Richard Wagner - Martin Geck - E-Book

Richard Wagner E-Book

Martin Geck

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Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Richard Wagner und seinem Werk widerfahren bis heute unkritische Verehrung und schroffe Ablehnung. Einem Leben voller Brüche und verwirrender Episoden mit Frauen, Künstlern und Königen entspricht die Phantasmagorie eines Gesamtkunstwerks, das zwischen Maßlosigkeit und Askese, Sinnlichkeit und Gedankentiefe, Revolution und Regression changiert. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Martin Geck

Richard Wagner

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Von Leipzig nach Paris: 1813–1839Von Paris nach Dresden: 1839–1849Von Dresden nach München: 1849–1864Von München nach Bayreuth: 1864–1872Von Bayreuth in die Welt: 1872–1883Diskussionen ums WerkZeittafelZeugnisseAbkürzungsverzeichnisVerzeichnis der musikalischen Werke1. Opern und musikalische Dramen2. Unvollendete Opern, nicht vertonte Textbücher und Bühnenstücke3. Schauspielmusiken4. Weitere Orchesterwerke5. Klaviermusik6. Chormusik7. KlavierliederBibliographie1. Werkverzeichnis, Gesamtausgaben, Briefe, Tagebücher, frühe Kritiken, Reihen2. Handbücher, Bilddokumentationen3. Traditionelle und neue Gesamtdarstellungen zu Leben und Werk4. Schriften zu den Musikdramen, vor allem zum «Ring des Nibelungen»5. Neuausgaben der theoretischen Schriften[Über Martin Geck]
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Von Leipzig nach Paris: 1813–1839

Gegen Wagner bekommt man leicht zu sehr Recht», meinte einer, der es wissen musste, weil er ihm in Liebe und Hass gleich nahe war: Friedrich Nietzsche.[1] Wirklich ist es leicht, an Richard Wagner Selbstvergottung, Besserwisserei und Abhängigkeit vom Luxus zu kritisieren oder die Stabreime seiner Dichtungen zu bespötteln. Und gar der Antisemitismus: ein offenes Scheunentor! Lässt sich das aufrechnen gegen den anderen Wagner: den Philosophen, Mythenschöpfer, Dichter und Komponisten?

Zwar heißt es beim selben Nietzsche, Wagner habe das Sprachvermögen der Musik ins Unermessliche vermehrt.[2] Doch auch das ist ein zwiespältiges Lob, hat er doch laut Nietzsche der Musik die Zunge nur gelöst, um ihr alsbald die Glieder zu brechen.[3] Eines ist sicher: Unter den grellen Tätowierungen der Haut verbirgt der Klangkörper von Wagners Musik ein Gewebe, dessen Zellen ein Universum spätbürgerlicher Befindlichkeit gespeichert haben. Wagner – das sind wir selbst.

*

Das Geburtsjahr 1813 lässt sich gut merken: Es erinnert an die Befreiungskriege, die den verbündeten europäischen Mächten den Sieg über Napoleon bescheren. Als Wilhelm Richard Wagner am 22. Mai in Leipzig auf dem Brühl im «Rot und Weißen Löwen», zwei Treppen hoch, zur Welt kommt[4], hallt dort noch der Lärm aus der Schlacht bei Bautzen nach; und auch in den folgenden Monaten wird die Stadt nicht zur Ruhe kommen.

Möglicherweise deshalb findet die Taufe erst am 16. August statt – in der Thomaskirche Johann Sebastian Bachs. Mit diesem und einem weiteren Großen aus dem sächsisch-thüringischen Raum, Martin Luther, teilt der kleine Richard die Rolle eines Benjamins: Hat er die beiden Protestanten auch deshalb unter seine geistigen Väter gerechnet? Als reale Paten verzeichnet das Taufbuch den Obergerichts- und Konsistorialrat Dr. Wilhelm Wiesand, den Kaufmann Adolf Träger sowie die Jungfern Juliane Schöffelin und Luise Mohl.

Zwei weitere bedeutende Männer sind im Jahr 1813 geboren: Giuseppe Verdi und Georg Büchner. Vom großen Antipoden nahm Wagner trotz seiner zahlreichen Italien-Aufenthalte zeitlebens kaum Notiz: Beiläufige Äußerungen haben meist einen herablassenden Ton. Vom hessischen Sozialrevolutionär wäre Wagner, wenn er ihn gekannt hätte, vermutlich beeindruckt gewesen. Doch als Büchner 1837 im Zürcher Exil starb, war Wagner dort noch gar nicht angekommen.

Die Mutter Johanna Rosine (1778–1848), eine Bäckertochter, ist an Dichtung, Musik und Malerei interessiert. Zwar warnt sie alle Kinder vor dem gottlosen Theaterwesen, jedoch mit so wenig Überzeugungskraft, dass vier der sechs älteren Geschwister Richards eine Bühnenlaufbahn einschlagen. Rosalie wird einmal das Gretchen in der ersten Leipziger Aufführung des «Faust» geben, Klara als erst Sechzehnjährige die Hauptrolle in Rossinis «Cenerentola» singen, Rosalie mit siebzehn Jahren diejenige in Webers «Preziosa». Der ältere Bruder Albert hat an der Dresdner Hofoper Erfolg, unter anderem in den Mozart-Rollen des Tamino und des Belmonte.

Den Vater Friedrich Wagner (1770–1813) soll man nicht nach seiner Dienststellung als Polizeiaktuar beurteilen. Er stammt aus einer Familie von Lehrern, ist studierter Jurist und Mitglied eines Leipziger Liebhabertheaters. Obwohl er Goethe, Schiller und E.T.A. Hoffmann aus der Nähe kennt, vermag er mit seinem Bruder Adolf allerdings nicht mitzuhalten: Dieses stadtbekannte Original ist Doktor der Philosophie, Übersetzer des Sophokles und stolzer Besitzer eines silbernen Bechers, den ihm Goethe als Dank für die Widmung einer Sammlung italienischer Gedichte geschenkt hat. Der junge Richard lauscht, wie es in Mein Leben heißt, den Ergüssen seines Onkels mit Begeisterung; auch lässt er sich auf ausgedehnten Spaziergängen den Shakespeare rezitieren.

Dass Friedrich Wagner schon ein halbes Jahr nach Richards Geburt an Typhus stirbt, beeinträchtigt die kunstfreundliche Atmosphäre im Elternhaus in keiner Weise. Denn schon bald, im August 1814, heiratet Johanna Rosine einen engen Freund ihres ersten Mannes, Ludwig Geyer (1779–1821). Dieser als freundlich und gütig geschilderte Mann hat sich als Schauspieler und Stückeschreiber einen Ruf erworben; inzwischen betreibt er mit Erfolg die Porträtmalerei.

Richard Wagner hat die Frage, ob Geyer als sein leiblicher Vater in Frage komme, nicht eindeutig verneint: Augenscheinlich wäre ihm dieser Gedanke nicht unsympathisch gewesen. Interessanterweise übernimmt er vom Stiefvater das Barett und – für den Privatdruck von Mein Leben – den Geier als Wappentier. Jenseits unergiebiger Spekulationen ist es wichtig zu wissen, dass Geyer einen offenbar liebevollen und verlässlichen Ersatzvater abgibt und damit die Launen der Mutter ausgleicht. Wagner spricht von ihrem drolligen Humor, bemerkt in Mein Leben aber auch: Der sorgenvoll aufregende Umgang mit einer zahlreichen Familie ließ nicht jenen behaglichen Ton mütterlicher Familienzärtlichkeit bei ihr aufkommen; ich entsinne mich kaum je von ihr liebkost worden zu sein, wie überhaupt zärtliche Ergießungen in unsrer Familie nicht stattfanden; wogegen sich ein gewisses, hastiges, fast heftiges, lautes Wesen sehr natürlich geltend machte.[5]

Ohne frühkindliche Prägungen zur Ursache späterer künstlerischer Grundeinstellungen hochstilisieren zu wollen, darf der Biograph in diesem konkreten Fall dem Gedanken nähertreten, dass Wagner die Sehnsucht nach einer verlässlichen Bezugsperson auf viele seiner weiblichen Bühnengestalten übertragen hat: Senta, Elisabeth, Sieglinde, Brünnhilde, Isolde und Kundry – sie alle variieren den Typus der Frau, die vorbehaltlos in ihrem männlichen Partner aufgeht. Umgekehrt haben auffällig viele männliche Personen mit ihrer Mutterbindung zu kämpfen. Das gilt ersichtlich für Siegfried und Parsifal, unterschwellig auch für Figuren wie Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, Siegmund oder Tristan: Alle neigen dazu, Gatten- mit Mutterliebe zu verwechseln oder in ein bestehendes Eheverhältnis einzudringen.

 

Wir kehren zurück zum jungen Wagner, der seit Ende 1814 mit seiner Familie in der Dresdner Moritzstraße lebt. Dort gibt er sich mit gewöhnlichen Jungenbeschäftigungen ab – zum Beispiel mit einer Kaninchenzucht, die erst ihr Ende findet, als die Mutter durch das Poltern der Tiere in der Kommode aufmerksam wird.[6] Doch entscheidender sind offenkundig theatralische Erlebnisse. Im Januar 1873 und noch einmal im Dezember 1880 erinnert er sich in Gegenwart Cosimas, dass «er mit 5 Jahren den Piccolo-Flöten-Triller des Kaspar, da er nicht singen konnte, mit Perrbip nachgemacht habe, auf einen Stuhl gestiegen sei, als Samiel herübergeguckt habe über ein imaginäres Gebüsch und ‹Perrbip, Perrbip› gesagt» habe.[7] Zwar kann der «Freischütz» realiter erst dem etwa Siebenjährigen begegnet sein; doch sicherlich ist Wagner mit Größen wie Weber schon früh in Berührung gekommen. Ja wenn ich die Eindrücke der Weber’schen Sache nicht gehabt hätte, ich glaube, ich wäre nie Musiker geworden, meint er am 30. Oktober 1873.[8]

Zunächst überwiegt die Lust am Theater schlechthin. Was mich […] beim Besuch des Theaters, worunter ich auch die Bühne, die Räume hinter den Kulissen und die Garderobe verstehe, lebhaft anzog, war weniger die Sucht nach Unterhaltung und Zerstreuung, wie beim heutigen Theaterpublikum, sondern das aufreizende Behagen am Umgang mit einem Elemente, welches den Eindrücken des gewöhnlichen Lebens gegenüber eine durchaus andere, rein phantastische, oft bis zum Grauenhaften anziehende Welt darstellte. […] Und während ich mit Altersgenossen Aufführungen des «Freischütz» nachzuahmen suchte und mit großem Eifer hierbei mich der Herstellung der Kostüme und Gesichtsmasken durch groteske Malerei hingab, übten die zarteren Garderobengegenstände meiner Schwestern, mit deren Herrichtung ich die Familie häufig beschäftigt sah, einen fein erregenden Reiz auf meine Phantasie aus; das Berühren derselben konnte mich bis zu bangem, heftigem Herzschlag aufregen. Trotzdem daß, wie ich erwähnte, in unserem Familienverkehr keine, namentlich in Liebkosungen sich ergehende Zärtlichkeit herrschte, mußte doch die stets nur weibliche Umgebung in der Entwicklung meines Empfindungswesens mich stark beeinflussen.[9]

Nietzsches Beobachtung, Wagner sei «in alten Tagen durchaus femini generis» gewesen[10], sollte man vor diesem biographischen Hintergrund keinesfalls nur negativ deuten: Durch die Ersatzmütter Thalia und Melpomene findet der Junge den Weg zu seiner Kunst, die ihre weiblichen Anteile nicht verstecken muss. Auch wenn er kein gesteigertes Verlangen nach Seide, Pelz und erlesenem Duft spürte, hätte der Goethe des «West-östlichen Divans» Wagner gewiss verstanden. Die Rede vom Fetischismus führt hier ebenso wenig weiter wie im Fall des Opiums, das vielen Künstlern des 19. Jahrhunderts unentbehrlich war: Wagners Leben hat sich nicht in unproduktiven Süchten und Sehnsüchten erschöpft, vielmehr als Basis für ein imponierendes Lebenswerk gedient. Dass es zu dessen Verwirklichung mancher Stimulanzien bedurfte, ist erwähnenswert, jedoch nicht nachträglich zu verurteilen.

Bald macht der kleine Richard eigene Bühnenerfahrungen: Nachdem mich «Die Waise und der Mörder», «Die beiden Galeerensklaven», und ähnliche Schauerstücke, in welchen ich meinen Vater [Geyer] die Rollen der Bösewichter spielen sah, mit Entsetzen erfüllt hatten, mußte ich selbst einige Male mit Komödie spielen. […] Ich entsinne mich, bei einem lebenden Bilde als Engel ganz in Trikots eingenäht, mit Flügeln auf dem Rücken, in schwierig eingelernter graziöser Stellung figuriert zu haben.[11]

Als Fünfzehnjähriger vollendet er sein erstes Theaterstück: das Trauerspiel LeubaldWWV 1. Laut Mein Leben orientiert er sich an der pathetischen und humoristischen Kraftsprache Shakespeares und lässt im Verlauf des Stückes 42 Menschen zu Tode kommen.[12] In Wahrheit sind es nur vierzehn; doch auch diese Zahl rechtfertigt die Prophezeiung der Hexe im 5. Aufzug: Eh’ ihr nicht todt, Schließt nicht die Noth![13] Das bei aller Wirrheit talentierte Stück sollte einmal als Satyrspiel in den Zwischenakten eines Bayreuther Rings aufgeführt werden! Übrigens ist es unvertont geblieben, obwohl Wagner während seiner Arbeit an der Götterdämmerung einmal scherzte: Ach! ich bin kein Komponist, nur so viel wollt ich erlernen, um Leubald und Adelaide zu komponieren.[14]

WWV ist die Abkürzung für das 1986 erschienene «Wagner Werk-Verzeichnis». Man sollte nicht glauben, dass Wagners «Köchel» 607 Seiten umfasst. Jedoch dokumentiert es nicht nur Entstehung und Quellenlage der bekannten Bühnenwerke, sondern berücksichtigt auch alle anderen Werke, die Wagner komponiert oder zum Zweck der Vertonung gedichtet hat. Das sind insgesamt 113 gezählte Nummern. Dazu kommen einige Widmungen und Scherze – wie zum Beispiel eine drei Takte lange Melodie über die Worte «Cosima! Cosima! Wie hast du geschlafen?»

Tatsächlich scheint dieser jugendliche Wunsch eine entschiedenere Hinwendung zum musikalischen Handwerk bewirkt zu haben, wie sie ab 1828 festzustellen ist. Wichtiger dürfte freilich Wagners Begegnung mit den Sinfonien Beethovens gewesen sein. Vor allem die «Siebte» beeindruckt ihn tief: In mir entstand bald ein Bild erhabenster überirdischer Originalität, mit welcher sich durchaus nichts vergleichen ließ. Dieses Bild floß mit dem Shakespeares in mir zusammen: in ekstatischen Träumen begegnete ich beiden, sah und sprach sie; beim Erwachen schwamm ich in Tränen.[15] Vermutlich war er der Überzeugung, der Geist des kurz zuvor gestorbenen Komponisten sei unmittelbar auf ihn übergegangen und habe seine Musikerkarriere inauguriert.[16] Jedenfalls heißt es später, in Bayreuther Zeit: Ich hätte nicht komponieren können, wie ich es getan habe, wenn Beethoven nicht gewesen wäre.[17]

1829 verschafft sich Wagner eine Abschrift von Beethovens spätem Streichquartett Es-Dur op. 127. Danach kopiert er dessen Sinfonien und diejenigen anderer Komponisten; einen selbstgefertigten Klavierauszug der «Neunten Sinfonie» bietet er – vergeblich – den Verlegern Breitkopf & Härtel an.

Möglicherweise ist schon dem Sechzehnjährigen ein Auftritt der Wilhelmine Schröder-Devrient als Fidelio zum großen Schlüsselerlebnis geworden. Vielleicht hat Wagner auch erst durch eine Aufführung von Vincenzo Bellinis «I Capuleti e i Montecchi» fünf Jahre später zu «seiner» Sängerin gefunden, die er ob der Dämonie ihres Ausdrucks als einen Paganini der Gesangskunst erlebt.

Als musikalisches Dreigestirn, das Wagner den Weg gewiesen hat, darf man Weber, Beethoven und Bellini nennen. Weber führt ihn in die Zauberwelt der deutschen romantischen Oper ein, Beethoven erscheint ihm als leidenschaftlicher Streiter für das Ideenkunstwerk, Bellinis Opern haben hinreißende Italianità: Ich habe davon gelernt, was die Herren Brahms & Cie. nicht gelernt haben, und was ich in meiner Melodie habe.[18]

1827 wird Richard Wagner Schüler des Nikolaigymnasiums in Leipzig, wo die Familie inzwischen wieder zu Hause ist. Aus den Jahren 1829 und 1830 stammen die ersten, größtenteils verschollenen Kompositionen WWV 2 bis WWV 15, vermutlich Frucht des Unterrichts in Harmonielehre beim Musiker Christian Gottlieb Müller. Einige Fugenversuche aus dem Winterhalbjahr 1831/32 belegen, dass Wagner nunmehr solideren Unterricht beim Thomaskantor Christian Theodor Weinlig genießt. In rascher Folge entstehen neben einigen Klavierwerken die Orchesterouvertüren WWV 20, 24, und 27. Am Ende dieser Phase steht die C-Dur-Sinfonie WWV 29, welche immerhin alsbald der Aufführung im Gewandhaus als würdig erachtet wird.

Obwohl Wagner damals erst neunzehn Jahre zählt, hat er sich selbst als Spätentwickler eingeschätzt und rückblickend bemerkt, noch die 1834/35 komponierte Columbus-OuvertüreWWV 37 zähle zu den Plagiaten seiner Jugend und sei nach dem Vorbild von Mendelssohns «Meeresstille und glückliche Fahrt» geschrieben.[19] Solcherart Distanzierung hat wohl vor allem mit der Einsicht zu tun, damals weniger der eigenen Sendung als dem Musikmarkt gefolgt zu sein – im heimischen Umfeld übrigens keineswegs erfolglos.

Hinter der künstlerischen bleibt die schulische Bildung zurück. In der 1835 begonnenen Lebensskizze aus der großen roten Brieftasche heißt es für die Zeit zwischen Neujahr 1828 und Sommer 1831: Vernachlässigung der Schule. – Sommer 1829 allein in Leipzig. Lasse Alles liegen, treibe nur Musik ohne Unterricht. – Schulzwang. – Werde lüderlich. – Abgang von der Nikolaischule. Privatisiere. – Thomasschule. – Universität. Lüderlich. – Faro-spielen. Schlimme, lüderliche Zeit im Sommer.[20] Zu guter Letzt kann Wagner die Schule mit dem Vermerk «Studiosus Musicae» verlassen – eine Hochschulqualifikation zweiter Güte.[21]

Doch was besagt die offizielle Schullaufbahn gegenüber dem individuellen Bildungsweg! In der Dresdner Kreuzschule ist Wagner Liebling des jungen Magisters Sillig[22], welcher den Zwölf- bis Vierzehnjährigen ermutigt, auf den Spuren des Pausanias ein großes episches Gedicht über die Schlacht am Parnassos zu schreiben, Teile der «Odyssee» zu übersetzen und Hamlets Monolog vom Katheder herab zu rezitieren. In Leipzig nimmt Wagner sogar Privatunterricht im Griechischen, um den Sophokles lesen zu können. Bei seinem Schwager Friedrich Brockhaus – dem Lexikon-Brockhaus – verdient er sich 8 Groschen pro Bogen mit der Korrektur der neu bearbeiteten «Weltgeschichte für Kinder und Kindeslehrer» Karl Friedrich Beckers: Nun lernte ich zum ersten Male das Mittelalter und die französische Revolution genauer kennen, da in die Zeit meiner Korrekturarbeiten gerade der Druck derjenigen beiden Bände fiel, welche diese verschiedenen Geschichtsperioden enthielten.[23]

Von den Korrekturen zur Lektüre der Leipziger Extrablätter überwechselnd, ist Wagner ganz konkret mit der Pariser Juli-Revolution des Jahres 1830 befasst: Mit Bewußtsein plötzlich in einer Zeit zu leben, in welcher solche Dinge vorfielen, mußte natürlich auf den siebzehnjährigen Jüngling von außerordentlichem Eindruck sein. Die geschichtliche Welt begann für mich von diesem Tage an; und natürlich nahm ich volle Partei für die Revolution, die sich mir nun unter der Form eines mutigen und siegreichen Volkskampfes, frei von allen den Flecken der schrecklichen Auswüchse der ersten französischen Revolution, darstellte.[24]

Nachdem es auch in Sachsen zu Unruhen gekommen war, entwirft Wagner die vermutlich Beethoven nachempfundene, allerdings verlorengegangene politische OuvertüreWWV 11, deren Einleitung einen düstren Druck schilderte, in welchem dann ein Thema sich bemerklich machte, unter das ich zu deutlicherem Verständnis die Worte «Friedrich und Freiheit» schrieb: dieses Thema war bestimmt, sich immer größer und herrlicher bis zum vollsten Triumphe zu entwickeln.[25] Als es in Leipzig losgeht, klopft ihm das Herz in unglaublicher Erregtheit[26]. Fasziniert von dem rein Dämonischen solcher Volkswutanfälle, nimmt er an der Erstürmung eines Bordells teil, über das eine unbeliebte Magistratsperson ihre schützende Hand hält. Am nächsten Morgen wacht er auf wie aus einem wüsten Traum […] mit dem Fetzen eines roten Vorhanges[27].

Es wäre falsch, die politische Substanz dieser kleinen Exzesse zu bagatellisieren. Vielmehr ist Wagner ein echtes Kind des Vormärzes: In den Kanonendonner der Befreiungskriege hineingeboren, fühlt er mit den vielen Freiwilligen, die ihre Fürsten vom Joch der napoleonischen Herrschaft befreit haben, nun aber vergeblich auf die Früchte ihres Tuns warten. Statt Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen Willkür, Repression und Zensur – davon wissen auch Komponisten wie Beethoven, Schubert, Liszt und Schumann ein Lied zu singen.

Wagner, der Jüngste in dieser Reihe, wird fast zwangsläufig in eine Gegenströmung getrieben, die als «Junges Deutschland» auftritt, politischen Fortschritt zwar vor allem im Medium von Kunst und Kultur propagiert, dennoch den Herrschenden so gefährlich erscheint, dass sie den Wortführer Heinrich Laube zeitweilig in Haft nehmen. Wagner fühlt sich zu dem späteren Direktor des Wiener Burgtheaters hingezogen und beliefert dessen «Zeitung für die elegante Welt». 1833 schlägt Laube dem Freund seinerseits eine Oper über den polnischen Freiheitshelden Tadeusz Kosciuszko vor; doch in dieser Lebensphase kann Wagner zwar die zwei Polonaisen WWV 23 zu Ehren der durchs Land ziehenden Exilpolen komponieren, aber noch keine heroische Oper. Gleichwohl versteht er sich wie der junge Liszt als politischer Künstler.

Von der Möglichkeit zu einem Universitätsstudium macht Wagner nur wenig Gebrauch – welche Fächer soll er auch als «Studiosus Musicae» belegen? Schon als Neunzehnjähriger zieht er nach Würzburg, um auf Vermittlung seines Bruders an der Oper zu volontieren. Das Projekt einer tragischen Oper mit dem Titel Die HochzeitWWV 31 lässt er liegen, da Schwester Rosalie, seine potenzielle Fürsprecherin am Leipziger Hoftheater, für das schauerliche Libretto nicht zu gewinnen ist. Stattdessen entstehen im Lauf des Jahres 1833Die FeenWWV 32 nach Carlo Gozzis dramatischem Märchen «La donna serpente». Obwohl Wagner nicht ohne Anleihen bei großen Vorgängern auskommt[28], zeigt er beachtliche Qualitäten im Umgang mit ‹schwarzer› Romantik, die sich vor allem in pikanter Harmonik niederschlagen. Züge formaler Biederkeit und stilistischer Beliebigkeit teilt der Zwanzigjährige mit besser etablierten Komponisten dieses Genres.

Eine Aufführung der Feen kommt nicht zustande; stattdessen schreibt Wagner Das Liebesverbot oder Die Novize von Palermo, eine große komische Oper nach Shakespeares «Measure for Measure». In den libertinistischen Zügen des Librettos spiegelt sich erkennbar das Junge Deutschland; und noch in Mein Leben wird der Komponist Erstaunen über seinen Mut zu kühner Verherrlichung der «freien Sinnlichkeit» äußern.[29] Einerseits ein Mixtum compositum aus Beethoven, Weber, Bellini und französischer Oper, bietet die Partitur des Liebesverbots andererseits auch Eigenes – vor allem den Versuch, in Motivik und Harmonik vom Ganzen her zu denken und damit zu jener formalen und stilistischen Geschlossenheit zu finden, die Wagner an den Opern seiner deutschen Zeitgenossen vermisst.

Aus dem kleinen Würzburger Chordirektor Wagner ist inzwischen ein Kapellmeister geworden, der am 2. August 1834 mit dem «Don Giovanni» sein Debüt bei der reisenden Bethmann’schen Operntruppe gibt und mit dieser im März 1836 im Magdeburger Winterquartier auch Das Liebesverbot aufführt, allerdings ohne großen Erfolg und nur ein einziges Mal.

Mitten in seiner jungdeutsch-libertinistischen Phase verliebt sich Wagner heftig in Minna Planer – schön, beliebt und als Schauspielerin in ganz Norddeutschland begehrt. In ihrem Privatleben will sie nur ehrenhafte Verhältnisse, nachdem sie – was Wagner damals noch nicht weiß – in sehr jungen Jahren einen sogenannten Fehltritt getan und als Sechzehnjährige die Tochter Natalie geboren hat, die um des jähzornigen Vaters willen als Geschwisterchen und Kind ihrer Mutter ausgegeben wird.

Der knapp vier Jahre jüngere Kapellmeister, der nun stürmisch um sie wirbt, scheint keine Sicherheit zu bieten, auch von sprunghaftem Temperament zu sein. Und ein Schuldenmacher ist er obendrein: Dienstag ist der fatale 16te, wohin ich nun spätestens alles vertröstet; – denk’ allein, dem armen Kerl, – dem Schmitt (Rüpel) bin ich von Rudolstadt her gegen 30 Thal: schuldig, – Weinrechnungen, – Schneiderrechnungen, beichtet er dem Freund Johann August Apel, um ihn danach kleinlaut, aber guter Dinge anzupumpen.[30] Während Wagner beim vorerst noch vermögenden Freund Glück hat, wird er von Minna, deren königlich ruhiger Anstand ihn weiterhin in Bann hält[31], zunächst einmal zurückgewiesen.

Welche Windungen das Verhältnis im Vorfeld der Eheschließung genommen hat, müssen wir vor allem aus Mein Leben folgern, das eine in diesem Punkt besonders subjektiv getönte Quelle sein dürfte. Sicher ist, dass Wagner vor Sehnsucht fast krank wird, als Minna Ende des Jahres 1835 nach Berlin reist, um wegen eines vorteilhaften Engagements zu sondieren. Zwischen dem 4. und 11. November gehen täglich Briefe an die liebe Braut[32], die wahre Exzesse an Leidenschaft, Weinerlichkeit, Werbung und Überredung sind. Einen Monat zuvor hatte es im Brief an Apel in mehr jungenhafter als jungdeutscher Attitüde getönt: Was meinst Du? Wenn ich sie so recht absichtlich hintergangen haben werde, habe ich da nicht ein Meisterstück gemacht? Oder soll ich ein Filister werden? Ihr Leipziger werdet es entscheiden![33]

Minna Planer lässt sich beeindrucken und verzichtet auf das Berliner Engagement. Da das Magdeburger Ensemble jedoch vor dem Zerfall steht, entscheidet sie sich für das noch fernere Königsberg. Ihr Verehrer beschwört sie in unvermindert leidenschaftlichen Briefen, diesen unruhigen u. zweideutigen Theateraffairen zu entsagen[34], und stellt in Aussicht, bald selbst genug Geld zu verdienen. Schließlich reist er ihr nach, und am 24. November 1836 wird in der Kirche von Tragheim, einer Königsberger Vorstadt, geheiratet.

Der Bräutigam, mit 23 Jahren nach preußischem Gesetz noch minderjährig, macht sich um ein Jahr älter, Minna gibt ihrerseits ein jüngeres Lebensalter an.[35] Das von den Theaterfreunden überreichte, schöngedruckte Hochzeitgedicht kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass über der ersten Ehezeit Schatten liegen, für die man wohl vor allem den Mann verantwortlich machen muss. Als sich dieser dreizehn Jahre später um Jessie Laussot willen von ihr trennen will, lautet Minnas bezeichnende Antwort: «Was warst Du denn als ich Dich heirathete? Du warst ein armer, verlassner, unbekannter, unangestellter Musikdirector, und was standen mir damals für Aussichten bevor! Mein ganzes Thun und Schaffen in unsrer Häuslichkeit war ja nur um Dir es recht zu machen. Dir zu gefallen und so von frühester Zeit an, that ich ja Alles aus Liebe, sogar meine Selbständigkeit die ich so hoch hielt, gab ich freudig auf, um Dir ganz angehören zu können.»[36]

Der junge Ehemann lässt seiner Egozentrik freien Lauf, tätigt Anschaffungen, die seiner auf Sparsamkeit bedachten Frau den Schweiß ausbrechen lassen, er lässt es sogar so weit kommen, dass das Königsberger Stadtgericht die Möbel des Ehepaars nicht nur pfänden, sondern alsbald abholen lassen will. Überhaupt ist er eifersüchtig auf Minnas Beruf, zunehmend auch ihren übrigen Umgang. In Mein Leben ist Wagner ehrlich genug, um von widerwärtigsten Auftritten und verletzender Bitterkeit […] in Sprache und Benehmen zu sprechen.[37]

Minna kann die Streitigkeiten nicht ertragen: Nach einem halben Jahr flüchtet sie zu ihren Eltern nach Dresden – nach Mein Leben in Begleitung eines Verehrers namens Dietrich. Für die Extrapost, mit der Wagner seiner guten, lieben, lieben Minna alsbald nachreist[38], reicht das Geld nur bis Elbing. So muss er noch einmal nach Königsberg zurück, um Mittel für die normale Post aufzutreiben. Am Ende des folgenden, für beide Teile aufreibenden Vierteljahrs kehrt Minna zurück – ein Schritt, der augenscheinlich auf Gattenliebe beruht und nicht nur Wagners neuem Engagement in Riga geschuldet ist. Wagner seinerseits ‹verzeiht› – aus der traditionellen Sicht des 19. Jahrhunderts betrachtet – Minnas Flucht und Affäre.

Aus der kurzen Königsberger Zeit stammen zwei interessante künstlerische Projekte. Im Sommer 1836 verfasst Wagner den Prosaentwurf zu einer großen Oper mit dem Titel Die hohe BrautWWV 40, um ihn in französischer Übersetzung und mit reichlich naiven Erwartungen dem berühmten Eugène Scribe zur Begutachtung nach Paris zu senden. Ein Jahr darauf befasst er sich erstmals substanziell mit dem Rienzi-Sujet: Aus dem Jammer des modernen Privatlebens, dem ich nirgends auch nur den geringsten Stoff für künstlerische Behandlung abgewinnen durfte, riß mich die Vorstellung eines großen historisch-politischen Ereignisses, in dessen Genuß ich eine erhebende Zerstreuung aus Sorgen und Zuständen finden mußte, die mir eben nichts anders, als nur absolut kunstfeindlich erschienen.[39]

Im Herbst 1837 zieht das Paar nach Riga, wo Wagner unter günstigen Voraussetzungen das Kapellmeisteramt am reorganisierten Stadttheater antritt. Allerdings muss er sich auf den Geschmack seines Intendanten Karl von Holtei einstellen, der als ‹Erfinder› der populären Gattung des sentimentalen Liederspiels nach Riga gekommen ist. Tatsächlich dichtet er zum Wohlgefallen Holteis das Libretto einer komischen Oper mit dem Titel Männerlist größer als Frauenlist oder Die glückliche BärenfamilieWWV 48. Nach der musikalischen Ausarbeitung einiger Nummern, die erst kürzlich im Autograph wiederaufgetaucht sind, wird Wagner freilich mit Ekel inne, daß ich wieder auf dem Wege sei, Musik à la Adam zu machen; mein Gemüth, mein tieferes Gefühl fanden sich trostlos verletzt bei dieser Entdeckung.[40]

Es ist der Anfang vom Ende der erfreulichen Verhältnisse. Denn Wagner verweigert sich nicht nur Kompositionsaufträgen, die ihm unwürdig erscheinen; ihm widerstrebt – wie später in Dresden – auch der normale Dienst, obwohl er ihn mit einem zweiten Kapellmeister teilen kann. Trotz einiger interessanter Produktionen – «Norma» von Bellini, «Robert le diable» von Giacomo Meyerbeer und «Die Schweizerfamilie» von Joseph Weigl – verschlechtert sich seine Position zusehends. Im Grunde seines Herzens fühlt er sich nicht als Kapellmeister, sondern als Komponist einer Grand opéra, die alles Bisherige in den Schatten stellen und sicher nicht im provinziellen Riga aus der Taufe gehoben werden soll! Den Textentwurf des neuen Werks – Rienzi, der letzte der Tribunen – hat er nach Riga mitgebracht; nun geht es um die Ausführung von Dichtung und Komposition. Bis zur Übersiedelung nach Paris werden zwei der fünf Akte im Wesentlichen fertiggestellt sein.

Die Oper ist zunächst für Berlin gedacht und deshalb vor allem nach dem Vorbild von Gaspare Spontinis «Fernand Cortez» geschaffen. Die kühne Idee, den Berliner Generalmusikdirektor Spontini gleichsam im eigenen Haus zu übertrumpfen, weicht bald dem nicht weniger vermessenen Vorhaben, es mit Giacomo Meyerbeer aufzunehmen, dem absoluten Herrscher über die Grand opéra. Weil er dazu nach Paris muss, lässt Wagner das Libretto des Rienzi noch vor Abschluss der Komposition ins Französische übersetzen.

Die Gemeinsamkeiten mit Spontini und Meyerbeer betreffen die Wahl großer historischer Stoffe und die Kunst, Massenbewegungen und Einzelschicksale eindrucksvoll gegeneinanderzustellen; kompositorisch ist Wagner immer noch der italienischen Oper verpflichtet. Davon abgesehen, gibt es in Rienzi viel Wagner-Typisches: Noch ersichtlicher als zuvor denkt der Komponist von der Dramaturgie her: Durch wortgezeugte Melodik und prägnante musikalische Gestik will er den Forderungen der Szene möglichst in jedem Augenblick gerecht werden. Groß angelegte Arien gibt es kaum, die Auftritte des Helden Rienzi sind vielfach in Volksszenen eingebettet. Bemerkenswert sind die Ansätze zu einer «symphonischen Dialogtechnik»[41]. Zwar hat Cosima Wagner nicht recht daran getan, nach Wagners Tod eine Bearbeitung des Rienzi herzustellen, welche die Nummernoper als Musikdrama ausgibt; doch im dramatischen Impetus ist Rienzi in der Tat weit näher am künftigen Holländer denn am zurückliegenden Liebesverbot.

Originell ist die politische Dimension der neuen Oper. Dass im Vormärz große historische Stoffe mit politisch interessanten Gestalten gefragt sind, wissen zwar auch die etablierten Meister der Grand opéra. Doch ihrem Taktieren steht Wagners Entschlossenheit gegenüber, sich an die Spitze auch des politischen Fortschritts zu stellen. Vor allem unter diesen Auspizien fesselt ihn Edward Bulwer-Lyttons «Rienzi»-Roman, kaum dass er in deutscher Übersetzung erschienen ist. Freilich ist Wagners Rienzi-Gestalt kein vorbildlicher Revolutionär, sondern «der große charismatisch begabte und stigmatisierte Einzelne, dessen Ende Scheitern ist»[42]. Im Ring wird Wagner den Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit politischen Handelns vor umfassendem mythologischem Hintergrund neu thematisieren und Rienzi in Siegfried wieder erstehen lassen.

Der Abgang des Intendanten bietet der Rigaer Theaterleitung die willkommene Möglichkeit, Wagner zu entlassen. Der will nun unbedingt nach Paris und kann allmählich auch Minna, die nur noch selten als Schauspielerin aufgetreten ist, den Schrecken darüber nehmen.[43] Mit vier Gastspielabenden verabschiedet sie sich vom Rigaer Publikum und – ohne dies zu wissen – von der Bühne überhaupt. Eine Zeitung bescheinigt ihr «ein sehr gefälliges Äußeres, Grazie in der Haltung, ein belebtes Mienenspiel», sieht aber auch Anzeichen dafür, «daß Mme. Wagner in langer Zeit die Bühne nicht betreten hat».[44]

Herr Wagner lernt derweilen Französisch. Doch gegen den gewaltigen Schuldenberg, der sich wieder einmal angehäuft hat, hilft nur die Flucht: Im Nachhinein stellt sie sich als keineswegs nur abenteuerlich, sondern auch als langwierig und lebensgefährlich dar. Das umso mehr, als Minna durch einen Sturz des Fluchtgefährts ihres «begonnenen Mutterglückes verlustig» geht – so die Erinnerung ihrer Tochter Natalie.[45]

Ausgangspunkt der Unternehmung ist Bad Mitau, wo man sich am 8. Juli 1839 von der dort gastierenden Rigaer Theatertruppe absetzt. Am Abend darauf überwindet das Paar mit Hilfe eines Königsberger Freundes die gutbewachte russische Grenze in Richtung Deutschland. Da mit dem großen Neufundländer Robber, den man nicht zurücklassen mag, eine Weiterreise mit der Postkutsche weder denkbar noch erschwinglich ist, schifft man sich nach London ein. Im ostpreußischen Hafen Pillau lässt sich der Kapitän eines Toppsegelschoners überreden, Richard und Minna an Bord zu schmuggeln.

Weil es unter Wagnerianern Spezialisten selbst für Schifffahrtsgeschichte gibt, wissen wir inzwischen, dass die «Thetis» 192,7 Tonnen Hafer und Erbsen geladen hat und mit sieben Mann Besatzung unter dem Kommando von R. Wulff segelt.[46] Ein Unwetter im Skagerrak zwingt den Kapitän, in Sandviken auf der kleinen norwegischen Insel Boröya zu landen. Der nach neuerlicher Ausfahrt noch heftiger ausbrechende Sturm dauert sieben Tage und lässt alle an Bord um ihr Leben bangen. Am 12. August, nach dreiwöchiger Fahrt, trifft man ermattet in London ein. Seine Empfindungen nach überstandener Gefahr beschreibt Wagner als religiöses Wohlgefühl, übermütiges Behagen und freudig behaglichen Schwindel[47]; die Arbeitsrufe der Seeleute wird er einige Zeit danach im Matrosenlied aus dem Fliegenden Holländer verarbeiten: Realität drängt nach szenischer Darstellung, extreme Erfahrungen warten auf künstlerischen Ausdruck.

In London ist man ganz erfüllt von den Wundern der Weltstadt[48]. Trotz fehlender Englischkenntnisse sucht Wagner den Kontakt mit Bulwer-Lytton, dem Vater seines Rienzi