Richter und die Schande der Familie - Rudolf Strohmeyer - E-Book

Richter und die Schande der Familie E-Book

Rudolf Strohmeyer

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Beschreibung

Nach einer gründlich aus dem Ruder gelaufenen Ermittlung verdonnert ihr Vorgesetzter Kommissarin Richter zu einer mehrwöchigen Kur. Doch auch im Kurort kommt sie nicht zur Ruhe. Eine verzweifelte alte Dame bittet die Kommissarin, den Vergewaltiger ihrer Tochter zu finden und ihn für deren Suizid zu bestrafen. Allerdings: die Tat geschah vor 25 Jahren. Des Weiteren erfährt Richter von brutalen Tiermorden, die den Bestand des klinikeigenen Streichelzoos systematisch ausdünnen. Doch die Tötung von Tieren ist erst der Anfang … Auf sich allein gestellt stößt Isabella Richter bei ihren Nachforschungen auf schuldhafte Verstrickungen, die in die Abgründe menschlicher Grausamkeit führen - und auch sie selbst in tödliche Gefahr bringen.

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Ähnliche


Richter und die Schande der Familie

 

ISBN 978-3-96741-029-7

 

Hybrid Verlag

 

© by Hybrid Verlag,

Westring 1

66424 Homburg

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

1. Ebook-Auflage 2020

 

Autor: Rudolf Strohmeyer

Umschlaggestaltung: © 2020 by Creativ Work Design

Lektorat: Matthias Schlicke

Korrektorat: Tina Winderlich

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfotos: Anna Strohmeyer

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

 

 

 

Rudolf Strohmeyer

 

Richter und die Schande der Familie

 

 

 

 

 

 

Ein Richter-Roman

 

 

 

 

 

 

 

Die Geschehnisse und die Schauplätze dieses Romans entspringen ausschließlich der Fantasie des Autors und sind frei erfunden. Dies gilt in besonderem Maße für die handelnden Personen. Jede Ähnlichkeit dieser Charaktere mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre unbeabsichtigt und rein zufällig.

 

 

 

 

 

 

 

 

In Dankbarkeit gewidmet dem

großartigen Team der Stadtbibliothek Graz

 

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL7

1. Kapitel8

2. Kapitel9

3. Kapitel12

4. Kapitel17

5. Kapitel20

6. Kapitel24

7. Kapitel28

8. Kapitel30

9. Kapitel32

10. Kapitel41

11. Kapitel50

12. Kapitel60

13. Kapitel67

14. Kapitel68

ZWEITER TEIL77

15. Kapitel78

16. Kapitel98

17. Kapitel107

DRITTER TEIL121

18. Kapitel122

19. Kapitel129

20. Kapitel138

21. Kapitel141

VIERTER TEIL144

22. und letztes Kapitel145

Personenverzeichnis150

DER AUTOR151

 

 

 

 

 

 

Wake up little Susie and weep

The movie’s over, it’s four o’clock

And we’re in trouble deep

 

The Everly Brothers

 

ERSTER TEIL

 

»War aber der Richter gestorben, dann wurden sie rückfällig und trieben es noch schlimmer als ihre Väter.«

 

Das Buch Richter. Zweite Einleitung, 2,19

1. Kapitel

 

Griechenland, Sommer 1980

 

Der Nachthimmel war von Sternen übersät, die wie Diamantensplitter funkelten. Ihr Glanz verlor sich im schwarzen Spiegel der See, deren meermüde Wellenausläufer leise klatschend ihre Ankunft auf der Flachküste feierten. Einige Stangengerüste mit ausgespreizten Fischfangnetzen steckten selbstvergessen im Küstensand. Vereinzelt stapfte oder flügelte Möwengetier, ziellos, unruhig, wartend worauf?

2. Kapitel

 

Kreisstadt Bodenbrugg

Mittwoch, 20. August 2003, nachts

 

Wie immer schwitzte er nach dem Geschlechtsverkehr. Erschöpft richtete er sich auf und stieg aus dem Bett. Er trottete zur Kommode, holte eine Zigarette aus der darauf liegenden Schachtel. Kurz ergriff ihn Verwirrung, dann besann er sich und kehrte zum Bett zurück. Vom Nachtkästchen nahm er das Feuerzeug, zündete sich die Zigarette an und inhalierte tief.

»Du auch?«, fragte er jetzt und hob seine Unterwäsche vom Boden auf. Eine Haarsträhne fiel ihm in die Stirn. Reflexartig strich er sie zurück.

Hannelore schüttelte den Kopf. Sie entnahm der Lade ihres Nachtkästchens einige Papiertaschentücher und säuberte sich mechanisch.

Obwohl die Fenster des Schlafzimmers auf ein Industriegelände blickten, auf dem schon lange jede Arbeit eingestellt war, hatte Hannelore die Vorhänge zugezogen. Eine Stehlampe, deren Schirm von barocken Motiven in Rosa geziert wurde, war die einzige Lichtquelle. Über dem Doppelbett befand sich ein Bild, das eine Ansicht von Venedig mit Gondel und Vollmond zeigte.

Während Paul Hochwallner sich anzog, musterte er die nackte Frau abschätzig. Hannelore (›Lorchen‹) war Österreicherin und würzte ihre Höhepunkte mit obszönen Kommentaren in fast unverständlichem Dialekt, was ihm zunehmend auf die Nerven ging. Obwohl eine große und recht kräftig gebaute Frau verhielt sie sich beim Sexualakt auffallend passiv. Er kam sich mit seiner entfesselten Wildheit hinterher immer wie ein Schauspieler vor. Ein Schauspieler, der vergebens auf Applaus hofft und schmerzlich ernüchtert von der Bühne abtritt. Eine dumpfe Seligkeit strahlte von der im Bett Liegenden aus. Die Hoffnung, dass es zwischen ihnen noch so etwas wie erotische Spannung geben könnte, hatte ihn schon lange verlassen.

Sie sah ihm nun zu, wie er seine Hose zuknöpfte, und sie lächelte. Warum? Er verspürte schon lange kein Verlangen mehr, danach zu fragen. Denn es gab hier nicht viel zu begreifen. Wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte, lächelte sie eben. Sie lächelte, wenn er begann, sie auszuziehen, und sie lächelte, wenn sie ihm die Stellen zeigte, an denen ihr Mann sie wieder blau geschlagen hatte (»gehaut«, wie sie es auf sein drängendes Fragen formulierte); sie lächelte, wenn er wollte, dass sie ihn berühre; aber was sie tat und wie sie es tat, es war genauso fantasielos wie ihre Frisur, wie ihr Make-Up (Lippenstift, sonst nichts), wie ihr Schmuck (Ehering, sonst nichts) und wie die Einrichtung dieses ehelichen Schlafzimmers, in dem er sich schon beinahe blind zurecht finden konnte.

Die Frau richtete sich auf und schüttelte leicht ihre kurz geschnittenen, schwarzen Haare. Einige Hautpartien ihres Körpers zeigten Verfärbungen, die von Blutergüssen verursacht schienen. Obwohl sie erst auf die Vierzig zuging, wiesen Gesicht und Hals erste Falten auf.

Sie zog die Knie an ihren Oberkörper heran, lümmelte sich mit verschränkten Armen darauf und bettete ihren Kopf in die Armverflechtung. Ihn seitlich von unten anschauend, sagte sie: »Du Paul, ich muss dir was sagen?« Wie so oft unterlegte sie ihren Worten einen fragenden Unterton.

*

 

Die durch den Regen der vergangenen Stunden abgekühlte Nachtluft erfrischte Paul angenehm. Er blieb kurz vor dem Eingangstor stehen und blickte die Hausfassade hinauf. Wie nicht anders zu erwarten, waren Wohnzimmer und Küche unbeleuchtet, denn Lorchen dürfte sicher vollauf damit beschäftigt sein, im Schlafzimmer die Spuren ihres Schäferstündchens zu beseitigen.

Vielleicht trugen überhaupt nur der Regen und das damit verknüpfte Gefühl von Langeweile Schuld daran? Schuld daran, dass seine Schritte ihn wieder hierhergeführt hatten, sinnierte er.

Oder schmerzte, so unerwünscht wie hartnäckig, eine österreichische Erblast aus der Vergangenheit? Etwas, das nach wie vor wie eine offene Wunde eiterte und nicht vernarben wollte?

Wie von Diamantensplittern übersät … das Meer im Sommer … ein Spiegel, der sich aus funkelnden Scherben wogend zusammen- und wieder auseinanderschiebt … die griechische Woche vor 23 Jahren … ein Mädchen aus Österreich, und er, und Rüdiger …

Verärgert schüttelte er den Kopf. Um Gottes willen! Das drehte sich im Kreis! Eine simple Hormongeschichte war es damals gewesen. Und das vor einer Stunde eben? Auch eine Hormongeschichte. Na also.

Was er wollte? Von allen Bindungen frei sein. Aber die Sache mit Lorchen … da lief etwas gründlich aus dem Ruder.

Sein alter Jugendfreund Rüdiger würde gegen 23 Uhr nach Hause kommen. Als Polizeioberwachtmeister verrichtete er regelmäßig Nachtdienst. Wenn er Lorchen glauben durfte – und ihre Verletzungen legten unmissverständlich Zeugnis davon ab – hatte Rüdiger sie auch schon einige Male vergewaltigt. Aber gab es Vergewaltigung in einer Ehe überhaupt? Paul zündete sich wieder eine Zigarette an und ging auf dem nass glänzenden Asphalt in Richtung Stadtzentrum. Raufbold Rüdiger, fiel ihm ein, so lautete die Spottbezeichnung, die die Lehrer ihm verliehen hatten, und die der wie eine Auszeichnung trug. Aber Rüdiger und Lorchen, das war vielleicht doch der sprichwörtliche grobe Keil, der auf diesen österreichischen Klotz gehörte.

Sein Handy vibrierte. Eine SMS von Lorchen. Ging das jetzt schon los? Flüchtig erhaschte sein Blick einige Rufzeichen, bevor er auf die Delete-Taste drückte.

Der Strom nächtlicher Passanten verstärkte sich. Paul stellte sich an den Nachtwürstchenwagen in der Nähe des Kinopalastes und bestellte Currywurst und Bier.

Wie blöd musste man denn sein, wenn man sich in der eigenen Ehe grenzenlose Freiheit erkämpft hatte, und sich dann von einer – er suchte nach einer passenden Bezeichnung – von einer Vorstadtdirne … »Pommes?« unterbrach der weissbekittelte Inder von seinem Rostbratgerät her.

Der Kinopalast gegenüber spie die Besucher der Nachtvorstellung auf den Gehsteig, in dessen Nässe sich die Straßenbeleuchtung spiegelte. Ein Paar erregte seine Aufmerksamkeit. Soweit er es aus der Entfernung und bei der bühnenkünstlichen Beleuchtung der Straßenlampen erkennen konnte, erinnerte die Gestalt des Mannes auffallend an Rüdiger. An seine breitschultrige und durchtrainierte, imponierend große Figur. Das Haar des Mannes war, genau wie bei Rüdiger, flüchtig gescheitelt und bedeckte die Ohren, während es nackenwärts hinter dem aufgestellten Mantelkragen verschwand.

Paul biss in seine Currywurst. Kein Zweifel, es handelte sich um seinen Freund. Sein ›Freund‹? Naja, mit der Freundschaft war das so eine Sache. Es brauchte wahrhaftig nicht viel, um einen Charakter wie diesen Rüdiger zu durchschauen. Zugegeben: Hochintelligent, aber zynisch bis zum Abwinken. Von Spielregeln sofort gelangweilt; jedoch übereifrig bei der Erfindung von Regelverstößen, die ihm Vorteile verschaffen konnten. Vorteile, die natürlich stets auf Kosten anderer gingen. Typen wie ihm war das egal. Im Zufügen von Schmerzen kannte seine Fantasie keine Grenzen. Unduldsam wurde er nur, wenn man ihm zumutete, die Qualen seiner Opfer nachzuempfinden.

Sah so ein Porträt aus, das man von einem ›Freund‹ erstellte? Paul zuckte gedanklich die Achseln. Er gab gerne zu, nicht gerade den Weichzeichner verwendet zu haben. Aber: Wie sollte ausgerechnet jemand wie Rüdiger Anspruch auf Schonung erheben dürfen?

Wer aber war das Mädchen? Die gleiche genietete Jeansjacke, wie sie seine Tochter Eva häufig trug, die gleichen kniegelöcherten, gebleichten Jeans, das gleiche, maskulin kurz geschnittene Haar; der Bierbecher zitterte in seiner Hand.

Das Paar entfernte sich, lachend, einander umschlungen haltend.

Es fröstelte ihn. Er zog seine Jacke enger um sich zusammen, während seine Augen suchend umherirrten. Wo gab es hier eine Bar?

3. Kapitel

 

Bad Reichenberg

Donnerstag, 14. Juli 2005

Richter räumt das Feld

 

Die Autobahn verlässt man bei der Ausfahrt Angerbach-Dorf und folgt der Landesstraße, die den Ort entlang der Bergflanke umrundet. Mehrmals überquert man den Angerbach, der um diese Jahreszeit infolge der häufigen Sommergewitter besonders viel Wasser mit sich führt. Nach der dritten Brücke gelangt man zu einem Kreisverkehr und lässt sich von diesem rechts in Richtung Bad Reichenberg weisen.

Die Natur klappt nunmehr eine neue Seite in ihrem Buch mit Landschaftsbildern auf. Schroffheit und romantische Wildheit, für die felsige Gebirgshänge bisher Sorge trugen, werden von verschwenderisch beblümten Wiesenhängen, die sich sanft gewellt vor dem erfreuten Auge ausbreiten, abgelöst. Wie bisher der Angerbach, schlängelt sich nunmehr die Straße. Sie folgt dem Flussverlauf durch Alleen von Hainbuchen, die mit ihren grünen Blattkronen die Fahrbahn schattend bedachen.

Eine letzte, sanfte Steigung, der Rücken eines Hügels ist erreicht, und der Kurort Bad Reichenberg liegt fotogen in einer von bewaldeten Berghängen umrahmten Talsenke. In der Ortsmitte ragen die Kirchtürme einer barocken Pfarrkirche gebieterisch in den Himmel. Am jenseitigen Ortsende prägt der Gebäudekomplex der Kuranstalt samt angrenzender Gästehotels das Bild. In diesem Rehabilitationszentrum tut man sich nicht wenig zugute auf das milde Klima und die Einzigartigkeit der Landschaft, als wäre beides das Verdienst einer sich um alle Belange kümmernden Kurverwaltung.

Von der Straße abgeschirmt, aber an vollgeparkten Autoabstellflächen unschwer lokalisierbar, befindet sich hinter dem Haupttrakt des Anstaltsgebäudes das Thermalbad mit dem unter Dampfschwaden köchelnden Thermalwasserbecken. Diese Bad Reichenberger Therme bildet als besondere Touristenattraktion neben dem Kurbetrieb die Haupteinnahmequelle der Gemeinde.

Der Website der Kurverwaltung entnimmt man: »Spezialisiert auf Hauterkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates und der Atemwege, steht das geschulte Ärzteteam der Kuranstalt auch für psychologische Betreuung und umfassende Unterstützung bei Änderungen des Ernährungsprogrammes und einer Neuausrichtung der Lebensgewohnheiten zur Verfügung.«

Hier also war es, wo Isabella Richter ihr Leben wieder in den Griff bekommen sollte. Oder richtiger: in den Polizeigriff bekommen sollte.

 

*

 

»Wie geht es Ihnen, Frau Richter?«

»Wie jemandem, der eine Riesendummheit begangen hat.«

»Und worin bestand diese Riesendummheit, Frau Richter?«

»Mich in eine Situation gebracht zu haben, in der man mich nach meinem Befinden fragt.«

Prim. Dr. Auffalter, Facharzt für Physikalische Medizin und Allgemeine Rehabilitation, ärztlicher Leiter des Therapie- und Ärztezentrums, verspürte den Ehrgeiz, jeden der auf Kur weilenden Gäste der Kuranstalt im Rahmen eines Gespräches, wie flüchtig auch immer, persönlich kennen zu lernen. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen immunisierten ihn gegen Verhaltensauffälligkeiten jeglicher Art. So runzelte er auch diesmal nur leicht die Stirn und begnügte sich mit einem Blick, der die Geste des Achselzuckens ersetzte. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass ihn wieder einmal der Gedanke an einen vorzeitigen Ruhestand streifte. Das Ausmaß finanzieller Schulden, das abzutragen noch hübsch einige Jährchen dauern würde, hinderte ihn an einer Weiterverfolgung dieses Wunschtraums.

Dr. Wilhelm Auffalter, ein vorzeitig gealterter, früh kahlköpfig gewordener Mann von ungesunder Dickleibigkeit, öffnete die Krankenakte und informierte sich:

 

Vorname(n): Isabella Genoveva

Name: Richter

Geburtsdatum: 7.7.1948

Größe: 168cm

Gewicht: 51kg

Beruf: Kriminalkommissarin

Familienstand: ledig

Kinder: -

Diagnose: depressive Verstimmung, Gewichtsveränderung, Schlafstörungen, suizidales Verhalten.

 

Die Schlaffheit der Gesichtsmuskulatur, die Falten, die sich tief in die Wangen eingegraben hatten, und die apathische Körperhaltung deuteten unzweifelhaft auf einen drastischen Gewichtsverlust in den letzten Wochen hin. Ein wenig im Widerspruch zu der zur Schau gestellten Wehrlosigkeit stand der wache, intelligente, leicht spöttische Blick hinter den Brillengläsern in der billigen Stahlrahmenfassung.

Der Arzt öffnete seinen Laptop, um die im weiteren Verlauf der Unterredung gewonnenen Informationen zu protokollieren. Sich Richter zuwendend fragte er:

»Betreiben Sie Sport?«

»Ich jage.«

Fragender Blick.

»Ich bin Berufssportlerin.«

Der Arzt verdrehte im Geist die Augen.

»Rauchen Sie?«

»Nur im Notfall.«

»Alkoholische Getränke?«

»Als Stimulans und zum Durstlöschen.«

Dr. Auffalter runzelte erneut die Stirn. »Ich ersuche Sie, unsere Besprechung ernst zu nehmen. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«

»Als Polizistin bin auch ich Ihr ›Freund und Helfer‹«. Die Stimme ähnelte in ihrem Klang einer Geige, die mit einer Reitgerte bespielt wird.

»Na schön, bitte ziehen Sie Ihre Bluse aus.«

Der Primar setzte sich nunmehr gewissermaßen die Brille ärztlicher Neutralität auf und nahm solcherart von einer Beurteilung weiblicher Attraktivität Abstand, während er den Brustbereich in Hinblick auf Herz und Lunge untersuchte.

Um die weibliche Attraktivität war es, bei allem Respekt, nicht gerade zum Besten bestellt. Das auf Bleistiftlänge zurückgeschnittene Haar erzielte zurecht den optischen Eindruck einer Frisur Marke ›Eigenbau‹. Im Bereich des Oberkörpers wies die Haut weiße Flecken auf, war im Übrigen von ungesunder, grauer und fahler Farbe. Dies und der infolge übermäßigen Alkoholkonsums leicht aufgeschwemmte Bauch ließen keinen Zweifel am ärztlichen Befund der Depression. Der einst bei anderen Frauen zu Neid, bei Männern zu zweideutigen Träumereien Anlass gebende Busen verdiente nur mehr Mitleid. Deshalb hing er auch so trostlos herab. Aber da verwechselt man wieder einmal Ursache und Wirkung.

»Und jetzt noch der Blutdruck.«

»Wir Polizisten stehen immer unter ›Blut-Druck‹«, kommentierte Richter lakonisch.

Das Ausbleiben jeglicher Reaktion bestätigte Richters langjährige Erfahrung: In je verantwortungsvollerer Position sich jemand befindet, desto humorimmuner wird er. Die Manschette presste den rechten Oberarm zusammen.

»Soweit alles in Ordnung. Haben Sie denn aktuell irgendwelche Beschwerden?«

»Es wäre besser, Sie verwendeten den neutraleren Begriff ›Schmerzen‹, Herr Primar.«

Dr. Auffalter fuhr hoch. Der verhörgeschulte Blick der Kommissarin hinter den Brillengläsern begegnete ihm in vollkommener Gleichgültigkeit. Das Dilemma mit unverschämten Menschen bestand darin, dass man ihnen schwer beikommen konnte, ohne selbst zu Unhöflichkeiten Zuflucht nehmen zu müssen. Eine derart unsympathische Patientin saß ihm Gott sei Dank nur selten gegenüber.

»Sie werden für die nächsten vier Wochen einen Therapieplan befolgen, der vor allem auf eine Besserung Ihres Hautbildes und auf eine gesunde, ausreichende Ernährung zum Zwecke sinnvoller Gewichtszunahme abzielt. Gleichzeitig aber erhalten Sie regelmäßige, psychotherapeutische Betreuung. Ergänzend können Sie die Möglichkeit zu Thermalbädern und zu einem Muskelaufbautraining in Anspruch nehmen. Eines allerdings«, der Arzt unterbrach und warf einen Blick aus der Schublade ›Trostspender‹ auf Richter, »Eines kann ich Ihnen garantieren: Sie werden absolut unter keinem Stress leiden.«

»Auch Tote leiden unter keinem Stress.«

War das nur ätzend? Oder deutete sich hier ein erneutes Verlangen nach Selbsttötung an?

»Frau Richter, als Arzt bin ich gezwungen, jede Ihrer Äußerungen ernst zu nehmen. Als Mensch allerdings …« Dr. Auffalter ließ das Gemeinte in unmissverständlicher Schwebe. Dann klappte der Primar seinen Laptop zu und drehte sich in seinem Bürosessel so, dass er seiner Patientin direkt in die Augen blicken konnte.

»Frau Kommissarin, Sie sind sich hoffentlich im Klaren darüber, dass Ihr Kuraufenthalt bei uns nur infolge einer Intervention von höchster Stelle ermöglicht wird. Ihr Krankheitsbild rechtfertigt eine Kurbehandlung ausgerechnet in Bad Reichenberg nur in beschränktem Ausmaß. Es steht außer Zweifel, dass Sie Hilfe benötigen, die Ihnen allerdings in anderen Kurorten zielführender zuteilwerden könnte.«

Der Arzt legte eine Pause ein und wartete auf eine Erwiderung der Problempatientin. Die zog sich ihre Bluse an, setzte sich gerade und verschränkte die Hände im Schoß.

»Offensichtlich war Ihren Vorgesetzten außerordentlich viel daran gelegen, Sie … äh … gewissermaßen aus dem Verkehr zu ziehen. In erster Linie sollten Sie sich dafür bei Ermittlungsrichter Dr. Bachmann bedanken.«

Zum Zeichen, dass er die Unterredung für beendet hielt, schwenkte der Leiter der Kuranstalt Bad Reichenberg seinen Sessel wieder zum Schreibtisch und begann, seine Bankkontoauszüge zu überprüfen. Die Unannehmlichkeiten schienen heute kein Ende zu nehmen.

Richter wusste nur zu gut Bescheid. Der fesche Dr. Bachmann mit den zuckersüßen Komplimenten war ja derjenige, nach Mitteilung des Notarztes, der aus einer unabweislichen, ängstlichen Sorge das gewaltsame Eindringen in ihre Wohnung veranlasste, nachdem Dutzende telefonische Kontaktversuche im Sande verlaufen waren. Die Ärzte taten ihre Pflicht und holten sie zurück in den Sumpf, aus dem sie sich hatte retten wollen. Sogar die geleerten Schlaftablettenpackungen und die Cognacflasche mit dem kümmerlichen Spirituosenrest wurden weggeräumt; ins Labor zum Zwecke der Spurensicherung, wie es die Polizeiroutine vorschrieb.

Aber es bestand keine Veranlassung, ihrem Kollegen und Verehrer Dr. Martin Bachmann, einem athletischen, braungebrannten Typ mit Kurzhaarschnitt und galanten Umgangsformen, mit ironischer Distanz zu begegnen. Denn der sportliche Ermittlungsrichter trug unzweifelhaft das meiste Verdienst daran, dass der Akt von Selbstjustiz, der ihrem Suizidversuch vorangegangen war, die juristische Punzierung ›Notwehr‹ erhielt und somit die Tötung eines der widerlichsten Mörder, denen Richter im Verlauf ihrer Karriere begegnet war, gewissermaßen sanktioniert wurde.

Das änderte nichts daran, dass nach diesen extremen Vorfällen im Polizeikommissariat die Kacke am Dampfen war. Isabella Richters oberster Vorgesetzter, ein aus der Fraktion ›raue Schale - weicher Kern‹ stammender Möchtegern-Hardliner, Dr. Noel Kirchner (wer als Mann einen Vornamen verpasst bekam, der sowohl weiblich als auch männlich sein kann, wird wohl zwangsläufig zum ›Möchtegern-Hardliner‹) berief eine Sondersitzung nach der anderen ein, um einen Ausweg aus der unerwünschten Publicity zu finden, die die Polizei der Kreisstadt plötzlich ›genießen‹ durfte.

Wie zu befürchten war, erhielt die in Do-it-yourself-Manier durchgeführte Exekution eines Mörders durch Kommissarin Richter Applaus aus genau der falschen Ecke. Die politische Rechte feierte in Richter eine Heldin und Pionierin für eine Lockerung der Waffengesetzgebung und trieb mit ihrem Familiennamen jede Menge öder und abgelutschter Wortspielereien.

Die Gutmenschen-Missionare hingegen sahen einen Fall von faschistoider Menschenrechtsverletzung und wollten interessanterweise Köpfe rollen sehen.

Wie dem auch sei, die interne Ermittlungsabteilung, stets immun gegen Einflussnahmen von welcher Seite auch immer, stellte einen Persilschein aus. Aber dennoch: Richter musste für eine Weile aus der Schusslinie. Dr. Kirchner wörtlich:

»Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen sämtlich geschlossen hinter unserer Isabella. Das dürfte auch die sicherste Methode sein, sie daran zu hindern, rückfällig zu werden.« Das allgemeine Gelächter entsprang wahrer Belustigung und war nicht bloß der Servilität gegenüber dem Vorgesetzten geschuldet. Auch Richter schmunzelte.

»Unsere liebe Kollegin war zwar nahe daran, das Kind mit dem Bade auszuschütten und alles hinzuschmeißen. Aber wir nehmen an, dass sie es nicht persönlich gemeint hat. (Gedämpfte Heiterkeit) Ich erkenne an, Isabella, dass du Probleme löst. Dumm nur, dass du dabei neue schaffst. (Gelächter, das unterbrochen wird:) Kein Grund zur Heiterkeit! Auf die meisten von euch trifft nur der letztere Tatbestand zu! Jedenfalls müssen wir dich erstmal von der Bildfläche verschwinden lassen. Mein alter Freund Wilhelm, Leiter der Kuranstalt Bad Reichenberg, bringt dich für vier Wochen unter. Und was das Beste daran ist: Er macht einen neuen Menschen aus dir. Das heißt, er macht wieder den alten Menschen aus dir! (Applaus) Noch irgendwelche Kommentare, Isabella?«

Die Angesprochene erwiderte mit tonloser Stimme:

»Ich habe verstanden, dass du mich los werden willst. Dann sind wir also schon zwei. Mein erster, sozusagen in Eigenregie durchgeführter Versuch, mich selbst los zu werden, scheiterte. Ich hoffe, dass der deine gelingt.« (Entrüstetes Gemurmel)

Noel Kirchner schüttelte leicht mitleidig den Kopf.

»Isabella, du tust jetzt ausnahmsweise einmal genau das, was man dir sagt. Und ihr«, er wandte sich an die Umstehenden, »ihr gebt keinerlei Auskünfte, außer dass eure Kollegin erkrankt ist. Mehr wisst Ihr nicht. Ist das klar?«

Bevor man auseinanderging trat noch Dr. Bachmann zu Richter, legte ihr die Hand auf die Schulter und senkte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern:

»Isabella, lass mich dir das nächste Mal vorher helfen, nicht hinterher! Verstehst du?«

»Bist du sicher, dass du mir geholfen hast?« Sie berührte den Rücken seiner rechten Hand und streichelte etwas unbeholfen darüber. Dann hob sie den Kopf und sah in seine Augen. In ihrem Blick lag etwas, das auf eine merkwürdige Weise aus Dank und einer neuen, vagen Bitte zusammengesetzt war. Wortlos drehte sie sich um und ging.

Isabella Richter nahm die Brille in die linke Hand und massierte mit Daumen und Zeigefinger der rechten ihren Nasenrücken.

»Herr Dr. Auffalter!«

Überrascht drehte sich der Angesprochene um. Die nächste Überraschung war, dass ihn die Patientin anstarrte; trotz deren kurzsichtig verkümmerten Blicks hatte er zum ersten Mal den Eindruck, direkt angesehen zu werden, Blickkontakt zu haben. Sie begann im Ton einer Mitteilung zu sprechen:

»Unsere Tätigkeit, Herr Primar, ist praktisch die gleiche. Sie bekämpfen das Ungeziefer, das den menschlichen Körper von innen, ich dasjenige, das ihn von außen bedroht. Unser Versagen kann in beiden Fällen tödlich sein. Der Unterschied besteht darin, dass Ihr Versagen ungestraft bleibt. Ich hingegen werde zur Verantwortung gezogen. Wenn ich Glück habe, tut das jemand anderer. Wenn ich kein Glück habe, also immer, ist es mein eigenes Gewissen.«

Sie setzte sich ihre Brille auf. »Und jetzt bringen Sie meine Psyche wieder auf Vordermann, Herr Primar!« Und leise, wie für sich, setzte sie hinzu: »Bevor ich wieder ein normaler Mensch werde …«

Himmel, was sollte das denn bedeuten!

4. Kapitel

 

Kreisstadt Bodenbrugg

Donnerstag, 21. August 2003, morgens

 

Einem genau vorgegebenem Arbeitsablauf folgend zog die Hausangestellte die Vorhänge des Frühstücksalons zur festgesetzten Zeit auseinander. Für fünf Minuten wurden die Fensterflügel geöffnet, um frische Luft aus dem bewaldeten Garten hereinzulassen. Selbst bei regnerischem Wetter war dies dank einer schützenden Vordachkonstruktion gefahrlos möglich.

Eine sommerlich kräftige Sonne sandte ihre Strahlen in den Salon und zauberte ein Funkeln auf die Messingbeschläge der Kommodengriffe. Die beiden Ölgemälde mit Landschaftsmotiven lagen noch im Halbschatten. Nur das die benachbarte Wand beherrschende Gemälde, das die Tochter des Hauses im Alter von siebzehn Jahren beim versonnenen Betrachten eines riesigen Straußes roter Rosen zeigte, badete bereits im Sonnenlicht.

Susi (›Susanne‹, wie Paul Hochwallner sie mit leiser Verachtung nannte) saß bereits am Frühstückstisch, obwohl es erst 10 Uhr vormittags war. Vor ihr präsentierte sich das übliche Frühstück, zusammengestellt mit der üblichen, detailverliebten Sorgfalt: Knäckebrot, Müsli mit Nüssen, eine Tasse Tee und eine Schale mit gescheibten Ananas. Alles natürlich exakt mit der Kalorienwaage abgewogen. Diese Arbeit war ihr zu heikel, als dass sie sie einer unmotivierten Hausangestellten überlassen konnte.

Es wunderte ihn nicht, dass er Kopfschmerzen hatte. Die Grenze zu ziehen zwischen dem einen Schnaps, der noch nicht reichte, und dem Schnaps, nach dem dann alles aus dem Ruder läuft: Er schaffte es nicht, wenn er allein trank (wie gestern), und noch viel weniger, wenn sie zu mehreren tranken.

Im Vorbeigehen warf er seiner Gattin ein ungelauntes ›Guten Morgen‹ zu. Vor Susi lag eine Tageszeitung ausgebreitet. Mit einer Lesebrille bewaffnet arbeitete sie sich durch die Seite mit dem neuesten Prominentenklatsch. Ihr langes, in teure Dauerwellen gestyltes Blondhaar umrahmte ein Gesicht von porzellanener Puppenhaftigkeit. Dieses war, in unappetitlicher Weise, von einer fettig glänzenden Salbe bedeckt; rasiermesserscharf konturierte, schwarze Augenbrauen setzten darin deutliche Akzente. Alles Bemühen um Verjüngung erzielte paradoxerweise den gegenteiligen Effekt. Susi sah mit ihren vierzig Jahren aus, wie eine Frau von vierzig Jahren, die aussehen möchte wie dreißig.

Paul nahm nun mit einer großen Tasse schwarzen Kaffees und einem Teller Eierspeise ihr gegenüber Platz.

»Du Paul, hast du gewusst, dass die Beckers schon wieder ein neues Baby erwarten?« (Wie, sollten sie denn ein altes Baby erwarten, dachte Paul unwillig.) Doch schon unterbrach sie sich: »Um Gottes willen, jetzt sieh dir doch einmal meine Fingernägel an! Hoffentlich haben die im Nagelstudio heute noch einen Termin frei!« Es war wie immer: Susi verbrachte den Vormittag mit Nichtstun, um dann am Nachmittag mit dem fortzusetzen, was sie am Vormittag begonnen hatte.

Pauls Handy vibrierte. Wieder eine SMS. Wieder mit etlichen Rufzeichen. Weg damit!

Er nahm einen Schluck Kaffee und grimassierte, als die heiße Brühe seine Mundhöhle versengte. »Es ist wirklich schade, dass du nicht prominent bist!«

»Echt? Meinst du?« Ein Krümel Knäckebrot fiel aus der Lippenspalte.

»Ja, dann könntest du in der Zeitung lesen, wie es dir geht, wie toll du aussiehst, wer dein Lover ist. All die Fragen, auf die wir so gerne Antworten hätten.« Er strich sich eine in die Stirn gefallene Haarsträhne zurück.

Susi lächelte verächtlich. »Ach, du ziehst mich wieder auf! Aber du zum Beispiel, du siehst heute wirklich nicht besonders aus. Gibt es Ärger?«

Paul lehnte sich zurück. Diese verdammte Nacht! »Mir fehlt nichts. Und das ganz wörtlich. Mir fehlt das Nichts! Und es fühlt sich verdammt noch einmal an, wie … wie wenn man ein Preisetikett abschabt. Und dann bleibt dort eine klebrige Stelle, die man nicht abkratzen und abwaschen kann. Genauso klebt manchmal der Alltagsmüll an mir!«

Die blonde Schönheit zog ein Schmollmündchen. »Oh, mein armes Paulchen! Was soll denn so schrecklich daran sein, wenn das Leben kein Auf und Ab ist, wo es doch in der Ebene so blüht und gedeiht!« Und sie rieb mit einer bezeichnenden Geste den gekrümmten Zeigefinger ihrer rechten Hand mehrmals an der Daumenunterseite.

Er wusste es ja. Er war ein glücklicher Mann. Seine Gattin lebte in einer Welt, in der sie Sinn und Erfüllung fand, auch wenn sie erfüllt von Unsinn war. Als Tochter eines der reichsten Immobilienmakler der Stadt konnte sie sich den Luxus eines Lebens ohne Arbeit leisten. Und merkwürdigerweise war es für sie selbstverständlich, dass auch er als ihr Ehemann sich nicht mit Arbeit schmutzig machte.

Und etwas anderes ›Schmutziges‹ machen? Paul lächelte über sein Wortspiel. Nein, auch die Erfüllung spezieller, ehelicher Pflichten wurde nicht mehr von ihm gefordert oder auch nur erwartet. Seit der Geburt von Eva vor zwanzig Jahren hatte ihr Sexualleben ein abruptes Ende gefunden. Susi plagte die wahnsinnige Angst, Sex könnte die Schönheit ihres Körpers gefährden. Seine anfänglichen, drängenden Versuche erlahmten an ihrem Widerstand. Und mittlerweile? Wie hätte er seine einstige Begierde nach ihrem Körper überhaupt wiederfinden können? Wo war er denn, dieser Körper? Hinter all den Baustellengerüsten für die Fassadensanierung? Was er fand, war eine von Hysterie geplagte Neurotikerin, die ihm das schenkte, was er am meisten brauchte: Freiheit und Ungebundenheit.

Im Ausschnitt ihres Nachthemdes wurde der Ansatz von schlaff gewordenen Brüsten sichtbar, an deren unverhüllten Anblick er sich kaum mehr erinnern konnte. An Lorchen war nichts schlaff, das immerhin gab er zu. Und es bereitete sicher auch mehr Spaß, auf festes Fleisch einzuprügeln, als auf einen abgemagerten Sandsack, der aus Brüsseler Spitze zusammengenäht war. Er erschrak. Irrte er denn in die Gedankenwelt Rüdigers ab? Leiser Abscheu ergriff ihn. Nichts war widerlicher, als eine Frau - selbst Lorchen - zu schlagen!

Er dachte an letzte Nacht und wünschte sich, er hätte bloß geträumt. Nichts Anderes konnte es sein: ein Albtraum. Die ›Mitteilung‹ Lorchens! Das Liebespaar vor dem Kino!

Er musste mit seiner Tochter, mit Eva, reden. Er musste es ihr sagen. Was sagen? Dass ihr neuer Freund seine Frau schlug? »Wie willst du das denn wissen, Papa? Wie kannst du nur so über deinen besten Freund reden?«

Waren Rüdiger und er mehr als bloß Klassenkameraden gewesen? Anfangs wahrscheinlich nicht. Aber sehr bald stellte sich zwischen ihnen etwas ein, etwas, das sie verband. Und also doch zu Freunden machte. Sympathie, ein Vertrauen auf eine Gleichgestimmheit des jeweils anderen, ein Gleichklang, in welchem Sinn auch immer.

Beinahe von Beginn an herrschte bei ihnen beiden ein wortloses Einverständnis, dass sie Parteien eines Kräftemessens seien, in dem es um das Ausreizen der zulässigen Spielräume ging. Beide anerkannten stillschweigend die Existenz einer Grenze des Erlaubten, aber beide spielten mit der Gefahr, die den Reiz dieser Grenze ausmachte.

Für Paul bestand das Spiel darin, auszuloten, wie weit er sich an diese Grenze herantasten konnte, ohne Gefahr zu laufen, diszipliniert zu werden. Rüdiger Ledermann jedoch überschritt diese Grenze in seinen Gedanken bereits, noch bevor der Startschuss gefallen war. Sein Interesse war darauf gerichtet, zu erfahren, wie weit er sich von der Zone des Erlaubten entfernen könne. Er wollte das Ungefährdete, den Freiraum des Tolerierten, hinter sich lassen. Sich über die unsichtbare Grenzlinie, die imaginär um diesen Bereich gezogen war, vorwagen. Testen, wie weit, wie lange noch das Risiko kalkulierbar blieb. Und Risiko, das bedeutete: Zur Rechenschaft gezogen werden. Das bedeutete, einzustehen für Dinge, die er aus Experimentierlust tat. Schonungslos, wie es nun einmal seine Art war.

Ihn dann aber als Verursacher einer Überschwemmung zu bestrafen, nur weil er die Schleuse eines Staudammes geöffnet hatte? Nein, das wollte und musste er vermeiden. Denn Rüdiger interessierte, wie hoch das Wasser steigen würde. Nicht, was oder wen diese Wasser überschwemmten, oder gar vernichteten!

Manchmal aber, und jetzt richtete Paul Hochwallner den Fokus wieder auf sich, manchmal, wenn er sich selbst kritisch betrachtete, streifte ihn das Gefühl, es habe ihm damals wohl an Selbstvertrauen gefehlt; dass er nicht ›wettkämpfte‹, sondern bloß seinem Vorbild nacheiferte; er solange gleichen Schritt mit Rüdiger hielt, bis ihm eben die Luft ausging. Es gab bei ihrem Spiel keine Sieger oder Verlierer. Was es aber gab, waren Opfer. Ein Opfer zu viel …

Eigentlich mochte niemand in der Klassengemeinschaft Rüdiger Ledermann. Was aber, wenn man zwar Ablehnung sät, aber Gleichgültigkeit erntet? Wenn es dem Objekt der Ablehnung vollkommen egal ist, nicht akzeptiert zu werden? Man verliert die Lust daran, jemanden nicht zu mögen. Man respektiert schließlich seine Ungerührtheit wie auch seine Unberührbarkeit, unwillig zwar, aber doch auch mit einem leisen Anflug von Bewunderung.

»Was hast du denn, Schätzchen? Du verschüttest ja deinen Kaffee?« Susi streckte ihren Arm aus und legte ihre Hand, an der ein Diamantring glitzerte, in theatralischer Zärtlichkeit auf seinen Unterarm.

»Moment«, unterbrach sie sich und blickte auf ihr Smartphone. »Von Eva!« Sie las die Nachricht. Ein Ausruf des Entzückens!

»Eva fragt, ob sie heute Abend mit ihrem neuen Freund zu uns kommen darf? Sie hätten uns eine außerordentlich wichtige Nachricht mitzuteilen! Oh, Paul, ich werde wahnsinnig!«

Ihr eingefettetes Gesicht strahlte vor Freude. »Nach dem Nagelstudio muss ich noch dringend einen Friseurtermin einschieben!«

Die Ölgemälde mit den Landschaftsmotiven waren aus dem Halbschatten herausgetreten. Die Sonne, weitergewandert, hatte sich von dem Rosenbild mit der Tochter entfernt; in verschatteter Teilnahmslosigkeit blickte es nun auf seine unruhigen Besitzer.

 

5. Kapitel

 

Bad Reichenberg

Samstag, 16. Juli 2005

Richter will Ruhe

 

Etwa 10 Gehminuten vom Hauptgebäude der Kuranstalt entfernt befindet sich, auf einem Hügel gelegen, die Villa Edith. Da es nicht möglich ist, die rund 1000 Kurgäste sämtlich im Hoteltrakt des Hauptgebäudes unterzubringen, stehen rund um den ausgedehnten Kurpark mehrere Pensionen, organisatorisch der Kurverwaltung unterstehend, als Unterbringungsmöglichkeit zur Verfügung.

Über eine steile Zufahrtsstraße erreicht man das vom angrenzenden Wald bedrängte, einstöckige, alte Villengebäude, in dem Isabella Richter für vier Wochen den Augen einer Öffentlichkeit entzogen werden sollte, die sich mit Vorliebe um Dinge kümmert, die sie nichts angehen.

Sämtliche Zimmer des Hauses waren Einbettzimmer, so dass sich Richter sogleich wie zu Hause fühlen konnte. Daran hinderte sie allerdings, dass Einrichtung und sanitärer Komfort ihres Zimmers mit dem Standard der Moderne auf Kriegsfuß standen. Der Werbeprospekt fand hierfür die herzige Umschreibung: »Unsere Suiten (!) atmen das Flair und den Charme der guten, alten Zeit.« Richter hätte es ahnen müssen; denn seit wann können Suiten atmen?

Entschädigt wurde sie ein wenig durch einen großen Balkon mit Blick auf die Talsenke, den Kurpark und das Kurhauptgebäude.

Ihre Hauptbeschäftigung in den kommenden Wochen, darüber war sich die Kommissarin klar, bestünde in der Eingewöhnung in eine völlig andere Lebensweise. Insbesondere manifestierte sich das in: Geregelten Mahlzeiten, ausreichendem Schlaf und Freizeit bis zum Abwinken. Nun, es gab Schlimmeres.

An diesem Morgen meldete sich wie immer pünktlich um 6 Uhr ihr Handy mit dem alten Hank-Williams-Song ›There’s a tear in my beer‹. Die Wahl dieses Weckliedes war streng genommen aus präventiv-medizinischer Sicht abzulehnen. Denn Liedzeilen wie die folgenden beschrieben Strategien der Problembehandlung, von denen sie um jeden Preis Abschied nehmen sollte.

»I’m gonna keep drinkin’

till I can’t move a toe

and then maybe my heart

won’t hurt me so.«

Wie dem auch sei, bis zum Frühstück blieben ihr noch gut drei Stunden. Sie erledigte ihre Körperpflege in gedankenloser Routine, zog Bluse und Jeans an und warf dann einen Blick auf den Therapieplan. Um 11 Uhr Ergometer-Training, um 12 Uhr Hydromassage, dann bis Montag Freizeit. Vor die Wahl gestellt zwischen einer Massage durch geschulte Pflegekräfte oder der auf einer maschinell gesteuerten Wasserbettliege, entschied sie sich für letztere. Von fremden, diesfalls höchstwahrscheinlich männlichen, Händen betatscht zu werden, war in ihren Augen etwas für Wanderhuren, aber nicht für jemanden wie sie, die am eigenen Leib erfahren musste, zu welcher Brutalität männliche Hände sich imstande zeigten. Wenn das neurotisch sein sollte: Na gut, dann war das eben so.

Sie informierte sich im Fernsehen über die aktuelle Weltsituation. So erfuhr sie, dass der Präsident Irans anderen islamischen Staaten die iranische Nuklear-Technologie zur Nutzung bereitstellte, aber dass die Islamische Republik niemals nach Massenvernichtungswaffen strebe. Und die Erde ist eine Scheibe, dachte Richter seufzend und drückte auf den Aus-Knopf.

Sie griff nach dem Buch ›1001 Schachaufgaben‹ von John Emms und vertiefte sich in die Lösung der Schachaufgaben Nr. 239 bis Nr.245. Das Abstrakte bot noch immer den sichersten Schutz vor dem Konkreten.

---ENDE DER LESEPROBE---