Rewilding - Simone Böcker - E-Book
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Rewilding E-Book

Simone Böcker

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Beschreibung

Mehr Wildnis wagen – für ein vollkommen neues Verhältnis zur Natur 

»Rewilding« ist die Antwort auf die Klimakrise. Es bedeutet: Kontrolle abgeben und die Natur sich selbst überlassen. In der Folge entstehen intakte Ökosysteme, die nicht nur Tieren und Pflanzen neue Lebensräume bieten, sondern auch für saubere Luft, sauberes Wasser und fruchtbare Böden sorgen, die Kohlendioxid binden und vor Hochwasser und anderen Klimaextremen schützen.

Simone Böcker verbreitet die positive Botschaft: Das Artensterben ist nicht nur aufzuhalten, es kann umgekehrt werden! Zudem zeigt sie Wege auf, selbst aktiv zu werden: ob im eigenen Garten oder bei der gemeinschaftlichen Schaffung von Wildblumenwiesen. Ein Buch, das Lust macht, mehr Wildnis zu wagen – und zu einem achtsamen Verhältnis zur Natur anregt, wie es indigene Kulturen pflegen.

 

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Seitenzahl: 246

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Über das Buch

»Weltweit geht die Artenvielfalt an Pflanzen und Tieren dramatisch zurück. Wir stehen vor dem sechsten Massenaussterben in der Geschichte des Planeten. Eine ausweglose Situation? 

Am Anfang der Recherche zu diesem Buch stand die Erkenntnis, dass wir sehr wohl etwas tun können. Ich hatte mich bereits viele Jahre mit Wildpflanzen beschäftigt, lernte eine Vielzahl heimischer Pflanzen kennen und gab dieses Wissen in Kursen weiter. Wildkräuter sind Sinnbild für das Unkultivierte, das Unkontrollierte. Sie sind nicht gezüchtet, gezähmt, angebaut. Sie wachsen, wo sie wollen. Genau dafür steht Rewilding: dem Unkontrollierten wieder Platz zu geben. Auf diese Weise kehrt wildere Natur zurück und schafft Lebensraum für Tiere und Pflanzen. 

Zudem erfüllt Rewilding die Sehnsucht nach einer Form von Ursprünglichkeit, einem Lebensstil der Spontanität, der Unordnung, des Nicht-planens, des Abgebens von Kontrolle und des Vertrauens auf den Lauf der Dinge.«

Über Simone Böcker

Simone Böcker ist Expertin für Ernährungs- und Naturthemen.  Sie ist als Journalistin insbesondere für den Hörfunk tätig. Respekt und Demut vor der Natur lehrte sie eine Ausbildung zur Wildkräuterpädagogin. Sie lebt in Berlin.

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Simone Böcker

Rewilding

Auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Zitat

Vorwort

1 Einleitung oder: Verlorene Welten

Der letzte Urwald

Grüner Beton statt Serengeti

Der Abschied von der Fülle

Der Einfluss des Menschen: Jäger und Sammler

Der pleistozäne Overkill

Landwirtschaft und Bevölkerungswachstum

Die Natur wird gezähmt

Flurbereinigung – Die Natur wird gesäubert

Vom Holozän zum Anthropozän

Rewilding – Natur braucht Platz

2 Wilde Landschaften

Vom Naturschutz zum Rewilding

Yellowstone, der Wolf und die trophischen Kaskaden

Schlüsselarten oder was die Welt zusammenhält

Oostvaardersplassen und die Planzenfresser

Pleistozäner Geschichtspark

Renaturierung und Prozessschutz – der deutschen Diskurs

Frankenstein oder Naturschutz des 21. Jahrhunderts?

Rewilding in Europa

Oder-Delta – Eine Region entdeckt ihr Naturpotenzial

Rückkehr der Wildtiere

Zusammenleben mit Wolf, Elch und Wisent

Landschaft unter Druck

3 Wild wirtschaften

Von Landnutzung und Flächenfraß

Die Flächenzerschneidung und ihre Folgen

Ein Ende des Wachstums

Mensch und Natur – ein Widerspruch?

Auf der Wildnisskala nach oben

Forst oder Wald?

Wilder Wald

Naturfreundliche Landwirtschaft

Wilde Wirtschaft: Nature-Based Economy

Tiersafari in Europa

Knepp: Die Farm der Tiere

Wilde Gewässer

Gemeinsam wild: Landfreikauf

WildEast – 20 Prozent verwildern lassen

4 Rewild your Heart

Kontrollfreaks im Garden Eden

Die Natur verliert ihre Seele

Eine Frage der Beziehung

Auf Spurensuche: Die Fährte aufnehmen!

5 Auf zu wilden Ufern

In der Sackgasse

Die Welt als Geschenk

Mit Pflanzen im Gespräch

Mehr Wildheit wagen

Nachwort

Literatur

Endnoten

Impressum

»To restore stability to our planet, we must restore its biodiversity, the very thing that we’ve removed. It’s the only way out of this crisis we’ve created – we must rewild the world.«

Sir David Attenborough, »A Life on our Planet«

»We are part of something bigger than ourselves, and we need to be able to weave ourselves into the matrix of our world.«

Nancy J. Turner, »Ancient Pathways, Ancestral Knowledge«

Vorwort

Aus 8000 Metern Höhe ist der Blick klar und weit. Reißen die Wolken auf, wird ein Farbteppich sichtbar: Pinselstriche und Kleckse wie auf der Palette eines Malers. Ein Raster aus blassgrünen, grasgrünen, tiefgrünen, hellbraunen Streifen überzieht die Erde wie ein abstraktes Gemälde. Dazwischen dicke und dünne graue Linien, die winzige Würfel und Quadrate netzförmig miteinander verbinden. Klare Kanten, scharfe Grenzen trennen die vereinzelten Farbinseln voneinander. Doch dies ist keine abstrakte Kunst. Dies ist die Landschaft, in der wir leben. Flächen, die eingehegt, angelegt, abgezirkelt, vermessen, verplant, einer bestimmten Funktion zugeordnet sind. Nichts franst aus, kein Mäandern, keine Weite.

Mit abnehmender Höhe nehmen die Felder, Wälder, Weiden, Flüsse klarere Konturen an. Traktorspuren auf den ansonsten bügelglatten Feldern werden sichtbar. Einzelne Baumgruppen säumen schnurgerade Straßen. Der Sprung aus der horizontalen Zweidimensionalität zeigt auf schonungslose Weise, wie die Natur, in der wir uns bewegen, tatsächlich beschaffen ist. Wälder, die von der Erde aus vielleicht stattlich erscheinen mögen, entpuppen sich aus der Vogelperspektive als einsame Restbestände, Lückenfüller zwischen allgegenwärtigen Straßen, Siedlungen, Gewerbeparks, Industrieflächen. Nichts weist eine natürliche, organische Ordnung auf. Stattdessen klar definierte Puzzlestücke, die sich zu einem Flickenteppich zusammensetzen. Wo sind Tiere, die durch die Landschaft ziehen? Wo sind Gebiete, die nicht den Stempel menschlicher Zivilisation tragen? Der Anblick aus der Luft erinnert für kurze Zeit wieder daran, wie wenig unser Bild von Natur mit dem übereinstimmt, was uns tatsächlich umgibt. So lange, bis wir diese Erkenntnis wieder verdrängen, vergessen und erst bei anderer Gelegenheit wieder daran erinnert werden.

Obwohl ich in diesen Landschaften aufgewachsen bin, ist da noch immer eine Irritation angesichts der zahllosen Autobahnen, Parkplätze, Hochhäuser, Einfamilienhaussiedlungen, Zugtrassen, die die Landschaft zerschneiden. Wie der Blick in das Gesicht eines Unfallopfers, das die Chirurgen kunstvoll wieder zusammengeflickt haben. Von Narben übersät, ist die einstige Gestalt zu erahnen. Die Entstellung ist offensichtlich, doch ich tue so, als ob ich es nicht bemerke. In dieser Situation habe ich mich scheinbar eingerichtet. Das betrifft nicht nur mich. Mit zunehmender Dringlichkeit erreichen uns Nachrichten über Artenschwund und Klimakrise. Sicher nehmen viele Menschen den Naturverlust auch in ihrem persönlichen Umfeld wahr und bemerken, dass uns weit weniger Insekten und Vögel umgeben als früher. Mit großer Wahrscheinlichkeit weiß ein Großteil der Bevölkerung von der Tatsache, dass wir am Beginn des sechsten Massenaussterbens der Erdgeschichte stehen. Aber was können wir schon tun? Und: Gibt es nicht oft genug Konflikte mit unseren eigenen Interessen und Bedürfnissen, die im Widerspruch zu Natur- und Klimaschutz stehen?

Am Anfang der Recherche zu diesem Buch stand die Erkenntnis, dass wir sehr wohl etwas tun können. Ich hatte mich bereits viele Jahre mit Wildpflanzen beschäftigt, lernte eine Vielzahl heimischer Pflanzen kennen und gab dieses Wissen in Kursen weiter. Anfangs war es die Renitenz der Pflanzen, die mich faszinierte. Ihr »Trotzdem«. Dass sie trotz der oft unwirtlichen Bedingungen an den unmöglichsten Orten wachsen. Was mich tief beeindruckte, war ihre Zähigkeit, ihre Kraft. Als ich schließlich einen Namen für mein kleines Wildkräuterunternehmen suchte, fand ich einen Begriff, der meiner Ansicht nach auf viel bessere Weise als das Wort »wild« beschreibt, worum es auch in diesem Buch geht. Ich nannte mein Unternehmen »Unkultiviert«. Was ist mit unkultiviert gemeint? Ganz einfach: Alles, was nicht gepflegt, bearbeitet, urbar gemacht ist. Was nicht gezüchtet, gezähmt, angebaut wird. Was wächst, wo und wie es will. Ohne Zwang. Bezogen auf den Menschen bedeutet es für mich: ursprünglich, echt, unverstellt zu sein. »Unkultiviert« steht für die Sehnsucht nach einer Form von Ursprünglichkeit, einer ungekünstelten Welt, einem Lebensstil der Spontaneität, der Unordnung, des Nicht-Planens, des Abgebens von Kontrolle und des Vertrauens auf den Lauf der Dinge.

Insofern ist es kein Zufall, dass ich schließlich auf das Thema Rewilding1 stieß. Bei diesem Konzept geht es darum, der Natur und mit ihr dem Unvorhergesehenen, Unkontrollierten Platz zu geben und auf natürliche Prozesse zu vertrauen. Darum, nicht zu zähmen und einzugreifen, sondern wachsen zu lassen. Und auf diese Weise zu erleben, dass Vielfalt zurückkehrt. Statt der Horrormeldungen, die angesichts von Klimakrise, Überschwemmungen, Stürmen, Dürren, Wäldersterben Angst und Schrecken verbreiten, transportiert Rewilding eine durch und durch positive Botschaft: Der Naturverlust ist nicht nur aufzuhalten, er kann im Idealfall umgekehrt werden. Es ist nicht unmöglich, die destruktive Entwicklung aufzuhalten, in der wir uns befinden. Es ist eigentlich sogar recht einfach. Es braucht nur eine Entscheidung. Die Entscheidung, die Kontrolle abzugeben. Was dann passiert, lässt sich bereits an einigen Orten in Europa beobachten. Artenvielfalt kehrt zurück, Kreisläufe schließen sich wieder, neue, komplexe Netzwerke entstehen und bieten Lebensraum für Tiere und Pflanzen. In einer Situation, in der die Liste aussterbender Arten täglich wächst, ist dies eine nahezu revolutionäre Nachricht.

Diese einfach klingende Idee, funktionierende Ökosysteme zu schaffen und dadurch möglicherweise einen Ausweg aus der verhängnisvollen Abwärtsspirale zu finden, hat mich tief begeistert. So begann meine Recherche, die schließlich zu diesem Buch geführt hat. Der Grund für das Artensterben liegt vor allem darin, dass immer mehr Lebensräume für Tiere und Pflanzen verschwinden. Dies ist nicht nur ein massives Problem für Regenwälder im Amazonas oder in Südostasien. Auch in Europa fällt Natur vielerorts weiterhin den menschlichen Interessen zum Opfer. Dies ist ein zentrales Thema des Buches: Wollen wir Natur schützen und Artenvielfalt erhalten, dann müssen wir Natur ausreichend Platz zugestehen. Es wird nicht damit getan sein, Kohlendioxidemissionen zu reduzieren. Auch reicht es nicht, sich allein auf »grüne«, technologische Problemlösungen zu konzentrieren. Was es braucht, ist ein ganzheitlicher Lösungsansatz. Was es braucht, ist mehr Natur, in der natürliche Prozesse stattfinden dürfen, ohne die ständige Einmischung und Nutzung durch den Menschen.

Rewilding, den menschlichen Eingriff auf unsere viel genutzte Landschaft zu minimieren und der Natur die Regie zu überlassen, bietet eine natürliche, nachhaltige und kostengünstige Antwort auf die Klima- und Artenkrise und hilft uns bei der Anpassung an den Klimawandel. Intakte Flussauen, renaturierte Flussläufe und weniger versiegelte Böden führen zu weniger Überflutungen. Moore halten das Wasser in der Landschaft und beugen Dürren vor. Bäume, Moore und das Meer speichern Kohlendioxid. Wenn wir mehr Bäume wachsen lassen, trockengelegte Feuchtgebiete vernässen und die Meeresökosysteme wiederherstellen, sorgen wir dafür, dass mehr Kohlendioxid aus der Atmosphäre gebunden werden kann. Und natürlich versorgen uns funktionierende Ökosysteme mit sauberer Luft und sauberem Wasser.

Rewilding ist aber mehr als eine Methode, um Biodiversität wiederherzustellen. Rewilding stellt auch die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Natur. Wenn die ökologische Krise Ausdruck unseres Umgangs mit Natur ist, dann müssen wir offensichtlich unser Verhältnis zu dieser hinterfragen. Die Tatsache, dass Natur für uns in erster Linie eine »Ressource« darstellt, über die wir ungehemmt verfügen, zeigt, dass die Balance komplett aus dem Gleichgewicht geraten ist. Natur Platz zu geben, bedeutet, nicht allein menschliche Bedürfnisse ins Zentrum unseres Handelns zu stellen. Wenn wir uns stattdessen mit der Natur verbinden und in einer unmittelbaren Herzensbeziehung mit allen nichtmenschlichen Lebewesen Freude und Erfüllung finden, kann es nicht nur gelingen, für das Wohlergehen einer natürlichen Vielfalt an Tieren und Pflanzen zu sorgen, sondern auch selbst wieder Teil des Lebensnetzwerks zu werden. Einer Welt, in der Mensch, Tier und Pflanze einigermaßen friedlich koexistieren. Eine unrealistische Perspektive? Eher nicht. Wollen wir diesen Planeten und seine Bewohner:innen retten, müssen wir auf sie zusteuern. Bezogen auf das eigene Leben birgt Rewilding zudem die Chance, mehr Wildheit zuzulassen. Dabei geht es nicht mehr nur um ökologische Fragen, sondern auch um die Perspektive auf ein wilderes Leben.

Die Voraussetzung, die entscheidende Frage vorweg lautet: Sind wir dazu bereit? Sind wir bereit dazu, einen Schritt zurückzutreten, von unseren Bedürfnissen abzusehen, der Natur ein Existenzrecht zuzusprechen, auch da, wo es unseren eigenen Interessen scheinbar entgegensteht? Natur hat keine Lobby. Deswegen ist es unabdingbar, dass wir die Existenzrechte, die auch für nichtmenschliche Lebewesen gelten, endlich wahrnehmen. Eine Koexistenz von Mensch und Natur ist möglich, das zeigen etliche indigene Gemeinschaften überall auf der Welt. Bei dem dafür notwendigen Umdenken geht es nicht darum, das Rad der Zeit zurückzudrehen, sondern neue, eigene Wege zu finden. Um ein Ausloten von Möglichkeiten, Natur mehr Raum zuzugestehen und sie zu einem Bestandteil unseres Lebens zu machen – mit offenem Ausgang. Der Zauber kann darin liegen zu erkennen, dass dies nicht Verzicht bedeuten muss. Sondern dass wir etwas gewinnen können. Es geht darum, die gestörte Beziehung von Mensch und Natur neu zu verorten.

Dieses Buch ist das erste, das die vor allem im englischsprachigen Raum geführte Rewilding-Debatte in Deutschland vorstellt. In diesem Sinne handelt es sich auch um ein Pilotprojekt. Dafür habe ich recherchiert, mit Fachleuten gesprochen und ihre Rewilding-Projekte in Augenschein genommen. In der zweiten Hälfte des Buches wende ich mich gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen zu – und wende die Prinzipien des Rewilding auch auf das alltägliche Leben an. Wie lässt sich Rewilding einbetten in einen Lebensstil, der auf der Verschwendung von natürlichen Ressourcen beruht? Dieses Buch möchte die aktuelle Debatte um die Naturkatastrophe, in der wir stecken, erweitern. Es geht darum, die eigenen Grenzen zu hinterfragen und möglicherweise in eine neue Richtung zu denken. Begeben Sie sich mit mir auf eine Entdeckungsreise mit der Forschungsfrage: Wie schaffen wir eine Welt, die wieder ein bisschen wilder ist?

Das erste Kapitel ist vor allem eine paläoökologische Bestandsaufnahme. Wie sind wir in den ökologischen Kollaps geraten? Wie sah Europa früher aus? Es gehörten nämlich einst nicht nur Wölfe und Wisente (europäische Bisons) zur europäischen Fauna, sondern auch Elefanten und Nilpferde. Sie grasten in Wäldern, die große Teile Europas bedeckten. Artenschwund gab es bereits vor Jahrtausenden mit der Ausrottung der sogenannten Megafauna. Welche Auswirkungen hatte die durch den Menschen initiierte Transformation der europäischen Landschaften?

Im zweiten Kapitel werden die Ideen von Wildnis und Rewilding genauer unter die Lupe genommen. Woher kommt das Konzept Rewilding, und wie funktioniert es? Welche Lösungen hält Rewilding bereit? Auch spielen bestimmte Tierarten eine besondere Rolle. Die sogenannten Schlüsselarten wie beispielsweise Wolf, Biber, große Weidetiere oder Beutegreifer2 sind essenziell wichtig für das Entstehen komplexer Naturnetzwerke. Wir werden einige von ihnen an ihren verwilderten Orten kennenlernen.

Doch gibt es Hindernisse in der Umsetzung: Denn der Natur Raum zu geben, heißt, die Landnutzung im dicht besiedelten und von Flächenfraß betroffenen Europa radikal zu überdenken. Das dritte Kapitel erörtert die heikle Frage der Landnutzung in Europa. Es beleuchtet außerdem, inwiefern Naturzerstörung eine unweigerliche Folge des Wirtschaftswachstums ist. Lassen sich intakte Ökosysteme und Wirtschaft zusammenbringen? »Nature-based businesses« ist eine Antwort, die auf nachhaltige Einkommenswege setzt und Menschen im ländlichen Raum eine Perspektive bietet. Zeit für einen Paradigmenwechsel.

Rewilding funktioniert nur, wenn wir aufhören, uns wie »Kontrollfreaks« zu benehmen. Statt Kontrolle und Beherrschung der Natur braucht es eine Beziehung des Herzens und des Mitgefühls. Im vierten Kapitel begeben wir uns auf die Spurensuche: Wie kann eine andere Naturverbundenheit aussehen? Im fünften Kapitel widmen wir uns etwas ausführlicher den Weltbildern indigener Kulturen. Denn das Weltbild bestimmt unser Handeln und ist die Basis für eine Veränderung. Außerdem geht es auch um ganz persönliche Fragen: Was kann Verwilderung für unser eigenes Leben bedeuten?

1 Einleitung oder: Verlorene Welten

Der letzte Urwald

Majestätisch steht er da. Der Anblick von vorne ist stattlich. Massige Schultern, stämmige Vorderbeine, ein hochgewölbter, muskulöser, höckerartiger Nacken, der über den Rücken abfällt zu einem eher disproportional zierlichen Hinterteil. Als hätte der Schöpfer dieses Tiers den Körper wie eine Zahnpastatube nach vorne gedrückt. Der Kopf ist am imposantesten. Die breite, bullige Stirn ist gekrönt von zwei gekrümmten Hörnern, deren Spitzen sich einander entgegen recken. Maul und Nüstern werden von einem zottigen Bart umrahmt, die kleinen dunklen Augen blicken eindringlich nach vorne. Das Fell: ein flauschiges, plüschiges, etwas ausgeblichenes Braun wie bei einem Kuscheltier.

Der Anblick dieses Tiers hat etwas Archaisches. Es ist, als würde im Inneren eine Erinnerung wach werden an Zeichnungen, die im Feuerschein einer Fackel an der Höhlenwand auftauchen, Bilder von Menschen, die auf die Jagd gehen. Denn eigentlich ist dieser Wisent ein Relikt aus der Geschichte. Genauso wie seine ca. 500 Artgenossen, die mit ihm durch die Wälder von Białowieża streifen. Genauer gesagt ist das ganze Waldgebiet ein Relikt. Einer der letzten Urwälder Europas. Hier, im Osten Polens, beiderseits der Grenze zu Belarus, erstreckt sich auf 1200 Quadratkilometern der letzte verbliebene Rest jener Wälder, die einmal weite Teile Europas bedeckten. Gut 10 000 Jahre ist er alt, ein verglichen mit unseren heimischen Wäldern biblisches Alter. Eichen, Linden, Hainbuchen, Kiefern, Tannen, Eschen, Erlen bilden einen dichten Laub- und Mischwald. Manche Bäume sind 500 Jahre alt, der Durchschnitt liegt bei 150 Jahren. Immer wieder liegen umgestürzte Baumstämme auf dem Boden und lichten das Dickicht, auf den Stämmen wachsen Pilze, Moose und Farne, auf den Lichtungen sprießen junge Baumschösslinge. Der Wald stirbt stetig und wird stetig neu geboren. Der Tod ist ein wichtiger Teil des Regenerationsprozesses. Es gibt fast so viele tote Bäume wie lebendige, sie bilden den Nährboden für das neue Leben, das entsteht. Der Wald von Białowieża hat noch einen Grad an Selbstbestimmung behalten, der der Natur anderswo kaum mehr zugestanden wird. Nicht nur Wisente, auch Wölfe gehören hier wie selbstverständlich zur Landschaft. Insgesamt sorgen über 12 000 Tierarten, 1070 Pflanzen- und 4000 Pilzarten, von denen noch nicht alle erforscht sind, für ein komplexes, reiches, wildes ökologisches Netzwerk. Die Zyklen und Prozesse, die hier ablaufen, werden nicht durch den Menschen beeinflusst oder kontrolliert. Das Ökosystem ist im Gleichgewicht. Der Wald reguliert sich selbst und folgt damit einer eigenen wilden Souveränität.

Sein Überleben verdankt das Naturparadies dem Umstand, dass der Wald seit dem Mittelalter als königliches Jagdrevier unter Schutz stand. Polnisch-litauische Könige und russische Zaren machten hier Jagd auf den Wisent, der eine beliebte Trophäe darstellte. Jegliche Abholzung war verboten. Im Vergleich zu anderen Regionen Europas, wo das Tier bereits ausgerottet war, blieb die Wisentpopulation im Wald von Białowieża noch bis ins späte 19. Jahrhundert recht stabil. Erst zur Zeit des Ersten Weltkriegs starb sie aufgrund von Epidemien und wegen Wilderei aus. In den 1920er Jahren begann man mit der Nachzucht und Wiederansiedlung der Riesensäuger, in den 1950er Jahren wurden sie schließlich ausgewildert. Die Jagd sicherte also das Überleben des Waldes und über lange Strecken auch das Überleben des Wisents. 1932 wurde ein Teil des Waldes in Polen zum Nationalpark erklärt und 1979 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen, der belarussische Teil 1992. Eine Geschichte mit Happy End, das leider nur wenigen Naturräumen in Europa vergönnt war.

Grüner Beton statt Serengeti

Denn genauso selten der Wisent noch frei in Europas Landschaften umherläuft, so rar ist europäische Wildnis. Ganze 0,6 Prozent der gesamten Landfläche in Deutschland sind geschützte Wildnisgebiete3. Der europäische Durchschnitt liegt bei einem Prozent Wildnis. 95 Prozent der Fläche in Deutschland sind hingegen in irgendeiner Form vom Menschen genutzt oder gemanagt. Darunter fallen Äcker und Weiden, Forstwirtschaft sowie Siedlungs- und Verkehrsflächen4. Das passt kaum mit der Wahrnehmung zusammen, die die meisten Menschen von ihrer »grünen« Umwelt haben. Denn sind wir nicht umgeben von Natur? Machen wir nicht am Wochenende Ausflüge, fahren Fahrrad oder wandern durch die grünen Erholungsgebiete? Sind es nicht die Naturerlebnisse im Urlaub, auf die wir uns freuen und die uns auftanken lassen? Geben wir uns bei Spaziergängen im Grünen nur einer Illusion hin, es handle sich dabei um Natur?

Eine Antwort darauf gibt George Monbiot. Der britische Zoologe, Journalist und Buchautor ist einer der führenden Rewilding-Experten weltweit. Wenn es seine Zeit erlaubt, fährt der hochgewachsene Endfünfziger mit Brille und Lockenschopf – sportlich mit Fahrrad – gerne nach Boars Hill, einem beliebten Ausflugs- und Aussichtspunkt am Rand der britischen Stadt Oxford. Er steht am Gatter des schmalen Trampelpfads, der quer über die Wiese verläuft, und schaut auf die lieblichen Hügel, die sich vor ihm ausbreiten. Der Blick geht über das Thames Valley bis zur Stadt hinab, deren Konturen sich in der Ferne abzeichnen. Weitläufig erstreckt sich die Wiese die sanft geschwungenen Hügel hinunter. Verblichene sandfarbene Grashalme mischen sich unter das ansonsten kräftige Grün, vereinzelt stehen Büschel verblühter Ackerkratzdisteln, ein paar Weißdornsträucher, geduckte Baumgrüppchen, linker Hand angrenzend ein kleines Wäldchen. Wildschweine, worauf der Name des Ortes schließen ließe, leben hier schon lange nicht mehr, stattdessen grasen ein paar Schafe am Waldrand. Eine grüne Idylle. Monbiots Urteil über den Zustand der schönen grünen Landschaft: durchschnittlich schlecht. Grün allein als gutes Zeichen zu verstehen, sei zu kurz gegriffen. »Wir sollten zu dieser Jahreszeit eher Braun- und Gelbtöne sehen. Diese Weide hier wurde in Stickstoff und Phosphaten getränkt, das Grün ist also ein Zeichen von Missmanagement! Aber weil das ökologische Wissen der meisten Menschen so gering ist, denken sie, alles, was grün ist, sei gut. Diese Wiese ist in Wahrheit so artenreich wie Beton.«5

George Monbiot ist bekannt für seine schonungslose Bestandsaufnahme des Zustands der britischen Natur. In seinem Buch »Feral«6 setzt er sich nicht nur für die Renaturierung disfunktionaler Ökosysteme ein, er stellt auch die Sehgewohnheiten der Menschen infrage. Denn das Bild, das er von der grünen Insel zeigt, will so gar nicht mit dem Selbstbild der Briten als »land of outstanding natural beauty« übereinstimmen. Seine Botschaft: Bei den idyllischen Hügellandschaften der britischen Uplands, die in Großbritannien als touristische Highlights von besonderem Naturwert gelten, handele es sich weitestgehend um kahl gefressene, degenerierte, ausgebeutete, verarmte Kulturlandschaften in bedauernswertem Zustand. Tote Zonen, in denen kaum Lebewesen vorkommen.

Wie beispielsweise in Wales. Dorthin war er mit seiner Familie gezogen, weil er unter »ökologischer Langeweile« litt. Er hatte Sehnsucht nach Wildnis, nach einem raueren, echteren Leben. Doch in Wales, wo er die Wildnis vermutete, fand er sie nicht. Zwischen Snowdonia und den Cumbrian Mountains, auf den baumkahlen, grasbewachsenen Hügeln, traf er auf keine Wildtiere. »Ich konnte den ganzen Tag wandern und sah außer ein, zwei Krähen so gut wie keine Vögel! Mitten im Sommer kniest du dich auf eine Wiese und findest kein Insekt! Wo waren all die Tiere?«

Die Antwort fand er bald. Das Land sei »sheep-wrecked« – ein Wortspiel, das aus dem Schiffbruch einen »Schafbruch« macht. Die mehr als acht Millionen Schafe (d. h. drei Schafe kommen auf eine:n Einwohner:in) fressen die Hochlandflora bis auf die Stoppeln herunter. Das britische Bergland degradierte durch die Überweidung zu einer kahlen, artenarmen Graslandschaft. Angesichts dieser Tatsache scheine es verrückt, so Monbiot, dass die Cambrian Mountains Society die Region dennoch weithin als unverdorbene Landschaft beschreibt und deren Ursprünglichkeit preist. Ähnlich sähe es in Schottland aus, wo das für die Jagd beliebte Rotwild mangels natürlicher Feinde überhandgenommen hat. Neben den Schafen und dem Abholzen durch den Menschen trugen die Hirsche einen Großteil dazu bei, dass der Kaledonische Wald, der einst in den Highlands vorherrschte, auf ein Prozent zurückgegangen ist. Und auch dort erleben die meisten Besucher:innen die Landschaft als wildromantisch und schätzen sie als besonders natürlich.

Was also bedeutet eigentlich »natürlich«? Wie hat beispielsweise das Thames Valley vor Jahrtausenden ausgesehen? Die Antwort: ähnlich wie heute, doch mit ein paar entscheidenden Ausnahmen. Außer Igeln, Füchsen, Dachsen, Elstern und Dohlen hätten auch Elefanten, Rhinozerosse, Nilpferde, Löwen, Säbelzahnkatzen die Landschaft um Oxford bevölkert, erklärt George Monbiot. »Wir hatten ein Ökosystem mit einer voll ausgeprägten Megafauna7. Es gab Beutegreifer, das Flusstal war voll mit Nilpferden. Wir kennen diese Tiere nur aus den Tropen, weil wir sie überall sonst ausgerottet haben!« Der Europäische Waldelefant, das Wollmammut, drei Nashornarten lebten in Europa sogar noch, als bereits der Mensch eingewandert war. Bei einer Ausgrabung am Londoner Trafalgar Square fanden sich Flusspferdknochen, genauso wie Knochen von Waldelefanten, Riesenhirschen, Auerochsen und Löwen. Diese lebten im Übrigen noch bis vor 11 000 Jahren in den Gefilden des heutigen Vereinigten Königreichs. Große Teile Westeuropas waren mit Regenwald bedeckt, der auch in Wales einst heimisch war. Einige winzige, inselartige Überbleibsel existieren sogar heute noch.

Dieses unglaublich reiche europäische Naturerbe ist im öffentlichen Bewusstsein jedoch kaum präsent. Und zwar nicht nur bei Laien, sondern auch in der Wissenschaft. George Monbiot musste erst sechs Jahre in den Tropen verbringen, bevor er die ökologische Vergangenheit seines Landes mit neuen Augen sehen konnte. Der Zoologe war als investigativer Journalist unter anderem in Indonesien, Brasilien und Ostafrika unterwegs, um über Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen zu berichten. Dort begann er, die komplexe Funktion intakter Ökosysteme zu studieren. »Ich verstand, dass wir uns in Europa lediglich mit den Artefakten menschlicher Intervention beschäftigen. Wir stehen vor den Trümmern einer unglaublichen Fülle, die es einst auch hier gab. Die Migration großer Tierherden, die wir in der Serengeti sehen – das ist der Normalzustand in der Natur! Aber die haben wir fast überall verloren.«

Der Abschied von der Fülle

Mit seiner Analyse hat George Monbiot viel Kritik von seinen Landsleuten geerntet, die sich ihr idyllisches Bild nicht verderben lassen wollten, auch zog er sich den Zorn vieler Schafzüchter:innen zu. Dennoch ist es ihm gelungen, den Blick auf die heimische Natur zu verändern. Denn in der Tat gehört Großbritannien zu den Ländern in Europa mit der größten Naturzerstörung und der geringsten verbleibenden Artenvielfalt8. Gerade einmal zehn Prozent beträgt der Anteil an Wald landesweit, während der europäische Durchschnitt bei 30 Prozent liegt. 70 Prozent des Landes werden landwirtschaftlich genutzt – eine absurd hohe Zahl im Vergleich zu anderen europäischen Ländern mit einem Durchschnitt von 50 Prozent. 41 Prozent der Arten sind gefährdet, 133 Arten sind seit 1950 ganz verschwunden9. Tiere, die andernorts in Europa noch oder wieder zu Hause sind wie Biber, Wolf, Wildschwein, Bär oder rotes Eichhörnchen, fehlen der Inselfauna mittlerweile komplett. Und doch gilt Großbritannien vielen als Naturparadies. Nicht zuletzt wegen der berühmten Gärten und Parks, die allzu viele für Natur halten.

Dieses Missverhältnis ist zu einem großen Teil das Ergebnis der geringen Kenntnis ökologischer Zusammenhänge. In der Regel gelingt es nur Fachleuten, den Zustand eines Habitats zu beurteilen. Dazu kommt das »Shifting baseline syndrom«10, eine Theorie, die versucht, das Phänomen einer verschobenen Naturwahrnehmung zu erklären. Ihr zufolge halten Menschen einer Generation den Zustand der Natur für normal, den sie aus ihrer Kindheit kennen. Es ist ihr ökologischer Referenzpunkt. Demnach ist die Natur, die wir als Kind erleben, das Maximum an vorstellbarer Fülle. Eine Verarmung der Natur empfinden wir nur im Rahmen der eigenen Erfahrung. Ältere Erwachsene werden im Vergleich mit ihrer Kindheit eine Abnahme an Insekten, vor allem an Schmetterlingen, auch an Vögeln wahrnehmen. Sie werden sich vielleicht noch an den vertrauten Anblick von Mai- und Hirschkäfern erinnern. Doch was ist mit der Fülle an Schmetterlingen, Käfern, Libellen, anderen Insekten und Vögeln, wie sie vor Jahrhunderten herrschte? Sie kann emotional nicht erfasst werden – und damit auch nicht ihr Verlust. Die Soziologin Eileen Crist spricht in ihrem Buch »Schöpfung ohne Krone« sogar von einer »kollektiven Amnesie«. Wir sind derartig an die vorherrschende monokulturelle Kulturlandschaft gewöhnt, an den Anblick der Forstplantagen, die wir »Wälder« nennen, dass uns die leergefegte Flur als normal erscheint. Natur ist für uns eine mehr oder weniger gepflegte Gartenlandschaft, die eher einem Park ähnelt als einem wirklichen Ökosystem. Für diesen Zustand heutiger, verarmter Natur ohne die ursprüngliche Megafauna hat George Monbiot den Begriff Geisterökosystem geprägt.

Doch was ist dann ursprüngliche Natur? Was ist Wildnis? Um es gleich zu sagen: Eine vom Menschen gänzlich »unberührte Natur« existiert nicht – zumindest nicht in den letzten 50 000 Jahren. Seit dieser Zeit hat der Mensch nachweislich mehr oder weniger folgenreich in seine Umwelt eingegriffen. Außerdem war (und ist) Natur schon immer einem permanenten Wandel unterworfen. Klimaerwärmung oder ‑abkühlung, Sukzession (also die Abfolge verschiedener Vegetationsphasen an einem Standort) oder menschlicher Eingriff halten die Naturprozesse ständig und über die Jahrtausende im Fluss. Eine statische, ökologische »Grundlinie«, von der wir gestartet sind und zu der es zurückzukehren gilt, ist kaum zu benennen. So ist es zum Beispiel ein Trugschluss, dichte Wälder in fast allen Teilen der Welt noch für ursprünglich zu halten. Selbst Teile des Regenwalds sind durch menschlichen Einfluss geprägt, indem die Bewohner:innen vor allem Samen bevorzugter Baumspezies verbreiteten und durch Feuertechnik und Wanderfeldbau ihre Umgebung formten11.

Schauen wir uns die Begriffe Natur und Wildnis genauer an. Natur wird gemeinhin als Abgrenzung zur Kultur benutzt und umfasst die Gesamtheit organischer und anorganischer Erscheinungen (Pflanzen, Tiere, Gewässer, Gesteine), die nicht vom Menschen geschaffen wurden oder sich ohne sein Zutun entwickelt haben und existieren. Doch auch wenn Natur nicht vom Menschen geschaffen wurde, so wurde sie – nicht nur in Europa – zu großen Teilen vom Menschen direkt geformt oder beeinflusst. Deswegen handelt es sich bei dem, was wir unter Natur verstehen, überwiegend um sogenannte »Kulturlandschaften«. Als Wildnis hingegen wird Natur definiert, die vom Menschen (mehr oder weniger) unbeeinflusst ist. Bei genauerem Hinschauen sind diese Definitionsgrenzen problematisch: Woher wissen wir, welches Gebiet gänzlich »unbeeinflusst« ist? Und: Ist das überhaupt das entscheidende Kriterium? Der Ausschluss jeglichen menschlichen Eingriffs sieht im Menschen zwangsläufig einen Störfaktor. Die European Wilderness Society12 versteht Wildnis in erster Linie als Gebiete, in denen heimische Arten leben und die groß genug sind, damit natürliche Prozesse ungestört stattfinden können.

Auch die WILD Foundation13 definiert Wildnisgebiete als »diese letzten wirklich wilden Orte, die der Mensch nicht kontrolliert und die nicht durch Straßen, Pipelines oder andere industrielle Infrastrukturen erschlossen sind«14. Der US‑amerikanische Wilderness Act von 1964 benutzt etwa den Begriff »untrammeled«, was so viel wie nicht eingeschränkt, ungehindert, frei bedeutet. Ungezähmt. All diese Wildniskriterien zielen also nicht auf Unberührtheit der Natur vom Menschen ab. Es geht vielmehr um die Qualität des menschlichen Handelns: Es darf nicht (zer)stören, sondern die Natur muss in der Lage sein, ihren eigenen Prozessen zu folgen. Was zählt, ist die biologische Intaktheit.

Für diese Definition von Wildnis hat die Rewilding-Bewegung den schönen Begriff vom »self-willed land«, der eigen-willigen oder selbstgesteuerten Natur geprägt. Was dieser Begriff vermittelt, ist eine Autonomie, die im Gegensatz zu der allgegenwärtigen, vom Menschen ausgeübten Kontrolle steht. Das Land darf über sich selbst verfügen. Es geht also nicht darum, Mensch und Natur als »Feinde« gegenüberzustellen. Wildnis und Mensch sind nicht inkompatibel, ist der Mensch doch Teil der Natur. Es stellt sich allerdings die Frage nach der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt und nach dem Grad an ausgeübter Kontrolle oder gewährter Autonomie. Nicht jeder Eingriff ist eine Kontrolle. Menschen können durchaus in Natur eingreifen, ohne sie zwangsläufig zu kontrollieren. Erst wenn ein gewisses Ausmaß der Kontrolle erreicht ist, hat die Wildnis ihre Eigenständigkeit und damit ihren Status als Wildnis verloren. Das erklärt, warum beispielsweise eine Brache in der Stadt durchaus als Wildnis empfunden und definiert werden kann – weil sie keiner Kontrolle unterliegt. Im Gegensatz dazu kann ein Garten oder ein Park, gezielt angelegt, durchstrukturiert und permanenter Kontrolle ausgesetzt, trotz eventuell vorhandener Artenvielfalt nicht mehr als Natur verstanden werden, sondern als reine Kulturlandschaft.