Richter fährt zur Hölle - Rudolf Strohmeyer - E-Book

Richter fährt zur Hölle E-Book

Rudolf Strohmeyer

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Beschreibung

Kommissarin Richter steht vor dem schwersten Fall ihrer Karriere: sie übernimmt Babysitter-Dienste für den Säugling ihres Assistenten. Doch der Abend endet mit einer Katastrophe … Gleichzeitig findet man im nahegelegenen Angerbach eine Leiche. Wie kommt es, dass Menschen inmitten sie umgebenden Wohlstands verdursten? Und warum putzt sich ein vermeintlicher Selbstmörder vor dem Sprung in die Tiefe die Zähne? Richter stößt auf eine Spur. Doch sie bekommt es diesmal mit einem allmächtigen, über Leben und Tod gebietenden Gegner zu tun: mit der Katholischen Kirche ...

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

06/2023

 

Richter fährt zur Hölle

 

© by Rudolf Strohmeyer

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Creativ Work Design

Lektorat: Matthias Schlicke

Korrektorat: Julia Diederichs

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto:Sandra Strohmeyer

 

Coverbild ›Tote lesen keine Krimis‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Totenasche‹

© 2021 by Creativ Work Design, Homburg

Stock-Fotografie ID:486918413, Bildnachweis:3drenderings

 

ISBN 978-3-96741-220-8

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

Printed in Germany

 

 

Rudolf Strohmeyer

 

Richter fährt zur Hölle

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der zweite Richter-Roman

 

 

Inhaltsübersicht

 

Prolog

1. Friseure

2. Babysitter

3. See-Villa

4. Gipfeltreffen

5. Selbsttöter

6. Gasthaus und Apotheke

7. Chorsänger

8. Paradies-Hof

9. Mutter und Sohn

10. Gedankennetz

11. El Dorado

12. Schweinerei

13. Priesterseminar

14. Hölle

15. Mitleid

16. Noch einmal Hölle

17. Sakristei

18. Schloss und Riegel

19. Gottesacker

20. Sackgasse

21. Geburtstag

22. Maier

23. Endstation

Epilog

Nachwort

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Oh, Isabella, proud Isabella

they tore you down and

plowed you under

 

Neil Young »Ambulance Blues«

 

 

Prolog

 

 

»Hallo? Sie erreichen mich, zu Ihrem mir unverständlichen Bedauern, nicht. Bitte hinterlassen Sie nichts nach dem Signalton. Ich rufe so zeitverzögert, wie nur möglich, nicht zurück. Denken Sie daran, Ihr Handy auszuschalten, und vergessen Sie, es wieder einzuschalten. Vielen Undank.«

Piep-Töne verkündeten das Ende des nicht stattgefundenen Gesprächs. Dr. Noel Kirchner kochte vor Wut. Auch dieses gefühlt zwanzigste Mal eines Kontaktversuchs verebbte also ergebnislos. Das allein hätte schon genügt, den geduldigsten Stoiker auf die Palme zu bringen. Aber dann auch noch diese Sprachbox-Botschaft! Die Ausgeburt eines infantilen Vollidioten? Bedauerlicherweise nein. Es war das leider, leider vollkommen ernst gemeinte Produkt einer lebensüberdrüssigen Spottdrossel. Und als ob das alles nicht schon mehr als genug wäre: diese Spottdrossel war noch dazu seine erklärte Vorzeigekommissarin und unangefochtene Paradeaufklärerin in Mordfällen!

Dr. Kirchner sprang auf und schnellte den echtlederbezogenen Bürodrehsessel mit den Kniekehlen in die dunklen Velourvorhänge, die das hinter seinem Schreibtisch befindliche bodentiefe Fenster zur Hälfte verdeckten. Energischen Schrittes eilte er zur gepolsterten Bürotür, durchquerte das Sekretariat und wandte sich dann nach links, wo sich der aus Vorkriegszeiten stammende Paternoster befand. Da sich die Mehrheit aller hier tätigen Beamtinnen und Beamten des modernen Aufzugs am entgegengesetzten Ende des Gangs bediente, schwebte Dr. Kirchner ungehindert schon wenig später Richtung Erdgeschoss.

Mit kräftiger Gebärde öffnete der untersetzte, ein wenig behäbig wirkende Polizeidirektor die Tür zur Einsatzzentrale und blieb stehen. Etwa ein Dutzend Polizeikräfte verrichtete hier ihren Dienst, tätigte Telefonate, arbeitete sich durch Dateien, überprüfte und vervollständigte Akten, oder widmete sich der ersten Zwischenmahlzeit an diesem stinknormalen Arbeitsvormittag.

»Wo zum Teufel ist Richter?«, brüllte Kirchner und weidete sich insgeheim an den erschrockenen Blicken.

Wenig verwunderlich meldete sich Margaretha Kirchner, seine Nichte, Tochter seines Bruders. Die wusste genau, wie sie ihn zu nehmen hatte und wagte es auch, von Zeit zu Zeit anderer Meinung zu sein als ihr Onkel. Zwar unternahm es dieser stets wieder aufs Neue, ihr deutlich zu machen, dass sie damit die Moral der Truppe untergrabe. Aber letztlich scheiterte er an dem notorisch vorgebrachten Totschlagargument, dass man sich im 21. Jahrhundert befände und die Zeit autoritärer Herrscherallüren ein für alle Mal der Vergangenheit angehöre. »Keine Ahnung, Onkel. Ist die denn nicht im Büro?«

Er beherrschte sich. Logisches Denken war nun einmal eine Gottesgabe und daher nur gnadenhalber und willkürlich verliehen. Und darüber hinaus fast ausschließlich dem männlichen Geschlecht vorbehalten.

»Leider nein. Wenn sie einem von euch über den Weg läuft: sie möge sich unverzüglich bei mir melden! Oder …«

»Oder was?«

»Oder das Kommissariat muss sich nach jemand Neuem umsehen!«

»Wieso? Gehst du denn schon in Rente, Onkel?«

 

*

Die fühlten sich ja wirklich fantastisch an, diese neuen Schuhe. Dr. Bachmann sprintete in leichtem Laufschritt durch die weitläufigen Gänge des Kommissariats. Das im späthistoristischen Baustil um die Wende des vorigen Jahrhunderts errichtete viergeschossige Bauwerk hatte beide Weltkriege unbeschadet überdauert. Es schien auch die unorthodoxe Amtsausübung einer Kommissarin Richter bis jetzt heil überstanden zu haben.

Nach dem großen Krieg beherbergte das Gebäude das Heeresamt, bevor dieses in die Metropole verlagert wurde. Folge der großzügigen architektonischen Gestaltung war ein verschwenderisches Raumangebot. Aber leider: wie in allen Behörden herrschte auch hier ein notorischer Mangel an verfügbaren Budgetmitteln. Und dieser Mangel wiederum trug Schuld an einer veralteten bürotechnischen Ausstattung. Wodurch andererseits zusätzlicher Personalbedarf entstand. Und der fraß die Budgetmittel auf, die man für eine Modernisierung gebraucht hätte …

In den handgefertigten Sneakers verspürte der sportliche Untersuchungsrichter jugendlichen Elan. Ledergefütterte Einlegesohlen. Bordeauxrot. Irgendeinen Grund musste es ja schließlich für den völlig überhöhten Preis geben. Und wenn man diesen Luxustretern das geopferte Geld förmlich ansah, dann beruhigte das ein wenig das eigene schlechte Gewissen. Der Grund hierfür lag in folgender ausgefuchster Überlegung: In der Liste der Todsünden rangiert Neid, den andere beim Anblick seiner Schuhe empfinden mochten, an erster Stelle. Somit deutlich vor der Sünde Habgier, die Platz drei einnimmt. Sollte jemand also ihm selbst ein gesteigertes Streben nach materiellem Besitz unterstellen wollen: dann möge er bitte den anklagenden Finger zuerst gegen die Neider erheben!

Vor der für Kapitalverbrechen zuständigen Abteilung blieb er stehen, keuchte sich kurz aus und öffnete mit gemessenem Schwung die Tür. Zwei Beamte hinter Computerbildschirmen blickten fragend auf.

»Wo ist Richter?«

Die Beamten sahen einander an, verständigten sich stumm über die Rollenverteilung. Der näher zur Tür Sitzende übernahm die Wortführung: »Guten Morgen, Herr Dr. Bachmann. Keine Ahnung.«

»Wieso? Meldet die sich denn nicht bei euch ab?«

»Wer? Die ›Richterin‹?« Die beiden Polizeibeamten lachten schäkernd.

Elende Sesselfurzer, dachte Dr. Bachmann. Laut aber sagte er: »Wenn Richter wieder auftaucht, soll sie sich umgehend bei mir melden. Sonst schick ich sie auf Streifendienst, klar?«

Das Sprachrohr des Bürokratenduos grinste. »Wirklich? Dafür würde die Ihnen glatt die Hand küssen!«

 

*

 

»Dadidu! Du kleiner Dadidu! Brav auf Mami aufpassen, du Dadidu! Bella, bist du es wieder?«

Noch vernahm er undeutliches Gebrabbel, aber dann meldete sich schon seine Freundin: »Du hättest ihn sehen sollen! Donald erkennt schon deine Stimme!«

»Oh ja? Wirklich? Das ist ja großartig. Aber du, Bella, ich muss Schluss machen. Ich melde mich am Nachmittag wieder.«

Eine Zeitlang saß Kriminalassistent Maier noch an seinem Schreibtisch, betrachtete leeren Blicks sein ausgeschaltetes Handy und ließ noch einmal das Babyplappern vor seinem geistigen Ohr Revue passieren. Dann tastete seine Hand nach dem zur Hälfte mit Automatenkaffee gefüllten Becher und er trank einen Schluck. Auch wenn es bereits der dritte Kaffee dieses Vormittags war, stellte sich der erwünschte Effekt noch immer nicht ein. Baby Donald hatte wieder einmal unerschütterlich an seinen Wach- und Schlafintervallen fest- und seine Eltern unliebsam auf Trab gehalten.

Maier sah aus wie durch die Mangel gedreht. Das braune Kopfhaar ungewaschen und verwirbelt, die müde blickenden Augen von dunklen Schattierungen unterlegt und die fahle Haut von Bartstoppeln bedeckt. Und dennoch fühlte er sich so glücklich wie noch nie zuvor.

Daran änderte auch das folgende Telefonat nichts. Genauer gesagt, der folgende Versuch einer telefonischen Kontaktaufnahme, der so wie ein halbes Dutzend vorhergehender erfolglos blieb.

Seufzend knüllte er sich aus dem Sessel, dehnte und streckte sich und verließ das Büro. Ihm war eine Idee gekommen. Er bewegte sich mit Puddingknien in Richtung Stiegenhaus und stolperte in den ersten Stock. Dort befand er sich sozusagen schon auf dem Zieleinlauf. Der gesuchte Raum bildete den Abschluss des vor ihm liegenden langen Ganges. Unterwegs nickte er Vorbeikommenden freundliche Grüße zu. Ausgenommen einem stadtbekannten Zuhälter. Der bedankte sich mit einer schlecht gezielten Spuckfontäne und rasselte mit den Handschellen.

Arbogast Maier hielt vor der Tür zur Asservatenkammer an. Mechanisch griff er an seinen Krawattenknoten und stellte verwundert fest, dass Knoten und Krawatte heute seiner Unausgeschlafenheit zum Opfer gefallen waren.

Er klopfte und öffnete die Tür. Vor ihm lag der riesige, mit Regalreihen vollgestellte, als Asservatenkammer bezeichnete Raum. Gleich neben der Tür saßen an einem schlichten Tisch zwei Beamtinnen und schlugen sich die Zeit mit der Aktualisierung ihrer Inventarverzeichnisse tot.

Die eine, ohne Pferdeschwanz, hatte rote Lippen und unlackierte Fingernägel. Die andere hingegen, die mit Pferdeschwanz, hatte ungeschminkte Lippen und rot lackierte Fingernägel.

»Verzeihung, Ladies«, schnurrte Maier in ungewollter Heiserkeit. »Wo ist Richter?«

»Richter? Du meinst doch nicht etwa die ›Richterin‹«?, wunderte sich Pferdeschwanz.

»Kommissarin Richter, genau«, schöpfte Maier Hoffnung.

Die Beamtinnen wechselten einen Blick des Einverständnisses. »Moment«, säuselte Pferdeschwanz. Dann beugten beide ihre Köpfe über die vor ihnen liegenden Verzeichnisse, fuhren mit ihren Zeigefingern die nummerierten Linien entlang, murmelten Worte wie »Spitzhacke«, »Massagegerät« oder »Rattengift«. Sie endeten beinahe gleichzeitig und falteten ihre Listen zusammen.

»Ist nicht hier«, stellte Pferdeschwanz fest und legte eine Lache an den Tag, die nur noch von der ihrer Kollegin übertroffen wurde.

Maier wurde rot. »Sehr witzig, Ladies. Gebt mir Bescheid, falls sie hier auftaucht.«

»Machen wir«, prustete Pferdeschwanz. »Wie hättest du es denn lieber? Tot oder lebendig?«

 

*

 

Die Frau auf der Bank bohrte eine Forke aus Mahagoniholz durch ihr grau gesprenkeltes dünnes Haar. Dann lehnte sie sich zurück und genoss die Strahlen einer angenehm warmen Frühlingssonne. Erneut ließ sie ihren Blick über die Gräberreihen schweifen.

Wenn sie sich nicht täuschte, konnte man die Grabinschriften in zwei Kategorien einteilen. Solche, die verkündeten, dass eine namentlich genannte Person hier »ruhe«. Dem war recht häufig eine Danksagung beigefügt. Da mochte wohl gelegentlich der Eindruck entstehen, dass man sich für das endlich ewige Ruhen bedankte. Insgesamt betrachtet wiesen diese Beschriftungen nur sehr wenig Einfallsreichtum auf. Schmunzeln musste sie lediglich bei der Grabinschrift: »Hier ruht Ruth.«

Die zweite Sorte bestand einerseits aus Literaturzitaten und poetischen Kalendersprüchen. Oder andererseits biblischen Weisheiten. Dementsprechend wünschte man sich seine Toten nicht unter die Erde, sondern in den Himmel. Womöglich gar in Engelsgestalt.

Rilke, Shakespeare, Goethe und ein weiteres halbes Dutzend einschlägiger Kalendersprüchler ritterten hier um die Poleposition. Weniger individuell konnte ein Abschiedsgruß wohl kaum sein. Gleichlautende Zitate bei einer am Schlaganfall verstorbenen 90jährigen Uroma und einem im Suff die Fahrbahn verwechselnden Jugendlichen: Da dreht man sich doch im Grab um! Noch dazu, wenn der Adressat der hehren Dichterworte zeit seines Lebens mit dem weisen Sprücheklopfer nie das Geringste zu tun und diesen womöglich nie gekannt hatte!

Die Frau auf der Bank nahm ihre Brille ab und knetete die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Wie sollte denn dereinst – also morgen oder in 40 Jahren – ihre eigene Visitenkarte für das Jenseits lauten? Lange hatte sie »Heute Ruhetag« favorisiert. Derzeit allerdings neigte sie eher zu einer Selbstcharakteristik, die den Hinterbliebenen zu denken geben mochte. Hier ergab sich jedoch das Problem, dass in ihrem Fall keine Hinterbliebenen auftauchen würden. Kein Gatte, keine Geschwister, kein Freund, keine Kinder, kein Haustier … Aber sie neigte doch jetzt um Gottes willen nicht zur Sentimentalität! Noch dazu, wo es sich lediglich um ihren eigenen Tod handelte!

Also, ein Grabstein mit Namen und Jahreszahlen, und darunter eingraviert: »Der wirklich sensible Mensch leidet darunter, dass er unabsichtlich gezeugt wurde.«

Die Frau auf der Bank sah auf die Uhr. Himmel! Bereits Elf! Im Kommissariat liefen sie bestimmt schon im Kreis. Höchste Zeit, sich wieder denjenigen zu widmen, die immer wieder aufs Neue dafür Sorge tragen, dass Gräber Nachschub erhalten. Sie stand auf, entfernte imaginäre Staubfäden von ihrer Bluse, und spazierte durch die Friedhofsallee in Richtung Ausgangstor.

 

1. Friseure

 

 

Der kleine Jonas fühlte sich nicht wohl. Das allein verdiente noch keine Erwähnung. Denn Jonas fühlte sich selten wohl. Aber das heutige Unbehagen gehörte einer bestimmten Sorte von Unlustgefühlen an. Jener nämlich, die von einem konkreten Ereignis ihren Ausgang nehmen, dann aber für längere Zeit wirksam bleiben. Und mit dieser Art von Gefühlen war er leider sehr, sehr vertraut.

Jonas ging zum Friseur. Nicht freiwillig, wie sich denken lässt. Die Sache war in jeder Hinsicht ärgerlich. Zum einen umwallte ihn seine dichte, rostrote Mähne in genau jener Fülle, die seine oft ungewaschenen Ohren und seine manchmal unsauberen Hemdkrägen den Blicken Neugieriger entzog. Bei dieser, seiner Lieblingshaarlänge, scheiterte jeder Versuch des Kämmens schon im Ansatz. Und genau dann, wenn er sich endlich einmal in seiner (Kopf)Haut wohlfühlte, schickte ihn die gnadenlose Mutterfurie zum Glatzentischler!

Jonas gelangte nun an das Ende des Bachuferweges und bog in Richtung Marktplatz ab. Wie überall in Angerbach, mit Ausnahme der einzigen quer durch den Ort führenden Durchgangsstraße, herrschte wenig Verkehr. Er blickte auf die Uhr. Falls er zu spät kommen wollte, täte er gut daran, sich Zeit zu lassen. Und er wollte zu spät kommen. Denn wenn der Friseur nach ihm schon einen Termin für den nächsten Kunden reserviert hatte, bestünde die Chance, dass er sich mit Jonas aus Zeitmangel weniger gründlich würde beschäftigen können. Das wiederum gäbe zur Hoffnung Anlass, dass der Nacken nicht ganz so gründlich ausrasiert würde. Dass der Bereich rund um die Ohrmuscheln dieses eine Mal nicht ganz so kahl geschoren aussähe wie ein in die Hände von Baugrundspekulanten gefallener griechischer Zypressenwald.

Das Fürchterliche an diesem entstellenden Scherenmassaker spielte sich allerdings erst danach ab. Nämlich in der Begegnung mit den Klassenkameraden. Die Mädchen enthielten sich gewöhnlich eines Kommentars. Und wenn schon! Wen interessierte denn die Meinung dieser Schnattergänse? Aber die lieben Freunde. Er, Jonas, musste auf Grund seiner feuerroten Haarpracht ohnehin schon den Spitznamen Feuermelder in erzwungener Toleranz ertragen. Doch nach einem Friseurbesuch roch die Meute erst so richtig Blut. Ob er versehentlich unter einen Rasenmäher geraten sei? Er möge doch den Kammerjäger verständigen, dass eine haarfressende Wanze die Nachtruhe zu Fressattacken ausnütze. Und anderes mehr in dieser Tonart.

Von der Marktstraße zweigte ein Sackgässchen ab. Hier noch etwa hundert Meter und die schon recht verwitterte Hausfassade tauchte im Blickfeld auf. Jonas seufzte. Schon konnte man das über dem Eingang des Friseurladens der Gebrüder Wigand und Julian Böck befindliche Firmenschild erkennen. Haar-Riss lautete der reichlich unsinnige Geschäftsname. Der kleine Jonas näherte sich der Eingangstür. Erst, als er bereits die Klinke vergebens niedergedrückt hatte, entdeckte er das an einem Kettchen baumelnde Schild mit der Aufschrift: »Closed«.

 

*

 

Durch die leicht verschmutzten Fensterscheiben brachen die Sonnenstrahlen in den Raum, beleuchteten tänzelnde Stäubchensäulen. Den drei hydraulischen Friseurstühlen antwortete das stumme Echo ihrer Spiegelbilder und bestätigte die Trostlosigkeit leerer Sitze. Auf der Ablagefläche vor den Spiegeln lagen ein Haarföhn neben einer Packung Verbandpflaster für den Notfall, zusammengeknüllte schwarze Friseurumhänge, standen Bartpflegesets mit Pinseln und klingenbestückten Rasierhobeln, mehrere Dosen mit Rasierschaum. Verloren träumte ein höhenverstellbares Haarwaschbecken auf einer säulenartigen Konstruktion von einstigen feuchten Exzessen. Der ewige Geruch von Herrenduftwasser hing in der ein wenig stickigen Luft.

Wigand Böck, Hände in den Hosentaschen, stand an die Wand gelehnt, die den zum Toilettentrakt führenden Gang begrenzte. Mit dem ihm eigenen freundlich klingenden Tonfall, der über die wahre Gemütsverfassung des Sprechers immer ein wenig im Unklaren ließ, fragte er: »Nun? Was machen wir?«

Hinter dem Registrierkassenpult erfolgte keine Reaktion. Weiterhin nur leises Schluchzen. So gedämpft, als wäre es sich seiner Unangepasstheit durchaus bewusst. Wigand wartete. Schließlich, mit stärkerem Nachdruck: »Julian? Was machen wir?«

Wie schon so oft fragte er sich auch jetzt wieder, wieso man zwischen ihm und seinem ein Jahr jüngeren Bruder eine große äußerliche Ähnlichkeit behauptete. Ihm selbst schien Julian stets wie ein schwächerer, blasser und unentschlossener Rohentwurf seiner selbst. Allerdings stimmte es, dass Julian von Kind an darauf hinarbeitete, ihm, dem Älteren, so ähnlich wie nur möglich zu werden. Und seitdem sie gemeinsam den Friseurbetrieb Haar-Riss betrieben, kultivierte Julian diese Nachahmung aller äußerlichen Erkennungsmerkmale in geradezu lächerlichem Ausmaß. Ihnen beiden war eine im Gegensatz zum eher kräftigen Hals filigran wirkende Kopfform mit ovaler Gesichtspartie zu eigen, leicht gesenkte Augenlider unter schmalen, dennoch buschigen Brauen und eine Mundform, die sich durch symmetrische Lippenstellungen unter gut ausgeprägten Labialfalten auszeichnete. Andererseits zwang Julian sein eher strubbeliges Haar gewaltsam in den gleichen Schnitt wie Wigand. Auch er trug es an den Schläfen kurz, oben mittellang und in einer Tolle schräg nach rechts gekämmt. Alles Bemühen um ein identisches Erscheinungsbild scheiterte letzten Endes an einem deutlichen Unterschied der Körpergrößen. Gegen Wigands 184 cm zog Julian im wahrsten Sinn des Wortes mit seinen 178 cm den Kürzeren.

Wigand verlor die Geduld. »Julian! Wir können so nicht weitermachen! Es muss etwas geschehen! Seit Eröffnung dieses zweiten Frisiersalons in Angerbach, Behaarlich - Damen- und Herrenfriseur, laufen uns die Kunden in Scharen davon.« Er stemmte sich von der Wand, ging auf und ab, redete sich in Fahrwasser. »Mit einem Betrieb für Herren allein können wir zusperren. Wenn wir zusätzliche Frisierstühle für Damen anschaffen, uns weibliche Fachkräfte aus der Großstadt holen, haben wir alle Chancen! Wir sind gut, aber wir sind zu klein, zu spezialisiert. Was also brauchen wir am dringendsten, Bruderherz?« Der zu Beginn noch aufgebrachte Tonfall hatte sich wieder gemäßigt, schwenkte um zu einer sachlich ruhigen Argumentationslinie.

Geistesabwesend starrte Julian auf das Kassenpult vor sich. Auf seinen Wangen glänzte es von ungetrockneten Tränen. Wie widerwillig tropfte ein Wort aus seinem Mund: »Geld …«

Bruder Wigand klatschte in die Hände. »Exakt! Geld. Wir brauchen Geld. Viel Geld. Und ich weiß auch, wie wir uns das beschaffen können. Ohne dass wir damit jemandem wirklich schaden. Wir nehmen es von dort, wo genug davon vorhanden ist. Bist du bereit, morsche Moralbedenken auf den Müllhaufen unnützer Gewissensskrupel zu werfen? Sag ja, Bruderherz.« Er lachte. Lachte wie jemand, der ein Rätsel gelöst hat, vor dem andere noch immer begriffsstutzig an ihren Nägeln kauen.

Der Angesprochene zog ein Taschentuch, schnäuzte sich, zuckte mit den Achseln.

»Hör zu, Julian. Meiner Einschätzung nach, und ich denke nicht, dass ich mich irre, gehört unser Apotheker zu den reichsten Bürgern des Ortes. Pharmazeut Hammerschmied soll, munkelt man, über ein Barvermögen von rund eineinhalb Millionen Euro verfügen. Was meinst du, wird ihm ein Preis von 500.000 Euro als Gegenleistung dafür, dass er am Leben bleiben darf, zu hoch sein?«

»Dass er am Leben bleiben darf? Ich würde 500.000 Euro dafür bezahlen, wenn ich endlich sterben dürfte«, brach es aus Julian heraus wie Schmutzwasser aus einem verstopften Abflussrohr.

»Ja, ja, ja! Ich kotze gleich. Also sind wir uns bis hier einig?«

Überraschenderweise wartete der triste Bruder mit einer vernünftigen Frage auf. »Und womit willst du ihm drohen?«

»Wir. Womit wollen w i r ihm drohen. Denn wir ziehen das gemeinsam durch, Bruderherz. Ganz einfach, wir entführen ihn und verlangen Lösegeld.«

Etwas wie ein Lächeln huschte über die vergrämten Gesichtszüge des kleinen Bruders. »Der Friseur entführt den Pharmazeuten in einem 10.000-Seelen-Nest wie Angerbach. Du spinnst.«

Wieder lachte Wigand. »Keineswegs, Bruderherz. Ich habe alles genau überlegt. Zunächst einmal müssen wir feststellen, in welchen Nächten die Apotheke Zum Auge des Himmelsvaters Nachtdienst hat. Soweit ich weiß, fällt das immer auf einen Dienstag. Und dann gehen wir so vor …«

 

*

 

Wigand Böcks Plan, erste Phase:

Man kann geteilter Ansicht darüber sein, ob kleine ländliche Gemeinden sich tagsüber oder nachts stärker vom Erscheinungsbild bevölkerungsreicherer Städte unterscheiden. Sicher ist jedenfalls, dass in Städten bereits unter der Woche, verstärkt aber natürlich an Wochenenden, die Nacht zum Tag gemacht wird. Während sich in Provinzdörfern der Eindruck aufdrängt, als würde umgekehrt der Tag schon zur Nacht gemacht. Kurz und gut, in Angerbach herrschen nachtsüber in Straßen und Gassen Finsternis und gespenstische Stille. Die Finsternis hin und wieder aufgehellt von Straßenlaternen und hinter Vorhängen durchschimmernden, leuchtenden Fernsehbildschirmen. Die Stille gelegentlich, mit fortschreitender Nacht freilich immer seltener, gestört von aus geöffneten Fenstern quellendem Fernsehmoderatorengelaber.

Zwei Uhr morgens. Ein merkwürdiges Wesen nähert sich vorsichtigen Schrittes der hellerleuchteten Eingangsfront der Apotheke Zum Auge des Himmelsvaters. Als es in den aus dem Geschäftsinneren auf den Gehsteig fallenden Lichtkegel tritt, erkennt man einen mit dunklem Pullover und schwarzer Jeans gekleideten Mann, der einen kleinen Rucksack in der rechten Hand hält. Drei Dinge fallen als vollkommen ungewöhnlich auf. Der Mann trägt einen Hut, der allerdings nicht dem ländlichen Filzhutypus mit grüner Kordel entspricht. Erst wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass es sich um eine Faschingskopfbedeckung aus Pappe handelt. Diese stellt die Imitation eines Bowler-Huts dar, hierzulande als Melone bekannt. Noch kurioser mutet allerdings die Tatsache an, dass der Mann eine dunkle Sonnenbrille trägt. Und als wäre all dieser Mummenschanz noch nicht genug: eine weiße Grippeschutzmaske verdeckt die untere Gesichtshälfte komplett.

 

*

 

»Hmmm … Und du glaubst nicht, dass jemand sich daran erinnert, dass du diese Melone im Karneval getragen hast?« Tatsächlich schien Julians Interesse geweckt zu sein.

»Wer jemand? Der einzige, der mich zu sehen bekommt, ist der Pharmazeut. Und der ist in der Faschingszeit so gut wie immer auf den Malediven. Außerdem habe ich diesen Hut zuletzt vor drei Jahren getragen.«

Julian lenkte ein. »Gut, meinetwegen. Aber du müsstest ja auch in die Apotheke hinein, um dir Hammerschmied zu schnappen. So, wie der gebaut ist, dürftest du allerdings kaum eine Chance haben …« Sein Blick glitt über die Figur des vor ihm auf und ab gehenden Bruders. Die durchaus als gut trainiert und sportlich bezeichnet werden konnte. Aber ob das ausreichte?

 

*

 

Wigand Böcks Plan, zweite Phase:

Es vergehen nur wenige Augenblicke, bis sich, von der Klingel alarmiert, aus dem Aufenthaltsraum im hinteren Trakt des Gebäudes Diplom-Pharmazeut Kai Hammerschmied der Eingangstür nähert und die in der verglasten Tür eingelassene runde Sprechöffnung aufklappt. Selbst unter dem weißen Arztmantel bleibt der muskulöse Körperbau des 1,86 Meter großen Mannes mit der hohen Stirn und den nach hinten gekämmten, mittellangen, an den Schläfen stark ausgedünnten schwarzbraunen Haaren gut erkennbar. An Stelle eines Grußes nickt der Apotheker bloß, lässt keine Anzeichen von Verwunderung über das Äußere seines Besuchers erkennen.

Dieser hustet zunächst einmal ausgiebig in seine Maske, dann keucht er seine eigenartigen Wünsche. Dass er ein Mittel gegen seinen Husten benötige, bewegte sich ja durchaus im Rahmen des Üblichen. Dass er behauptet, einen ganz aberwitzigen Juckreiz an seinem Gesäß zu verspüren, für dessen Linderung er dringend eine Salbe benötige, auch das könnte man als alltäglich bezeichnen, obzwar es in diesem Fall eine nächtlich auftretende Erscheinung ist. Nun aber kommt die wirklich ungewöhnliche Bitte; ob er denn nicht in die Apotheke eintreten dürfe, damit sich der Pharmazeut von der genauen Art des auf der Kehrseite tobenden Ausschlages ein Bild machen könne? Aus verständlichen Gründen wolle er nicht mitten auf der Straße seine Hose herunterlassen.

 

*

 

Dem Gelächter Wigands schenkte Julian kein Augenmerk. Nachdenklich, den Plan des Bruders als rein abstrakte Aufgabenstellung analysierend, bemerkte er: »Ich habe keine Ahnung, wie du diesen Hammerschmied überwältigen, in deine Gewalt bringen willst. Aber selbst wenn es dir-«, er brach ab, von der Gestikulation des Bruders irritiert.

»In unsere Gewalt, Bruderherz, in unsere!«, rief Wigand mit Nachdruck.

»Also gut«, gab Julian klein bei. »Falls wir das schaffen, wo sollen wir den Pharmazeuten verstecken? Wie willst-, wie wollen wir denn verhindern, dass er uns nicht früher oder später identifiziert? Und zu schlechter Letzt: dass unsere kleine Raiffeisenbank 500.000 Euro an Bargeld an die Frau des Pharmazeuten auszahlt – denn niemand anders kommt für die Lösegeldforderung in Frage –, ohne dass sich das herumspricht, daran glaubst du doch wohl selbst nicht?«

Wigand zwinkerte mit dem rechten Auge. »Immer schön der Reihe nach, Bruderherz. Um Kai Hammerschmied aufs Kreuz zu legen, gibt es ein bewährtes Hausmittel. Und wie es die Ironie des Schicksals will, stammt dieses Mittel aus der Apotheke Hammerschmieds selbst. Das gute alte Chloroform! Erinnerst du dich an die kleine blonde Inge?«

»Die mit dem großen …? Ja, natürlich. Wie könnte man die vergessen. Aber die hat doch vor einem Jahr nach Amerika geheiratet? Einen Chinesen, wenn ich mich recht erinnere?« Sogar in die notorisch vergrämten Gesichtszüge des unglücklichen Bruders kam Bewegung, huschte freudiges Erinnern über die erschlafften Gesichtszüge.

»Genau! Und die liebe Inge hat mir einen Gefallen erwiesen, für den sie ihre Vertrauensstellung als Apothekenangestellte ein wenig missbraucht hat …« Auch Wigand schwelgte anscheinend in Erinnerungen, lächelte versonnen. »Du willst hoffentlich nicht wissen, was ich damals mit dem Chloroform vorhatte? Es dann aber glücklicherweise nicht in die Tat umsetzte.« Er lachte. Vom langen Stehen doch etwas ermüdet, setzte er sich in einen der leeren Kundenstühle.

Julian kehrte zu seinem gewohnten Ernst zurück. »So, so. Du betäubst also den guten Kai mit einem Narkosemittel. Aber selbst in einem so verschlafenen Nest wie Angerbach sind Verfrachtung und Transport eines Bewusstlosen, ohne dass irgendwer etwas hört oder sieht, ein vollkommen unkalkulierbares Risiko! Außerdem hast du gar nicht erwähnt, dass du mit dem Auto zur Apotheke gefahren wärest?«

Wigand lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander, bildete eine Raute. »Aber Bruderherz, wer behauptet denn, dass wir den Apotheker überhaupt fortschaffen?«

Verblüfft riss Julian die Augen auf. »Aber … du kannst ihn doch nicht in der Apotheke …«

»Doch, doch«, lachte Wigand, »wir können, Bruderherz, wir können. Das Großartige an der Sache ist, dass man überall nach Kai suchen wird, nur nicht im eigenen Apothekengebäude. Auch diese Idee verdanke ich übrigens der nunmehrigen Chinesenbraut.« Friseur Wigand Böck sah seinem Bruder in die Augen. »Ich kann mich doch auf dich verlassen, Bruderherz? Wenn du es schon nicht für dich tust, dann tu es wenigstens für mich.«

Der Angesprochene rückte ein wenig unruhig in seinem Sessel, nickte aber bestätigend.

»Nun gut«, nahm Wigand den Faden wieder auf. »Im Keller des Apothekengebäudes befindet sich am Ende eines langen Ganges ein seit Jahrzehnten völlig ungenutzter Raum. In ihm befand sich in jener Zeit, als an dieser Adresse auch noch eine Arztpraxis betrieben wurde, ein Röntgenapparat. Aus Sicherheitsgründen wurden damals die Wände bleiverstärkt. Inge hat mich informiert, wo sich der Schlüssel zu diesem Raum befindet. Man muss sich schon sehr nahe an dieser Räumlichkeit aufhalten, um jemand darin Befindlichen rufen zu hören. Dorthin, liebes Bruderherz«, Wigand lächelte stolz, »verfrachten wir unser sogenanntes Entführungsopfer.«

Julian öffnete die Registrierkassenlade, überzeugte sich von deren gähnender Leere und schloss sie wieder. »Dann fehlt ja nur noch die winzige Kleinigkeit der Geldübergabe«, bemerkte er in einem seiner raren Anfälle von Ironie.

Die Aufregung trieb Wigand aus seinem Sitz. Wieder nahm er seine unruhige Wanderung im Frisiersalon auf. »Richtig, das Lösegeld. Das sogenannte Lösegeld. Denn das, was zwischen uns und der Apothekergattin, die wir zur Kassa bitten werden, als finanzielle Transaktion ablaufen wird, hat offiziell mit einer Erpressungszahlung nichts zu tun. Es wird sich schlicht und einfach um den Kauf eines Kunstwerks handeln, für das der anonym bleiben wollende Verkäufer einen Preis von 500.000 Euro bar auf die Hand verlangt. Nicht auf das Konto, bitte schön, sondern cash. Wegen der Steuer.«

Wigand klatschte in die Hände, sah zu seinem Bruder und fuhr fort, erleichtert darüber, nicht unterbrochen zu werden. »Gisela Hammerschmied wird im Kundenraum der Apotheke das kleine Ölbild Bergsee im Abendlicht finden. Von mir sozusagen als Andenken hinterlassen. Du weißt schon, Mutter verwahrt es im Schlafzimmerschrank. Die Apothekerin wird angeben, dieses Bild gekauft zu haben, weil sie der festen Überzeugung sei, es handele sich dabei um einen echten Ferdinand Waldmüller. Und sie wird uns sogar dankbar sein, dass wir ihr diese Notlüge im Zusammenhang mit der Abhebung des Geldes anbieten. Denn immerhin drohen wir ihr ja für den Fall, dass sie jemanden in die Sache einweiht, oder gar die Polizei verständigt, mit der stückweisen Rückerstattung ihres Gatten. Beginnend mit seinem, wie es der Herr Pharmazeut wohl bezeichnen würde, Begattungsorgan.« Wigands Stimmung steigerte sich, erreichte langsam den Höhepunkt.

Ein fragender Blick von Julian. Der ältere, stets tonangebende Bruder nickte zustimmend. Julian fasste zusammen: »Du wirst also außer dem Geld auch eine unterschriebene Bestätigung erhalten, dass die Apotheke den Betrag von 500.000 Euro bezahlt hat, um ein bestimmtes Ölbild zu erwerben. Und auch die Bank sollte den Auszahlungsbeleg mit diesem Verwendungszweck ausdrücklich bestätigen. Sollte dann jemals eine Spur zu uns führen, hätten wir damit ein Entlastungsdokument. Denn für die angebliche Freiheitsberaubung des Apothekers gäbe es keinerlei Beweise. Falls du keine Spuren hinterlässt, selbstverständlich. Hmmm …« Julian schüttelte den Kopf. »So ganz gefällt mir das noch nicht.«

Wigand blieb stehen. »Warum?«

»Die Lösegeldforderung. Wie willst du sie übermitteln?«

»Es gibt keine Lösegeldforderung! Pass doch auf, Julian!« Aber der Pläneschmied beruhigte sich rasch wieder. »Es gibt nur eine vorformulierte Auszahlungsbestätigung bezüglich des Kaufes des Ölgemäldes, das im Kundenraum der Apotheke hinterlegt wurde. Mit Unterschriftenzeilen für die Apotheke – die Apothekerin ist auch allein zeichnungsberechtigt – und für die Bank als auszahlendes Institut. Der Rest der notwendigen Informationen erfolgt über ein Telefonat am Mittwoch um 5Uhr morgens von einem Handy, über dessen Herkunft du nichts zu wissen brauchst. In diesem Telefonat erfährt Gisela alles von den Übergabemodalitäten des Geldes.«

»Ah ja? Und wie sehen die aus?«

Wigand platzte beinahe vor Stolz. Freudestrahlend verkündete er: »Geradezu genial simpel. Du weißt, dass Hammerschmieds am Fischteich eine kleine Hütte haben?«

Julian schüttelte den Kopf. »Hütte? Nach normalen Maßstäben gemessen ist das eine Villa mit allen Schikanen. Und eigenem Bootssteg samt Motorboot.«

»Exakt!« Wigand lachte. »Wir verstehen uns, Bruderherz. Also die Sache läuft so ab. Dienstag nachts Besuch beim Apotheker. Mittwoch in der Früh erhält Gisela die erfreuliche Nachricht, dass sie Besitzerin eines echten Waldmüller wird. Sie hat bis Montag Zeit, die bescheidene Kaufsumme beizubringen. Spätestens dann befindet sich das Bargeld in einer Tasche im Kühlschrank der Küche der See-Villa. Der Schlüssel zur Villa wird für uns dort bereitgelegt, wo ihn niemand findet. Nämlich unter der Fußmatte der Eingangstür.«

Er lachte. »Schau nicht so skeptisch, Bruderherz. Wer sich unerlaubt Zutritt zur Villa verschaffen will, macht dies mit Gewalt. Niemand aber käme auf die Idee, dass der Schlüssel sich quasi schon im Türschloss befindet.« Wigand klatschte in die Hände. »Irgendwann am Montag macht einer von uns beiden einen kleinen Ausflug zum Fischteich. Es ist ein Kinderspiel festzustellen, ob die Luft rein ist. Dann holen du oder ich die Tasche mit den Moneten und der Bestätigung über den Erhalt des Bildes. Und als kleines Dankeschön liegt für die liebe Gisela an der Stelle, an der sich das Geld befand, ein Schlüsselchen für einen bestimmten Kellerraum in der Apotheke.«

Julian bewies, dass er bei der Sache war. »Ein Schlüssel also, der sich sowieso im Besitz der Apotheker befinden sollte. Niemand könnte uns nachweisen, dass wir ihn im Haus hinterlegt haben, wo wir doch – sollte uns jemand unwahrscheinlicher Weise überraschen – nur den Kaufpreis abholen wollten. Hm … Und der Apotheker darbt eine geschlagene Woche im Kellerverlies?«

Der Friseur zuckte mit den Achseln. »Nun ja, ein bisschen langweilig wird es wohl sein. Aber ich gebe ihm schon was zu Futtern mit, Bruderherz. Nun, was sagst du?«

»Das alles gefällt mir nicht. Jemand, der auf jede Frage eine Antwort weiß, muss früher oder später damit rechnen, dass er auf jede Antwort eine Frage erhält.«

Wigand lachte. »Was für ein Quatsch!«

»Wie erklärt denn die gute Gattin Gisela die mehrtägige Abwesenheit ihres Apothekergatten? Und was wird der wohl erzählen, wenn er aus dem Kerkerverließ in die Freiheit zurückkehrt?«

»Lebst du denn hinter dem Mond? Hast du keine Ahnung, was sich in der Hammerschmied-Ehe so abspielt? Gisela wird sagen, dass Kai auf ein paar Tage in die See-Villa gefahren ist, um sich Männerpornos anzusehen. Okay, das mit den Männerpornos wird sie nicht sagen. Und wenn der Apotheker wieder unter den Angerbachern weilt, kann er gern von einem Maskierten faseln, der ihn überfallen und eingesperrt hat. Na und? Um wen soll es sich dabei handeln?«

Julian Böck schüttelte den Kopf. »Am besten wird es sein, du verduftest mit dem Geld so schnell wie möglich ins Ausland. Wenn es nur um die Polizei hier in Angerbach geht, da kannst du vermutlich schon mit ihrer verlässlichen Einfalt rechnen. Aber was ist, wenn sie Profis aus der Hauptstadt herschicken?«

Wieder lachte Wigand. »Man kann vieles über dich sagen, Bruderherz. Aber dumm bist du nicht! Also, gilt unser Deal?«

»Ich hoffe bloß, dass sie mich zum Tode verurteilen, wenn sie uns auf die Schliche kommen sollten.« Julian blickte auf und sah in den Augen Wigands das, was er erwartet hatte. Hass …

 

2. Babysitter

 

 

Vorsicht! Schon buckelte der Radfahrer haarscharf vorbei, lautlos, die Klingel wohl eine sinnlose Attrappe. Maier zuckte zurück, vergrößerte seine Distanz zum Radweg. Er warf einen Blick in die Gegenrichtung der Einbahnstraße, dann hastete er über die Uwe-Timm-Gasse.

War Donald dabei, ein Dickerchen zu werden? Der Kleinelegte Speckschwarten an, als ob er gemästet würde. Wurde er gemästet? Maier wandte sich nach rechts. Besser, er ginge durch die Leonhard-Straße und danach in die Bodo-Kirchhoff-Allee. So vermied er die Verkehrshölle am Joanneum-Ring und die unmenschlichen Ampelphasen auf den Fußgängerpassagen.

Aber Bella ging doch nächste Woche mit Baby Donald zu den Impfungen? Vielleicht, dass der Arzt dann eine Diät …? Gab es schon Diäten für Babys von 5 Monaten? Nein, vier Monaten?

Frauen mit Einkaufstüten eines nahegelegenen Supermarkts kamen ihm entgegen. Sie lächelten ihn freundlich an, aber er begriff sehr wohl, dass dieses Lächeln nicht ihm persönlich galt. Er lenkte nach links. Ein Mann, mittleres Alter, gebeugter Rücken, mit großem Hund an der Leine. Besser nichts riskieren. Dann kam auch schon die beliebte Konditorei ins Blickfeld. Der Gastgarten natürlich voll, eine Mischung der Generationen. Eisbecher und Softdrinks, Sahnetorten und Kaffee. Hoppla, jetzt hätte er doch beinahe einen dieser Abfallbehälter aus Stahlblech gerammt, mit Lochoptik, wie es so hässlich heißt. Das kam von seiner Aufgeregtheit. Wieder ein Blick auf die Uhr. Das geht sich schon aus. Das schaffe ich.

Wohl ratsamer, ich lege einen Zahn zu. Wenn ich nicht so müde wäre! In der Allee hielten sich nur wenige Menschen auf. Vorwiegend Rentner, die das schöne Wetter nutzten. Auf den Parkbänken Zeitungen lasen, Brotkrumen aus halbverzehrten Jausenbroten auf Spatzen warfen. Gefährlich wie immer bloß die Kids auf ihren Skateboards, die bretterten, als ob sie unsterblich wären. Ob Donald schon zahnt? Könnte doch sein, wo er letzte Nacht … Aber Bella sagt, dass erst, wenn sie sechs Monate … Jetzt war das Ende der Allee in Sicht.

Jedenfalls konnte man den Albert-Schweitzer-Platz mühelos überqueren, weil die Zufahrtsstraßen wegen der Asphaltierungsarbeiten im Brunnenbereich gesperrt waren. Ist denn das normal, dass Babys alles in den Mund nehmen? Sie mussten wirklich aufpassen, dass sie nichts herumliegen ließen, das konnte verdammt schlimm ausgehen. Bella immer mit ihrem Nähzeugs und den Nadeln! Aber wenigstens hört Donald normal. Wie der sich jetzt immer umdreht, wenn ich klatsche oder klopfe oder so. Und mit den Augen scheint auch alles … Ist doch schon fast das Wichtigste!

»He! Bist du blind oder was! Pass doch auf, wo du hinfährst!« Diesmal hatte nicht viel gefehlt. Ein T-Shirt-Rowdy auf seinem Waveboard war vorbeigeschrammt und hatte Maier mit einem Schulter-Rempler von fast schon unentschuldbarer Heftigkeit in seinen wichtigen Reflexionen gestört. Jetzt blieb der Kriminalassistent stehen, schüttelte sich den Schrecken aus den Knochen. Hoffentlich war Donald nichts passiert! Er beugte sich nach vorn, zog vorsichtig das Tüchlein, das Donalds Gesicht vor den Sonnenstrahlen schützte, ein wenig herunter. Ruhig und friedvoll atmete das Baby, den Schnuller achtlos zwischen den Lippen, wie ein französischer Filmgangster sein Zigarettchen. Na, Gott sei Dank! Arbogast Maier breitete das Tüchlein wieder über den Säugling, sah sich nach beiden Seiten um, und rauschte dann in eiligem Schritt, den Kinderwagen in beherrschter Schaukelmanier vor sich, in Richtung Stadtpark. Ein erneuter Blick auf die Uhr. Das schaffe ich, dachte Maier ein weiteres Mal, und wappnete sich für eine Begegnung, die ihm alles andere als leicht fallen würde.

Vorsichtig bewegte sich Maier zwischen zwei parkenden Autos hindurch, vergewisserte sich und überquerte die Lerchengasse. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erreichte er den Gehsteig, warf den Blick ein wenig sehnsüchtig auf die vor ihm befindliche Cocktail-Bar. Was gäbe er darum … Aber daran war nicht einmal zu denken. Also weiter, der Park sandte schon erste Gerüche nach Wald und Wiese herüber. Und wenn er den Häuserblock umrundet hätte, dann würde er ihn auch sehen. Den Park. Ihren vereinbarten Treffpunkt.

 

*

 

Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Konnte denn die Tatsache, dass sie eine Frau war, schon als Generalvollmacht für schrankenlosen Irrsinn gelten? Sie fühlte eine Aufregung in sich, als stünde sie vor einem großen entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben. So musste es wohl einem Kind gehen, das zum ersten Mal die Schule besucht. Sich schon Monate lang darauf gefreut und zu Hause mit Mama spielerisch geübt hat, wie man sich gegenüber Lehrern verhält. Genauso mochte sich das anfühlen. Auch wenn sie selbst, Isabella Richter, das eben nicht erlebt hatte. Denn der schreckliche Unfall ihrer Eltern, gerade an ihrem eigenen 6. Geburtstag, hatte alle Freude aus ihr gelöscht. Die Freude auf alles. Für lange, sehr, sehr lange Zeit. Und als der graue Himmel dann langsam wieder ein wenig lichter zu werden begann, ein wenig durchlässiger für ein schwaches Gleißen von Sonnenlichtgeblinzel, ein fernes Leuchten von Sternen, da … da fehlten sie, die Anlässe zur Freude. Da exerzierte man sie ihnen aus, den Schülerinnen und Schülern des Internats, die nicht für die Schule lernen sollten, sondern für das Leben. Und das Leben ist nun einmal hart, grausam und unerbittlich. Das Leben straft die, die es sich zu leicht machen wollen. Das Leben ist eine einzige gnadenlose Prüfung. Richter seufzte. Und nun stand sie also erneut vor einer Prüfung. Wenn sie sich doch besser vorbereitet hätte …

Eine Fußgängerzone, früher einmal für einspurigen Autoverkehr zugelassen. Beiderseits niedriggeschossige Häuser in gesitteter Reihe. Der Straßenbelag streckenweise Pflastersteine, dann wieder Passagen mit Betonpflaster in Wabenform. Links eine Gastwirtschaft, geschlossen.

Richter blieb stehen. Ihr Blick fiel auf die sinnloserweise vor dem Eingang stehen gebliebene, aufgeklappte Werbetafel aus Holz. Auf der abwischbaren Beschriftungsfläche waren mit Kreide einige Spezialitäten der Küche verzeichnet. »Thüringer Rostbratwurst, Wiener Schnitzl, Ungarisches Hirtengulasch«.

Sieh an, die fleischgewordene halbe EU auf einer Karte vereint. Sie sah sich um, keine Passanten in unmittelbarer Nähe. Als Preis für die Spezialität aus Wien hockte ein Euro-Betrag von 14,90 hinter dem ohne »e« geschriebenen Schnitzel. Richter bespuckte ihren Finger (spürte eine Art Phantomschmerz, denn es handelte sich um einen der bei ihrem letzten großen Mordfall abgetrennten und danach fachgerecht angenähten Finger) und wischte die »1« von der Tafel. Schon besser so, dachte sie. Dann kapieren die vielleicht, wie viel so ein Buchstabe wie »e« wert sein kann. Im Weitergehen wunderte sie sich wieder einmal, warum solche Speisekarten nicht in einer Flugblattaktion vom Gesundheitsministerium landesweit verbreitet wurden. Als dringender Appell, sich gesünder zu ernähren. Wie etwa die abschreckenden Todesdrohungen mittels Horrorbildern auf den Zigarettenpackungen. Ihr persönlich verging nämlich beim Lesen solcher Speisenangebote jeglicher Appetit.

Am Ende der Fußgängerzone sah man den Kirchturm der Barockkirche Sankt Michael. Auf der rechten Straßenseite – beinahe alle Fassaden in hellfarbigem Putz – rechts also die längere Schaufensterfront einer Boutique. Richter fiel auf, dass auch hier die in den Auslagen aufgereihten gesichtslosen Schaufensterpuppen, alle weiblich selbstverständlich, Figuren aufwiesen, die irgendwie die Mitte hielten zwischen beschichteten Skeletten und unterernährten Fliegengewichten. Es gab ja aber doch auch Boutiquen, die auf Mollige und Kleidergrößen für Übergewichtige spezialisiert waren? Und? Hatten die vielleicht Kleiderpuppen mit Airbag-Polsterungen? Fehlanzeige. Die hatten gar keine. Begnügten sich vielleicht mit Werbefotografien von Curvy Models, wie das beschönigende Schwindeletikett hieß. Gibt ja auch keine Altersheime mehr, sondern nur mehr ›Seniorenzentren‹. Warum interessierte sie eigentlich dieser ganze Diät-Kram- Scheiß? Hat wohl mit meinem Gerechtigkeitsempfinden zu tun, dachte sie. Das ich immer noch habe. Obwohl ich schon so lange Kriminalkommissarin bin. Sie lachte. Aber es wurde Zeit, dass sie sich auf das konzentrierte, was ihr nun an Fürchterlichem bevorstand.

Zwei Mädchen kamen ihr entgegen. Sechzehnjährig? Beide lachten, wie Freundinnen zu tun pflegen. Wenn sie jung sind. Später dann tun sie es wieder, wenn sie nicht mehr ganz jung sind. Zuerst lachen sie, weil sie nicht wissen, wie sie mit all dem Glück umgehen werden, das ganz bestimmt auf sie, und nur auf sie, wartet. Später dann lachen sie, weil sie endlich alle Illusionen los geworden sind. Und nunmehr ganz genau wissen, wie das Glück nicht aussehen darf …

Links die Auslage eines Reisebüros. Davor ein Mann, mittleres Alter, gebeugter Rücken, mit großem Hund an der Leine. Ungeniert kackte das liebe Tierchen genau vor die Schaufensterscheibe. Dahinter hing eine großflächige Werbeanzeige: »Die schönsten Hundestrände Europas«. Nein, danke. Ob die Pinscher auch ins Salzwasser … Glaub es zwar nicht. Möchte aber an diesen Stränden keine Sandburgen bauen …

Die riesige gläserne Fassade des Großkaufhauses auf dem Friedens-Platz gleißte im Licht der frühabendlichen Sonnenbestrahlung. Auf den Rolltreppen im Eingangsbereich herrschte dichtes Gedränge. Die für viele schönste Tageszeit sorgte wie immer für Massenandrang in Shopping-Centern und Cafes. Erst recht an einem Montag. Nach Büroschluss und vor der Rückkehr in die abgelebte Reizarmut der eigenen Behausung genoss man das trügerische Gefühl von Freiheit.

Richter ging quer über den Platz und dachte, dass der Freiheitsbegriff ganz gerne auch überstrapaziert wird. Denn genau in der Feierabendzeit zwischen 16 Uhr und 20 Uhr geschehen die meisten Einbrüche. Wieso eigentlich? Hatten die Einbrecher selbst auch erst Büroschluss und konnten ihrem Steckenpferd frühestens in der Happy Hour nachgehen? Aber wenn man mich fragt, findet der größte Diebstahl schon vor 16 Uhr statt. Denn da wird einem die Zeit gestohlen.

Wieder wünschte sie sich, sie hätte sich besser vorbereitet. Es half wenig, wenn sie sich einzureden versuchte, dass es sich im Grunde genommen nicht sehr viel anders als mit Haustieren verhielte. Nur: sie hatte ja auch keine Ahnung, wie es sich mit Haustieren verhielt!

Richter seufzte, verschwand in der Unterführung, an deren Ausgang der Stadtpark begann.

 

*

 

»Donald schläft? Ja, bist du verrückt geworden?« Sie sagte dies in einem gedämpften Ton, der nicht darauf schließen ließ, dass sie den Säugling wecken wollte.

»Ja, aber das ist doch gut, oder? Das erleichtert ja die ganze Sache, oder, Bella?« Man sah Maier an, dass er enttäuscht von Isabellas Begrüßung war. Wo er doch beinahe Stolz verspürte, auf seine unfallfreie Stadtdurchquerung mit Kinderwagen. Und jetzt das! Was war denn in seine Freundin gefahren?

Isabella, Maiers Freundin seit vergangenem Sommer und die Mutter Donalds (von unserem Kriminalassistenten aus bestimmten Gründen Bella gerufen; die Freundin, nicht Donald!), schüttelte ihr schulterlanges brünettes Haar und klappte verärgert ihren Taschenspiegel auf. Dann nahm sie, eine für sie typische Verhaltensweise in Stresssituationen, ihren Lippenstift und verstärkte das Rot ihrer Lippen. Auf ihrer Stirn furchten sich Zornesfalten. Vom nahe gelegenen Stadtparkbrunnen vernahm man das Plätschern des aus den Füllhörnern des steinernen Brunnensatyrs ins Becken rinnenden Wassers.

»Arbogast! Wie glaubst du denn, reagiert unser Donald, wenn er aufwacht und eine wildfremde Person vorfindet? Und von Mami und Papi keine Spur? Ha? Schon mal darüber nachgedacht?« Sie packte ihre Schminkutensilien zurück in ihre Handtasche, verschränkte die Arme vor ihrem mageren Oberkörper und warf zurückgebogenen Kopfes finstere Blicke auf ihren Freund.

Der Kriminalassistent machte entgeistert »Ah?«. Dann fragte er sich kurz, ob die Situation durch eine Umarmung Bellas samt Kuss entschärft werden könnte. Er kam durch seinen geschulten kriminalistischen Scharfsinn zur Erkenntnis, dass es sich nicht so verhielte, und sagte: »Dann wecken wir ihn doch rasch auf, bevor Richter kommt.«

»Untersteh dich«, fauchte Bella. Sie ging in die Hocke, inspizierte den Staukorb unterhalb der überdachten Tragewanne des Kinderwagens. Sie fand ein Beikost-Fläschchen mit einem Gemisch aus Frucht- und Getreide-Brei. Dafür war Donald zwar noch zu klein, aber die Zeit begann dennoch langsam reif zu werden. Weiters zwei (sicher ist sicher, und doppelt hält besser) Fläschchen Anfangsmilch. Eigens angeschafft für den heutigen besonderen Tag wartete ein Akku-betriebener Reise-Flaschenwärmer auf seine Bewährungsprobe. Babyrassel, ein Heftchen mit Kinderliedern, drei Kuscheltiere (Papagei, Pinguin und Dinosaurier) und eine Packung Reserve-Schnuller komplettierten das Überlebenspaket. Bella richtete sich auf.

»Hoffentlich«, sie warf einen strengen Blick auf die Uhr, »ist sie pünktlich, deine Chefin.« Maier sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Zwei Minuten noch. Ein Düsenjäger zog einen schnurgeraden Kondensstreifen durch das Blau über ihnen. Vögel zwitscherten in den Bäumen, erfreuten sich ihres zwar kurzen Lebens. Auf Bänken saßen strickende Omas, schreibende Schriftsteller und lesende Studenten. Noch eine Minute.

»Hallo! Ihr seht ja aus wie eine Familienpackung im Sonderangebot!«, alberte Richter. Wie alle Menschen, die Nervosität überspielen wollen, übertrieb sie ihre Munterkeit.

Bella drehte sich rasch herum, Maier langsam. »Dann sind Sie also die berühmte Kommissarin Isabella Richter?«, gab sich die hagere Brünette freundlich.

»Und Sie sind dann die Freundin von Donalds Vater?« Die Kommissarin lächelte unschuldig.

Bella gefiel dieser brutale Charme, zumal die »Chefin« im Aussehen genau der von Arbogast unzählige Male geschilderten Frau entsprach. Durchschnittlich groß, vermutlich untergewichtig, ohne deswegen schlank zu wirken; das Alter schwer abzuschätzen, da anscheinend unbehandelt. Ihr brünettes Haar geschlichtet, als wäre es aus einer Tube gedrückt. Darin die unvermeidbare Forke aus Mahagoniholz. Das Gesicht, das sich zu nichts mehr Mühe gab, von einer großen Stahlrahmenbrille beherrscht. Es gab viel zu lesen, in diesem Gesicht. Wie in einem offenen Buch. Und da es gefiel, wünschte man, dass es ein Buch mit happy-end sein solle. Aber wie wäre denn so etwas bei Gesichtern möglich?

Das war sie also, Isabella Richter, wie sie leibte und lebte.

»Oh, Sie sind sich also bei der Vaterschaft absolut sicher?« Bella tat überrascht. »Ich bin erleichtert. Was die Mutter betrifft, habe ich Informationen aus erster Hand …«

Richter zwinkerte verblüfft mit den Augen, sah es um die Mundwinkel Bellas zucken … und lachte aus vollem Hals. Auch Bella stimmte ein und beide Frauen traten in einen Wettkampf in der Disziplin Ausgelassenheit. Maier verstand nichts, glotzte verständnislos. Aber: Wie es ja nicht selten der Fall ist, endete auch dieses Lachen mit … Weinen. Das Baby tat das, was es schon bei seinem Eintritt in diese jammervolle Welt in weiser Vorahnung getan hatte: es weinte. Es schrie sogar.

Maier stürzte hinzu, hob Donald aus dem Bettchen, wiegte ihn in seinen Armen. Der Gedanke durchzuckte ihn, dass es wunderschön wäre, selbst so gewiegt zu werden. Und dass er bestimmt nicht aufwachen würde, bevor er nicht mindestens zwanzig Stunden geschlafen hätte …

»Arbogast! Schlaf nicht ein! Komm, gib mir Donald.« Bella nahm ihr Baby, das bereits wieder aufhörte zu plärren, liebkoste es, und machte mit ihm einen kleinen Spaziergang um den Brunnen herum.

Währenddessen lag es an Maier, letzte Instruktionen zu erteilen. Doch bevor er das Wort ergreifen konnte, tippte Richter ihm auf die Brust. »Das Kind hat dich hier angesabbert. Gut, dass du nicht im Dienst bist.«

»Glauben Sie mir, Chefin, ich wünschte, ich wäre jetzt im Dienst. Es ist uns wahnsinnig unangenehm, dass wir Ihre kostbare …«

»Ach, hör schon auf.«

Aber Maier ließ nicht locker. »Nein, wirklich, es ist ein absoluter Notfall. Meine Eltern sind derzeit auf Urlaub in Grado …«

Aber Richter unterbrach schon wieder. »In Grado! Also ich in Grado: d a s wäre der absolute Notfall!«

»… und Bellas Vater ist im Spital. Bella und ich haben jetzt«, er blickte auf die Uhr, »in fünfzehn Minuten einen Termin beim Notar. Es geht darum, dass mein Schwiegervater entmündigt werden muss und einen Betreuer braucht. Wir hoffen, dass wir in spätestens einer dreiviertel Stunde wieder bei Ihnen sein können. Alles, was Donald benötigt, haben wir mitgebracht und finden Sie hier im Kinderwagen. Geben Sie ihm einen Schnuller oder ein Fläschchen, wenn er unruhig wird. Dass Sie sich ausgerechnet an einem Montag die Zeit für uns genommen haben, das werden wir Ihnen nie vergessen!«

Die Kommissarin streckte die Rückenwirbel durch, nahm ihre an einem Riemen von der Schulter baumelnde Tasche in die Hand.

---ENDE DER LESEPROBE---