Riannu - Marina K. Wolf - E-Book

Riannu E-Book

Marina K. Wolf

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Beschreibung

Ein launischer Findeljunge mit einer außergewöhnlichen Verbindung zu Feuer. Ein menschenscheues Waisenmädchen, das die eigene Macht fürchtet. Zolan und Maris führen sehr unterschiedliche Leben, bis zu der Nacht, in der Zolans Welt zusammenbricht und er Hals über Kopf fliehen muss. Sein Weg führt in die Schatten seiner Vergangenheit und damit unweigerlich zu Maris. In einer zerrissenen Welt, in der ein Verdacht auf Hexerei leicht zum Tod führen kann, kämpfen sie gemeinsam um die Kontrolle über ihre magischen Fähigkeiten und gegen einen Feind, der ihnen eben diese entreißen will.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

06/2023

 

Riannu – Das verborgene Volk

 

© by Marina K. Wolf

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Lektorat: Julia Schoch, Martina Volnhals

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

 

 

Coverbild ›Die Chroniken von Mytlaghyr - Hexenjagd‹

© 2021 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Coverbild ›Elementum – Verschlungene Pfade‹

© 2021 by Jana Puffay

 

ISBN 978-3-96741-209-3

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

 

Marina K. Wolf

 

Riannu

-

Das verborgene Volk

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

1.

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20.

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52.

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55.

56.

57.

Glossar

Danksagung

Die Autorin

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Schwestern.

Ihr seid die Flügel meiner Seele.

 

 

1.

 

Maris stand über den reglosen Körper gebeugt und keuchte. Sie spürte ihr Herz schlagen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Wie ein Donnerschlag hallte es in ihren Ohren und jagte das Blut in heißen Strömen durch ihren Körper. Funken knisterten in ihrem Haar, zuckten als kleine Blitze über ihre Fingerspitzen und fuhren in den Boden. Sie stürzten sich auf das verstreute Papier und tanzten jubelnd umher. Erfassten die Kutte des Priesters und schmolzen das Medaillon auf seiner Brust. Der absurde Geruch von Gebratenem lag in der Luft und vermischte sich mit dem dichter werdenden Rauch. Mit einem Mal wirkte der Mann nicht mehr groß und bedrohlich. Er lag einfach da, in sich zusammengefallen. Das Gesicht war noch immer in einem letzten, panischen Aufschrei verzerrt und kein Atem hob mehr seine Brust.

Erst als freundliche Flammenzungen an ihren Füßen leckten, blinzelte Maris und schüttelte ihren tranceartigen Zustand ab. Orangeroter Feuerschein erhellte das Turmzimmer. Wann war das Feuer so groß geworden? Sie rief nach ihm, doch es wollte nicht mehr auf sie hören. Es war jung und hungrig und es gab hier zu viele lockende Bücher und Schriften. Funken stoben lachend durch den Raum und fielen wie Sternschnuppen auf die mit Stroh gefüllte Matratze und den zweiten Mann, der darauf lag.

»Nein!«, schrie Maris und scheuchte sie vom Lager fort. Sie stürzte auf den reglosen Körper zu, nahm ihn in ihre Arme und suchte verzweifelt nach dem Pochen eines schlagenden Herzens. Stattdessen hörte sie wie durch einen Nebel den warnenden Klang einer Glocke. Ein Wimmern entwand sich ihrer Kehle, während die Hitze in ihrem Inneren langsam einem kalten Grauen wich. Das Blut auf Manglons Kutte begann bereits zu trocknen und seine Augen starrten blicklos in eine Leere, in die Maris ihm nicht mehr folgen konnte. Ihr Ziehvater war tot. Sein Mörder ebenfalls. Ein Würgen stieg in ihr auf. Draußen schlug die Glocke hell und aufgeregt. Sie musste hier weg.

Noch einmal beugte sie sich über den Mann, der ihr immer Liebe und Vertrauen geschenkt hatte. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie heiser. Sie kreuzte seine Hände auf der Brust, schloss ihm mit zitternden Fingern die Augen und wühlte in ihren Taschen, bis sie zwei Münzen fand, die sie auf seine Lider legen konnte. »Möge Sahed dir Frieden schenken in seinem ewigen Reich.« Sie küsste ein letztes Mal seine faltige Wange, dann ging sie zur Tür.

Rauch folgte ihr und zog in dunkler werdenden Fäden an der Decke entlang. Ein Teil von ihr wollte bleiben und die Flammen mit offenen Armen erwarten. Sie riefen nach ihr. Sie waren warm und freundlich und würden sie aufnehmen wie eine der ihren. Zusammen würden sie tanzen und essen und wachsen, bis sie die dunkle Nacht sonnenhell erleuchteten.

Maris setzte mühsam einen Fuß vor den anderen. »Wir haben ihn getötet«, flüsterte sie und ihre Stimme brach.

Das Feuer verstand sie nicht. Es kannte kein Leben oder Tod, nur das Licht und den Wind und den Hunger.

Da riss sie sich endlich los und floh. Sie rannte mit lauten Schritten über die Steinfliesen den Gang entlang, eine steile Treppe hinunter und durch den hohen Säulengang bis in den Hof. Prasselnder Regen schlug ihr entgegen und zischte auf ihrer Haut.

Die Glocke hatte die Brüder geweckt. Männer liefen verwirrt über den Hof, viele noch in ihren Nachtgewändern. Sie schrien durcheinander und zeigten auf die feurigen Zungen, die aus dem Westturm leckten. Der Tempel war nur in den unteren Geschossen aus Stein gebaut, die darüber liegenden Stockwerke und die beiden Türme bestanden hauptsächlich aus Holz. Die Flammen waren begeistert. Maris’ Kopf dröhnte. Tränen rannen aus ihren Augen und verdampften, kaum dass sie ihr heißes Gesicht berührten. Menschen kreischten in Panik.

Maris zog den Kopf ein und rannte schneller, wich dunklen Gestalten aus und hielt den Blick auf ihr Ziel gerichtet. Dort vorne lag das Tor, sie war fast da.

Eine Hand schoss aus der Dunkelheit auf sie zu, packte ihren Arm und eine Bassstimme brüllte etwas Unverständliches. Ihr Herz pochte heftiger und sie glaubte, ihr Kopf müsste in all diesem Lärm zerspringen. Das Feuer in ihren Adern ließ ihr Blut rauschen und zischen. Funken tropften von ihrer Haut. Die Bassstimme schrie überrascht auf und der Griff lockerte sich.

Maris riss sich los und hetzte weiter, immer auf das Tor zu, während der Tanz der Flammen um sie herum die Nacht erhellte. Ihr Atem schlug hart und heiß gegen ihre Brust. Sie fand das Tor unbewacht vor. Die Wächter waren wohl in dem Chaos auf dem Tempelhof untergegangen.

Maris hatte noch nie versucht, die schweren Riegel allein zu öffnen, doch jetzt stemmte sie sich mit aller Kraft dagegen. Das alte Eisen knirschte unwillig und regte sich nicht. Panisch blickte Maris sich um. Die schreiende Menge formierte sich langsam zu einer Ordnung. Die Brüder bildeten eine Eimerkette, einer brüllte Anweisungen über den Hof. Jeden Moment konnte jemand auf sie aufmerksam werden.

»Geh auf!«, knurrte sie dem großen Torflügel zu. »Lass mich raus!« Verzweifelt warf sie sich mit aller Kraft gegen Tür und Riegel. Hinter ihr fraßen die Flammen sich durch uralte Balken und sprengten Dachziegel. Maris griff nach ihrer Hitze und zerrte einen Teil davon zu sich.

Ihr habt das hier angerichtet, erklärte sie wütend. Jetzt bringt mich auch hier raus!

Das Feuer strömte nur zu gerne, gestärkt von Holz und Stroh und alten Schriften. Unter Maris’ Händen glühten die eisernen Riegel auf und brannten sich durch die Torflügel. Noch einmal drückte sie und mit einem Ruck stand sie im Freien. Kalter Wind fuhr in ihre Kleidung und das Feuer in ihr jauchzte auf. Maris konzentrierte sich auf ihre Füße und lief los. Sie musste fort.

Hinter ihr schallte ein Befehl durch die Nacht. Sie hatten sie gesehen, sie folgten ihr. Maris rannte wie noch nie in ihrem Leben, stolperte über die Wiese und durch die flackernden Schatten. Sie hörte Schritte hinter sich, wagte aber nicht, sich umzusehen. Weiter, sie musste weiter, über das Feld, am Fischteich entlang, bis zum Wald. Dort hinein würden sie ihr nicht folgen.

Wie eine schwarze Mauer ballten sich die Bäume vor ihr zusammen. Eine stumme Drohung im kalten Winterregen. Maris keuchte jetzt so laut, dass sie die Stimmen hinter sich nicht mehr hören konnte. Ihre Füße platschten ins Wasser, rutschten im Schlamm aus und Dampf stieg in zischenden Wolken auf.

Dann lag der Teich hinter ihr und das Ackerland verwandelte sich in felsigen Hang. Sie stürzte, stand auf, stolperte weiter. Die Schatten wurden tiefer. Da endlich kletterte sie an den ersten Baumriesen vorbei und in das dichte Unterholz des Waldes. Knorrige Baumstämme und dornige Sträucher stellten sich ihr in den Weg und rissen an ihren Kleidern, als wollten sie sie am Betreten des verbotenen Grundes hindern.

Sie zwängte sich mit Gewalt in die Dunkelheit und blieb auch nicht stehen, als Äste und Zweige hinter ihr zusammenschlugen. Sie strauchelte über Wurzeln und moderndes Laub, bis sie endlich auf eine kleine Lichtung taumelte. Nach Atem ringend drehte sie sich um und sah zurück. Nur noch ein undeutlicher, orangeroter Schein flackerte durch die kahlen Äste und wies ihr den Ort, an dem der Tempel brannte.

Die Knie knickten unter ihr weg, sie fiel und schlug auf harten Stein. Der scharfe Schmerz zerriss das Bild von Feuerschein und dunklen Bäumen. Es flackerte, verschwamm und löste sich auf wie Rauch im Wind.

Maris’ Atem blieb in ihrem Hals stecken und sie begann heftig zu husten. Tränen füllten ihre Augen und als sie endlich wieder klar sehen konnte, war sie von den vertrauten Umrissen ihres Zimmers umgeben. Sie lag auf dem Boden neben dem Bett, die Decke um ihren verschwitzten Körper verknotet, und es dauerte, bis sie sich endlich aus ihr befreien konnte.

»Ein Traum«, sagte sie laut, halb wütend über sich selbst, dass sie das nicht gemerkt hatte. »Es war nur ein verdammter Traum.«

 

Maris zitterte noch immer, als sie sich in der kleinen Küche ihres Gildenhauses zusammenkauerte. So ungefähr musste sich ein Hase fühlen, der sich auf der Flucht vor Jagdhunden in eine Grube drückte.

Sie hielt sich an ihrer Teetasse fest und starrte auf die dunkle Flüssigkeit. Der Dampf erinnerte sie an Rauch und zischenden Winterregen. »Wenn ich den finde, der hier so einen Mist zusammenträumt …«

Sie biss sich auf die Lippe und schloss die Augen. Es war nicht das erste Mal, dass sie unabsichtlich in die Erinnerungen eines anderen eintauchte. Tagsüber hatte sie wenigstens eine Chance, fremde Empfindungen von ihren eigenen zu unterscheiden, aber nachts war sie ihnen hilflos ausgeliefert. Nur hatte dieser Traum sich anders angefühlt. Nicht wie die verschwommenen Eindrücke und Erinnerungsfetzen, die sie sonst im Schlaf umflirrten wie Mücken im Sommer. Es war intensiver gewesen und auf eine unheimliche Art real. Noch immer konnte sie das hungrige Lachen der Flammen hören und in ihrem Mund lag der Geschmack von Asche.

Sie riss die Augen wieder auf und nahm hastig einen Schluck Tee. Prompt verbrannte sie sich die Zunge und fluchte laut.

Vorsichtiger geworden blies sie auf die heiße Flüssigkeit, bevor sie einen zweiten Schluck wagte. Diesmal verursachte der volle, würzige Geschmack nur noch ein angenehmes Prickeln auf ihrer Zunge und ließ sie freier atmen.

Langsam entspannte sie sich. »Einfach nur ein dummer Alptraum.«

Kurz fragte sie sich, ob sie jemandem davon erzählen sollte. Vielleicht handelte es sich bei ihrem Traum genau um die Art von Vision, die eine Seherin haben sollte.

Andererseits war es bisher nie gut gegangen, wenn sie von Dingen gesprochen hatte, die sie nichts angingen. Nein, besser sie fiel nicht auf.

Schlurfende Schritte näherten sich von der Treppe und Maris zuckte so heftig zusammen, dass sie einen Teil ihres Tees verschüttete. Wer außer ihr trieb sich denn mitten in der Nacht noch in den Gemeinschaftsräumen herum?

Ihre Hände krampften sich um ihre Tasse, als ein junger Mann seinen Kopf durch die Küchentür streckte. Seinem zerknitterten Aufzug nach war er entweder gerade aus dem Bett gefallen oder noch gar nicht dort gewesen. Maris kramte in ihrem Gedächtnis, aber sie hatte sich nie viel Mühe gemacht, die Namen der anderen Studierenden der Sehergilde zu lernen.

»Ich hab Tee gerochen«, gähnte der Namenlose. »Ist noch was übrig?«

Sie nickte knapp und musste ebenfalls gähnen. »Bedien dich.«

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht und verlor sich im nächsten Moment schon wieder. Seine dumpfe Schläfrigkeit wich einem wesentlich wacheren Erkennen. »Oh, du bist das.« Er starrte sie an, als wäre er im Bad auf eine besonders große Küchenschabe getreten. Gleichzeitig angewidert und unschlüssig, wie er reagieren sollte.

Reflexhaft versuchte Maris, seinem Blick auszuweichen. »Der Tee ist nicht vergiftet.«

Sie drückte den Rücken gegen ihre Stuhllehne und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine sinnlose Barriere gegen die bittere Abscheu, die er verströmte. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf, um seine unerwünschten Gefühle loszuwerden. Bei der Bewegung löste sich ihr Haarband und glitt zu Boden.

Leise fluchend tauchte Maris unter den Tisch ab. Als sie sich wenige Augenblicke später mit dem verwünschten Band wieder aufrichtete, war der Student verschwunden. Den Tee hatte er nicht angerührt.

»Sein Pech«, murmelte sie. Sie fuhr sich mit gespreizten Fingern durch ihr dunkelbraunes Haar und flocht es erneut zu ihrem gewohnten Zopf.

Dann vergrub sie das Gesicht in ihren Händen und griff nach dem Rest von seinen Gefühlen, die an ihr hafteten wie ein unangenehmer Geruch. Sie konzentrierte sich darauf, sie von ihren eigenen zu lösen und in die Steinfliesen unter ihren Füßen sickern zu lassen. Zurück blieb nur ein Echo der Panik aus ihrem Alptraum und eine ungewohnte Kälte, die selbst der heiße Tee nicht vertreiben konnte.

 

2.

 

Als Zolan die schweren Lider hob, stach das Licht in seinen Augen und er musste mehrmals blinzeln, bis sie sich daran gewöhnt hatten. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass er keineswegs in die gleißende Sonne starrte. Eigentlich umgaben ihn die trüben Schatten eines Wintertages und über ihm verdeckten dicke Äste den Himmel. Trotzdem tanzten ihm leuchtende Punkte vor den Augen.

Seine Zunge fühlte sich trocken an und viel zu groß für seinen Mund. Sein ganzer Körper war steif und sein Rücken schmerzte von dem kalten, harten Boden, auf dem er lag. Nur langsam nahm er seine Umgebung deutlicher wahr. Er hob den Arm, um sich an den pochenden Kopf zu fassen, und hielt in der Bewegung inne, als seine Finger über etwas Warmes und Raues strichen. Unter erneutem Blinzeln wandte er den Blick von den Ästen über ihm zu seiner Seite und versuchte zu erkennen, was dort lag. Es war groß und nah genug, um sein gesamtes Blickfeld einzunehmen, und von einer ähnlich graubraunen Färbung wie die Rinde der ihn umgebenden Bäume. Doch anders als Baumrinde fühlte es sich warm an und … Zolans träger Geist suchte nach dem richtigen Wort. Pelzig. Das war es. Vor ihm lag ein großes Wesen mit graubraunem Pelz.

Zufrieden mit sich selbst wollte Zolan den Kopf wieder sinken lassen, als die Erkenntnis sein Bewusstsein traf. Mit einem Ruck setzte er sich auf und bereute die Bewegung sofort. Dröhnende Schmerzen brandeten durch seinen Kopf und sein Magen schlug einen Salto. Er keuchte und würgte kurz, dann gelang es ihm, die Übelkeit zurückzudrängen, und das Pochen zwischen seinen Ohren ließ nach.

Seine plötzliche Bewegung hatte das Tier neben ihm aufgeschreckt. Tiere, korrigierte er sich, als sich nicht nur rechts, sondern auch links von ihm ein Kopf hob. Spitze, fellbedeckte Ohren drehten sich in seine Richtung und bernsteinfarbene Augen musterten ihn.

Das Wesen zu seiner Linken öffnete die lange Schnauze zu einem herzhaften Gähnen und enthüllte dabei eine Reihe messerscharfer Reißzähne. Wäre Zolans Mund nicht so trocken gewesen, hätte er geschrien, doch so entwand sich nur ein krächzendes Keuchen seiner Kehle.

Zolan war mit den grimmigen Hirtenhunden vertraut, die die Bauern dieser Gegend züchteten, um sich und ihre Herden zu schützen. Doch etwas an den langen, muskulösen Körpern, den breiten Kiefern und dem wachen Blick dieser Geschöpfe hier sagte ihm, dass sie kurzen Prozess mit einem Hirtenhund machen würden.

Einer der Hunde — oder Wölfe? — legte den Kopf schief und zuckte mit dem Ohr, sonst regte sich nichts. Auch Zolan erstarrte in der Bewegung. Er wagte kaum zu atmen. Minuten vergingen, in denen er und die Wölfe sich anstarrten.

Schließlich gab das Tier rechts von Zolan ein Geräusch wie ein resigniertes Seufzen von sich und erhob sich in einer fließenden Bewegung auf die Beine. Das zweite folgte seinem Beispiel, wobei es noch einmal sein beeindruckendes Gebiss in einem weiten Gähnen entblößte und sich herzhaft schüttelte.

Kurz überlegte er wegzulaufen, doch ihm war klar, wie lächerlich sinnlos das wäre. Vorsichtig ließ er den Blick umherschweifen in der Hoffnung, etwas zu finden, das er als Waffe benutzen könnte. Doch von altem Laub und Zweigen abgesehen war der Waldboden leer.

Als er den Kopf etwas weiter drehte, langsam und ohne die Wölfe aus den Augen zu lassen, fiel sein Blick auf das Buch, das unter ihm gelegen hatte. Zwischen dem braunen Laub wirkte es unscheinbar und irgendwie fehl am Platze. Auf dem rissigen, von Ruß geschwärzten Einband ließ sich der Titel kaum entziffern. Vom Krieg der Brüder und wie er ein Ende fand. Noch immer konnte er die Abdrücke seiner Finger dort erkennen, wo er das Buch fest umklammert hatte.

Der metallische Geruch von Blut stieg ihm in die Nase und diesmal konnte er die aufsteigende Übelkeit nicht mehr unterdrücken. Er schaffte es gerade noch, sich ein Stück zur Seite zu beugen, bevor er sich hustend und würgend erbrach.

Während er darum kämpfte, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen, war er sich überdeutlich der Wölfe bewusst, die ihn weiterhin beobachteten. Doch sie machten keinerlei Anstalten, anzugreifen.

Endlich gab es nichts mehr in Zolans Magen, das er noch von sich geben konnte, und er richtete sich zitternd wieder auf.

»Na schön«, raunte er den Geschöpfen vor sich zu. »Was auch immer ihr von mir wollt, ich wäre euch dankbar, wenn wir es hinter uns bringen könnten.«

Zwei Paar Ohren zuckten bei seinen Worten, als würden die Tiere aufmerksam lauschen, dann kam eines der beiden langsam näher. Zolan kniff fest die Augen zusammen. Warmer Atem strich über seine Haut, als das große Geschöpf erst sein Gesicht, dann seine Brust, Arme und Hände beschnüffelte.

Zolan kam der unsinnige Verdacht, der Wolf wolle sich vielleicht davon überzeugen, dass es ihm gut gehe, doch den Gedanken schob er beiseite. Da spürte er einen Stoß auf der Brust, nicht fest, eher ein leichtes Stupsen. Überrascht öffnete er die Augen. Der Wolf sah ihn aus seinen bernsteinfarbenen Augen an, dann stupste er ihn ein zweites Mal. Er wandte sich um, lief ein paar Schritte weg und blickte wieder zu Zolan zurück.

Als der sich nicht regte und den Blick nur verwirrt erwiderte, drehte das Tier um, stupste ihn diesmal etwas fester, lief wieder ein Stück weg und sah ihn mit einer klaren Aufforderung in den Augen an. Zolans Blick wanderte zu dem zweiten Wolf, der schon etwas weiter entfernt zwischen den Bäumen stand. Er hatte ein Ohr auf Zolan gerichtet, das andere lauschte in den Wald hinein.

Der erste Wolf gab eine Art ungeduldiges Japsen von sich, kehrte zum dritten Mal zu Zolan zurück und ging dann wieder in die Richtung seines Begleiters. Selbst mit menschlichen Stimmen hätten die Tiere nicht deutlicher sagen können, was sie von ihm wollten.

Zolan zögerte kurz, dann zuckte er mit den Schultern. Was hatte er schon zu verlieren? Vielleicht führten die Wölfe ihn zu ihrem Bau und fielen dort über ihn her, aber wenn er hier sitzen blieb, würde er entweder in der kalten Luft erfrieren oder den Walddämonen zum Opfer fallen. Falls er nicht zuvor verdurstete. Ohne weiter nachzudenken, griff er mit steifen Fingern nach dem Buch, erhob sich leicht schwankend auf die Füße und stolperte hinter den Wölfen her. Die schienen mit seiner Reaktion zufrieden zu sein, denn sie wandten sich um und liefen los.

Bevor er ihnen endgültig ins Unterholz folgte, ließ Zolan noch einmal den Blick über die kleine Lichtung schweifen. Auf den mannsdicken Wurzeln glitzerte Raureif und das Laub am Boden wies an vielen Stellen weiße Eisränder auf. Ein Frösteln durchlief Zolans Körper, das nicht von der winterlichen Kälte herrührte. Ohne die Körperwärme der beiden Wölfe wäre er letzte Nacht sicher erfroren. Bei seiner Flucht aus dem Tempel hatte er keinen Mantel, geschweige denn eine Decke mitnehmen können. Er war einfach immer weiter gerannt, bis er auf dieser Lichtung zusammengebrochen war. Das gab ihm neuen Stoff zum Nachdenken, während er den beiden Tieren folgte.

 

3.

 

Ausnahmsweise war Maris einmal dankbar für den strikten Stundenplan, dem der Alltag in der Universitätsstadt Umra-Anh unterworfen war. Die Routine, die sie an anderen Tagen oft langweilte, half ihr heute, den merkwürdigen Traum aus ihren Gedanken zu verdrängen. So verging der Vormittag wie jeder Tag mit einem schnellen Frühstück und langen Unterrichtsstunden, in denen Maris sich alle Mühe gab, ihre Konzentration auf mathematische Formeln, die verschiedenen Verwendungsarten von Bärentraubenblättern oder die Verfahren zur Gewinnung von Eisenerz zu richten. Doch die Worte ihrer Lehrer klangen heute eigenartig gedämpft und sie fühlte sich so erschöpft, als hätte sie kaum geschlafen. Und konnte es sein, dass es in den Felsengängen Umra-Anhs kälter war als sonst?

Wie so oft ging Maris in ihrer Mittagspause nur kurz an der Küche der großen Halle vorbei und bat dort um ein kleines Essenspaket, dann machte sie sich auf den Weg zur Gilde der Weber. Sie fand die alte Großmeisterin Oulín nicht in ihren Privaträumen und wanderte durch die Innenhöfe der Gilde, bis sie die Weberin endlich umgeben von Körben mit gesponnener und ungesponnener Wolle in einem zum Meer hin offenen Raum fand.

Oulín gehörte zu den wenigen Menschen, die Maris gerne um sich hatte. Das lag zum einen daran, dass die Großmeisterin die Kunst beherrschte, ihren Geist und damit auch bis zu einem gewissen Maß ihre Gefühlswelt zu verschließen, sodass Maris nicht ständig mitfühlte, was in der Weberin vorging. Zum anderen war es Oulín völlig egal, dass Maris in einem Gespräch so viel mehr wahrnahm als bloße Worte. Während viele Menschen Maris mit Misstrauen, Ablehnung oder, vor allem unter den Sehern, mit Eifersucht begegneten, behandelte Oulín sie genauso, wie sie jede Fünfzehnjährige behandeln würde, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Darum genoss Maris es, wenn sie ihre Mittagspausen statt im Gedränge in der großen Halle in der relativen Abgeschiedenheit von Oulíns Räumen verbringen konnte.

Die erste Vorsteherin der Webergilde hatte ihr schlohweißes Haar zu einem unordentlichen Knoten gesteckt und schien all ihre Aufmerksamkeit dem Faden zu widmen, der sich unter ihren geschickten Fingern um ihre Spindel wand. Maris stieg vorsichtig über zwei Körbe hinweg und ließ sich so leise wie möglich am Klippenrand nieder. Eine Weile lauschte sie dem Rauschen des Meeres und den hellen Schreien der Klippsegler, die auf der Jagd nach Fischen von den Felsen hinab in die Wellen stießen. Obwohl die Sonne schien und kaum Wind wehte, war die Luft kalt und Maris zog sich ihren warmen Schal fester um die Schultern. Als die Spindel voll war, begann die Weberin den gesponnenen Faden zu einem Knäuel zu wickeln. Sie wollte es in einen Korb neben Maris ablegen, hielt aber mit gerunzelter Stirn inne. Ihre Augen musterten ihren Gast mit einem scharfen Blick.

»Warst du heute bei den Schmieden oder in der Feuergilde?«

Oulíns Stimme klang ein wenig wie ein knarrender Baum. Maris schüttelte den Kopf und Oulin senkte ihre Augen auf die Wolle in ihrer Hand. Dann zog sie den Korb ein wenig von Maris fort und legte ihr Knäuel sanft hinein.

»Meine Wolle kann Hitze in dir spüren, das mag sie nicht besonders. Woher kommt die?«

Maris öffnete den Mund, um zu sagen, dass sie keine Ahnung hatte, schloss ihn aber wieder. Schließlich erzählte sie von dem Feuer in ihrem Traum und verschwieg auch die beiden toten Männer in den Flammen nicht.

Oulín lauschte ihr aufmerksam und wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

»Ich bin nur eine alte Weberin und ohne jedes Talent zum Wahrsehen«, sagte sie und streckte die Hand nach dem Bündel aus, das Maris aus der Küche mitgebrachte hatte. »Vielleicht solltest du mit Jamira Kateyon über diesen Traum sprechen.« Sie schnalzte entzückt mit der Zunge, als sie die in Öl und Kräutern gebratenen Garnelen entdeckte. Maris häufte gehorsam einige davon auf das Gemüse in einer Schale und reichte sie Oulín zusammen mit einer dicken Scheibe Brot.

»Aber es war nur ein Traum«, entgegnete sie abwehrend. Sie wollte alles, nur nicht die strenge Großmeisterin der Seher aufsuchen, nur um ihr von einem dummen Traum zu erzählen.

Die alte Dame lehnte sich in ihrem Sessel zurück und deutete mit einer Garnele in den knochigen Fingern auf Maris.

»Meine Wolle kann das Feuer in deiner Seele förmlich riechen. Also ändert sich entweder gerade deine Anuán, was möglich, aber doch sehr unwahrscheinlich ist, oder du hast letzte Nacht mehr als einen einfachen Traum gehabt. In jedem Fall sollte die Großmeisterin deiner Gilde davon erfahren.«

Maris senkte den Kopf und stocherte wortlos in ihrem Gemüse herum. Sie widersprach der Weberin nur ungern aber noch weniger wollte sie mit Jamira Kateyon reden. Seit die Meisterin vor einem knappen Jahr die Leitung der Gilde übernommen hatte, war Maris ihr erfolgreich aus dem Weg gegangen. Maris war vom alten Großmeister nur widerwillig in der Gilde akzeptiert worden und hatte keine Lust auf ähnliche Gespräche mit seiner Nachfolgerin.

Die Stille begann sich unangenehm in die Länge zu ziehen, bis Oulín sie mit einem resignierten Schnauben brach. »Du bist ein Sturkopf, Maris Asénoné«, sagte sie, ließ dann aber zu Maris’ Erleichterung das Thema fallen. »Ich habe gehört, dass Tridan dich in seine Gruppe aufgenommen hat. Bisher hat er nie einen Schüler angenommen, der nicht mindestens siebzehn war. Soll ich dir jetzt gratulieren oder dich bedauern?«

Maris lächelte. »Vielleicht beides ein bisschen?« Sie war tatsächlich stolz darauf, ab sofort zusammen mit den älteren Studierenden von dem angesehenen Kampfmeister unterrichtet zu werden. Maris war mit ihren fünfzehn Jahren wahrscheinlich die jüngste Schülerin, die Meister Tridan je angenommen hatte. Dadurch würde sie aber auch unter den anderen hervorstechen und das wiederum gefiel ihr überhaupt nicht.

Oulín stieß ein raues Kichern aus. Sie wusste, wie ungern Maris im Mittelpunkt stand, und es schien ihr eine diebische Freude zu bereiten, sich das schmale, menschenscheue Mädchen zwischen den großgewachsenen Kriegern aus Meister Tridans Gruppe vorzustellen. »Du wirst es ihnen schon zeigen. Immerhin war deine Mutter eine der besten im Kampf mit dem Dolch.«

Maris blickte überrascht auf. Bisher hatte Oulín ihre verstorbenen Eltern nie erwähnt. »Du kanntest meine Mutter?«

Doch zu ihrer Enttäuschung schüttelte die alte Frau den Kopf. »Nur vom Sehen. Sie und dein Vater waren ja viel jünger als ich und beide in anderen Gilden.«

»Ich bin doch auch viel jünger als du und in einer anderen Gilde und trotzdem kennst du mich.«

Maris’ Protest entlockte der Weberin wieder ein raues Kichern.

»Das liegt aber daran, dass du deine Zeit lieber mit einer tattrigen Frau verbringst als mit Leuten in deinem Alter«, entgegnete sie. »Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, wenn ich dich wegschicken würde.«

Maris schüttelte den Kopf. »Das würdest du nicht tun«, sagte sie und Oulín widersprach nicht.

Die alte Frau und das Mädchen saßen schweigend nebeneinander, betrachteten das Meer und aßen zu Mittag, bis eine Glocke das Ende der freien Zeit verkündete.

 

4.

 

Die Wölfe führten Zolan zwar einen kaum erkennbaren Pfad entlang, dennoch zerkratzten Zweige, Äste und Dornenranken seine Hände und der eigentlich robuste Leinenstoff seiner Kutte hing bald in Fetzen. Selbst wenn Zolan versucht hätte zu verdrängen, unter welchen Umständen er den Tempel verlassen hatte, erinnerte ihn der miserable Zustand seiner angekohlten Kleidung mit jedem Riss aufs Neue daran.

Schweißperlen bildeten sich trotz der kalten Luft auf seiner Stirn, während er sich bemühte, nicht allzu weit hinter seinen Führern zurückzubleiben. Sein ganzer Körper war steif von der letzten Nacht und seine Kehle brannte. Jedes Mal, wenn er langsamer wurde oder gar stehen blieb, um Luft zu holen, wandten die Wölfe sich um und warteten geduldig, bis er sich wieder in Bewegung setzte.

Mehr als einmal überlegte Zolan, was ihn eigentlich dazu trieb, diesen Ungeheuern zu folgen. Dann blickte er die dunklen Baumriesen entlang, deren Stämme mehrere Männer nicht umspannen könnten, lauschte dem bedrohlichen Knacken und Rascheln im Unterholz und lief weiter. Alles war besser, als allein im Schattenwald zu bleiben. Hinter ihm warteten seine Verfolger, die ihn mindestens vor ein Gericht zerren, wenn nicht sofort töten würden. Ihm blieb nur die Flucht nach vorn, auch wenn das bedeutete, der Gnade oder den Launen dieser wilden Tiere ausgeliefert zu sein.

Bald konnte er nicht mehr sagen, wie lange er schon so durch den Wald stolperte, als seine stillen Führer ihre Ohren nach vorn richteten und die Nasen prüfend in die Luft hielten. Zolans Schultern verkrampften sich aus Furcht, die Wölfe könnten eine Gefahr gewittert haben. Dann begannen ihre buschigen Schwänze zu wedeln und ihre Gangart beschleunigte sich. Immer wieder warfen sie ungeduldige Blicke zu ihm zurück, als wollten sie ihn auffordern, schneller zu laufen. Schließlich hielten sie es nicht mehr aus. Wie zwei graue Schatten flogen sie über den Waldboden und waren im Nu zwischen den Bäumen verschwunden.

Keuchend hielt Zolan inne und stützte sich an einem Stamm ab. Sein Atem bildete kleine Wolken in der Luft. Im Baum über ihm knackte es. Sonst war es still. Hatten die Wölfe ihn so weit geführt, nur um ihn jetzt mitten im Wald allein zu lassen? Da stieg ihm ein neuer Geruch in die Nase, der nicht von Bäumen, Laub und Erde herrührte. Ein vertrauter, warmer, leicht scharfer Duft. Zolan konzentrierte sich und sog prüfend die Luft ein. Seine Nase konnte sich zwar nicht mit der eines Wolfs messen, doch den Duft von Rauch hätte er überall erkannt. Ganz in der Nähe brannte ein kleines Feuer. Seine Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung und schon folgte er dem Wildwechsel weiter, den er gerade so zwischen den kahlen Sträuchern erkennen konnte. Der Rauchgeruch wurde stärker und bald hörte er das lockende Knistern der Flammen. Ihr Gesang lullte ihn so sehr ein, beinahe hätte er das menschliche Gelächter überhört.

»Ist ja gut«, rief eine tiefe, männliche Stimme. »Schluss jetzt Duna. Sargas, geh runter von mir, du bist kein Welpe mehr.«

Und dann trat Zolan aus dem Unterholz heraus und vor ihm öffnete sich eine freie Fläche. Die Lichtung war größer als diejenige, auf der er übernachtet hatte. Zu seiner linken schmiegte sich eine gewaltige Buche an einen Felshang. Wo Baum und Stein zusammentrafen, befand sich eine kleine Höhlung, die jemand zu einem Lager ausgebaut hatte. Vor dem Höhleneingang brannte ein gemütliches Feuer und zwei Kessel, ein großer und ein etwas kleinerer, brodelten vor sich hin. Nicht weit davon entfernt lag ein Mann auf dem Waldboden, fast begraben unter den graubraunen Körpern der beiden Wölfe. Die großen Tiere tollten viel mehr um den Mann herum, leckten ihm Gesicht und Hände, schoben ihre Köpfe unter seine Arme und fiepten glücklich. Der Mann lachte und strich über die langen Rücken, kraulte Hals und Ohren und zog spielerisch an den Schwänzen. Schließlich erblickte er Zolan.

Verlegen lächelnd setzte er sich auf und räusperte sich, während er die Wölfe mit einer endgültigen Geste von sich schob. »Genug jetzt!«, befahl er ihnen und sagte zu Zolan: »Willkommen. Ich bin froh, dass meine Freunde dich gefunden haben.« Er sprach mit einem leichten Akzent, den der Junge nicht einordnen konnte.

Zolan runzelte die Stirn und sein Blick wanderte zu den beiden Wölfen, die ihm vorhin noch solche Angst eingejagt hatten. Einer lag nun auf dem Boden und ließ sich zufrieden den Bauch kraulen. Bei diesem Anblick fiel es schwer, ihn weiterhin als ein gefährliches Ungeheuer zu betrachten, oder in dem Fremden eine Gefahr zu sehen.

Der Mann war nicht besonders groß und wirkte trotz seines dicken Umhangs eher schmal. Seine Haut war von Sonne und Wind gegerbt, wie man es bei Seeleuten oder Bauern sah. Um Mund und Augen zeichneten sich feine Lachfältchen ab und die fast schwarzen Augen erwiderten Zolans Blick ruhig und freundlich. Sein Alter ließ sich nur schwer bestimmen, er mochte dreißig Jahre alt sein oder auch fünfzig.

Als Zolan nichts sagte, räusperte sich der Mann erneut. »Gleich hinter der Ecke hier …«, er deutete den Felshang entlang, »… fließt ein kleiner Bach. Du bist sicher durstig. Und bis du wiederkommst, sollte das Abendessen fertig sein.«

Bei der Erwähnung von Wasser nahm das Brennen in Zolans Kehle zu, also schluckte er trocken, nickte und folgte der Richtung, in die der Mann gewiesen hatte. Das Wasser des Bachs war so kalt, dass es wie Nadeln in seine Finger stach. Trotzdem schmeckte es besser als alles, das Zolan je in seinem Leben gekostet hatte. Wieder und wieder tauchte er seine bald gefühllosen Hände in den Bach und trank, bis sein Magen bei jeder Bewegung leise gluckste. Er versuchte, die Zeit zu nutzen, um über seine Lage nachzudenken, aber Müdigkeit machte sich in ihm breit und er sehnte sich nach der Wärme des freundlichen Feuers. Also kehrte er ebenso unschlüssig wie zuvor zum Lager zurück.

Der Fremde füllte gerade zwei hölzerne Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit aus dem kleineren Kessel. Er bemerkte Zolan, lächelte wieder und deutete mit einer einladenden Geste auf den Boden neben sich. Das Feuer flackerte fröhlich auf, um Zolan zu begrüßen, und streckte ihm einen Teil seiner Wärme entgegen. Zögernd ließ der sich nieder und akzeptierte den Becher mit heißem Tee, der ihm gereicht wurde. Ein würziger Geruch stieg ihm in die Nase und als er kostete, schmeckte er Minze, Honig und eine leichte Schärfe, die er nicht benennen konnte, ihn aber angenehm wärmte.

Zolan ließ den Fremden nicht aus den Augen. Offenbar war er schon eine Weile unterwegs, denn seine Kleidung wirkte abgetragen, wenn sie auch von guter Qualität war, und sein dunkles Haar war länger als bei den meisten Männern üblich. Er trug keine Waffen und es schien keine direkte Gefahr von ihm auszugehen. Andererseits war Zolan noch nie so weit vom Tempel entfernt gewesen und wusste nicht, was man von Fremden im Wald zu erwarten hatte. Und dies war der Schattenwald, um den die meisten Menschen einen großen Bogen machten. Nur Verrückte oder sehr Verzweifelte betraten diesen Wald, in dem es angeblich von Dämonen, Ungeheuern und anderen alptraumhaften Wesen nur so wimmelte. Die riesigen Wölfe schienen diese Geschichten zu bestätigen, auch wenn Zolan zugeben musste, dass sie überraschend freundlich zu ihm gewesen waren. Trotzdem hatte er nicht damit gerechnet, ausgerechnet hier einem anderen menschlichen Wesen zu begegnen. Wer war dieser Mann, der sich ganz allein an so einem Ort herumtrieb?

Sein Blick fiel auf die Schulter des Fremden. In den schweren Stoff des Umhangs war mit grünen Fäden ein Zeichen eingestickt: eine breite senkrechte Linie, die sich am oberen Ende in fünf schmalere Linien auffächerte. Zolan kannte dieses Symbol. Selbst in den abgelegenen Tempel von Boros Punor verschlug es manchmal Handelskarawanen und alle führten diesen stilisierten Baum auf Kleidung und Wagen.

»Ich dachte, die Irshari reisen niemals allein«, platzte es aus ihm heraus.

Der Mann zuckte zusammen und blickte von dem Topf auf, in dem er rührte.

»So was«, antwortete er. »Ich hab mir schon überlegt, ob du vielleicht stumm bist. Warte bitte kurz, ich denke, das Essen ist fertig.«

Er füllte zwei tiefe Schalen mit Eintopf und stellte eine davon vor Zolan ab. Erst als er auch noch zwei Löffel aus einem Beutel neben sich hervorgekramt und sich den ersten Bissen in den Mund geschoben hatte, wandte er dem Jungen seine volle Aufmerksamkeit zu.

»Ich heiße Ima«, stellte er sich vor. »Und ich bin nicht allein.« Er deutete mit einer übertrieben weiten Geste auf die beiden Wölfe, die lang ausgestreckt in der Nähe lagen und an den Überresten eines kleinen Tieres nagten. »Das hier sind meine treuen Gefährten, die bezaubernde Duna und der tapfere Sargas. Die besten Wolfshunde auf ganz Riannu.«

Die Tiere warfen ihm kurz einen Blick zu, als sie ihre Namen hörten, ließen sich ansonsten aber nicht von ihrem Abendessen ablenken.

Zolan war verblüfft. »Wolfshunde?«, fragte er zweifelnd. »Ich habe noch nie so große Hunde gesehen.«

Wieder zeigten sich freundliche Lachfältchen um Imas Augen. »Meine Familie züchtet diese Rasse seit vielen Generationen. Wir stammen aus dem östlichen Laom und die Berge dort sind eine ganz andere Nummer als diese Hügelchen, die du hier aus Uregal kennst. Unsere Hunde müssen sich nicht nur gegen Füchse und Marder, sondern auch gegen Berglöwen behaupten können.« Er nickte zu Zolans Schale, die noch immer unberührt auf dem Boden stand. »Dein Essen wird kalt.«

Wie zur Antwort knurrte Zolans Magen. »Danke«, murmelte er verlegen und griff nach der Schale. Darin befand sich ein würziger Eintopf aus kleinen Linsen, Wurzelgemüse und reichlich Fleisch. Die scharfen Gewürze brannten auf Zolans Zunge. Erst jetzt stellte er fest, wie hungrig er war und beschloss, sich vorerst auf das Essen zu konzentrieren. Ima unterbrach ihn nicht und füllte ungefragt noch zweimal nach, bevor Zolan die Schale wieder abstellte. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte er sich satt und warm und so erschöpft, dass er sein Misstrauen gegenüber dem fremden Mann vorerst beiseiteschob.

Der schien seine Müdigkeit zu bemerken, denn er nickte in Richtung der kleinen Höhlung hinter sich. »Geh schlafen Junge. Wir können uns an einem anderen Tag unterhalten.«

Zolan konnte nur nicken und kroch in eine der Bettrollen, die dort über trockenem Laub ausgebreitet lagen. Kurz bevor ihm endgültig zu Augen zufielen, murmelte er noch: »Zolan. Mein Name ist Zolan.«

Imas Antwort hörte er kaum noch.

 

5.

 

Maris’ Magen kribbelte, als sie den sandigen Innenhof betrat, auf dem der Unterricht mit dem Pakon, einem etwa brusthohen Stab, stattfand. Sie hoffte, dass man ihr die Nervosität nicht ansah, doch die Hand, mit der sie ihre Waffe hielt, hatte bereits angefangen zu schwitzen. Außer ihr befanden sich noch elf weitere Studenten hier, sieben Jungen und vier Mädchen. Alle waren älter und größer als sie. Köpfe drehten sich in ihre Richtung und Maris brauchte die Blicke nicht zu erwidern, um die Mischung aus Überraschung, Unglauben und Verärgerung zu spüren, die in ihnen lag.

»Geh zurück zu deiner eigenen Gruppe, wir haben keine Zeit, mit Kindern zu spielen«, hörte sie jemanden sagen, doch sie sah sich nicht nach dem Sprecher um. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Aufwärmübungen.

»Bist du taub?«, fragte eine weibliche Stimme direkt neben ihr. Maris hob widerstrebend den Kopf und blickte in kalte braune Augen. Maris erkannte die hochgewachsene Kämpferin: Ladis von der Steingilde. Diese wiederholte jetzt so langsam, als wäre Maris schwer von Begriff: »Du sollst zu deiner eigenen Gruppe gehen. Wir wollen hier ernsthaft trainieren.«

Maris zog die Schultern hoch. »Das hier ist meine Gruppe. Meister Tridan hat mir befohlen, hierher zum Unterricht zu kommen.«

»Das stimmt, Ladis«, mischte sich ein Junge ein. »Ich habe gehört, wie der Meister davon gesprochen hat, dass er eine jüngere Studentin in unsere Gruppe aufnehmen will.«

Ladis warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Sei nicht albern. Warum sollten wir uns mit der Kleinen abgeben? Sie ist ja fast noch ein Kind.«

»Und du bist mit deinen achtzehn Jahren wohl schon eine reife Frau?«, erklang da eine harte Stimme. Ein grauhaariger Mann betrat den Hof. Er war kaum größer als Maris, hatte aber drahtige Muskeln und ein grimmiges Gesicht. Erschrocken wich Ladis einen Schritt zurück und verbeugte sich. Die anderen beeilten sich, es ihr gleich zu tun.

»Meister Tridan«, stotterte Ladis. »Ich wollte nicht …«

»Ich bin sicher, dass du nicht an meiner Fähigkeit zweifeln wolltest, meine Schüler auszuwählen«, unterbrach der Meister sie leise. »Jetzt geh zurück auf deinen Platz, wir wollen anfangen. Maris Asénoné, du bleibst hier vorne, damit ich dich im Auge behalten kann. Es wird sich noch zeigen, ob du mit dieser Gruppe mithalten kannst.«

Ladis wich gehorsam zurück, aber ihre Wut kratzte unangenehm über Maris’ Bewusstsein. Auch andere in der Gruppe murrten unzufrieden. Bald hatte Maris allerdings keine Zeit mehr darüber nachzudenken, denn Meister Tridan begann den Unterricht mit einem Tempo, das sie aus den niedrigeren Klassen nicht gewohnt war. Der Meister forderte die Gruppe zu Schlägen, Stößen, Blocks und Drehungen auf. Diese waren ihr zwar bekannt, dennoch musste sie sich konzentrieren, um die blitzschnell aufeinander folgenden Anweisungen umzusetzen. Bald lief ihr der Schweiß über das Gesicht und ihr Hemd klebte an Brust und Rücken, doch sie wagte es nicht, auch nur für einen Moment langsamer zu werden.

Maris hatte bereits als kleines Kind Spaß daran gehabt, die Bewegungen der Kämpfer nachzuahmen. Sie liebte es, sich ganz auf die Kraft und Wendigkeit ihres Körpers zu verlassen. Die Anstrengungen hielten außerdem die Alpträume fern, von denen sie sonst nachts heimgesucht wurde. Also war sie oft noch spät abends allein auf die Übungshöfe geschlichen und hatte die tagsüber gelernten Bewegungen so lange wiederholt, bis ihre Muskeln brannten und ihre Beine zitterten. Später, als ihre Anuán stärker wurde und sie ohne es zu wollen immer mehr Gefühle von anderen Menschen auffing, halfen die Übungen ihr, sich auf sich selbst zu konzentrieren und sich nicht von ihrer Umgebung überwältigen zu lassen.

Jetzt biss Maris die Zähne zusammen. Sie erinnerte sich an die langen Abende, an denen sie ihrem Körper mehr abverlangt hatte, als es in einer einzigen Stunde bei Meister Tridan möglich war. Egal, wie streng er seinen Unterricht halten mochte. Tatsächlich gewöhnten ihre Muskeln sich langsam an den neuen Rhythmus und ihre Bewegungen wurden spürbar geschmeidiger. Als der Meister die erste Pause anordnete, war ihr, als erwachte sie aus einer Trance. Sie stützte sich schwer atmend auf ihrem Pakon ab und sah sich um. Auch die anderen keuchten und ihre Kleidung war nass von Schweiß. Einige murrten, andere lachten und Maris verstand, dass dieses Tempo auch für sie ungewohnt schnell gewesen war. Immerhin schienen sie durch das harte Training Maris’ Anwesenheit vergessen zu haben, denn sie nahm in ihrem Umfeld kaum noch Verärgerung und dafür erste Anzeichen von Erschöpfung wahr.

Ihre Erleichterung hielt nur so lange an, bis der Meister seine Studenten paarweise Aufstellung beziehen ließ und Maris sich plötzlich einem schlanken Jungen mit breiten Schultern und kohlschwarzen Locken gegenüber sah.

»Lange nicht gesehen, Maris«, sagte der ältere und verzog den Mund zu einem Lächeln, das perfekte weiße Zähne entblößte, dabei aber seine Augen nicht erreichte. Maris unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatte gewusst, dass Kayo Teil dieser Gruppe war, aber unsinnigerweise trotzdem gehofft, sich irgendwie von ihm fern halten zu können. Jetzt spülte sein allgegenwärtiges Gefühlschaos aus Unsicherheit, Wut und aufgesetzter Fröhlichkeit über sie hinweg und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Kalte Angst schnürte ihr die Kehle zu und Scham und Sehnsucht wühlten mit scharfen Klauen in ihren Eingeweiden. Er war zu nah, um seine Gefühle von ihren eigenen zu unterscheiden. Nur die Lüge, in die er sich hüllte wie in einen Mantel aus schmorendem Metall, stand so klar zwischen ihnen, dass Maris beinahe glaubte, sie berühren zu können. Sie brannte schmerzhaft auf Maris’ Anuán und ließ ihre Augen tränen. Maris biss sich auf die Lippe. Hier war der letzte Ort, an dem sie es sich leisten konnte, Schwäche zu zeigen. In Gedanken verfluchte sie den Tag, an dem sie ihm verraten hatte, dass sie sein Geheimnis kannte. Seit diesem Tag konzentrierte er seine Angst und Wut und seinen Hass auf sie, sobald er sie zu Gesicht bekam. Maris zwang sich dazu, tief ein- und auszuatmen, während Kayo ihr gegenüber Aufstellung bezog. Sie wich dem Blick aus seinen dunklen Augen aus und versuchte, sich auf ihren eigenen Körper und die Waffe in ihrer Hand zu besinnen.

Dabei hätte sie fast den Befehl für den Beginn der Zweikämpfe überhört. Ihr Gegner hatte nur auf dieses Signal gewartet. Kaum war der Ruf des Meisters verklungen, sprang er auf Maris zu und sein Pakon fuhr auf sie nieder. Sie konnte gerade noch ausweichen und riss ihren eigenen Stab zur Abwehr hoch, da sauste sein zweiter Schlag auf sie herab. Mit einem lauten Krachen traf Holz auf Holz und Maris’ Muskeln schrien gequält auf. Kayo gehörte der Metallgilde an und in seinen Schlägen lag die Kraft eines Schmiedehammers. Jetzt nutzte er den Vorteil seiner Größe und seines Gewichts aus und versuchte, das schwächere Mädchen nach unten zu drücken. Die wusste, dass sie dem Schmiedegesellen in einem direkten Kräftemessen unterlegen war, darum ließ sie sich zu Boden fallen und rollte sich nach hinten ab. Sie kam gerade rechtzeitig auf die Füße, um einem weiteren Stoß auszuweichen.

»Du kannst nicht immer weglaufen«, höhnte ihr Gegner, während er sie umkreiste. Maris dachte nach. Kayo war größer und kräftiger als sie und er hatte mehr Erfahrung. Er war schnell und seine Bewegungen zeigten eine geschmeidige Grazie, die Maris sonst nur von Tänzern kannte. Doch er war auch wütend, ausgerechnet ihr zugeteilt worden zu sein und darüber hinaus zweifelte er nicht an seiner Überlegenheit. Das konnte sie zu ihrem Vorteil nutzen. Eine Weile konzentrierte sie sich darauf, seine Angriffe abzuwehren oder auszuweichen und ignorierte seine spöttischen Kommentare. Er sollte ruhig denken, dass sie zu eingeschüchtert war, um selbst einen Angriff zu wagen. Kayos Schläge wurden härter, impulsiver, er wollte den Kampf schnell zu Ende bringen. Maris biss die Zähne zusammen, parierte, wich aus und drängte die bohrenden Kopfschmerzen zurück, die er in ihr auslöste. Wenn sie den Kampf weiter in die Länge zog, würde er sie durch seine bloße Anwesenheit in die Knie zwingen. Immerhin schien auch Kayo langsam die Luft auszugehen. Er atmete schwerer und Schweiß lief ihm von den Schläfen über die hohen, fein geschnittenen Wangenknochen.

Maris begann sein Bewegungsmuster nach und nach zu durchschauen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und drängte wieder seine Gefühle zurück, die wie Nadeln in ihre Eingeweide stachen. Ein leichtes Zucken der rechten Schulter verriet seinen nächsten Angriff und Maris blockte den Hieb ab, leitete ihn in einen Bogen um und zielte mit der gleichen Bewegung auf seine Beine. Kayo sprang überrascht von dem unerwarteten Gegenangriff zurück und ging in eine Reihe schneller Attacken über. Maris wich den meisten aus, blockte andere und konzentrierte sich auf eine Öffnung in seiner Deckung. Ihre Chance kam, als er auf ihre Brust zielte. Sie lenkte seinen Stoß ab und brachte ihn kurz ins Taumeln. Während er noch versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden, wirbelte sie um ihre Achse und ließ ihren Stab auf die ungeschützte Stelle unter seinem linken Ohr zu sausen. Keinen Fingerbreit vor dem Aufprall hielt sie inne, ihr Gegner war in der Bewegung erstarrt. Für einen Moment verharrten beide und starrten sich nur keuchend an. Beinahe wäre Maris vor seinem zornigen Blick zurückgewichen, doch dann zuckte Kayo mit den Schultern und ließ den Pakon sinken. »Ich gebe mich geschlagen«, knurrte er.

Sie zog ihren Stab zurück und wischte sich mit dem Ärmel Schweiß von der Stirn. In dem verhaltenen Gemurmel um sie herum hörte sie Anerkennung, aber auch Misstrauen. Maris griff äußerlich ungerührt nach einem Wasserschlauch, der auf einer nahen Bank lag, und trank in gierigen Schlucken.

Als sie einige Zeit später den Hof verließ, nickte Meister Tridan ihr zu. »Morgen wieder zur gleichen Zeit.« Er lächelte nicht, doch Maris strahlte. Sie wusste, dass sie seinen Test bestanden hatte und ignorierte Kayos Blicke. Irgendwann würde er ihr diesen Sieg heimzahlen, doch an diesem Abend wollte sie nicht daran denken.

 

6.

 

In seinem Traum stand Zolan wieder zu Hause in der Bibliothek des Tempels. Um ihn her ragten Reihen von Büchern und Schriftrollen in unendliche Höhen und es roch nach trockenem Papier und Frieden. Zolan ließ seine Finger über die Buchrücken gleiten als würde er alte Freunde begrüßen. Hier lagen Karten von verschiedenen Teilen der Insel Riannu und der Reiche südlich und östlich des Meeres, alle ordentlich aufgerollt und beschriftet. In den Reihen dahinter fand er Schriften zu den Königsfamilien der Fünf Reiche sowie zur Familie der Hochkönige in Taira.

»Warum gibt es hier keine Bücher über die Irshari?«, hörte er eine helle Kinderstimme fragen. »Sind sie nicht so alt wie unsere Könige?«

Er blickte sich um und sah einen kleinen Jungen mit hellgrünen Augen an der Hand eines grauhaarigen Mannes durch die Reihen gehen. Zolan wollte auf seinen Ziehvater zustürzen, doch seine Füße schienen festgewachsen zu sein.

Manglon legte einen Finger an seine Lippen, dann flüsterte er zur Antwort: »Die Irshari sind sogar noch älter. Sie haben schon auf Riannu gelebt, bevor die ersten Duaide kamen. Aber das war lang vor dem großen Krieg und seitdem wurden all ihre Bücher verbrannt.«

Das Kind machte große Augen. »Warum?«

Manglon wandte seinen Blick von dem Jungen ab und sah zu Zolan. Seine Miene sah ernst aus und sehr traurig. »Ich weiß es nicht. Vielleicht wirst du es irgendwann herausfinden. Mir bleibt dafür keine Zeit mehr.«

Das Licht begann zu flackern, Funken regneten von der Decke und den Regalen herab und die Bücher fingen Feuer. Flammen hüllten den alten Mann ein.

Dann fiel Zolan. Fiel durch grenzenlose Dunkelheit, die ihn verhöhnte und ihm zuflüsterte, wie allein er war. Allein und klein und kalt und hilflos. Und er konnte nichts tun als sich zu einem Ball zusammenzurollen und darauf zu warten, dass die Dunkelheit ihn endgültig verschlang.

Stattdessen trieb eine andere Erinnerung heran und sanfte Augen blickten auf ihn herab. Moosgrün und durchsetzt mit kleinen, goldenen Funken. Warme Arme legten sich um seinen Körper, schmiegten sich an ihn und hielten ihn fest. Da verstummte das grausame Flüstern, die Dunkelheit zerfloss und mit ihr die schönen grünen Augen.

Zitternd setzte Zolan sich in der Höhle im Wald auf. Die Wolfshunde wandten ihm ihre Köpfe zu, dann erhob sich einer und kam zu ihm herüber getrottet. Es war das Weibchen, Duna, die mit einem leisen Winseln seine Hände leckte.

»Nur eine Erinnerung«, flüsterte er ihr zu. Sie ließ sich neben ihm nieder und Zolan vergrub dankbar sein Gesicht in ihrem warmen Fell. Er war froh, dass der Irshari neben ihm nicht aufgewacht war und somit nicht hören konnte, wie er sich in den Schlaf weinte.

 

Das nächste Mal erwachte Zolan nach Tagesanbruch. Ima packte bereits seine Habseligkeiten zusammen. Als er merkte, dass sein Gast wach war, nickte er zur Kochstelle. »Es gibt frischen Tee und Reste vom Abendessen. Trödel nicht zu lange, ich möchte heute Abend gern eine Höhle erreichen, die einen besseren Unterschlupf bietet als dieser Ort hier.« Er betrachtete abschätzig Zolans verbrannte Kutte, die sich langsam aber sicher in Fetzen auflöste, und warf ihm ein Bündel Kleidung zu. »Das hier sollte dir passen.«

Dann verfiel der Irshari in Schweigen und Zolan war zu verwirrt, um etwas zu sagen. Er streifte die Reste seiner Novizenkutte ab und schlüpfte schnell in ein Paar einfache Hosen, ein Leinenhemd und eine warme Wolltunika. Auch den langen Mantel legte er sich um die Schultern. Die Kleidung war ihm ein wenig zu groß, aber das störte ihn nicht.

Er beschwerte sich auch nicht, als Ima ihm kommentarlos einen der Schultersäcke reichte, in denen er Kochgeschirr und Bettrollen verstaut hatte.

Sie verließen die Lichtung in die Gegenrichtung, aus der Zolan tags zuvor gekommen war. Er fühlte sich steif und kraftlos und hätte gerne noch länger am Feuer geschlafen. Da er aber auf keinen Fall allein im Wald liegen bleiben wollte, trottete er dem fremden Mann hinterher und konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Die Erschöpfung kroch von seinen steifen Gliedern in seinen Kopf und lähmte Zolans Gedanken. Er blieb stehen, wenn Ima ihm ein Zeichen gab, er bog ab oder machte kehrt, wenn Ima es tat und er rastete, als Ima ihn dazu aufforderte. Immerhin hatte er keine Angst, dazu kam ihm die ganze Wanderung zu unwirklich vor. Beim Anblick von tiefen Kratzspuren an einem Stamm spürte er nur eine Art dumpfe Neugier. Sie waren fingertief in die Rinde gegraben und eine Weile beschäftigte er sich mit der Frage, wie groß die Kralle gewesen sein musste, die sie hinterlassen hatte. Doch bald verlor er sein Interesse wieder und versank in träger Gedankenlosigkeit.

Als Ima stehen blieb, lief er fast in ihn hinein. Mühsam hob Zolan den Kopf und nahm zum ersten Mal seine Umgebung wieder richtig wahr. Der Bachlauf, dem sie seit einer Weile folgten, machte hier eine Biegung um einen kleinen Hügel, an dessen Hang der schmale Eingang einer Höhle zu erkennen war.

Zolan wollte darauf zugehen, doch Ima legte ihm warnend eine Hand auf die Schulter. Gemeinsam beobachteten sie, wie Duna und Sargas sich mit prüfend erhobenen Nasen dem Erdspalt näherten und darin verschwanden. Erst als sie mit wedelnden Schwänzen wieder am Eingang erschienen, folgten die Menschen.

Während Zolan die Bettrollen ausbreitete, hob Ima eine kleine Mulde aus und entfachte darin ein Lagerfeuer. Das lebhafte Knistern der jungen Flammen, die über trockenes Laub und Zweige kletterten, weckte Zolan lang genug aus seiner Lethargie, um nicht umgehend unter eine Decke zu kriechen und liegenzubleiben. Stattdessen ließ er sich von Ima zeigen, wo er Tee und einen kleinen Kessel finden konnte.

Geduldig wartete Zolan, bis das Wasser heiß wurde und sah dem Irshari zu, der mit geübten Handgriffen ein Kaninchen ausnahm und häutete. Zolan wusste nicht einmal, wann Ima das Tier gefangen hatte.

Das Feuer neben ihm bat um Holz und gehorsam legte Zolan zwei dickere Äste an eine Stelle, an der die Flammen sie leicht erreichen konnten. Er freute sich, als kleine Feuerarme sich über das Holz reckten und heller leuchteten. Dann runzelte er die Stirn.

»Du hast mir geholfen, einen Menschen zu töten«, murmelte er so leise, dass nur das Feuer ihn hören konnte. »Ich sollte dich eigentlich fürchten oder verabscheuen. Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich den Inquisitor noch immer hasse und dich noch immer liebe?«

Das Feuer wusste nicht, wovon er sprach. Es war gerade erst geboren worden und kannte nur den Waldboden, den abendlichen Wind und das leicht feuchte Holz, das Zolan ihm zu fressen gegeben hatte.

 

7.

 

Sobald Maris sich an die Geschwindigkeit ihres neuen Kampfmeisters gewöhnte, ging sie wieder dazu über, abends länger als die anderen auf den Übungshöfen zu bleiben und erst spät nachts völlig erschöpft ins Bett zu fallen. Das hielt unerwünschte Träume fern und hatte außerdem den Vorteil, dass sie im Badehaus und beim Abendessen kaum jemanden antraf.

Sie versuchte, die Tuscheleien und argwöhnischen Blicke der anderen Mitglieder aus Meister Tridans Gruppe zu ignorieren. Trotzdem bohrten sich die fortwährenden Gehässigkeiten wie Dornen in ihr Bewusstsein und Maris konnte nichts anderes tun, als sie klaglos über sich ergehen zu lassen. Sie wusste aus Erfahrung, dass sie nur durchhalten musste, bis vor allem der Steinmagierin langweilig werden würde. Vor dem Meister konnte Ladis ohnehin nicht viel tun, aber es gelang ihr oft genug, wie zufällig neben Maris zu stehen und sie bei einer komplizierten Schrittfolge zum Stolpern zu bringen.

Ein anderes Mal entdeckte Maris frustriert, dass jemand in der Umkleide Wasser über ihre Kleidung gegossen hatte. Da es zu spät war, noch einmal nach Hause zu laufen, blieb ihr nichts anderes übrig, als die nächsten Stunden in nassen Kleidern zu verbringen.

Meister Tridan runzelte die Stirn, als er sie so sah, doch Maris wich seinem Blick aus und er fragte nicht weiter. Stattdessen ließ er die Gruppe einen Klippenweg entlanglaufen, der gerade hoch genug lag, dass die wütend heran spülenden Wellen ihnen nicht die Füße unter dem Leib wegrissen.

Bald waren alle von der Gischt durchnässt und zitterten und schwitzten zugleich in der kalten Luft. Als der Meister sie endlich wieder nach drinnen beorderte, schenkte Maris ihm ein flüchtiges Lächeln. Sie war sich nicht sicher, ob er es bemerkte. Er ließ sich auch nicht anmerken, ob eine Stunde am Strand von Anfang an sein Plan gewesen war oder er diese Entscheidung erst beim Anblick ihrer nassen Kleidung getroffen hatte.

Meister Tridan gehörte zu den wenigen Menschen, die Maris nur schwer einschätzen konnte und sie liebte ihn dafür. So weit sie zurückdenken konnte, hatte sie noch nie ein Lächeln auf seinem Gesicht gesehen oder ein Lob aus seinem Mund gehört, aber seinen scharfen Augen entging so gut wie nichts.

Ohne seine Gegenwart hätte Maris die Gruppe vielleicht sofort wieder verlassen, vor allem, weil Kayos Schweigen ihr Sorgen bereitete. Seit ihrem Sieg über ihn in der ersten Stunde gingen sie einander aus dem Weg und doch spürte Maris, dass er sie beobachtete und der Ärger in ihm sogar zunahm.

Maris versuchte, ihn aus ihren Gedanken zu verdrängen, was ihr umso schwerer fiel, da seine innere Zerrissenheit eine für sie beinahe körperlich wahrnehmbare Intensität erreicht hatte. Äußerlich wirkte er so gelassen wie immer, während er mit seinen Freunden übte oder mit einem hübschen Mädchen flirtete. Doch für Maris fühlte sich jede seiner Bewegungen und jedes anzügliche Zwinkern an, als würden wütende Hunde sich in ihrem Bewusstsein verbeißen.

»Mach dir keine Hoffnungen«, flüsterte eine leise Stimme an ihrem Ohr. Maris riss ihren Blick von Kayo los und fuhrzu Ladis herum. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht einmal gemerkt hatte, wie die Ältere sich an sie heranschlich.

Schnell trat Maris einen Schritt nach hinten. »Hoffnungen worauf?«

Ladis bleckte die Zähne in einem breiten Grinsen. »Kayo wird meine Schwester Aranya heiraten. Unsere Familien haben gestern die Verhandlungen aufgenommen. Jemand wie du hat bei ihm keine Chance.«

Maris runzelte die Stirn. »Was interessiert mich das?«, entgegnete sie und ließ Ladis stehen. Wider Willen dachte sie darüber nach, ob Kayos Eltern ihn wohl nach seinen Wünschen gefragt hatten oder das alles ohne ihn entschieden wurde.

 

8.

 

Auch in dieser Nacht träumte Zolan von seinem Ziehvater und wieder war es die Wolfshündin Duna, die ihn tröstete.

Als sie sich im Morgengrauen von seiner Seite löste, krochen Frost und feuchter Nebel in Zolans Bettzeug. Zitternd rollte er sich unter seiner Decke zu einer Kugel zusammen. Er hasste Kälte. Unwillkürlich streckte er sein Bewusstsein aus, bis er die Glut des Lagerfeuers erreichte.

Ima musste das Feuer am Abend gut gefüttert haben, denn noch immer leckten kleine Flammen über einen dicken Ast und knabberten an verkohlten Zweigen. Bei seiner Berührung flammten sie freundlich auf, dann floss ihre Wärme in seinen Körper. Seine Glieder entspannten sich langsam und Zolan seufzte wohlig. Erst als er von der Nase bis in die Zehenspitzen warm war, bedankte er sich still beim Feuer und brach die Verbindung ab.

»Was für ein nützlicher Trick«, kommentierte eine Stimme. Erschrocken setzte Zolan sich auf. Ima stand nicht weit von ihm, eine Ladung Feuerholz auf den Armen, und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Einen Moment lang starrten beide sich bewegungslos an, dann legte der Irshari das Holz an eine trockene Stelle im hinteren Teil der Höhle. »Wenn du schon mal wach bist, mach dich nützlich, ja? Wir brauchen Wasser.«

Zolan war zu verwirrt, um zu widersprechen. Wortlos ergriff er den Kessel, den Ima ihm reichte, und ging zum Bach. Konnte der Irshari gesehen haben, wie Zolan nach dem Feuer griff? Das war unmöglich. Zolan hatte seinen Körper dabei nicht bewegt, nicht einmal die Augen geöffnet. Manglon hatte als Einziger von dem Feuerfluch gewusst und selbst er hatte es nie bemerkt, wenn Zolan sich die Wärme der Flammen borgte. Bei dem Gedanken an seinen Ziehvater zog sich Zolans Brust schmerzhaft zusammen. Er sah ihn wieder vor sich liegen, den Oberkörper quer über das schmale Bett gebreitet, die Augen mit diesem leeren, ungläubigen Ausdruck geöffnet. Das Blut war bereits geronnen. So viel Blut.

Zolan schüttelte sich heftig und zwang sich, die Erinnerung zu verdrängen, während er den Kessel ins Wasser tauchte und zum Lager zurückkehrte. Ima hatte inzwischen das Feuer geschürt und den restlichen Tee vom Vorabend erwärmt. Nun bereitete er mit dem frischen Wasser einen Haferbrei zu.

Zolan hatte nichts weiter zu tun, als ihm gemeinsam mit den Wolfshunden bei der Arbeit zuzusehen. An den routinierten Handgriffen war leicht zu erkennen, dass Ima es gewohnt war, über einem Lagerfeuer zu kochen.

Zolan musste lächeln. Im Tempel gab es selten zwei warme Mahlzeiten pro Tag, jedenfalls nicht für die Novizen. Hier, mitten im Schattenwald, am Lagerfeuer eines fremden Mannes von einem anderen Volk, bekam er besseres Essen als in all den Jahren im Tempel. Irgendwie ließ diese Erkenntnis Zolans Misstrauen immer weiter schwinden.

Wie dumm, dachte er. Ich lasse mich einfach mit Essen kaufen. Doch er konnte nichts dagegen tun. Es war schwierig, eine Gefahr in einem Mann zu sehen, der ihm Nahrung und einen warmen Schlafplatz gab und so liebevoll mit seinen Hunden umging, auch wenn diese Hunde so groß waren wie junge Bären.

Ima füllte beide Schalen, reichte eine an Zolan weiter und lehnte sich an den Eingang der Höhle, um wortlos zu essen. Zolan stocherte unsicher in seinem Essen herum. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. »Willst du mich denn nichts fragen?«

Selbst ein Irshari musste doch mehr über einen fremden Jungen wissen wollen, der mitten im Schattenwald einfach so in sein Lager gestolpert kam. Doch Ima zuckte nur mit den Schultern.