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Beschreibung

Vor einigen Jahren ist in der radikalen Linken in Deutschland eine Strategiedebatte darüber entbrannt, wie die politische Arbeit von einer Fokussierung auf die eigene Szene weg und hin zur breiteren Gesellschaft und ihren sozialen Auseinandersetzungen verlagert werden kann. Aus dieser Suchbewegung sind unterschiedliche Stadtteilgruppen hervorgegangen, die versuchen, Profitorientierung, Konkurrenz und Vereinzelung eine solidarische und bedürfnisorientierte Praxis entgegenzusetzen, indem sie in Form von Basisarbeit an die lokalen Lebensbedingungen anknüpfen und entlang von Alltagskonflikten zu einer Politisierung des Stadtteils beitragen. In der aktiven Hinwendung zu den Nachbar*innen unterscheiden sie sich von klassischen Infoläden und linken Szenetreffs, zugleich grenzen sie sich durch den revolutionären Anspruch klar von Sozialarbeit und reformistischen Ansätzen ab. Ihre Organisierungsversuche im Stadtteil erstrecken sich unter anderem auf Miet- und Arbeitskämpfe, Feminismus und Care-Arbeit sowie Antirassismus und verbinden damit auf lokaler Ebene Themen unterschiedlicher sozialer Bewegungen. Um zu einer Weiterentwicklung dieses Praxisansatzes beizutragen, hat die Gruppe ›Vogliamo tutto‹ fünf dieser Initiativen (aus Hamburg, Bremen, Münster und Berlin) zu ihren bisherigen Erfahrungen und längerfristigen Perspektiven befragt und wollte wissen, wie genau ihre Praxis aussieht, was ihre Strategie ist, was warum gelingt und was nicht. Die Gespräche liefern reichhaltiges Reflexionsmaterial – sowohl für Aktivist*innen, die eine ähnliche Praxis verfolgen oder planen, als auch für alle, die sich fragen, wie wir zu einer emanzipatorischen Transformation unserer Gesellschaft beitragen können.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Die Gruppe VOGLIAMO TUTTO widmet sich Fragen einer revolutionären Praxis in erster Linie theoretisch. Doch will ihre Arbeit aktive Gruppen in dieser Praxis unterstützen.

VOGLIAMO TUTTO (Hg.)

Revolutionäre Stadtteilarbeit

Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Vogliamo tutto (Hg.):

Revolutionäre Stadtteilarbeit

1. Auflage, Mai 2022

eBook UNRAST Verlag, September 2022

ISBN 978-3-95405-132-8

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

INHALT

Vorwort | VOGLIAMOTUTTO

Einleitung: Zur Debatte um revolutionäre Basisorganisierung 2015–2018 | VOGLIAMOTUTTO

BERG FIDEL SOLIDARISCH und ROSA | Münster

SOLIDARISCH IN GRÖPELINGEN und KOLLEKTIV | Bremen

WILHELMSBURG SOLIDARISCH | Hamburg

HÄNDE WEG VOM WEDDING | Berlin

KIEZKOMMUNE WEDDING | Berlin

Delegiertendiskussion: BERG FIDEL SOLIDARISCH & ROSA | Münster, SOLIDARISCH IN GRÖPELINGEN & KOLLEKTIV | Bremen

Auswertung der Interviews | VOGLIAMOTUTTO

VORWORT

In Reaktion auf ihre geringe Wirkmächtigkeit und fehlende gesellschaftliche Verankerung wird in der deutschsprachigen radikalen Linken seit einigen Jahren eine Debatte um eine strategische Neuausrichtung geführt. Im Zuge dieser Debatte haben sich an unterschiedlichen Orten Initiativen entwickelt, die mit ihrer Arbeit im Stadtteil ansetzen. Sie versuchen, kapitalismus- und herrschaftskritische Politik im Alltag zu verankern, indem sie sich mit Menschen entlang von gemeinsamen Interessen organisieren und verbindliche solidarische Beziehungen aufbauen. Ein Ziel ist, dass sich in gemeinsamen Kämpfen, in Gesprächen und durch Bildungsveranstaltungen antikapitalistische Positionen entwickeln und verbreiten. Eine überregionale Organisierung, auf die ein Teil der Gruppen parallel zu ihrer Arbeit im Stadtteil hinarbeitet, soll dabei helfen, eine Perspektive für eine umfassende gesellschaftliche Transformation zu erarbeiten und zu größerer Handlungsfähigkeit zu gelangen.

Wir von VOGLIAMO TUTTO gehören zum überwiegend theoretisch arbeitenden Teil der radikalen Linken und haben selbst keine Erfahrung mit Basisarbeit. Wir finden an dem Ansatz besonders spannend, dass er eine Perspektive bietet, die Selbstisolation der Linken zu überwinden. Die Idee zu diesem Interviewprojekt entstand im Gespräch mit Genoss:innen aus einer der Stadtteilgruppen, die bedauerten, dass ihnen oft die Zeit für den Austausch mit ähnlich ausgerichteten Initiativen fehle. Unser Interesse war es zunächst, ein möglichst genaues Bild sowohl von der Praxis – daher die teils recht kleinteiligen Fragen an die Gruppen – als auch von den zugrundeliegenden strategischen Überlegungen zu bekommen. So soll eine erste Einschätzung möglich werden, wie weit dieser Praxisansatz im Hinblick auf die formulierten Ziele trägt.

Das vorliegende Buch scheint uns derzeit die beste Form zu sein, in der wir selbst zum Gelingen dieses Ansatzes beitragen können. Unser Ziel ist es, Interessierten die bisherigen Erfahrungen der Gruppen zugänglich zu machen, damit sie möglicherweise als Inspiration für die eigene Praxis dienen können. Darüber hinaus wollen wir die Diskussion über das bisher Erreichte, über gemeinsame Problemstellungen und die unterschiedlichen Lösungswege fördern. Nicht zuletzt möchten wir diese Praxis in der radikalen Linken bekannter machen.

Wir haben durch die Interviews sehr viel gelernt und einige unserer Vorannahmen und Erwartungen revidiert. Beispielsweise waren wir überrascht davon, wie gut es den Gruppen gelungen ist, etwa durch Haustürgespräche Nachbar:innen anzusprechen und Interesse für eine gemeinsame Organisierung zu wecken. Zu Beginn unserer Auseinandersetzung mit Basisarbeit im Stadtteil stand für uns außerdem die Einschätzung im Zentrum, dass die Gründung einer überregionalen Assoziation für den Erfolg dieses Ansatzes unerlässlich ist. Für uns hat sich diese Annahme zwar bestätigt, aber es wurde auch deutlich, dass bisherige Versuche, eine solche Assoziation zu gründen, mit einigen Schwierigkeiten verbunden waren: So haben die Gruppen die Erfahrung gemacht, dass eine überregionale Organisierung nicht per Beschluss im Hauruckverfahren entstehen kann, sondern mit den Bedürfnissen und Kapazitäten der Basisinitiativen korrespondieren muss und einer kontinuierlichen Beziehungsarbeit bedarf.

Wir würden diesen Praxisansatz gerne weiterhin unterstützen. Wenn ihr als Gruppe in diesem Bereich tätig seid und unsere Zuarbeit gebrauchen könntet – zum Beispiel, weil ihr das Bedürfnis nach Austausch mit anderen, ähnlich arbeitenden Gruppen habt oder weil ihr zu bestimmten Dingen, die ihr euch vorgenommen habt, nicht kommt und findet, dass diese Dinge im Sinne einer Arbeitsteilung auch von außen angegangen werden könnten –, dann würde es uns sehr freuen, wenn ihr auf uns zukommt.

Zum Aufbau dieses Buchs: In einem einleitenden Text diskutieren wir die aus unserer Sicht zentralen Aspekte der eingangs erwähnten Strategiedebatte. Darauf folgen die Interviews, die wir zwischen September 2020 und Mai 2021 mit jeweils zwei bis vier Mietgliedern von fünf Stadtteilgruppen geführt haben. Wir haben die Transkripte der Interviews, die zwischendurch immer wieder auch die Form eines Gesprächs angenommen haben, gekürzt und für eine bessere Lesbarkeit überarbeitet. Es ist nicht notwendig, sie in einer bestimmten Reihenfolge zu lesen. Wir haben sie nach geografischer Lage angeordnet, von West nach Ost: BERG FIDEL SOLIDARISCH und ROSA (Münster), SOLIDARISCH IN GRÖPELINGEN und KOLLEKTIV (Bremen), WILHELMSBURG SOLIDARISCH (Hamburg), HÄNDE WEG VOM WEDDING (Berlin) und KIEZKOMMUNE WEDDING (Berlin). Danach folgt eine Diskussion mit Delegierten aus Münster und Bremen, die einige Problemstellungen aufgreift, die, wie sich in den Interviews gezeigt hat, mehrere der Gruppen umtreiben. Der Band schließt mit einem Auswertungstext, in dem wir unsere Erkenntnisse aus den Interviews zusammenfassen: Was sind die Gemeinsamkeiten der Gruppen, was die Unterschiede zwischen ihnen und was könnten jeweils Gründe dafür sein? Welche Schwierigkeiten sind bisher aufgetaucht und wie gehen die Gruppen jeweils damit um? Welche Erfolge können bisher verzeichnet werden? Welche Perspektiven ergeben sich aus der derzeitigen lokalen Praxis für eine überregionale Organisierung?

Wir wünschen viele Erkenntnisse beim Lesen und freuen uns über Rückmeldungen aller Art.

VOGLIAMO TUTTO, Dezember 2021

[email protected]

Einleitung: ZUR DEBATTE UM REVOLUTIONÄRE BASISORGANISIERUNG 2015–2018

Etwa in dem Zeitraum 2015 bis 2018 wurde in Teilen der deutschsprachigen antikapitalistischen Linken in Reaktion auf die wenig erfolgreichen Proteste im Zuge der Euro-Krise eine Debatte um Basisorganisierung geführt, die den strategischen Hintergrund der Interviews in diesem Band bildet. Sie hat die Praxis der befragten Gruppen mitgeprägt, zwei von ihnen waren selbst zentral an ihr beteiligt, und bei der Vorbereitung unserer Interviewfragen hat sie uns als Orientierung gedient.[1] Deshalb zeichnen wir in der folgenden Einleitung Aspekte dieser Debatte nach, die wir für besonders wichtig halten. Primär beziehen wir uns dabei auf diese drei Texte: ANTIFA KRITIK & KLASSENKAMPF (Frankfurt am Main): »Der kommende Aufprall« (2015), KOLLEKTIV (Bremen): »11 Thesen um Organisierung und revolutionäre Praxis« (2016) und RADIKALE LINKE BERLIN, KIEZKOMMUNE WEDDING, KIEZKOMMUNE KREUZBERG-NEUKÖLLN & KIEZKOMMUNE FRIEDRICHSHAIN: »Das Konzept Kiezkommune« (o. J.). Wir zitieren diese Texte als ›Kommender Aufprall‹, ›11 Thesen‹ und ›Konzept Kiezkommune‹.

»Und wie soll man das alles schaffen? Die

Ausgangsbedingungen sind doch so schlimm!

Eins ist sicher: Wer sie bloß anstarrt, macht sie schlimmer.«

Dietmar Dath, Klassenkampf im Dunkeln[2]

■ Gesellschaftliche Verankerung antikapitalistischer Praxis

Die Einschätzung von Sinn und Unsinn einer politischen Praxis ist nur vor dem Hintergrund ihrer Ziele und strategischer Überlegungen zu deren Erreichen möglich. Das langfristige Ziel der für diesen Band befragten Stadtteilinitiativen ist eine von breiten Teilen der Bevölkerung getragene Überwindung des Kapitalismus und anderer Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus, Sexismus, Ableismus etc. Die durchaus in mancher Hinsicht unterschiedlichen Strategien, die in den Interviews thematisiert werden, haben einen gemeinsamen Hintergrund in einer kritischen Auseinandersetzung mit den in der radikalen Linken dominanten Praxismodellen »mindestens der letzten 35 Jahre«, so die Gruppe KOLLEKTIV (11 Thesen, S. 11). Adressiert werden die Praxis des Schaffens und Verteidigens linker Freiräume sowie eine Kampagnenpolitik, die, besonders sichtbar im Kontext von politischen Großereignissen wie beispielsweise G20 oder Nato-Treffen, mit Demonstrationen, Protesten und Blockaden die Artikulation des Unmuts über die aktuellen Verhältnisse organisiert; sie richtet sich damit zwar an eine allgemeine Öffentlichkeit, erreicht letztlich aber doch nur die eigene Szene.

Beide Praxisformen wurden von den Debattenteilnehmer:innen dafür kritisiert, nicht bloß aufgrund äußerer widriger Bedingungen, sondern schon konzeptuell nicht in der Lage zu sein, außerhalb der eigenen Szene eine Wirkung zu entfalten.[3] Gesucht wurde eine Praxis, mit der dies gelingen kann. Für die Protagonist:innen der Debatte lag die Notwendigkeit auf der Hand, die eigene Szene zu verlassen und auf Menschen zuzugehen, die die eigenen Überzeugungen nicht ohnehin bereits teilen. Die Einschätzung, dass es darum geht, eine breitere gesellschaftliche Verankerung antikapitalistischer und herrschaftskritischer Praxis voranzutreiben, indem man aktiv Leute dafür zu gewinnen versucht, wird in der antikapitalistischen Linken keineswegs allgemein geteilt. Zwei Einwände wurden dagegen vorgebracht:

Der erste Einwand ist ein revolutionstheoretischer. Bei den Gruppen beispielsweise, die die Zeitschrift Kosmoprolet herausbringen, ist die Überzeugung verbreitet, dass sich ein revolutionäres Potenzial nur aus den spezifischen Umständen einer besonderen, krisenhaften historischen Situation heraus ergeben kann, in der dann ›die Massen‹ in einem elektrifizierenden Augenblick ihre Weltsicht und Gefühlswelt von jetzt auf gleich umkrempeln. Die Idee, Energie in den Versuch einer Vorbereitung dieses revolutionären Moments durch mühselige Organisierung zu stecken, basiere auf einer Überschätzung der Rolle, »die selbst eine gut organisierte Linke in einer Krise bestenfalls spielen könnte«[4]. Wir halten diese Annahme für unbegründet und finden es gewagt, sich auf ihr Zutreffen zu verlassen. Historisch spricht nicht viel dafür, wie auch die Gruppe KOLLEKTIV einwendet:

»Wir gehen nicht davon aus, dass der Zeitpunkt gesellschaftlicher oder revolutionärer Erhebungen durch revolutionäre Organisationen bestimmt oder vorhergesagt werden kann. Dieser hängt auch von den materiellen und historischen Bedingungen ab. Die Geschichte zeigt aber, dass revolutionären Erhebungen ebenso wie radikalen Kämpfen häufig jahrzehntelange, kontinuierliche, geduldige, organisierte Arbeit vorausgegangen ist.« (11 Thesen, S. 6 f.)

Der zweite Einwand ist ein strategisch-politischer und betrifft die Rolle, die linke Aktivist:innen in diesem Konzept der gesellschaftlichen Verankerung antikapitalistischer Politik einnehmen. Diese Rolle besteht erstens darin, auf Menschen, die die eigenen Überzeugungen nicht unbedingt teilen, zuzugehen und sie dazu zu animieren, sich zu organisieren, solidarisch für ihre Interessen zu kämpfen und sich im Zweifelsfall mit der herrschenden Klasse anzulegen, und zweitens darin, die gesamtgesellschaftliche Perspektive in die Kämpfe einzubringen und zu versuchen dazu beizutragen, dass die Kämpfe sich perspektivisch gegen die kapitalistische Produktionsweise wenden. Aktivist:innen, die sich darum bemühen, Kämpfe anzustoßen und eine kapitalismuskritische Haltung zu verbreiten, werden in der Debatte auch als »Initiativkräfte« bezeichnet. Ihre Rolle ist dem zweiten Einwand zufolge als »bevormundend, instrumentalisierend oder manipulativ«[5] abzulehnen. Auf andere zuzugehen, die erst mal die politischen Ziele gar nicht teilen, um sie dazu zu bewegen, diese Ziele zu verfolgen, häufig verbunden mit einem Wissensgefälle etwa in Hinblick auf strategische Debatten, birgt für die Kritiker:innen die Gefahr einer autoritären Stellvertreterpolitik.[6] Sie trauen der Versicherung nicht über den Weg, dass es sich bei den Initiativkräften keineswegs um zukünftige Technokrat:innen in der Tradition realsozialistischer Staatskommunist:innen handle, die im Laufe der Zeit alle Macht an sich reißen würden, sondern bloß um diejenigen, »die bereit sind, die ersten Schritte zu gehen« und es dabei als ihre Hauptaufgabe sehen, »sich überflüssig zu machen« (Konzept Kiezkommune, S. 5).[7] – Wir denken, dass nur der Versuch einer praktischen Umsetzung zeigen kann, ob und in welcher Hinsicht das Überflüssigwerden der »Initiativkräfte« gelingen kann.

■ Einzelne Kämpfe und gesamtgesellschaftliche Perspektive

Die Grundidee der im Rahmen der Debatte geäußerten strategischen Überlegungen ist nicht neu: Durch ein gemeinsames Engagement in Kämpfen, die sich an sozialen Problemen entzünden, sollen längerfristige Beziehungen und selbstorganisierte Solidarstrukturen aufgebaut werden, die perspektivisch über die einzelnen Kämpfe hinausweisen könnten. Solche Strukturen würden nicht nur der vereinzelnden kapitalistischen Vergesellschaftung etwas entgegensetzen, indem sie ein solidarisches Miteinander unabhängig von Familie und Freundschaft hervorbringen und die Lebensqualität der Beteiligten verbessern; sie könnten auch zu einem kritischen politischen Bewusstsein beitragen und, so zumindest die Hoffnung, eine Offenheit für gesamtgesellschaftliche Ursachenerklärungen und einen Veränderungswillen hervorbringen. Denn

»erst wenn der Widerspruch zwischen den eigenen Interessen und Bedürfnissen und denen des Kapitals, der sich in dieser Form des politischen Kampfes ausdrückt, von den Kämpfenden auf die gesellschaftliche Totalität bezogen wird, das heißt die eigene Position innerhalb dieser verortet wird, konstituieren sich potenzielle Träger:innen sozialrevolutionärer Veränderung.« (Kommender Aufprall, S. 7)

■ Felder der anvisierten Kämpfe und die Rolle des Stadtteils

Einigkeit besteht in der Debatte darüber, dass die Verankerung antikapitalistischer Praxis in Alltagskämpfen als eine langfristige Basisarbeit zu denken ist: als ein lokaler Zusammenschluss von Betroffenen kapitalistischer oder anderer herrschaftsförmiger Zumutungen zwecks solidarischer Unterstützung und gemeiner Kämpfe.

»Offenkundige Felder sind Erwerbstätigkeit (Betrieb, Ämter), Wohnen (Haus, Straße, Stadtteil), Reproduktion (insbesondere Kinder und Pflege) sowie Lebensgrundlagen (solidarische Netzwerke, Lebensmittelproduktion, Gesundheit) etc.« (11 Thesen, S. 19)

Diese Einschätzung hat sich erst im Verlauf der Debatte herauskristallisiert. Die ANTIFA KRITIK UND KLASSENKAMPF hatte in ihrem Strategiepapier noch die Organisation am Arbeitsplatz ins Zentrum gerückt, mit dem klassischen Argument, dass allein im Arbeitsprozess die Lohnarbeiter:innen wirklich eine gesellschaftliche Macht entfalten können, nämlich aufgrund ihrer Fähigkeit, den kapitalistischen Produktionsprozess zu unterbrechen. Dass die ANTIFA KRITIK UND KLASSENKAMPF zugleich auch in der teils kapitalistisch, teils privat organisierten Reproduktions- und Fürsorgearbeit ein wichtiges Kampffeld sieht, in dem sich ihrer Einschätzung nach aktuell die »Widersprüche … zuspitzen« (Kommender Aufprall, S. 11), bleibt etwas unverbunden neben der Zentrierung der Lohnarbeit stehen.

In den elf Thesen der Gruppe KOLLEKTIV hat sich die Perspektive von der ökonomischen Macht am Arbeitsplatz auf alle Bereiche verschoben, deren Transformation angestrebt wird.[8] Diese strategische Dezentrierung des Arbeitsplatzes hat zunächst auch den Grund, dass KOLLEKTIV unter den gegenwärtigen, von Diskontinuität und Vereinzelung geprägten Arbeitsbedingungen ein vermindertes Potenzial für eine solidarische Organisierung sieht (11 Thesen, S. 19). Hinzu kommt in Deutschland die Besetzung des Bereichs formaler Arbeit durch stark sozialpartnerschaftlich eingebundene Gewerkschaften.

Die Wahl des Stadtteils als Ort der Organisierung hat aber auch den positiven Grund, dass er als ein Knotenpunkt gesehen wird, der den »Aufbau selbstorganisierter Strukturen in allen Bereichen des Alltages« ermöglichen könnte (11 Thesen, S. 18).

Die RADIKALE LINKE BERLIN und die KIEZKOMMUNEN subsumieren den Bereich Arbeit explizit unter die Organisierung am Wohnort:

»Wenn wir davon sprechen, dass wir ›Kommunen‹ aufbauen wollen, dann bedeutet das, dass wir in kleinen territorialen Einheiten – Nachbarschaften, Kiezen, auf Perspektive [sic] Betrieben – Selbstverwaltungsstrukturen ermöglichen. Soll heißen, die Kiezkommune soll sich um alle Angelegenheiten in ihrem Kiez kümmern: soziale Fragen, Mieten-, Arbeitskämpfe, antipatriarchale Kämpfe, Aufbau sozialer Treffpunkte, Jugendarbeit, Antifaschismus.« (Konzept Kiezkommune, S. 4)

Im Stadtteil, so die Hoffnung, können sich die verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Auseinandersetzung bündeln und miteinander kommunizieren. Auch ein Verständnis des Zusammenhangs verschiedener gesellschaftlicher Konflikte kann auf diesem Weg vielleicht besser entstehen. Und es scheint besser möglich zu sein, der kapitalistischen Vereinzelung organisierte solidarische Strukturen entgegenzusetzen. Eine Einmischung in Arbeitskämpfe, die aus einer Stadtteilorganisierung heraus geschieht, bietet möglicherweise einen stärkeren Rückhalt in einem gefestigten sozialen Gefüge. Nicht zuletzt ist es im Stadtteil auch möglich, die verschiedenen Herrschaftsverhältnisse – neben dem Klassenverhältnis auch das Geschlechterverhältnis und verschiedene Formen des Rassismus – in ihrer Verschränkung zu bekämpfen. Gleichzeitig ist natürlich auch der Stadtteil keine sozial homogene Einheit; gesellschaftliche Interessensgegensätze schlagen sich dort nieder und können einer gemeinsamen Organisierung teilweise entgegenstehen.

■ Aufbau von Gegenmacht

Als mittelfristiges Ziel muss es ANTIFA KRITIK & KLASSENKAMPF zufolge gelingen, »eine emanzipatorische Gegenmacht zu Staat und Kapital aufzubauen, die insbesondere in Krisenzeiten eine praktische wie theoretische Alternative zu reaktionären Lösungsvorschlägen bieten kann« (Kommender Aufprall, S. 21).

»Gegenmacht« meint hier einen breiten, gut organisierten Widerstand gegen Kapital und Staat, der in der Lage ist, sowohl effektiv für die Verbesserung der Lebensbedingungen im Hier und Jetzt zu kämpfen, als auch an einer Überwindung des kapitalistischen Systems zu arbeiten. Die RADIKALE LINKE BERLIN und die KIEZKOMMUNEN gehen in der Beschreibung ihrer Strategie so weit zu sagen, dem Staat »durch Schaffung neuer sozialer Beziehungen … Schritt für Schritt« Terrain abtrotzen zu wollen (Konzept Kiezkommune, S. 4).

»Wenn wir unser eigenes Zusammenleben organisieren können, ist das Gegenmacht; wenn im Kiez nicht die Bullen, sondern die Kommune gerufen wird, um Konflikte zu regeln, ist das Gegenmacht; wenn wir unsere Reproduktionsarbeit kollektiv gewährleisten können, ist das Gegenmacht.« (Konzept Kiezkommune, S. 6)

■ Organisierung von gesellschaftskritischer Bildung

In Kämpfen kann Solidarität und das Bewusstsein von Handlungsfähigkeit entstehen und man erlernt eine Reihe wertvoller Fähigkeiten. Daraus allein erwächst jedoch nicht notwendigerweise auch ein Verständnis davon, unter welchen Bedingungen diese Kämpfe geführt werden und wie sie untereinander und mit dem System insgesamt in Zusammenhang stehen. Neben der Erfahrung, sich gemeinsam wehren zu können, ist aber dieses Wissen um Zusammenhänge und Ursachen eine Voraussetzung dafür, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als das Problem zu erkennen, eine realistische herrschaftsfreie Alternative anzuvisieren und eine revolutionäre Perspektive einzunehmen. Vor diesem Hintergrund ist Bildung ein zentraler Gegenstand in der Debatte. Die Gruppe KOLLEKTIV schlägt vor, sie in Form einer »Akademie von unten« zu einem festen Bestandteil revolutionärer Organisierung zu machen. Das könne auch ein Weg sein, der bestehenden Spaltung der deutschsprachigen Linken in Theorie- und Praxisgruppen entgegenzuwirken (11 Thesen, S. 27). Bildung könnte praktischer werden, wenn sie in organisierter und weniger zufälliger Form stattfindet und sich auch an den Erkenntnisbedürfnissen orientiert, die aus Kämpfen heraus entstehen; zudem könnte die Praxis stärker an strategische Überlegungen gekoppelt werden, die von einer Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und von historischen Erfahrungen informiert sind.

■ Entwicklung einer »revolutionären Kultur«

Für KOLLEKTIV und die KIEZKOMMUNEN liegt in der Entwicklung neuer Umgangsformen oder einer »revolutionären Kultur« eine weitere notwendige Bedingung des Gelingens ihres Ansatzes. Beide gehen davon aus, dass die auch unter Linksradikalen weit verbreiteten elitären Abgrenzungsbedürfnisse, Status- und Konkurrenzkämpfe eine Organisierung erschweren können (11 Thesen, S. 24). Der Kampf gegen Herrschaftsverhältnisse muss daher auch den Kampf dagegen einschließen, wie diese Herrschaftsverhältnisse unsere eigenen sozialen Beziehungen durchdringen. Und von Dauer können die neu geschaffenen Strukturen nur sein, wenn sie das Leben der Beteiligten bereichern, indem sie Räume schaffen, in denen sich die Menschen gerne bewegen und in ihren Bedürfnissen gesehen fühlen.

Unterschiede gibt es in der weiteren Konkretion dessen, was als »revolutionäre Kultur« anvisiert wird. Die RADIKALE LINKE BERLIN und die KIEZKOMMUNEN legen Wert auf die Entwicklung von Methoden, um soziale Probleme selbstorganisiert bearbeiten zu können, und von »Werkzeugen der Konfliktbewältigung«. Sie wollen eine Kultur des Zusammenlebens schaffen, die als Teil des Zurückdrängens von staatlicher Zuständigkeit begriffen wird. (Konzept Kiezkommune, S. 6)

KOLLEKTIV zufolge müssen als Teil einer revolutionären Kultur Umgangsweisen erarbeitet werden, die soziale Bedürfnisse berücksichtigen, die im Kapitalismus zu kurz kommen, etwa das »Bedürfnis nach Anerkennung sowie das Gefühl wertvoll zu sein«. (11 Thesen, S. 24)

»Eine revolutionäre Kultur zeichnet sich aus durch Offenheit, respektvollen Umgang, Empathie, Interesse, echte Freiheit, Solidarität, Gemeinschaftlichkeit (Kollektivität), die Fähigkeit zuhören zu können, Herzlichkeit sowie Humor. Das heißt, sie entsteht durch Verhaltensweisen, welche die Selbstbestimmung und Selbstentfaltung aller Einzelnen in der Gemeinschaft ermöglichen.« (11 Thesen, S. 25)

Die genannten Werte sind zwar auch in bestimmten Bereichen bürgerlicher Kultur zu finden. Revolutionäre Kultur soll es aber insgesamt erleichtern, diese Werte zu leben, auch in Bereichen jenseits von Freundschaften und Familienverhältnissen: Sie soll auch die Beziehungen von Menschen prägen, die sich nicht primär aufgrund von Sympathie, sondern aufgrund gemeinsamer Interessen und wechselseitiger Abhängigkeiten zusammentun, um sich gegen Konkurrenz und Spaltung zu wehren.

■ Überregionale Organisierung

Der Kern der vorgeschlagenen Praxis ist zunächst die Organisierung in lokalen Basisgruppen. Die strategische Perspektive erschöpft sich aber nicht darin, dass möglichst viele solcher Gruppen entstehen – idealerweise in jedem Stadtteil und jedem Dorf –, sondern es wird gleichzeitig die Notwendigkeit gesehen, dass sich die Gruppen überregional zusammentun und eine gemeinsame Organisationsstruktur entwickeln. Dazu, wie solch eine Organisation aussehen und entstehen könnte, gibt es verschiedene Vorschläge.

Die RADIKALE LINKE BERLIN und die KIEZKOMMUNEN sehen in den einzelnen Basisgruppen – in ihrem Fall den Kiezkommunen – potenzielle Keimzellen einer demokratischen Selbstverwaltung, die sich nur in vollem Umfang realisieren lässt, wenn sich die lokal verankerten Gruppen stadt-, landes- oder weltweit zusammenschließen (Konzept Kiezkommune, S. 4). Der Ansatz ist also von vornherein nicht nur überregional, sondern internationalistisch und global ausgerichtet. RADIKALE LINKE BERLIN und die KIEZKOMMUNEN sehen sich in der Tradition der historischen Arbeiter:innenräte und stellen sich, ausgehend von den einzelnen Kiezkommunen als Basisräten, eine mehrstufige Struktur vor, die »von unten nach oben per imperativem Mandat organisiert« sein sollte (Konzept Kiezkommune, S. 4).

Das Konzept der Kiezkommunen hat die Besonderheit, dass die überregionale Perspektive hier schon in der Konzeption der einzelnen Basisgruppe angelegt ist, die von vornherein in ihrer Entstehung schon Teil eines größeren Zusammenhangs ist. Das vereinfacht einerseits die Frage nach dem Wie einer verbindlichen überregionalen Zusammenarbeit, kann aber zu einer fragwürdigen Geschlossenheit führen, sofern Basisgruppen, die in anderen Kontexten entstanden sind, von dieser überregionalen Organisierung gar nicht angesprochen sind.

Die ANTIFA KRITIK UND KLASSENKAMPF stellt sich den Prozess einer überregionalen Organisierung als eine »Verfestigung« von »Kommunikations- und Koordinationsstrukturen« vor, die zunächst im Modus einer lockeren Bündnisarbeit zwischen Basisgruppen untereinander und mit stärker theoretisch arbeitenden politischen Gruppen entstehen (Kommender Aufprall, S. 19). Als Aufgaben, die auf überregionaler Ebene angegangen werden müssten, nennt ANTIFA KRITIK UND KLASSENKAMPF: Erfahrungen teilen, gemeinsam reflektieren und gezielt weitergeben; gemeinsame Kämpfe und Aktionen inhaltlich und organisatorisch koordinieren und lokale Aktionen unterstützen; sich wechselseitig organisatorisch unterstützen; Expert:innenwissen dorthin vermitteln, wo Bedarf danach besteht; gemeinsame politisch-strategische Diskussionsprozesse gestalten; Bildung organisieren; die Bewegung und Organisation nach außen hin sichtbar und ansprechbar machen (Kommender Aufprall, S. 19 f.). Dazu, wie die Organisation insgesamt intern strukturiert sein könnte, äußert sich ANTIFA KRITIK UND KLASSENKAMPF wenig, schlägt aber die Einrichtung eines ständigen »Büros« vor, das nach einem Rotationsprinzip besetzt wäre und Aufgaben der Kommunikation, Koordinierung, Ansprechbarkeit etc. übernehmen würde (Kommender Aufprall, S. 20).

KOLLEKTIV weist auf die Dringlichkeit von Organisierung hin, die auf einer überregionalen Ebene angegangen werden muss:

»Weil die Hegemonie der kapitalistischen Ideen eine strukturelle Hegemonie ist, ist es nicht möglich, einzeln oder in gespaltenen, kleinen Gruppen gegen sie anzukämpfen … Unorganisiert und vereinzelt wächst die Gefahr, dass wir die herrschenden Denkweisen verinnerlichen und reproduzieren oder im Versuch aufgesogen werden, die eigenen Alltagsprobleme individuell zu lösen. Um vor diesem Hintergrund emanzipative Denkweisen zu verteidigen, zu entwickeln und auszuweiten, bedarf es eines organisierten, kollektiven Kampfes. Gleichzeitig bildet Organisierung die Grundlage für politisches Handeln, das sich an der Analyse gesellschaftlicher Bedingungen und Entwicklungen orientiert und daraus Strategien, Taktiken und Ziele ableitet.« (11 Thesen, S. 6)

Auch die radikale Linke ist gesellschaftlichen Spaltungen ausgeliefert, solange sie nicht durch einen bewussten Organisierungsprozess dagegen angeht, wie es sich besonders deutlich an der Notwendigkeit zeigt, die »Gettoisierung von migrantischen und nicht-migrantischen radikalen Linken zu überwinden« (11 Thesen, S. 9). KOLLEKTIV zeigt aber ebenso eindringlich, dass sich das häufige Schieflaufen von Organisierungsprozessen nicht bloß einem Spleen Linksradikaler verdankt:

»Sich zu organisieren heißt, Kompromissfähigkeit zu entwickeln, kollektiv denken zu lernen und sich auch zurücknehmen zu können. Damit meinen wir nicht, eigene Überzeugungen und Standpunkte aufzugeben. Vielmehr gilt es zu unterscheiden zwischen grundsätzlichen Überzeugungen, über die es zu diskutieren und notfalls zu streiten gilt, und der Tatsache, dass man nicht immer alles mitentscheiden, bestimmen oder beeinflussen muss. In der radikalen Linken sind egoistische Tendenzen und die Eigenschaft, immer die Unterschiedlichkeit zu betonen, stark verbreitet. Diese sind … eine Folge jahrhundertelanger autoritärer Prägung. Daraus ergeben sich psychologische Faktoren, wie die Suche nach Anerkennung und Wertschätzung über Leistung und Profilierungsstreben, die Organisierungsprozesse deutlich hemmen können.« (11 Thesen, S. 9)

Organisierung ist nicht als ein bloß formeller Akt misszuverstehen, nach dem dann die politische Arbeit erst beginnt, sondern als politische Herausforderung zu begreifen, die als solche angegangen und ernstgenommen werden muss.

Einigkeit herrscht in der Debatte darüber, dass bei einer Organisierung in größerem Maßstab einer möglichen Zentralisierung von Entscheidungsgewalt entgegengearbeitet werden muss. In den Texten fallen Begriffe wie »imperatives Mandat« oder »jederzeitige Rückrufbarkeit der Delegierten und Rotation«, doch sie gehen mit einer gewissen Unsicherheit einher – angesichts eines Mangels an lebendiger Erfahrung in diesen Dingen aus jüngerer Zeit und auch der Tatsache, dass aufgrund des Zustandes defizitärer Organisierung in den letzten Jahrzehnten »Erfahrungen zwischen Generationen von Aktivist:innen nicht weitergegeben werden können und alle immer wieder von vorne beginnen« (11 Thesen, S. 7 f.).

■ Sinn und Grenzen strategischer Überlegungen

Bei diesen theoretischen Vorstößen zu einer Neuausrichtung antikapitalistischer Praxis handelt es sich um eine Strategiedebatte. Mit dem Anliegen, sich über strategische Fragen zu verständigen, stößt man jedoch nicht immer und überall auf offene Ohren. Es gibt den Einwand, dass es sich dabei nur um ein Kreisen um sich selbst handle, eine Selbstbespaßung, ein sich Verzetteln, ein Verschwenden kostbarer Zeit und Kraft, die man besser in »Aktionen« stecken sollte. Außerdem könne man ohnehin nicht antizipieren, welche Praxisform erfolgreich ist. Schließlich lasse sich keine »Blaupause«, kein »Rezept« zur erfolgreichen Überwindung des Kapitalismus entwickeln. Deshalb enden wir mit der Frage nach der Funktion einer Strategiedebatte.

Eine Strategie ist eine Handlungsorientierung auf langfristige Ziele im Bewusstsein undurchsichtiger Umstände. Das unterscheidet eine Strategie von einem Plan, der das Erreichen des Ziels durch das Antizipieren einer bestimmten Abfolge von Handlungen und deren Wirkungen vorwegnehmen kann, weil eine Durchsichtigkeit der Umstände gegeben ist.

Eine Strategie geht von einer Analyse der gegenwärtigen Umstände und der eigenen Mittel aus und behauptet davon ausgehend, dass eine bestimmte Ausrichtung des eigenen Handelns geeignet ist, ein ferner liegendes Ziel zu erreichen. Die Plausibilisierung der Strategie beinhaltet begründete Vermutungen über die möglichen Folgen eines bestimmten Handelns, also ein Moment von Spekulation. In der Strategiedebatte verschränkt sich daher die aktuelle praktische Schwäche der antikapitalistischen Linken mit einer unumgänglichen theoretischen Unsicherheit, was die ANTIFA KRITIK UND KLASSENKAMPF in ihrem eigenen Strategieentwurf so ausdrückt (wobei sie das Wort »Plan« verwendet, wo wir »Strategie« sagen würden):

»Uns ist klar, dass solche Reisepläne in Richtung Utopia zunächst einigermaßen lächerlich wirken … Ihre Umsetzung … hängt in der Praxis nicht vom starken Willen der Strateg:innen ab, sondern … von Prozessen, deren Verlauf nicht in ihren Händen liegt. Daher die relative Hilflosigkeit der Schritt-für-Schritt-ins-Paradies-Pläne, die meist der Grund dafür ist, dass sie belächelt werden. Doch letztlich führt kein Weg in eine befreite Gesellschaft daran vorbei, gemeinsam praktische Ziele auszuloten und zu setzen und zu versuchen sie zu erreichen.« (Kommender Aufprall, S. 21, FN 22)

Wir können Strategien nur unter den Bedingungen der Machtlosigkeit und Unsicherheit formulieren, aber erst der strategische Bezug unseres Handelns auf das Ziel macht es zu einem zweckgerichteten politischen Handeln. Und wenn man eine soziale Revolution nicht für etwas hält, das ohne jede Beziehung zu vorhergehendem politischen Handeln einfach über uns kommt – sei es quasi-religiös als Erlösung gedacht oder schlecht materialistisch als ein automatischer Reflex ökonomischer Veränderungen –, dann stellt sich die Frage, wie unsere verschiedenen Handlungsoptionen strategisch zu bewerten sind.

Dass die Gruppen, die wir zu ihrer Praxis befragt haben, den Schritt getan haben, die in linken Szenen gewohnten und Anerkennung versprechenden Praxisfelder zu verlassen und ins kalte Wasser zu springen, ist in Anbetracht der skizzierten Schwäche und Unsicherheit umso mutiger. Ihre Praxis ist noch recht jung und die Zahl der Initiativen ist nicht groß – wir würden sie in Deutschland auf ca. 15 schätzen. Vor diesem Hintergrund kann man die Verwendung des Attributs »revolutionär« im Titel dieses Buches natürlich für realitätsfern halten. Doch auch, wenn niemand weiß, ob diese Bewegung größer und welche Ausrichtung sie annehmen, wie sie sich zu möglichen anderen sozialen Bewegungen verhalten wird und vor allem, wie sich die gesellschaftlichen Bedingungen einer Transformation entwickeln werden: Für die aktuelle Ausrichtung der Praxis macht es einen Unterschied, welche übergeordneten Ziele man anpeilt.

In den Interviews schildern die Gruppen ihre bisherigen Erfahrungen mit der noch jungen Praxis und reflektieren diese in Bezug auf ihre mittel- und langfristigen Ziele. In der sich an die Interviews anschließenden Auswertung versuchen wir, diese Erfahrungen zu bündeln und strategisch einzuschätzen.

■ Anmerkungen

1      Die Debatte wurde unter anderem in Zeitschriften und Blogs wie dem re:volt magazine, dem Lower Class Magazine, dem Autonomie Magazin, der analyse & kritik und in Nr. 55 der Frankfurter Student:innenzeitschrift diskus geführt. An manchen Stellen überlappte sie mit den Diskussionen über »Neue Klassenpolitik«, ist von letzterer aber in ihrer durchgängig antistaatlichen Ausrichtung und revolutionären Perspektive zu unterscheiden. Auch ein Gegeneinander-Ausspielen verschiedener Herrschaftsverhältnisse, wie es zuweilen unter dem Stichwort »Neue Klassenpolitik« vorkommt, ist der hier behandelten Debatte völlig fremd.

2      Dietmar Dath: »Klassenkampf im Dunkeln. Zehn zeitgenössische sozialistische Übungen«. Hamburg: konkret 2014, S. 151.

3      Neuere Entwicklungen linker Kampagnenpolitik ergeben ein etwas anderes Bild – zum Beispiel die Erfolge der Klimabewegung und der Berliner Mieter:innenkämpfe, insbesondere im Zusammenhang mit dem Volksentscheid DEUTSCHE WOHNEN UND CO. ENTEIGNEN. In diesen Fällen gibt es eine Strahlkraft über die linksradikale Szene hinaus und es werden Themen verhandelt, die von vielen Menschen als sich zuspitzende Konflikte erlebt werden. Offen ist bisher, ob in diesen Kontexten auch eine langfristige Organisierung mit revolutionärem Potenzial gelingen kann.

4      Vgl. Eine:r der Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: »Fragmentarisches zur Organisationsfrage«. Kürzlich ist aus dem Umfeld des Kosmoprolet eine Kritik an der Vorstellung erschienen, eine revolutionäre (und wünschenswerte) Transformation der Gesellschaft könne aus einem krisenhaften Moment allein hervorgehen: Katja Wagner, Lukas Egger und Marco Hamann: »Was tun in Zeiten der Schwäche?« (communaut, 16. Oktober 2021, https://communaut.org/de/was-tun-zeiten-der-schwaeche, dieser sowie sämtliche folgenden Links wurden zuletzt aufgerufen am 14.02.2022). Als Schlussfolgerung, die aber in diesem Umfeld nicht auf positive Resonanz traf, wird in dem Text die Gründung einer Partei vorgeschlagen, von der ein Aufbau von Gegenmacht ausgehen soll.

5      Einige Teilnehmer:innen: »Nachbereitungspapier des Selber-Machen-Kongresses 2017«. Der Selber-Machen-Kongress fand 2017 in Berlin statt und versammelte rund 600 Personen, um Strategien rund um Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie zu diskutieren. Das Nachbereitungspapier zeichnet die zentralen Kontroversen des Kongresses nach, die etwa das Subjekt der Selbstorganisierung und die Bedingungen für eine revolutionäre Organisierung betrafen.

6      Ebd.

7      Es gibt viele Parallelen zwischen der hier behandelten Debatte und der Kritik der autonomen Szenepolitik, die Anfang der 1990er Jahre unter dem Titel »Heinz-Schenk-Debatte« geführt wurde und aus der die Berliner Gruppe FELS hervorgegangen ist sowie diejenige Praxis, für die heute die INTERVENTIONISTISCHE LINKE steht. In der von FELS herausgegebenen Broschüre mit Texten von damals heißt es: »Ein revolutionärer Prozess ist nie von außerhalb gegen die Gesellschaft, sondern nur innerhalb der Gesellschaft gegen ihre Unterdrückungsverhältnisse denkbar«; daher geht es »um den Aufbau kollektiver Strukturen im Normalalltag, dort wo wir lernen, arbeiten, studieren und leben« (FelS: »Heinz-Schenke-Debatte«, S. 67). »Die Linke muss, wenn sie eine gesellschaftliche Option sein will, präsent sein und sie muss es … auch endlich wieder den verschiedensten Leuten ermöglichen, an linker Politik teilzunehmen« (Ebd., S. 69). »Wichtig wird dabei auch sein, ob die Linke … weiterhin glaubt, Wissen vermitteln zu müssen, oder aber ob sie ihre Umwelt zur Selbstfindung, zum Subjektwerden anstachelt« (Ebd.). Damals war das Ergebnis der Debatte die Gründung einer Organisation, die das längerfristige Führen strategischer Debatten, die Intervention in gesellschaftliche Kämpfe und Partizipationsmöglichkeiten für Leute schaffen sollte, die nicht aus der Szene kommen. Die an der jüngeren Diskussion Beteiligten teilen dagegen nicht mehr die Erwartung, eine bloß nach außen hin offenere Gestaltung linker Organisationen könne diese aus ihrem Szene- und Sektendasein befreien.

8      Für eine Basisorganisierung, die Lohnarbeit in den Mittelpunkt stellt, ihre Praxis jedoch ebenfalls auf den Stadtteil ausgeweitet hat, ist vor allem auf die Erfahrungen der ANGRY WORKERS aus London zu verweisen, die ihre Erfahrungen in dem 2020 erschienenen Buch »Class Power on Zero-Hours« dargestellt haben.

■ Literatur

Antifa Kritik & Klassenkampf. 2015. »Der kommende Aufprall. Auf der Suche nach der Reißleine in Zeiten der Krise. Strategische Überlegungen«. http://akkffm.blogsport.de/images/DerkommendeAufprall_web.pdf.

Einer von den Freundinnen & Freunden der klassenlosen Gesellschaft, Berlin. 2016. »Fragmentarisches zur Organisationsfrage«. diskus – Frankfurter Student:innenzeitschrift, Nr. 55. https://diskus.copyriot.com/akk/fragmentarisches-zur-organisationsfrage.

Einige Teilnehmer:innen des Kongresses. 2018. »Nachbereitungspapier des Selber-Machen-Kongresses 2017«. Indymedia, 22. März 2018. https://de.indymedia.org/node/19035.

FelS – Für eine linke Strömung. (1992) 2011. »Heinz-Schenk-Debatte: Texte zur Kritik an den Autonomen – Organisationsdebatte – Gründung der Gruppe ›Für eine linke Strömung‹«. https://fels.nadir.org/multi_files/fels/heinz-schenk-debatte_0.pdf.

kollektiv. 2016. »11 Thesen über Kritik linksradikaler Politik, Organisierung und revolutionäre Praxis«. https://linksunten.indymedia.org/de/system/files/data/2016/05/1882461437.pdf.

radikale linke berlin, Kiezkommune Wedding, Kiezkommune Kreuzberg-Neukölln und Kiezkommune Friedrichshain. o.J. »Das Konzept Kiezkommune. Über Gegenmacht und wie wir sie aufbauen«. Kiezkommunen aufbauen. https://kiezkommune.noblogs.org/files/2019/06/Konzept-Kiezkommune.pdf.

BERG FIDEL SOLIDARISCH und ROSA | Münster

ROSA (Räte organisieren, Solidarität aufbauen) ist eine Gruppe in Münster, die es seit 2018 gibt und aus der heraus 2019 die Stadtteilgruppe BERG FIDEL SOLIDARISCH im Münsteraner Stadtteil Berg Fidel gegründet wurde. Beide Gruppen sind nicht formell, aber personell und thematisch verbunden. BERG FIDEL SOLIDARISCH[1] gliedert sich in themenspezifische Arbeitsgruppen, ein Aktiventreffen, das die Aktiven aus den AGs zusammenbringt und als politischer Ort der Initiative fungiert, sowie ein Strategietreffen, das die mittelfristige Ausrichtung der Gesamtgruppe in den Blick nimmt.

  Wir haben das Interview im Februar 2021 geführt. Alle drei Interviewten sind bei BERG FIDEL SOLIDARISCH, zwei von ihnen außerdem bei ROSA organisiert.

Erster Teil: BERG FIDEL SOLIDARISCH

■ Was macht BERG FIDEL SOLIDARISCH?

LUISE: Könnt ihr zum Einstieg beschreiben, was die Hauptaktivitäten von BERG FIDEL SOLIDARISCH sind und wie die Praxis im Alltag aussieht?

TOM: Unser Ansatz ist, Menschen hier im Viertel anhand von konkreten Alltagsproblemen und sozialen Aktivitäten zu organisieren, um gemeinsam Widerstand zu leisten und Kollektivität zu stärken. Die Organisierung betrachten wir als Voraussetzung von Prozessen der politischen Bildung und Selbstermächtigung. Im Moment geht es im Alltag viel um den Konflikt mit der LEG, einem großen Mietkonzern, dem mit den Hochbauten hier fast das komplette Viertel gehört. Wir sind viel damit beschäftigt, Nachbar:innen anzusprechen und dazuzuholen, mehr zu werden, zu überlegen, was wir gemeinsam tun können.

Eure Frage ist momentan schwer zu beantworten, weil unsere eigentliche Struktur, die sehr auf physischen Treffen basiert, wegen Corona so nicht funktioniert. Aber auf dem Papier sind wir strukturiert in ein Strategie-Treffen, ein offenes Aktiventreffen und themenspezifische AGs. Dazu gehören die AG zum Konflikt mit der LEG und die Frauen-AG, die versucht, Selbstorganisierung für frauenspezifische Themen anzustoßen. Das Aktiventreffen soll der Ort sein, an dem Nachbar:innen aus den verschiedenen AGs zusammenkommen, wo sich also verschiedene Themen und Kämpfe verbinden und die Menschen sich kennenlernen; wo wir aber auch politisch diskutieren können, beispielsweise darüber, was gesellschaftspolitisch gerade anliegt, oder über Themen aus dem Viertel; und wo wir neue Initiativen starten können. Die meisten Nachbar:innen kommen über die Anti-LEG-Aktivitäten zu uns. Daneben verteilen wir ungefähr einmal pro Woche eine Stadtteilzeitung vor dem Supermarkt hier im Viertel – die wir natürlich vorher auch schreiben.

SARAH: Die Idee für eine Stadtteilzeitung kam auf, als es mit Corona anfing und wir gemerkt haben, dass wir nicht mehr mit unseren normalen Strukturen weitermachen konnten. Wir wollten einen Weg finden, die Menschen im Viertel weiterhin zu erreichen. Die Stadtteilzeitung hat sich bisher ganz gut bewährt, um den Kontakt im Viertel zu halten.

JANA: Das funktioniert auch nicht nur als einseitiger Kontakt in dem Sinne, dass das Viertel informiert wird oder Sachen lesen kann, die wir schreiben. Wir führen auch Interviews und tragen die Stimme der Leute, die in unseren AGs aktiv sind, ins Viertel, um in beide Richtungen das Gespräch aufrechtzuerhalten – wenn wir uns schon nicht bei Versammlungen treffen können. Die Hauptarbeit findet in den einzelnen AGs statt. Sachen wie das Aktiventreffen sind dazu da, ein allgemein politischeres Bewusstsein zu schaffen und Kämpfe zusammenzuführen – diese Treffen konnten im letzten Jahr selten stattfinden, weshalb wir da noch am Anfang stehen.

■ AGs und Aktiventreffen

LUISE: In welchem Verhältnis stehen Aktiventreffen und AG-Treffen zueinander? Gibt es übergeordnete Entscheidungen, die auf dem Aktiventreffen gefällt werden, oder sind die AGs autonom und das Aktiventreffen dient vor allem dazu, Informationen zusammenzutragen?

SARAH: Bislang ist es so, dass aus jeder AG Abgesandte ins Aktiventreffen gehen – das kann eigentlich jede:r sein, je nachdem, wie die Einzelnen Zeit haben. Und dort tauscht man sich erstmal aus: Jede AG berichtet, was in den letzten Wochen gelaufen ist. Aber es können dort auch Ideen für neue AGs oder Aktivitäten entstehen, die in die Stadtteilarbeit einfließen.

TOM: Die Idee ist, dass beim Aktiventreffen BERG FIDEL SOLIDARISCH als politische Gesamtstruktur zusammenkommt, während es in den AGs ja um ein konkretes Thema geht. Wenn zum Beispiel die AfD hier ein Wahlkampfstand machen will, wäre das Aktiventreffen der Ort, um uns als BERG FIDEL SOLIDARISCH dagegen zu positionieren und zu gucken, was wir machen. Das geht eben über ein Problem mit der Miete hinaus. Und Leute können darüber auch in weiteren Bereichen aktiv werden – zum Beispiel die Zeitung mitverteilen oder mitschreiben.

SARAH: Es ist auch ein Ort, wo Leute, die sich noch nicht für eine AG entschieden haben, mehr darüber erfahren können, welche Möglichkeiten es gibt, bei BERG FIDEL SOLIDARISCH aktiv zu werden. Dort stellen wir regelmäßig vor, was gemacht wird und was wir vorhaben. Da kann man auch fragen, wer noch Lust hat, in ein bestimmtes Thema mit einzusteigen.

LUISE: Um eine Idee von der Größe zu bekommen: Wie viele Leute sind in der Regel bei den Treffen, und wie hoch ist die Auflage eurer Zeitung?

JANA: Ich würde schätzen, dass wir beim Aktiventreffen immer um die 10 Leute sind, und inklusive aller AGs wären es dann 20 Leute.

SARAH: Das soll natürlich noch wachsen, was aber aufgrund der Corona-Beschränkungen bisher noch nicht möglich war.

TOM: Dieses Aktiventreffen hat vielleicht vier- oder fünfmal stattgefunden. Wir haben versucht, erstmal die Aktiven aus den AGs einzubinden. Der Plan ist, das offensiver zu bewerben, wenn es wieder möglich ist. Die Stadtteilzeitung hat eine Auflage von 100 bis 150, weil wir sie nur persönlich vor dem Supermarkt verteilen.

■ Der Stadtteil Berg Fidel

LUISE: Wie ist es dazu gekommen, dass ihr eure Praxis nach Berg Fidel verlegt habt, und wie würdet ihr die Sozialstruktur des Stadtteils charakterisieren?

SARAH: Berg Fidel ist kein großer Stadtteil, hier wohnen vielleicht 5.000 oder 6.000 Leute. Aber es ist ein spannendes Viertel mit hoher kultureller Vielfalt – vermutlich das Viertel in Münster, in dem die meisten Nationalitäten zusammenkommen. Außerdem gab es in Berg Fidel, bevor wir uns dort organisiert haben, wenig bis gar keine offizielle städtische Organisierung. Es gibt auch jetzt noch kein Quartiersmanagement und auch kaum Angebote, die über Kitas, Schulen und einen Sozialträger hinausgehen. Die soziale Lage der Menschen ist gleichzeitig von hoher Arbeitslosigkeit und der Abhängigkeit von Sozialleistungen geprägt, und es gibt insgesamt ein großes Gefühl von Abgehängtsein. Von außen wird Berg Fidel gerne mal als Brennpunkt betrachtet, die Leute im Viertel sehen sich selbst aber auf jeden Fall nicht so. Die Stadt fängt jetzt gerade an, sich um das Viertel zu kümmern, was vielleicht daran liegt, dass das Viertel 50 Jahre alt wird und dass sie denken, zum Jubiläum müssen sie ein bisschen was tun. Da kann man nur hoffen, dass sie das danach bald wieder aufgeben und wir uns selbst organisieren können.

JANA: