als eben noch. Ich höre schnelle Schritte. Bi mustert mich unentschlossen, aber als ich Gas gebe und den Motor aufheulen lasse, schwingt sie sich hinter mich. Mit einem kleinen Satz schießen wir los und unter dem anhaltenden Gebrüll des Besitzers lenke ich die Maschine auf die Straße. Als ich beschleunige, klammert sich Bi fest an meine Lederjacke, um nicht abgeworfen zu werden. Nicht zu fassen, dass sie tatsächlich aufgestiegen ist.

„Denkst du, das war eine kluge Entscheidung?“, frage ich nach hinten, bin aber nicht sicher, ob sie mich über den Fahrtwind hinweg verstehen kann. „Jetzt hängst du mit drin.“ Als sie nicht antwortet, füge ich hinzu: „Er wird sterben. Noch heute Nacht.“ Ich will, dass sie das weiß, denn ich mag es ganz und gar nicht, wenn jemand falsche Erwartungen an mich hat.

„Was hat er getan?“

„Schlimme Dinge.“

Ich führe es nicht weiter aus, wozu auch? Es geht sie verflucht noch mal nichts an. Nichts von dem, was ich tue, geht sie irgendwas an. Und doch ist sie aufgestiegen und hängt mir somit am Arsch. Was soll das werden? Ist sie wirklich fest entschlossen, diesen Weg zu gehen?

In einem nahegelegenen Waldstück drossle ich das Tempo, biege in einen schmalen grasbewachsenen Weg ein und komme wenig später zum Halten. Der Motor verstummt und Bi steigt ab, als könne sie nicht schnell genug von mir wegkommen. Vielleicht ist ihr nun endlich klar, wie leichtsinnig sie handelt. Sie schlingt die Arme um ihren Leib und betrachtet skeptisch die Umgebung. Als sie mich ansieht, erkenne ich Unsicherheit in ihrem Blick. Sie ist auf der Hut. Gut so, denn das sollte sie auch sein. Das hier ist kein Spaß.

„Also gut, Bianca“, sage ich und mache mir nicht mal die Mühe vom Motorrad zu steigen. „Gibt es einen Grund, warum du mich angelogen hast?“

Sie braucht wohl einen Moment, um zu verdauen, dass ich ihren vollständigen Namen kenne. Sie schluckt sichtbar. „Welche Lüge genau meinst du denn?“

Trotz der eigentlich heiklen Situation und der Tatsache, dass wir uns überhaupt nicht kennen, und somit beide in einer Gefahr schweben, die keiner von uns richtig einschätzen kann, würdige ich ihre Antwort mit einem kurzen Grinsen. Dann steige ich doch ab und ziehe mein Messer. Sie weicht einen Schritt zurück.

„Willst du mich hier in dieser Einöde töten?“, fragt sie und lässt meine Hände nicht aus den Augen.

„Nicht unbedingt.“

„Was soll dann diese dezente Drohung?“

„Weder meine Worte gestern Nacht noch die Gewissheit, deinem bisherigen Leben ein Ende zu setzen, haben dich davon abgehalten, mit mir auf dieses Ding zu steigen. Du bist sogar bereit, einen Mord zu begehen, der nicht das Geringste mit deiner Geschichte zu tun hat“, erkläre ich. „Also bist du entweder unheimlich blöde, dich auf diese Scheiße hier freiwillig einzulassen, oder du bist verdammt clever darin, mich zu täuschen. Beides kann ich absolut nicht gebrauchen.“

„Vielleicht bin ich auch einfach nur verzweifelt.“

„Nein, den Eindruck habe ich nicht. Ich weiß, dass die Geschichte von deinem Sohn stimmt, das spricht für dich, nur weiß ich nicht, was du eigentlich bezweckst.“

„Du hast dich also über mich erkundigt?“, fragt sie.

„Ich lasse mich niemals auf irgendwen ein, von dem ich nicht mal den richtigen Namen kenne.“

„Aber ich soll das tun?“

„Deine Entscheidung“, erwidere ich und hebe die rechte Schulter. „Die Prioritäten setzt jeder anders.“

Kurz denkt sie nach, bevor sie fragt: „Du brauchst also die Wahrheit?“

„Unbedingt.“

„Dann such sie dir.“ Sie streckt ihren Rücken durch, bevor sie mich nachmacht und ebenfalls scheinbar gleichgültig mit der rechten Schulter zuckt. „Oder frag einfach danach.“

„Wer schickt dich?“

„Niemand.“

„Woher weißt du von mir?“

„Ich weiß schon seit Jahren von dir, Cash. Wie du dir sicher vorstellen kannst, ranken die Geschichten um dich wild durcheinander, jedoch weiß niemand irgendwas mit Sicherheit. Das hat mir nebenbei bemerkt von all dem schon immer am besten gefallen. Als Lennart starb, hatte ich einen guten Grund, um auf die Suche zu gehen. Entgegen meiner Behauptung von gestern brauchte ich jedoch verdammt lange, um dich zu finden. Siebzehn Monate hat es gedauert, bis plötzlich Fabio vor mir stand und mich in die Mangel nahm. Er legte mir nah, keine weiteren Fragen zu stellen, dennoch hörte er sich an, was ich zu sagen hatte. Fünfzigtausend Dollar später hatte ich eine vage Information zu deinem Aufenthaltsort. Und hier bin ich nun.“

„Woher hast du so viel Geld? Du bist arbeitslos und unverheiratet.“

„Ich bin einfallsreich und frei.“

„Ich denke eher, dass du käuflich bist. Also noch mal: Wer schickt dich?“

„Was?“

„Wie viel bekommst du, wenn du mich lieferst?“

Sie schüttelt den Kopf. „Du bist ja paranoid.“

„Nur gründlich. Wie viel?“

„Ich mache das aus eigenem Ansporn. Dieses perverse Schwein soll bluten, verstehst du? Glaubst du, ich verrate den Mann, der mir helfen kann, und verbaue mir damit meine einzige Chance auf Frieden? Und das für ein paar lumpige Kröten? Ich hätte deinem Freund auch das Doppelte gezahlt, wenn er es hätte haben wollen. Aber sein Preis stand fest. Und seinen Worten zufolge, dein Interesse ebenfalls.“

Ich stoße die Luft durch meine Nase. „Oh, ja, das tut es.“

„Na also, wo ist dann das Problem?“

„Ich traue dir nicht.“

Sie seufzt und breitet die Arme aus. „Was soll ich tun, damit sich das ändert?“

„Gib mir den Auftrag und verschwinde. Ich ziehe das allein durch. Auf meine Weise.“

„Nein.“

„Dann kommen wir nicht überein. Ich weiß nicht, was du alles über mich gehört hast, und ich habe keine Ahnung, warum Fabio dir Hoffnung auf eine Zusammenarbeit macht, aber so läuft das nicht.“

„Dieses Detail habe ich deinem Freund ganz bewusst verschwiegen. Er glaubt, ich habe lediglich einen Auftrag. Dass ich das Schwein selbst töten will, weiß er nicht.“

„Sehr schlau von dir. Anders hättest du mich wohl niemals finden können.“

„Habe ich aber.“

„Es ändert nichts. Ich arbeite allein.“

„Du bist ein Feigling“, giftet sie.

„Mir Komplimente zu machen, bringt dich auch nicht weiter“, erwidere ich ruhig. Da muss schon mehr kommen, Mäuschen.

„Lass mich dir beweisen, dass ich es ernst meine“, lenkt sie schließlich ein. „Was soll ich tun?“

„Was bist du bereit zu tun?“

„Alles.“

„Zieh dich aus.“

„Was?“

„Zieh deine scheiß Klamotten aus“, knurre ich und gehe einen Schritt auf sie zu. Sie weicht nicht zurück, obwohl ich noch immer das Messer in der Hand halte. Allerdings zeigt die Schneide nicht in ihre Richtung, sondern hängt eher lässig neben meinem Bein herab. Das lässt sie wohl Mut fassen.

„Warum?“

„Weil ich es sage.“

„Ich soll also alles tun, was du willst? Und dann vertraust du mir?“

„Meine Geduld ist nicht unendlich.“

Sie kämpft mit Blicken, aber dann gibt sie auf und zieht wütend den Reißverschluss ihrer Jacke nach unten. Sie streift sie sich von den Schultern, öffnet die Knöpfe ihrer Jeans und lässt sie an ihren Beinen heruntergleiten. Den Pullover und das darunterliegende Shirt zieht sie zusammen über den Kopf und schmeißt beides demonstrativ auf den Boden. Als sie ihren BH öffnen will, halte ich sie mit erhobener Hand davon ab und gehe dichter. Ich habe kein Interesse daran, sie nackt zu sehen, ich will lediglich die Kontrolle behalten. Mit großen Augen schaut sie in meine, als ich mit den Händen den noch bestehenden Stoff entlangstreiche und meine Finger kurz hineingleiten lasse. Dasselbe mache ich bei ihrem Slip. Ihre Haut ist unglaublich zart und warm, aber ich verbiete mir, genauer darüber nachzudenken.

„Glaubst du, ich habe ein Mikro in meiner Vagina?“, fragt sie, als meine Hand außen am Stoff zwischen ihre Beine gleitet.

„Du würdest dich wundern, wo man die Dinger überall verstecken kann.“

„Soll ich mich bücken?“

„Vor allem solltest du mich nicht verarschen“, antworte ich und ziehe meine Hände zurück. Sie länger auf ihrem Körper herumwandern zu lassen und vielleicht sogar anzufangen, unangebrachte Dinge zu empfinden, halte ich für unnötig.

„Ich kann genauso gut einen Sender in meinen Klamotten haben“, gibt sie bissig zu bedenken. „Willst du sie vielleicht verbrennen und mich dann nackt ins Dorf zurücktreiben?“

Ich muss beinahe lächeln bei den Bildern, die ihre Worte in meinem Kopf auslösen. „Wenn dir danach ist, lässt sich das sicher einrichten.“

„Arschloch.“

„Zieh dich wieder an, bevor du dir noch einen Schnupfen holst.“

Sie funkelt mich böse an, zieht ihre Hose nach oben und greift nach den Sachen auf dem Boden. „Fass mich noch einmal so an wie eben und ich schwöre dir …“

„Kein Interesse, vielen Dank“, unterbreche ich sie.

Sie hält inne und ihre Augen verengen sich. „Warum? Bist du schwul?“

„Und du bi? Bi?“

Wir starren uns so lange an, bis sie schnaubend den Blick abwendet und fassungslos den Kopf schüttelt. Ich warte, bis sie fertig angezogen ist, bevor ich ihre Schuhe verlange.

„Was?“

„Deine Schuhe. Her damit.“

Stöhnend wirft sie sie mir entgegen. Einer segelt dicht an meinem Kopf vorbei, der andere trifft mich vor die Brust. Mit dem Messer taste ich die Sohle ab und schaue, ob ich irgendwelche Verstecke für kleinste Abhörtechnik finde, aber negativ. Ich reiche sie ihr zurück, aber als sie sie nehmen will, feuere ich sie ein paar Meter weiter in den Wald hinein. Schnaubend geht sie auf mich los.

Den Schlag in mein Gesicht fange ich ab, jedoch nicht ihr Knie, das schmerzhaft meinen Oberschenkel trifft. Mit einem gezielten Stoß meines Ellenbogens setze ich sie schachmatt. Sie schreit auf und befühlt ungläubig ihre blutende Nase.

„Und wenn du mich noch einmal so anfasst, schneide ich dir die Nase ganz ab, ist das klar?“, grolle ich und fange ihren hasserfüllten Blick auf. Leicht gekrümmt steht sie auf weiter Flur, mit Blut im Gesicht und ohne Schuhe an den Füßen. Ich zucke mit den Schultern, wahrscheinlich, um mir und ihr einzureden, wie unbeeindruckt ich von ihr bin. Ihre Unverwüstlichkeit ist wahrlich bemerkenswert. Bestimmt deute ich auf einen Baumstumpf. „Hör auf zu heulen und setz dich. Wir müssen reden.“

Fünf

Wer am längeren Hebel sitzt

Bi

Ich fasse es nicht. Hat er mir die Nase gebrochen? Es fühlt sich an, als wäre sie nur noch Matsch. Ich höre noch immer dieses eklig knirschende Geräusch. Inzwischen ist mein halbes Gesicht taub, aber vielleicht ist das auch nur so eine Art Schutzreaktion meines Körpers auf diesen unerträglichen Schmerz. Es ist besser, nichts zu spüren, als halb ohnmächtig Schwäche zu bekennen. Es reicht schon, dass mir nach seinem Schlag die Tränen in die Augen schossen, als wäre ich genau das kleine unerfahrene Mädchen, für das er mich hält. Anstatt also wie befohlen auf meinen Hintern zu sinken und ihm brav zuzuhören, gehe ich meine Schuhe suchen und ziehe sie an. Das Bild vor meinen Augen verschwimmt, als ich mich wieder aufrichte, und kurz muss ich mich an einem Baum abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Atmen. Alles gut. Du schaffst das.

„Woher beziehst du deine Kohle?“

Irritiert sehe ich auf. Cash sitzt seitlich auf dem Motorrad, hat die Beine lässig ausgestreckt und die Knöchel übereinandergeschlagen.

„Es waren nur fünfzigtausend, Herrgott“, murmle ich, aber er versteht es trotzdem.

„Gestern hast du mir für den Job Geld angeboten, das ich an einem Tag nicht zählen kann.“

„Und du hast es ausgeschlagen“, erwidere ich. „Hast du deine Meinung etwa geändert?“

„Du hast also geblufft“, stellt er fest.

„Das wirst du nie erfahren.“ Ich sage dem doch nicht, woher ich mein Geld habe. Nicht nach dieser Aktion eben, der spinnt doch.

„Bist du bald fertig mit dem Gezicke? Mit jedem weiteren unqualifizierten Kommentar entfernst du dich ein Stück von deinem Ziel.“

„Du ziehst also in Erwägung, mir zu helfen?“

„Ich helfe dir bereits.“

„Ich wusste nicht, dass Nasenbrechen neuerdings als Wohltätigkeit gehandelt wird.“

„Falsche Richtung, Bi“, mahnt er ernst und ich seufze auf. Also gut. Vielleicht hat er recht und wir müssen wirklich mal reden. Es dauert jedoch etwas, bis ich bereit bin, das Gespräch wirklich zu führen. Zu schwer wiegt der Schlag in mein Gesicht.

„Kennst du Leute, die nachts in Geschäfte einsteigen, um die Terminals für Kartenzahlung zu manipulieren? Sie nehmen jeden aus, der am Tag darauf dort einkauft.“ Da er mich nur anschaut, aber nichts sagt, frage ich noch mal: „Kennst du so jemanden?“

„Eigentlich nicht.“

„Nun“, sage ich und sinke auf den mir zugewiesenen Baumstumpf. „Jetzt schon.“

Einen kurzen Moment lang bewegt er sich keinen Millimeter, dann hebt sich plötzlich sein rechter Mundwinkel. Ist das ein Lächeln?

„Wie viel Geld hast du?“, fragt er direkt.

„Viel.“ Nichts. Keinen einzigen Cent aus diesen Tricksereien. Das Geld stinkreicher Leute wandert direkt weiter zu denen, die es dringender benötigen. Opfer häuslicher Gewalt, Organisationen gegen Diskriminierung, Frauenhäuser, was auch immer. Aber er muss ja nun wirklich nicht alles wissen.

„Dann verstehe ich nicht, warum du dir die Hände schmutzig machen willst. Bezahle einen Auftragskiller für die Drecksarbeit.“

„Ich dachte, das würde ich tun.“

Seine Miene verschließt sich. „Ich töte nicht für Bares.“

„Das sagtest du bereits. Und ich akzeptiere das. Ich bewundere es sogar ein bisschen, denn nichts scheint in dieser Welt wichtiger zu sein als Geld. Völlig ahnungslos hast du dir mit diesem Grundsatz also bereits ein kleines Plätzchen in meinem Herzen erschaffen.“

„Ich bin gerührt.“

„Und ich erst. Nur leider vertraust du mir nicht, und damit ist alles hinfällig.“

Er mustert mich nachdenklich und verschränkt die Arme vor der Brust. Seine Lederjacke spannt sich. „Erzähl mir von deinem Sohn“, verlangt er schließlich und seine grünen Augen blicken dabei geradewegs in meine.

„Ich wette, du weißt bereits alles.“

„Warum lebte er bei seinem Vater und nicht bei dir?“

Wette gewonnen, welch Überraschung. Ich atme tief. „Sein Name ist Lennart. Und er lebte bei Marcus, weil er das Sorgerecht hatte.“

„Warum wart ihr getrennt?“

Die korrekte Erklärung wäre sicherlich, dass wir nie zusammen waren, aber so ganz will mir das nicht über die Lippen. „Zwischen Marcus und mir funktionierte es schon vor Lennarts Geburt nicht, danach stritten wir nur noch. Irgendwann packte ich meine Sachen und ging. Ohne meinen Sohn. Es war besser so, denn ich war heillos überfordert mit dem Baby. Ich bin nie zurückgekehrt und hatte nie Kontakt zu ihm, in den ganzen acht Jahren nicht.“

Ich befühle noch einmal vorsichtig mit der Hand meine Nase, im Herzen die Hoffnung, meine Erklärung wäre ausreichend, aber Cash fordert mich mit einem Nicken zum Weiterreden auf.

„Marcus und seine Frau waren ihm eine gute Familie, eine viel bessere als ich ihm je hätte sein können. Er hatte sogar Geschwister, verstehst du? Alles war gut, bis er auf dem Weg zur Schule verschwand und drei Wochen später misshandelt und erwürgt in einem Maisfeld gefunden wurde. Das ist zwei Jahre her, aber seitdem vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünsche, seinem Mörder noch viel grausamere Dinge anzutun. Ich habe zwar nicht mit Lennart zusammengelebt, aber er ist trotzdem mein Sohn. Es zerrt an meinen Nerven, was ihm und all den anderen Jungs passiert ist. Das Schwein muss bezahlen, egal, zu welchem Preis.“

„Wie hast du ihn gefunden?“, fragt Cash und lenkt den Fokus somit auf den Mörder.

„Ich hatte viel Zeit und drehte jedes kleinste Detail fünfmal um. Ich bin ziemlich gut darin, Leute auszuspionieren“, sage ich und lächle freudlos. Mein bester Freund Danny sagte mal, ich wäre der Wolf im Schafspelz persönlich, weil ich so verdammt talentiert darin wäre, mich zu verstellen und andere für