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Gerd Gigerenzer

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Beschreibung

Jeder kann lernen, mit Risiken und Ungewissheiten klug umzugehen

Corona, Rinderwahnsinn, Fukushima, Finanzkrise – angesichts solcher weltumspannenden Katastrophen scheint nur eines ist gewiss: Wir leben in einer Welt der Ungewissheit und des Risikos. Trotzdem reagieren wir auf Risiken häufig irrational und können gefühlte Gefahren nicht von Dingen unterscheiden, die uns wirklich gefährlich werden können. Der renommierte Psychologe Gerd Gigerenzer zeigt an vielen Beispielen, wie die Psychologie des Risikos funktioniert und warum uns Statistiken und Wahrscheinlichkeiten, die von Medien und Fachleuten verbreitet werden, oft in die Irre führen. Sein Bestseller beweist: Wissen ist das wirksamste Mittel gegen Angst. Statt nach Sicherheiten zu suchen, die es nicht gibt, sollte jeder von uns lernen, trotz der Ungewissheiten, die das Leben für uns bereit hält, kluge Entscheidungen zu treffen.

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Gerd Gigerenzer

Risiko

Wie man die richtigen Entscheidungen trifft

Aus dem Englischen von Hainer Kober

C. Bertelsmann

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erscheint 2013 unter dem Titel »Risk Savvy. How to Make Good Decisions« bei Penguin, New York.
© 2013 by Gerd Gigerenzer © 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: buxdesign, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-11990-4V003 V002
www.cbertelsmann.de

Für Raine und Thalia

Inhalt

Teil I Die Psychologie des Risikos

Kapitel 1 Sind Menschen dumm?

Regenwahrscheinlichkeit

Pillenangst

Terroristen bedienen sich unserer Gehirne

Sind die Menschen vom Umgang mit Risiken hoffnungslos überfordert?

Risikokompetent werden

Kapitel 2 Gewissheit ist eine Illusion

Die Illusion der Gewissheit

Risiko und Ungewissheit

Bekannte Risiken

Ungewissheit

Risiko nicht mit Ungewissheit verwechseln

Die Null-Risiko-Illusion

Die Truthahn-Illusion

Die Suche nach Gewissheit

Kapitel 3 Defensives Entscheiden

Irren ist menschlich

Ein System, das keine Fehler macht, ist nicht intelligent

Positive und negative Fehlerkulturen

Defensives Entscheiden

Defensive Medizin

Was ist zu tun?

Prozedere über Leistung

Kapitel 4 Warum fürchten wir, was uns höchstwahrscheinlich nicht umbringt?

Soziale Nachahmung

Biologisch vorbereitetes Lernen

Innere Kontrolle kann gegen Angst helfen

Teil II Risikokompetent werden

Kapitel 5 Alles was glänzt

Finanzexperten: Götter oder Schimpansen?

Wie man selbst ein nobelpreisgekröntes Portfolio übertrifft

Weniger ist mehr: Einsteins Regel

Schon mal üben, reich zu sein

Die Mutter aller Faustregeln: Vertrauen

Sichere Investition: Mach es einfach

Kapitel 6 Führungsstil und Intuition

Die Verleumdung der Intuition

Treffen Manager gute Bauchentscheidungen?

Die Intuition verbergen und dabei der Firma schaden

Sind Bauchgefühle überall tabu?

Der Werkzeugkasten der Führungskraft

Ein guter Grund kann besser sein als viele

Weniger ist mehr

Vom Wesen des Führens

Kapitel 7 Spiel und Spaß

Let’s Make a Deal

Straßengauner

Wie Spielkasinos Sie täuschen

Sport und Freizeit

Kapitel 8 Von Herzensdingen und Partnerwahl

Wen soll man heiraten?

Partnerwahl

Eine Münze werfen, ohne auf das Ergebnis zu schauen

Intuition und der richtige Liebespartner

Wie Gleichheit zu Ungleichheit führt

Risikokommunikation

Kapitel 9 Was Ärzte wissen müssen

Warum Luxushotels ihre Sterne nicht mögen

Ärzten dabei helfen, Testergebnisse zu verstehen

Furcht

Jeder kann Testergebnisse verstehen

Pränatal-Screening

Gentechnologie erfordert risikokompetente Eltern und Ärzte

Das Versagen der medizinischen Fakultäten

Das SIC-Syndrom

Weniger ist (oft) mehr

Freier Zugang zu Informationen

Kapitel 10 Gesundheit: Keine Entscheidung über mich ohne mich

Wie sich Rudy Giuliani täuschen ließ

Früherkennung von Prostatakrebs

Verstehen Ärzte Überlebensraten?

Wie angesehene Institutionen Sie täuschen

Screening auf Brustkrebs

Frauen infantilisieren

Was wissen Männer und Frauen?

Vorsorge ist besser als Früherkennung

Risikokompetenz ist die beste Waffe gegen Krebs

Keine Entscheidung über mich ohne mich

Kapitel 11 Banken, Kühe und andere gefährliche Dinge

Einfache Regeln für eine sicherere Welt

Schockrisiken

Regierungen

Teil III Früh in den Startlöchern

Kapitel 12 Die Schule revolutionieren

Risikokompetenz lehren

Viertklässler schaffen es

Zwei Grundprinzipien des Unterrichts

Gesundheitskompetenz

Finanzkompetenz

Digitale Risikokompetenz

Jeder kann lernen, mit Risiko und Ungewissheit umzugehen

Dank

Literatur

Glossar

Personenregister

Sachregister

Abbildungsnachweis

Teil I Die Psychologie des Risikos

Ungewissheit ist gerade die Bedingung, die den Menschen zur Entfaltung seiner Kräfte zwingt.

Erich Fromm

Das Leben selbst birgt ein gewisses Risiko

Harold Macmillan

Kapitel 1 Sind Menschen dumm?

Wissen ist das beste Mittel gegen Furcht.

Ralph Waldo Emerson

Erinnern Sie sich an den Vulkanausbruch auf Island mit seiner Aschewolke? Die Immobilienkrise? Was ist mit dem Rinderwahnsinn? Jede neue Krise macht uns Sorge, bis wir sie vergessen und uns wegen der nächsten sorgen. Viele von uns saßen in überfüllten Flughäfen fest, sahen sich durch wertlos gewordene Pensionsfonds ruiniert oder hatten Angst davor, sich ein saftiges Steak schmecken zu lassen. Wenn etwas schiefgeht, erzählt man uns, künftige Krisen ließen sich durch bessere Technik, mehr Gesetze oder aufwendigere Bürokratie verhindern. Wie können wir uns vor der nächsten Finanzkrise schützen? Strengere Vorschriften, kleinere Banken und bessere Berater. Wie können wir uns vor der Bedrohung durch den Terrorismus schützen? Größeres Polizeiaufgebot, Ganzkörperscanner, weitere Einschränkung der individuellen Freiheit. Was können wir gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen tun? Steuererhöhungen, Rationalisierung, bessere Genmarker.

Ein Punkt fehlt auf dieser Liste: der risikokompetente Bürger. Das hat einen Grund.

»Menschen sind fehlbar: faul, dumm, gierig und schwach«, verkündet ein Artikel im Economist.1 Es heißt, wir seien irrationale Sklaven unserer Marotten und Begierden, süchtig nach Sex, Nikotin und elektronischen Spielzeugen. 20-Jährige kleben beim Autofahren an ihren Handys, ohne sich klarzumachen, dass sie damit ihre Reaktionszeit auf die eines 70-Jährigen verlangsamen. Ein Fünftel der Amerikaner glaubt, dass sie zu dem bestverdienenden 1 Prozent der Bevölkerung gehören, und noch einmal so viele glauben, dass sie demnächst zu dieser Gruppe zählen werden. Banker haben eine geringe Meinung von der Fähigkeit der Menschen, Geld zu investieren, und mehr als ein Arzt hat mir erzählt, den meisten seiner Patienten fehle es an der nötigen Intelligenz; es sei deshalb zwecklos, ihnen Gesundheitsinformationen zu geben, die sie in den falschen Hals bekommen könnten. All das lässt darauf schließen, dass die Bezeichnung Homo sapiens (»der weise Mensch«) Etikettenschwindel ist. Irgendetwas ist schiefgelaufen mit unseren Genen. Die Evolution scheint uns drittklassige geistige Software angedreht und unsere Gehirne falsch verdrahtet zu haben. Mit einem Wort: Otto Normalverbraucher braucht ständige Anleitung wie ein Kind seine Eltern. Obwohl wir in der Hightech-Welt des 21. Jahrhunderts leben, ist eine gewisse Form der Bevormundung die einzig mögliche Strategie: Schließen wir die Türen, rufen wir die Fachleute zusammen und sagen wir der Öffentlichkeit, was das Beste für sie ist.

Nach dieser fatalistischen Botschaft werden Sie in diesem Buch vergebens suchen.2 Das Problem ist nicht einfach individuelle Dummheit, sondern das Phänomen einer risikoinkompetenten Gesellschaft.

Risikointelligenz ist eine Grundvoraussetzung, um sich in einer modernen technologischen Gesellschaft zurechtzufinden. Die halsbrecherische Geschwindigkeit der technischen Entwicklung wird die Risikointelligenz im 21. Jahrhundert so unentbehrlich machen, wie es Lesen und Schreiben in früheren Jahrhunderten waren. Ohne sie setzen Sie Ihre Gesundheit und Ihr Geld aufs Spiel oder steigern sich möglicherweise in unrealistische Ängste und Hoffnungen hinein. Man sollte meinen, dass die Grundlagen der Risikointelligenz bereits vermittelt werden. Doch man wird in Schulen, juristischen und medizinischen Fakultäten und auch sonst vergebens danach suchen. Infolgedessen sind die meisten von uns risikoinkompetent.

Wenn ich den allgemeineren Begriff »risikokompetent«(risk savvy) verwende, meine ich damit mehr als Risikointelligenz, nämlich die Fähigkeit, auch mit Situationen umzugehen, in denen nicht alle Risiken bekannt sind und berechnet werden können. »Risikokompetenz« ist nicht das Gleiche wie »Risikoscheu«. Ohne die Bereitschaft, Risiken einzugehen, gäbe es keine Innovation mehr, würden Spaß und Mut der Vergangenheit angehören. Risikokompetent zu sein heißt auch nicht, sich in einen tollkühnen Draufgänger oder Basejumper zu verwandeln, der die Möglichkeit, auf die Nase zu fallen, ausblendet. Ohne ein zuträgliches Maß an Vorsicht gäbe es die Menschheit schon lange nicht mehr.

Man könnte meinen: Wozu die Mühe, da man sich doch an Fachleute wenden kann? Aber so einfach ist das nicht. Weil die bittere Erfahrung lehrt, dass Expertenrat gefährlich sein kann. Viele Ärzte, Finanzberater und andere Risikoexperten sind selbst nicht in der Lage, Risiken richtig einzuschätzen oder sie anderen verständlich zu machen. Schlimmer noch, nicht wenige befinden sich in Interessenkonflikten oder haben solche Angst vor rechtlichen Konsequenzen, dass sie ihren Patienten oder Klienten Ratschläge erteilen, die sie ihren eigenen Angehörigen nie geben würden. Sie haben keine Wahl, Sie müssen selber denken.

Ich möchte Sie einladen, mir in die Welt der Ungewissheit und des Risikos zu folgen. Beginnen wir mit Wetterberichten und einem sehr geringen Wagnis – nämlich pitschnass zu werden.

Regenwahrscheinlichkeit

In einer Wettervorhersage des amerikanischen Fernsehens wurden die Aussichten für das Wochenende einmal wie folgt angegeben:

Die Wahrscheinlichkeit, dass es am Samstag regnen wird, beträgt 50 Prozent. Die Aussicht, dass es am Sonntag regnet, liegt ebenfalls bei 50 Prozent. Daher wird es am Wochenende mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent regnen.

Die meisten von uns werden darüber lächeln.3 Aber wissen Sie, was es bedeutet, wenn es im Wetterbericht heißt, dass es morgen mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent regnen wird? 30 Prozent von was? Ich lebe in Berlin. Die meisten Berliner glauben, es werde morgen während 30 Prozentder Zeit regnen, das heißt sieben bis acht Stunden. Andere meinen, es werde in 30 Prozent der Region regnen, das heißt höchstwahrscheinlich nicht dort, wo sie wohnen. Die meisten New Yorker halten beides für Unsinn. Sie sind der Überzeugung, es werde an 30 Prozent der Tage, für die diese Vorhersage gemacht wurde, Regen geben, das heißt, morgen werde es höchstwahrscheinlich nicht regnen.4

Sind die Leute völlig verwirrt? Nicht unbedingt. Zum Teil liegt es daran, dass viele Experten nie gelernt haben, Wahrscheinlichkeiten richtig zu erklären. Wenn sie verständlich machen könnten, auf welche Kategorie sich die Regenwahrscheinlichkeit bezieht – Zeit? Region? Tage? –, würde die Verwirrung verschwinden. Tatsächlich wollen die Meteorologen damit sagen, dass es an 30 Prozent der Tage regnet, auf die sich die Vorhersage bezieht. Und »Regen« bezieht sich auf jede Menge oberhalb einer winzigen Schwelle, wie 0,1 Millimeter.5 Auf sich selbst gestellt, suchen sich die Menschen eine Referenzklasse aus, die ihnen sinnvoll erscheint – etwa wie viele Stunden, wo oder wie stark es regnet. Fantasievollere Befragte finden noch andere Klassen. Eine Frau in New York: »Ich weiß, was 30 Prozent bedeuten: Drei Meteorologen denken, es wird regnen, und sieben nicht.«

Ich sehe das folgendermaßen: Neue Vorhersagetechniken haben den Meteorologen die Möglichkeit gegeben, rein verbale Äußerungen der Gewissheit (»Morgen wird es regnen«) oder der Wahrscheinlichkeit (»Es ist möglich, dass …«) durch numerische Exaktheit zu ersetzen. Aber größere Exaktheit hat nicht zu größerer Klarheit über die Bedeutung der Nachricht geführt. Die Verwirrung bezüglich der Niederschlagswahrscheinlichkeit hat vielmehr bestanden, seit diese in den USA 1965 zum allerersten Mal in der Wettervorhersage genannt wurde. Diese Verwirrung ist nicht auf Regen beschränkt, sondern macht sich stets bemerkbar, wenn eine Wahrscheinlichkeit mit einem einzelnen Ereignis verknüpft wird – zum Beispiel: »Wenn Sie ein Antidepressivum nehmen, haben Sie eine 30-prozentige Wahrscheinlichkeit, ein sexuelles Problem zu bekommen.« Heißt das, dass 30 Prozent aller Menschen ein sexuelles Problem entwickeln oder dass Sie selbst ein Problem bei 30 Prozent Ihrer sexuellen Begegnungen haben werden? Die Auflösung dieses weitverbreiteten und lang andauernden Wirrwarrs ist überraschend einfach:

1 Bagehot, Wink und Wink, in: The Economist, 26. Juli 2008.

2 Die Wissenschaftszeitschrift Nature berichtete über die Debatte zwischen jenen, die Menschen im Grunde genommen für unfähig im Umgang mit Risiken halten, und Leuten wie mir, die eine etwas positivere Auffassung von der menschlichen Natur haben (Bond 2009). Im pessimistischen Lager behauptet der Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler (1991, S. 4), es sei »davon auszugehen, dass geistige Illusionen eher die Regel als die Ausnahme sind«, der Kognitionswissenschaftler Massimo Piatelli-Palmarini (1991, S. 35), dass »unsere Art durchgehend wahrscheinlichkeitsblind ist«, der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould (1992, S. 469), dass »unser Verstand (aus welchen Gründen auch immer) nicht dafür gemacht ist, sich an den Wahrscheinlichkeitsregeln zu orientieren«, und der Wirtschaftswissenschaftler Dan Ariely (2008), dass »wir nicht nur irrational, sondern vorhersagbar irrational handeln – dass unsere Irrationalität sich immer wieder auf dieselbe Weise manifestiert« (S. 21), während der Psychologe Daniel Kahneman (2012, S. 516) sogar weiterging und geistige Illusionen einem biologisch alten »System 1« zuschreibt, das nur »schwer erziehbar« sei. Ich lehne dieses düstere Bild ab. Kognitive Illusionen sind nicht fest verdrahtet. Es gibt einfache Instrumente für den Umgang mit Risiko und Ungewissheit, die jeder rasch lernen kann (Gigerenzer 2000, 2008; Gigerenzer et al. 2012). Mehr davon in diesem Buch.

3 Paulos 1988. Wie hoch ist die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, dass es am Wochenende regnet? Wenn die beiden Ereignisse unabhängig voneinander sind, liegt die Wahrscheinlichkeit für Regen am Wochenende bei 0,75 oder – in Prozent ausgedrückt – bei 75 Prozent. Um auf diese Zahl zu kommen, berechnen wir zunächst die Wahrscheinlichkeit, dass es am Samstag nicht regnet (0,5) und multiplizieren sie mit der Wahrscheinlichkeit, dass es am Sonntag keinen Niederschlag gibt (0,5), was 0,25 (25 Prozent) ergibt. Das ist die Wahrscheinlichkeit, dass es an keinem der beiden Tage regnen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass es regnen wird, beträgt also 75 Prozent. Der Einfachheit halber werde ich Wahrscheinlichkeiten im Fortgang dieses Buches überall in Prozentsätzen ausdrücken.

4 Gigerenzer, Hertwig et al. 2005.

5 Doch selbst Meteorologen sind nicht immer einer Meinung. Beispielsweise erklärte das Königlich-Niederländische Meteorologische Institut 2003 die Regenwahrscheinlichkeit durch eine Kombination aus »Region« und »subjektiver Sicherheit des Meteorologen«:

»Wenn die Wahrscheinlichkeit mehr als 90 Prozent beträgt, kann man damit rechnen, dass es in jeder Region Hollands regnet. Je höher der Prozentsatz, desto sicherer ist sich der Meteorologe, dass es regnen wird. Einige Beispiele:

10–30 % – Fast gar nicht – Fast nirgends

30–70 % – Möglicherweise – An einigen Orten

70–90 % – Ziemlich gute Aussichten – In fast allen Regionen«

Dazu Robert Mureau vom Königlich-Niederländischen Meteorologischen Institut: »Wir sind uns bewusst, dass Wahrscheinlichkeiten in der Öffentlichkeit nicht sehr gut verstanden werden. In unseren terminologischen Definitionen sind auch wir nicht sehr klar gewesen, was die Verwirrung noch verstärkt haben dürfte« (Gigerenzer, Hertwig et al. 2005, S. 627).

Abbildung 1.1: Was bedeutet »Es wird morgen mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent regnen«? Einige glauben, es werde morgen 30 Prozent der Zeit regnen (oberes Bild). Andere meinen, es werde morgen in 30 Prozent der Region regnen (mittleres Bild). Wiederum andere sind schließlich der Ansicht, dass drei Meteorologen denken, es werde regnen, während sieben das nicht tun (unteres Bild). Tatsächlich wollen die Meteorologen etwas anderes damit sagen: dass es an 30 Prozent der Tage regnen wird, für die diese Vorhersage gilt. Das Problem ist nicht nur im Kopf der Menschen, sondern besteht auch in der Unfähigkeit von Experten, verständlich zu sagen, was sie meinen.

Frage stets nach der Referenzklasse: Prozent von was?

Wenn man Meteorologen beim Fernsehen beibringen würde, wie man den Zuschauern solche Sachverhalte vermittelt, bräuchte man noch nicht einmal zu fragen.

Pitschnass zu werden ist ein geringes Risiko, obwohl die Niederschlagswahrscheinlichkeit in manchen Fällen – für Autorennen etwa – durchaus eine Rolle spielt. Vor einem Grand-Prix-Rennen der Formel 1 ist eine der meistdiskutierten Fragen die Wettervorhersage – die Wahl der richtigen Reifen ist entscheidend für den Sieg. Gleiches gilt für die NASA: Die Wettervorhersage ist ausschlaggebend für die Entscheidung, ob der Start eines Spaceshuttle stattfinden kann oder verschoben werden muss – wie der Challenger-Unfall tragisch zeigte. Doch für die meisten Leute geht es nur darum, ob sie einen Familienausflug unnötigerweise absagen oder nasse Füße bekommen. Vielleicht missverstehen die Menschen die Niederschlagswahrscheinlich nur deshalb, weil so wenig auf dem Spiel steht. Sind wir risikokompetenter, wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht?

Pillenangst

Großbritannien hat viele Traditionen, eine von ihnen ist die Angst vor Antibabypillen. Seit Anfang der 60er-Jahre werden die Frauen alle paar Jahre durch Berichte aufgeschreckt, dass die Pille Thrombosen verursachen kann – potenziell lebensbedrohliche Blutgerinnsel in Beinen oder Lunge. Berühmt ist die Schreckensnachricht, die das britische Komitee für Arzneimittelsicherheit herausgab: Die Antibabypillen der dritten Generation verdoppeln das Thromboserisiko – das heißt, sie erhöhen es um 100 Prozent. Kann man mehr Sicherheit verlangen? Diese erschreckende Information wurde in sogenannten Dear Doctor Letters an 190000 praktische Ärzte, Apotheker und die Leiter von Gesundheitsämtern weitergegeben und in einer Eilmeldung an die Medien übermittelt. Überall im Land schrillten die Alarmglocken. Viele besorgte Frauen setzten die Pille ab, was zu unerwünschten Schwangerschaften und Abtreibungen führte.6

Fragt sich nur, wie viel sind 100 Prozent? Die Studien, auf die sich die Warnung stützte, hatten gezeigt, dass von je 7000 Frauen, welche die Vorgängerpille der zweiten Generation genommen hatten, eine Frau eine Thrombose bekam und dass die Zahl sich bei Frauen, die Pillen der dritten Generation nahmen, auf zwei erhöhte. Das heißt, die absolute Risikozunahme betrug nur 1 von 7000, während die relative Risikozunahme tatsächlich bei 100 Prozent lag. Wie gesehen, können relative Risiken – im Gegensatz zu absoluten Risiken – beunruhigend groß erscheinen und viel Staub aufwirbeln. Hätten das Komitee und die Medien die absoluten Risiken genannt, so hätten wohl nur wenige Frauen Panik bekommen und die Pille abgesetzt. Höchstwahrscheinlich hätte niemand die Meldung auch nur zur Kenntnis genommen.

Diese eine Warnung führte im folgenden Jahr in England und Wales zu geschätzten 13000 (!) zusätzlichen Abtreibungen. Doch das Unheil währte länger als ein Jahr. Vor der Meldung gingen die Abtreibungsraten stetig zurück, aber danach kehrte sich dieser Trend um, und die Abtreibungshäufigkeit stieg in den folgenden Jahren wieder an. Die Frauen hatten das Vertrauen in orale Kontrazeptiva verloren, und die Pillenverkäufe gingen stark zurück. Nicht alle unerwünschten Schwangerschaften wurden abgebrochen; auf jede Abtreibung kam eine zusätzliche Geburt. Die Zunahme der Abtreibungen und der Geburten war besonders ausgeprägt bei Mädchen unter 16 – dort kam es zu 800 zusätzlichen Schwangerschaften.

Paradoxerweise bergen Schwangerschaften und Abtreibungen ein größeres Thromboserisiko als die Pillen der dritten Generation. Die Pillenangst schadete den Frauen, schadete dem National Health Service [dem britischen Gesundheitssystem] und sogar den Aktienkursen der Pharmaindustrie. Die durch Schwangerschaftsabbrüche verursachten Kosten für den National Health Service werden auf vier bis sechs Millionen Pfund geschätzt. Zu den wenigen Profiteuren gehören die Journalisten, die eine Geschichte für die Titelseiten hatten.

Eine unerwünschte Schwangerschaft ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Hören wir eine junge Frau:

»Als ich feststellte, dass ich schwanger war, waren mein Partner und ich seit zwei Jahren zusammen. Seine erste Reaktion war: ›Komm wieder, wenn’s weg ist.‹ Ich habe ihn rausgeschmissen und versucht, eine Lösung zu finden. Ich wollte unbedingt aufs College. Obwohl ich mich verzweifelt bemühte, eine Zukunft für uns zu finden, wurde mir klar, dass wir keine hatten. Eines wollte ich auf keinen Fall: mich vom Staat oder – schlimmer noch – von einem Mann abhängig zu machen. Daher habe ich mich auf den letzten Drücker zu einer Abtreibung entschlossen. Das ist jetzt zwei Tage her, und ich habe einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen. Mein Verstand sagt mir, es war die beste Entscheidung, aber mein Herz weint. Ich weiß, ich habe ein Leben umgebracht, und diese Schuld werde ich mir nie vergeben. All meine Lebensenergie ist dahin. Warum habe ich das getan? Wie konnte ich es zulassen? Ich hasse mich.«

Die Tradition der Pillenängste dauert bis auf den heutigen Tag an, und immer bedient sie sich des gleichen Tricks. Die Lösung sind nicht bessere Pillen und raffiniertere Abtreibungstechniken, sondern risikokompetente junge Frauen und Männer. Es wäre nicht besonders schwierig, Teenagern den einfachen Unterschied zwischen einem relativen Risiko (»100 Prozent«) und einem absoluten Risiko (»1 von 7000«) zu erklären. Schließlich sind viele Leute, alte wie junge, mit Sportstatistiken verschiedenster Art vertraut – Prozentsatz der Asse beim Tennis oder des Ballbesitzes beim Fußball. Doch bis auf den heutigen Tag gelingt es Journalisten, Ängste mit großen Zahlen zu wecken, woraufhin die Öffentlichkeit Jahr für Jahr auf vorhersehbare Weise in Panik gerät.

Auch hier bringt eine einfache Regel Abhilfe.

Frage stets:Wie groß ist die absolute Risikozunahme?

Journalisten sind nicht die Einzigen, die unsere Emotionen mithilfe von Zahlen manipulieren. Auch führende medizinische Zeitschriften, Gesundheitsbroschüren und das Internet unterrichten die Öffentlichkeit in Form relativer Veränderungen, weil größere Zahlen bessere Schlagzeilen liefern. 2009 hat das angesehene British Medical Journal zwei Artikel zum Thema orale Kontrazeptiva und Thrombose veröffentlicht: Der eine nannte in seinem Abstract, der kurzen Zusammenfassung, die absoluten Zahlen, während der andere einmal mehr mit den relativen Risiken hausieren ging und berichtete: »Orale Kontrazeptiva erhöhten das Risiko von Venenthrombosen um das Fünffache.«7 Jeder Herausgeber hat die ethische Verantwortung, für eine transparente Berichterstattung zu sorgen. Doch trotz unserer Hightech-Medizin bleiben verständliche Informationen für Patienten und Ärzte in der Regel die Ausnahme.

Wer ungerechtfertigte Ängste schürt und unerwünschte Schwangerschaften verschuldet, handelt moralisch höchst fragwürdig. Dies gehört auf die Tagesordnung jeder Ethikkommission und jedes Gesundheitsministeriums. Aber dem ist nicht so. Nach der Veröffentlichung meines Buchs Das Einmaleins der Skepsis, in dem ich darlege, wie man Öffentlichkeit und Ärzteschaft helfen könnte, Zahlen zu verstehen, besuchte mich der Neurowissenschaftler Mike Gazzaniga, der damals Dekan des Dartmouth College war. Empört über die Art und Weise, wie die Öffentlichkeit durch die Verwendung von relativen Risiken und anderen Mitteln an der Nase herumgeführt wird, sagte er, er werde dieses Problem dem US-amerikanischen Ethikrat (President’s Council on Bioethics) vortragen, dem er angehöre. Schließlich werde die amerikanische Öffentlichkeit ebenso häufig durch Zahlen getäuscht wie die britische, und es sei eines der wenigen ethischen Probleme, für das man eine Lösung wisse. Über andere, weniger eindeutige Probleme wie Abtreibung, Stammzellen und Gentests führe der Rat endlose Diskussionen. Ich bin Gazzaniga dankbar für den Versuch. Doch der Ethikrat hat die Irreführung der Öffentlichkeit nie als ein akutes Problem anerkannt und sich nie damit befasst.

Wenn die Ethikkomitees die Menschen schon nicht schützen, warum tun es dann nicht wenigstens die Ärzte? Die überraschende Antwort lautet, dass viele Ärzte selbst nicht wissen, wie sie Risiken vermitteln sollen – eine Fertigkeit, die im Medizinstudium nur selten gelehrt wird. Die verheerende Wirkung der Dear-Doctor-Briefe zeigt, dass sich viele von ihnen von den relativen Risiken beeindrucken lassen. Wieder einmal brauchen auch die Experten Nachhilfe. Sonst sind sie und die betroffenen Frauen bei der nächsten Pillenangst möglicherweise genauso unvorbereitet wie vorher, sodass es wiederum zu einer Abtreibungswelle kommt.

Ich habe Hunderten von Journalisten den Unterschied zwischen relativen und absoluten Risiken erklärt, woraufhin viele damit aufhörten, ihre Leser unnötig zu beunruhigen, und absolute Zahlen verwendeten – um dann feststellen zu müssen, dass ihre Chefredakteure die großen Zahlen wieder einführten. Möglicherweise sind wir nicht immer in der Lage, den Menschen Einhalt zu gebieten, die mit unseren Ängsten spielen, aber wir können lernen, ihre Tricks zu durchschauen.

Terroristen bedienen sich unserer Gehirne

Die meisten Menschen erinnern sich genau, wo sie am 11. September 2001 waren. Die Bilder der Flugzeuge, die in die Zwillingstürme des World Trade Center krachen, haben sich unauslöschlich in unser Gedächtnis gegraben. Inzwischen scheint alles über den tragischen Angriff gesagt zu sein. Um künftige Angriffe zu verhindern, richtete der drei Jahre später veröffentlichte 9/11 Commission’s Report [Bericht der Untersuchungskommission zu den Anschlägen des 11. September] sein Augenmerk vor allem auf die Frage, wie sich der Terrorismus von Al-Qaida entwickelte, und auf diplomatische Strategien, Justizreformen und technische Maßnahmen. Eine Maßnahme jedoch vernachlässigte der 636-seitige Bericht – nämlich risikokompetente Bürger.

Drehen wir die Uhr zurück auf den Dezember 2001. Stellen Sie sich vor, Sie leben in New York und möchten nach Washington, D. C., reisen. Würden Sie fliegen oder mit dem Auto fahren?

Wir wissen, dass viele Amerikaner nach dem Anschlag nicht mehr flogen. Blieben sie zu Hause oder stiegen sie ins Auto? Um eine Antwort zu finden, habe ich mir die Beförderungsstatistik angesehen. In den Monaten nach dem Anschlag nahmen die im Auto zurückgelegten Kilometer beträchtlich zu. Besonders deutlich war die Zunahme bei den ländlichen Interstate Highways, auf denen der Fernverkehr rollt: bis zu fünf Prozent in den drei Monaten nach dem Anschlag.8 Zum Vergleich: In den Monaten vor dem Anschlag (Januar bis August) waren die Zahlen für die individuellen Autokilometer pro Monat gegenüber 2000 nur um knapp ein Prozent angestiegen, was der üblichen jährlichen Zunahme entspricht. Diese zusätzliche Autonutzung hielt zwölf Monate an und ging dann wieder auf ihr Normalmaß zurück. Zu diesem Zeitpunkt war das Feuer in den Zwillingstürmen aus der täglichen Medienberichterstattung verschwunden.

Abbildung 1.2: Der zweite Schlag der Terroristen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stieg die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle in den USA über einen Zeitraum von zwölf Monaten an. Dadurch kamen schätzungsweise 1600 Amerikaner bei dem Versuch, das Risiko des Fliegens zu vermeiden, auf der Straße ums Leben. Die Zahlen werden als Abweichungen von der 5-Jahres-Basislinie 1996–2000 (der Nulllinie) wiedergegeben. Vor dem September 2001 lag die Zahl der tödlichen Unfälle pro Monat nahe der Nulllinie. In den zwölf Monaten nach dem Anschlag überstieg sie jeden Monat die Nulllinie und übertraf in den meisten Fällen das Maximum der Vorjahre (die senkrechten Balken zeigen das jeweilige Maximum und Minimum an). Die Spitzen nach dem 11. September decken sich mit Terrorismuswarnungen.

Die Zunahme des Straßenverkehrs hatte ernüchternde Konsequenzen. Vor dem Anschlag entsprach die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle weitgehend dem Durchschnitt der vorausgegangenen fünf Jahre (Nulllinie in Abbildung 1.2). Doch in jedem der zwölf Monate nach dem 11. September lag die Zahl der tödlichen Unfälle über dem Durchschnitt und meist sogar noch höher als alle Werte aus den vorangegangenen fünf Jahren. Alles in allem sind etwa 1600 Amerikaner infolge ihrer Entscheidung, die Risiken des Fliegens zu vermeiden, auf der Straße umgekommen.

Diese Todesrate ist sechsmal so hoch wie die Gesamtzahl der Passagiere (256), die bei den vier Todesflügen starben. Alle diese Opfer des Straßenverkehrs könnten noch leben, wenn sie geflogen wären, statt sich für das Auto zu entscheiden. Von 2002 bis 2005 haben US-amerikanische Fluggesellschaften 2,5 Milliarden Passagiere befördert. Nicht ein einziger starb bei einem Flugzeugabsturz. Obwohl stets berichtet wird, bei den Anschlägen vom 11. September seien 3000 Amerikaner ums Leben gekommen, müsste man also eigentlich noch einmal die Hälfte dazurechnen.

Verleihen wir der Statistik ein Gesicht, aber das glückliche von jemandem, der dem Tod knapp entrann.

Justin Klabin, ein 26-jähriger Rugbyspieler und Feuerwehrmann, hatte über den Hudson River hinweg den Einsturz der Zwillingstürme beobachtet. Mit seiner Feuerwehreinheit war er zum Ground Zero gerast. Nach diesem zutiefst aufwühlenden Erlebnis beschloss er, nicht mehr zu fliegen. Einen Monat später traten seine Freundin und er eine Urlaubsreise nach Florida an – mit dem Auto. Ihr Pick-up schaffte die gut 1500 Kilometer der Hinfahrt problemlos. Doch nach einem langen Autotag auf der Rückreise gab es einen lauten Knall: Beide Vorderreifen hatten sich wie Skier beim Schneepflug nach innen gedreht. Die Spurstange, die die Lenksäule mit den Rädern verbindet, war gebrochen. Der Pick-up konnte keinen Meter weiterfahren. Zum Glück geschah das Unglück, als sie auf einen Parkplatz in South Carolina abbogen. Wäre die Spurstange ein paar Minuten früher, bei 120 Stundenkilometern, gebrochen, hätten Klabin und seine Freundin wohl zu den vielen unglückseligen Reisenden gezählt, die ihr Leben bei dem Versuch verloren haben, das Risiko des Fliegens zu meiden.

Terroristen schlagen zweimal zu: zuerst mit physischer Gewalt und dann mithilfe unserer Gehirne. Der erste Schlag zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Für die Entwicklung riesiger bürokratischer Strukturen, wie der Homeland Security, und neuer Technologien, wie Ganzkörperscanner, die nackte Hautoberfläche unter der Kleidung sichtbar machen, hat man Milliarden ausgegeben. Der zweite Schlag hingegen bleibt fast unbemerkt. Bei den Vorträgen, die ich weltweit, von Singapur bis Wiesbaden, vor Nachrichtendiensten und Antiterrorbehörden über Risikomanagement hielt, zeigten sich meine Gastgeber immer wieder überrascht, weil sie diesen Aspekt nie berücksichtigt hatten. Bin Laden, der Gründer von Al-Qaida, erklärte einmal genüsslich, wie wenig Geld er aufwenden musste, um Amerika einen ungeheuren Schaden zuzufügen: »Al-Qaida hat für das Unternehmen 500000 Dollar ausgegeben, während Amerika durch den Vorfall und seine Folgen – nach zurückhaltendsten Schätzungen – mehr als 500 Milliarden Dollar verlor. Mit anderen Worten: Jeder Dollar von Al-Qaida hat eine Million Dollar vernichtet.«9 Es mag schwierig sein, Selbstmordattentate von Terroristen zu vereiteln, aber es ist gewiss leichter, sie daran zu hindern, unsere Gehirne als Waffen zu gebrauchen.

Welche psychologische Regel unseres Gehirns machen sich die Terroristen dabei eigentlich zunutze? Ereignisse mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, bei denen viele Menschen plötzlich getötet werden, sogenannte Schockrisiken (Dread Risks)10, bringen eine unbewusste Faustregel zur Anwendung:

Wenn viele Menschen gleichzeitig sterben, reagiere mit Furcht und vermeide die Situation.

Dabei gilt die Furcht nicht dem Sterben an sich, sondern dem Umstand, dass viele Menschen zur gleichen Zeit – oder in kurzen Zeitabständen – gemeinsam ihr Leben verlieren. Bei solchen Anlässen, etwa den Anschlägen vom 11. September, reagiert unser evolutionär geprägtes Gehirn mit großer Angst. Doch wenn genauso viele oder mehr Menschen über einen längeren Zeitraum verteilt sterben, beispielsweise bei Auto- und Motorradunfällen, bleiben wir eher gelassen. Allein in den Vereinigten Staaten von Amerika sterben jedes Jahr rund 35000 Menschen bei Verkehrsunfällen, trotzdem haben nur wenige Leute beim Autofahren Angst. Anders, als manchmal behauptet wird, liegt das nicht einfach an dem psychologischen Aspekt, dass Menschen beim Autofahren – im Gegensatz zum Fliegen – Kontrolle haben. Leute, die neben oder gar hinter dem Fahrer sitzen, haben auch keine Kontrolle und trotzdem wenig Angst. Paradoxerweise haben wir keine Angst davor, bei einem Unfall zu sterben, sondern zusammen mit vielen anderen umzukommen. Wir fürchten den seltenen Kernkraftwerksunfall, nicht die stetige Sterberate, die die Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke bewirkt. Wir fürchten die Schweinegrippepandemie, nachdem mehrere zehntausend mögliche Todesfälle angekündigt wurden – zu denen es nie kam –, während nur wenige Angst davor haben, zu den Zehntausenden zu gehören, die jedes Jahr tatsächlich der normalen Grippe zum Opfer fallen.

Woher kommt dieser Hang, Schockrisikenzu fürchten? Wahrscheinlich gab es eine Zeit in der Menschheitsgeschichte, als dies eine vernünftige Reaktion war. Über weite Strecken der Evolution lebten die Menschen in kleinen Verbänden von Jägern und Sammlern, die zwanzig bis fünfzig Personen umfassten und selten mehr als hundert Mitglieder aufwiesen – ähnlich entsprechenden Verbänden, die es heute noch gibt. In so kleinen Gruppen konnte der schlagartige Verlust vieler Leben das Risiko erhöhen, Raubtieren zum Opfer zu fallen oder zu verhungern, und damit das Überleben der ganzen Gruppe gefährden.11 Doch was in der Vergangenheit vernünftig war, muss es heute nicht mehr sein. In modernen Gesellschaften ist das Überleben des Individuums nicht mehr auf die Unterstützung und den Schutz von Kleingruppen oder Stämmen angewiesen. Trotzdem lässt sich diese psychologische Reaktion immer noch leicht hervorrufen. Bis auf den heutigen Tag sind reale oder vorgestellte Katastrophen in der Lage, Panikreaktionen auszulösen.

Diese »Althirn-Furcht« vor Schockrisikenkann jeden Anflug von rationalem Denken in den neueren Teilen unseres Gehirns unterdrücken. So schrieb mir ein Professor der Loyola University in Chicago: »Nach dem 11. September erklärte ich meiner Frau, dass es gefährlicher ist, mit dem Auto zu fahren, als zu fliegen; doch alle Mühe war vergebens.« Argumente tragen selten den Sieg über die Furcht davon, besonders wenn ein Ehepartner den anderen zu überzeugen versucht. Doch es gibt eine einfache Faustregel, die unserem Professor hätte helfen können:

Wenn ein Konflikt zwischen der Vernunft und einer starken Emotion vorliegt, verzichte auf Argumente. Mache dir lieber eine gegensätzliche und stärkere Emotion zunutze.

Ein Gefühl, das sich im Gegensatz zur Furcht vor Schockrisikenbefindet, ist die elterliche Sorge. Der Professor hätte seiner Frau vor Augen führen können, dass sie mit Fernreisen im Auto das Leben ihrer Kinder – nicht nur ihres Ehemanns – gefährdet. Elterngefühle sind eher in der Lage, die schleichende Furcht vor dem Fliegen zu überwinden. Ein intelligentes »Neuhirn« kann eine evolutionär bedingte Furcht gegen eine andere ausspielen, um besser in einer modernen Welt zu überleben. Evolution ist kein Schicksal.

Der zweite Schlag der Terroristen geht in seiner Wirkung sogar noch über die geschilderten Zusammenhänge hinaus. Er hat zu einer Aufweichung der Bürgerrechte geführt: Vor dem 11. September galten Leibesvisitationen ohne triftigen Grund als Menschenrechtsverletzungen; heute hält man ihre Duldung für eine Bürgerpflicht. Dafür sind wir bereit, einiges hinzunehmen – in langen Schlangen auf Flughäfen ausharren, Flüssigkeiten in Plastiktüten verstauen, Schuhe, Gürtel und Jacken ablegen, den eigenen Körper von Fremden abtasten lassen. Höhere Ausgaben für Flugsicherheit haben im Gegenzug zu schlechteren Dienstleistungen und beengtem Sitzen geführt, als würden die Fluggesellschaften um den schlechtesten Service konkurrieren. Die Menschen sind ängstlicher geworden, sind nicht mehr so unbeschwert wie früher. Nicht zuletzt haben die Kriege in Afghanistan und Irak mehr als eine Billion Dollar gekostet, vom Leben Tausender Soldaten und einer sehr viel größeren Zahl von Zivilisten ganz zu schweigen. Diese finanziellen Belastungen haben vermutlich auch eine Rolle gespielt beim Ausbruch der Finanzkrise 2008.12

Resilienz ist die Fähigkeit, Stress zu bewältigen und ohne nachteilige Auswirkungen wieder in das normale Verhalten »zurückzuspringen«. Wenn wir wissen, woher die Angst vor Schockrisikenkommt, wenn wir lernen, sie zu bekämpfen, indem wir uns gegensätzliche Gefühle zunutze machen, falls uns die Vernunft nicht weiterhilft, und wenn wir die Risiken des Fliegens richtig einzuschätzen lernen, dann verfügen wir schon über drei Instrumente der Risikokompetenz. Sollte sich jemals ein ähnlicher Anschlag wiederholen, werden wir unsere Gehirne nicht mehr so leicht für einen zweiten Schlag missbrauchen lassen.

Kommen wir noch einmal auf die Frage zurück, die ich oben gestellt habe: fliegen oder fahren? Nehmen wir wieder an, Sie leben in New York und möchten nach Washington reisen. Sie haben nur ein Ziel: lebend anzukommen. Wie viele Kilometer müssten sie mit dem Auto fahren, bis das Risiko eines tödlichen Unfalls genauso hoch wäre wie bei einem Nonstopflug? Diese Frage habe ich bei meinen Vorträgen Dutzenden von Expertengremien gestellt. Die Antworten waren bunt gemischt: 1000 Kilometer, 10000 Kilometer, dreimal um die Erde. Doch die genaueste Schätzung lautet: 20 Kilometer. Wenn sie mit Ihrem Auto heil am Flughafen ankommen, haben Sie den gefährlichsten Teil ihrer Reise wahrscheinlich schon hinter sich.

Sind die Menschen vom Umgang mit Risiken hoffnungslos überfordert?

Wie können so viele Menschen nicht merken, dass sie die Niederschlagswahrscheinlichkeit nicht verstehen? Ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen in Kauf nehmen, weil sie den Unterschied zwischen relativen und absoluten Risiken nicht kennen? Oder sogar vom Regen in die Traufe kommen? Schließlich leben sie mit den Niederschlagswahrscheinlichkeiten und Pillenängsten seit Mitte der 60er-Jahre, und die Angst vor Schockrisikenwiederholt sich mit jeder neuen Bedrohung, vom Rinderwahnsinn über SARS bis zur Vogelgrippe, in einem scheinbar endlosen Kreislauf. Warum lernen die Menschen nicht?

Nach Meinung vieler Experten sind die Menschen hoffnungslos überfordert. Versuche, sie von ihren Irrtümern zu befreien, schlügen in der Regel fehl. Ausgehend von dieser zutiefst pessimistischen Einschätzung der allgemeinen Öffentlichkeit, präsentiert eine Veröffentlichung von Deutsche Bank Research eine Liste mit Verstößen, die wir »Homer Simpsons« gegen die Vernunft begehen.13 In populärwissenschaftlichen Büchern hat man diese Botschaft rasch aufgegriffen und verkündet nun, Homo sapiens sei »vorhersagbar irrational« und brauche »Anstöße« zum vernünftigen Verhalten durch die wenigen zurechnungsfähigen Menschen auf der Erde.14

Ich sehe das anders. Unser Bildungssystem ist erschreckend blind im Hinblick auf Risikointelligenz. Wir lehren unsere Kinder die Mathematik der Sicherheit – Geometrie und Trigonometrie –, aber nicht die der Ungewissheit: Statistisches Denken. Und wir unterrichten unsere Kinder in Biologie, aber nicht in Psychologie, die ihre Ängste und Wünsche prägt. Selbst viele Experten sind nicht dazu ausgebildet, der Öffentlichkeit Risiken verständlich zu vermitteln, was höchst schockierend ist. Und es kann durchaus Interesse daran bestehen, die Menschen zu erschrecken: um einen Artikel auf die Titelseite zu bekommen, Menschen einzureden, die Abschaffung der Bürgerrechte sei legitim, oder ein Produkt zu verkaufen. Alle diese äußeren Gründe tragen zu dem Problem bei.

Die gute Nachricht lautet: Es gibt eine Lösung. Wer hätte vor ein paar hundert Jahren gedacht, dass eines Tages so viele Menschen auf der Erde lesen und schreiben lernen würden? Wir werden sehen, dass jeder, der es will, risikokompetent werden kann. Gestützt auf meine Forschungsarbeiten und die anderer Kollegen, werde ich darlegen, dass

1. jeder den Umgang mit Risiko und Ungewissheit lernen kann. In diesem Buch werde ich Prinzipien erläutern, die leicht zu verstehen sind für jeden, der den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

2. Experten eher ein Teil des Problems sind als die Lösung. Viele Fachleute haben selber Probleme, Risiken zu verstehen, keine angemessenen Kommunikationsfähigkeiten oder Interessen, die sich nicht mit den ihren decken. Aus solchen Gründen gehen riesige Banken pleite. Wenig ist gewonnen, wenn man risikoinkompetente Institutionen zur Anleitung der Öffentlichkeit einsetzt.

3. weniger mehr ist. Wenn wir vor einem komplexen Problem stehen, suchen wir nach einer komplexen Lösung. Und wenn diese nicht klappt, suchen wir nach einer noch komplexeren Lösung. In einer ungewissen Welt ist das ein großer Fehler. Nicht immer verlangen komplexe Probleme komplexe Lösungen. Allzu komplizierte Systeme – egal, ob Finanzderivate oder Steuersysteme – sind schwer zu verstehen, leicht zu missbrauchen oder potenziell gefährlich. Und sie sind nicht geeignet, den Menschen Vertrauen einzuflößen. Dagegen können uns einfache Regeln klüger und die Welt sicherer machen.

»Kompetent« heißt sachkundig, versiert und klug. Doch risikokompetent ist mehr, als gut informiert zu sein. Man braucht Mut, um einer ungewissen Zukunft zu begegnen, um sich gegen Experten zu behaupten und um kritische Fragen zu stellen. Wir können die Fernbedienung für unsere Emotionen wieder selbst in die Hand nehmen. Es bedarf einer gewaltigen psychologischen Umstellung, um den eigenen Verstand ohne Anleitung durch andere zu nutzen. Eine solche innere Revolution sorgt für mehr Aufklärung und weniger Angst im Leben. Ich habe dieses Buch geschrieben, um die Menschen zu mehr Risikokompetenz zu ermutigen.

Risikokompetent werden

In seinem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« beginnt Immanuel Kant mit den folgenden Worten:15

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«

Redefreiheit, Wahlrecht und Schutz vor Gewalt gehören zu den wichtigsten Errungenschaften seit der Aufklärung. Diese Freiheit ist kostbar. Sie entscheidet über die Türen, die Ihnen offenstehen, über Ihre Chancen. Heute hat jeder Internetnutzer freien Zugang zu mehr Informationen, als der Menschheit je zur Verfügung standen. Doch das Bild der offenen Türen ist ein passiver oder »negativer« Freiheitsbegriff. Positive Freiheit dagegen bedeutet mehr als freier Zugang. Die Frage ist, ob Sie in der Lage sind, durch diese Türen zu gehen, ob Sie Ihr Leben ohne die ständige Anleitung durch andere meistern können.16 Die drei Beispiele stehen für verschiedene Möglichkeiten, an dieser Aufgabe zu scheitern: Experten, denen es an der Fähigkeit zur Risikokommunikation fehlt, und Laien, die Risiken missverstehen, ohne es zu merken; Frauen, die von Journalisten zu ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen verleitet werden; und Terroristen, die sich die emotionale Prägung unseres Gehirns zunutze machen. In demokratischen Gesellschaften, in denen die Menschen ihre Chancen erheblich verbessert haben, ist die positive Freiheit zur eigentlichen Herausforderung geworden.

Risikokompetente Bürger sind die unverzichtbaren Säulen einer Gesellschaft, die bereit ist zur positiven Freiheit. Wie die drei Beispiele zeigen, läuft Risikokompetenz auf ein grundlegendes Verständnis unserer intuitiven Psychologie und unserer statistischen Informationen hinaus. Nur mit diesen beiden Fertigkeiten und einer Portion Neugier und Mut werden wir in der Lage sein, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. In dem Buch Das Einmaleins der Skepsis – Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken habe ich mich mit Risiken und statistischem Denken befasst, und in Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition ging es um Ungewissheit und intuitive Psychologie. Im vorliegenden Buch bringe ich diese beiden Strategien für den Umgang mit einer ungewissen Welt zusammen.

6 Furedi 1999.

7 Vgl. Gigerenzer, Wegwarth und Feufel 2010.

8 Gigerenzer 2004, 2006. Nachfolgende Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Gaissmaier und Gigerenzer (2012) liefern eine regionale Analyse der Zahlen der Verkehrsopfer. Der Fall von Justin Klabin wird in seinem Buch 9/11: A FireFighter’s story (2003, Imprintbooks) geschildert und nacherzählt in: Ripley 2009, S. 71 f. Beim Jahrestreffen der Society for Risk Analysis vom 6. bis 8. Dezember 2009 führte Robert G. Ross aus, dass die höchsten Ausschläge der Zahl tödlicher Unfälle in Abbildung 1.2 parallel zu Terrorismuswarnungen nach dem 11. September 2001 zu verzeichnen waren.

9 Daveed Gartenstein-Ross: »Bin Laden’s ›war of a thousand cuts‹ will live on«, in: The Atlantic, 3. Mai 2011.

10 Als Paul Slovic (1987) den Begriff »Dread-Risk« vorschlug, verstand er darunter subjektiv wahrgenommene Faktoren wie Mangel an Kontrolle, Bedrohungs- und Katastrophenpotenzialsowie ungleichgewichtige Verteilung von Risiko und Nutzen. Ich verwende ihn im engeren Sinne, wie ich es im Text angebe.

11 In Übereinstimmung mit dieser Erklärung berichten junge Erwachsene, dass sie Ereignisse (Krankheiten, Fabrikunfälle oder Erdbeben), bei denen 100 Menschen ums Leben kommen, mehr fürchten als Zwischenfälle mit zehn Toten, während ihre Furcht gleich bleibt, unabhängig davon, ob es 100 oder 1000 Todesfälle gibt. Der psychologische Grenzwert von 100 ist charakteristisch für die Angst vor Todesfällen, spielt aber keine Rolle bei finanziellen Einbußen, wo ein Verlust von 1000 Dollar mehr gefürchtet wird als einer von 100 Dollar (Galesic und Garcia-Retamero 2012).

12 Joseph Stiglitz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. September 2011, S. 19.

13 Schneider 2010.

14 Beim »harten« Paternalismus alter Schule ging man davon aus, dass die Menschen selbstsüchtig seien und straffer Führung bedürften, um den Interessen der Gesellschaft auf die beste Weise zu dienen – etwa Gesetzen zu gehorchen und Steuern zu zahlen. In ihrem Buch Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt schlugen Thaler und Sunstein (2009) einen »weichen« Paternalismus vor, der die Menschen sanft »anstößt«, Entscheidungen zu treffen, die in ihrem eigenen Interesse liegen. Zwar verzichtet der sanfte Paternalismus auf Gewalt, ist aber radikaler als der harte Paternalismus, indem er voraussetzt, dass die Menschen noch nicht einmal wissen, was in ihrem eigenen Interesse ist (Rebonato 2012). Die neue These lautet, dass die Menschen systematischen kognitiven Täuschungen unterlägen und dass daher der Paternalismus erforderlich sei, um ihr Verhalten zu verändern. Doch das Argument ist falsch: Kognitive Verzerrungen sind keine Rechtfertigung für Paternalismus (Berg und Gigerenzer 2007). Vor allem sind kognitive Beeinträchtigungen nicht in unsere Gene eingeschrieben, sondern resultieren in hohem Maße aus einem Mangel an geistiger Anregung – Anregung, wie sie beispielsweise die Schule bietet. So kann ein geringer IQ, der häufig als angeboren gilt, durch Förderung erheblich verbessert werden (Nisbett 2009). Warum zum Beispiel haben Kinder, die vor dem 15. September geboren wurden, einen höheren IQ als Kinder, die nach diesem Datum zur Welt gekommen sind? Weil die meisten Länder um den 15. September einen Stichtag haben, der festlegt, dass Kinder, die danach geboren werden, noch ein weiteres Jahr auf den Schulbesuch warten müssen. Dieser Umstand ermöglichte die Durchführung eines natürlichen Experiments. Als man die Intelligenz von Kindern, die den Vorteil hatten, bei Schulbeginn ein Jahr älter zu sein, mit der Intelligenz von Kindern verglich, die den Vorteil eines zusätzlichen Schuljahres hatten, stellte sich heraus, dass ein Schuljahr im Hinblick auf den Intelligenzquotienten doppelt so viel brachte wie ein Lebensjahr (S. 42).

15 Kant 1784, S. 481. Aufklärung ist großteils immer noch eine Aufgabe der Zukunft.

16 Mill 1869 (Berlin 1967).

Kapitel 2 Gewissheit ist eine Illusion

Nichts wird uns trennen. Wahrscheinlich werden wir noch weitere zehn Jahre verheiratet bleiben.

Elizabeth Taylor 1974, fünf Tage bevor sie und Richard Burton ihre Scheidung bekannt gaben

Wir denken, Ungewissheit sei etwas, was wir uns nicht wünschen. In der besten aller Welten sollten alle Dinge gewiss sein, absolut gewiss und sicher. Deshalb schließen wir Versicherungen gegen alles ab, schwören auf Horoskope oder beten zu Gott. Wir sammeln Terabytes von Informationen, um unsere Computer in Kristallkugeln zu verwandeln. Aber stellen Sie sich einmal vor, was geschehen würde, wenn Ihre Wünsche in Erfüllung gingen. Würden wir mit Gewissheit alles über die Zukunft wissen, so gäbe es in unserem Leben kaum Anlass für Gefühle mehr. Weder Überraschung noch Vergnügen, weder Freude noch Aufregung – wir wüssten ja alles schon längst. Der erste Kuss, der erste Heiratsantrag, die Geburt eines gesunden Kindes wären so aufregend wie der Wetterbericht des vergangenen Jahres. Sollte unsere Welt jemals gewiss werden, wäre unser Leben todlangweilig.

Die Illusion der Gewissheit

Trotzdem wollen viele von uns Gewissheit haben von Bankern, Ärzten und politischer Führung. Tatsächlich liefern sie uns die Illusion derGewissheit, die Überzeugung, dass etwas gewiss ist, obwohl dies nicht der Fall ist. Jedes Jahr finanzieren wir eine milliardenschwere Industrie, die – meist fehlerhafte – Prognosen erstellt, von Aktientipps bis zu globalen Grippepandemien. Viele Menschen lächeln über altmodische Wahrsager. Doch sobald die Hellseher mit Computern arbeiten, nehmen wir ihre Vorhersagen ernst und sind bereit, für sie zu zahlen. Erstaunlich dabei ist unsere kollektive Amnesie: Die meisten von uns warten noch immer ungeduldig auf die Kursvorhersagen des Aktienmarkts, obwohl sie sich Jahr für Jahr als falsch erweisen.

Im Laufe der Geschichte haben die Menschen Glaubenssysteme wie Astrologie und Weissagung geschaffen, die Gewissheit versprechen. Ein Blick ins Internet zeigt die anhaltende Attraktivität dieser Systeme. Die moderne Technik hat weitere Instrumente entwickelt, die scheinbare Gewissheit vermitteln – von Gentests über personalisierte Medizin bis zur Risikobewertung im Bankwesen.

Testgläubigkeit

Wenn ein Gentest zeigt, dass sich die DNA des Angeklagten mit den Spuren deckt, die an dem ermordeten Opfer gefunden wurden, ist das dann nicht ein hundertprozentiger Beweis dafür, dass er der Täter ist? Wenn sich eine Schwangere einem HIV-Test unterzieht und der Test positiv ausfällt, ist das dann nicht ein hundertprozentiger Beweis dafür, dass sie – und wahrscheinlich auch ihr Kind – infiziert ist? Um zu ermitteln, wie verbreitet die Illusion der Gewissheit ist, befragte ich eine repräsentative Stichprobe von 1000 erwachsenen Deutschen. Im Rahmen von Face-to-Face-Interviews – persönlichen Gesprächen – wurden sie gefragt: »Welche der folgenden Tests sind absolut sicher?« Das Ergebnis ist in Abbildung 2.1 dargestellt.

Abbildung 2.1: Welcher Test ist absolut sicher? In einer repräsentativen Stichprobe von 1000 Deutschen glaubten 4 Prozent, ein professionelles Horoskop sei absolut sicher. Wenn moderne Technik ins Spiel kommt, verstärkt sich die Illusion der Gewissheit. Bei all diesen Tests kommen Fehler vor.

Wenn ein Astrologe Ihnen ein professionelles Horoskop erstellt und voraussagt, Sie würden schwer erkranken und möglicherweise mit 49 Jahren sterben, werden Sie dann Angst bekommen, wenn das Datum näherrückt? Bei etwa vier Prozent der Deutschen wäre das der Fall; sie glauben, dass ein professionelles Horoskop absolut gewiss sei.17 Nun gibt es aber keinen Beleg dafür, dass Horoskope zuverlässiger sind als ein guter Freund, den Sie bitten, Ihnen die Zukunft vorherzusagen. Wenn moderne Technik ihre Hand im Spiel hat, verstärkt sich die Illusion derGewissheit noch. Elfmal so viele Befragte, 44 Prozent, glauben, dass das Ergebnis eines Mammografie-Screenings Gewissheit bringe. Frauen aus dieser Gruppe unterziehen sich dem Test, weil sie sicher sein wollen. Tatsächlich aber bleiben zehn Prozent der Krebserkrankungen in den Mammogrammen unentdeckt, und je jünger die getesteten Frauen sind, desto fehleranfälliger sind die Ergebnisse, weil das Gewebe ihrer Brüste dichter ist. Schließlich glauben zwei Drittel der Deutschen, HIV-Tests und Fingerabdrücke seien sicher, während sie DNA-Tests das größte Vertrauen entgegenbringen. Diese Tests sind in der Tat viel genauer als Mammogramme, aber keiner bringt absolute Gewissheit. Tatsächlich sind Fingerabdrücke unverwechselbare Merkmale eines Individuums, was sogar für eineiige Zwillinge gilt, die bekanntlich gleiche Gene haben. Welches Gericht würde einen Verdächtigen freisprechen, wenn sich seine Fingerabdrücke mit denen am Tatort eines Verbrechens deckten? Fingerabdrücke galten als »pannensicher«, bis das FBI 1998 zwei Abdrücke aus einem Fluchtauto und die vermeintlich identischen Fingerabdrücke des Beschuldigten an die Labors der US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden schickte. Nur vier von je fünf Labors fanden eine Übereinstimmung, jedes fünfte keine.18

Eine neue Technologie nicht zu verstehen ist eine Sache. Zu glauben, dass sie Gewissheit bringt, eine ganz andere. Für Menschen, die unter der Illusion derGewissheit leiden, gibt es einfache Abhilfe. Sie müssen nur im Gedächtnis behalten, was Benjamin Franklin sagte:

»In dieser Welt ist nichts gewiss außer dem Tod und den Steuern.«

Meine Schmusedecke19, bitte

Menschen scheinen ein Bedürfnis nach Gewissheit zu haben, den Drang, an etwas festzuhalten, statt es infrage zu stellen. Wer ein hohes Sicherheitsbedürfnis hat, neigt eher zu Stereotypen und zeigt eine geringere Tendenz, sich an Informationen zu erinnern, die seinen Stereotypen widersprechen.20 Er empfindet Mehrdeutigkeit als verwirrend und verspürt den Wunsch, sein Leben rational zu planen. Zuerst ein Studienabschluss, ein Auto, eine Berufslaufbahn, anschließend der vollkommene Ehepartner, das Eigenheim und gut geratene Kinder. Doch dann kommt die Wirtschaftskrise, geht der Arbeitsplatz verloren, hat der Partner eine Affäre mit jemand anderem, und am Ende packt man seine Sachen in Kartons, um in eine billigere Wohnung zu ziehen. In einer ungewissen Welt lässt sich nicht alles planen. Hier können wir erst über eine Brücke gehen, wenn wir zu ihr kommen, nicht schon vorher. Dieser Wunsch, alles zu planen und zu organisieren, ist möglicherweise ein Teil des Problems und nicht seine Lösung. Es gibt einen jüdischen Witz: »Wie bringt man Gott zum Lachen? Erzähl ihm von deinen Plänen.«

Illusionen haben ihre Funktion. Häufig brauchen kleine Kinder Kuschel- oder Schmusedecken, um ihre Ängste zu lindern. Doch bei einem Erwachsenen kann sich ein hohes Sicherheitsbedürfnis als gefährlich erweisen. Es hindert uns daran, uns der Ungewissheit zu stellen, die unser Leben durchdringt. Sosehr wir uns auch bemühen, wir können unser Leben nicht auf die gleiche Weise risikofrei machen, wie wir unsere Milch fettfrei machen.

Andererseits ist das psychologische Bedürfnis nicht allein für die Illusionder Gewissheit verantwortlich. Auch die Gewissheitsproduzenten sind entscheidend daran beteiligt, die Illusion zu nähren. Sie wiegen uns in der Gewissheit, die Zukunft sei vorhersagbar, wenn wir uns nur der richtigen Technologie bedienten. Doch die Zukunft kann einfach eine verdammte Sache nach der anderen sein. Manch ein Experte verbreitet falsche Gewissheit, und das gelegentlich schamlos. »Ich bin sicher, dass ich den heiligen Gral gefunden habe«, verkündete ein Finanzexperte einem andächtig lauschenden Kunden in einem Zürcher Nobelhotel in einem so volltönenden Bariton, dass ich nicht umhinkonnte, das Gespräch mitzuhören. Nachdem er eine Stunde lang eine scheinbar todsichere, über jeden Zweifel erhabene Investition in allen Tonarten gepriesen hatte, war ihm der Kunde – und dessen Geld – sicher.

Die Suche nach Sicherheit ist ein uraltes menschliches Bestreben. Es hat magische Riten, Wahrsager und Autoritätsfiguren hervorgebracht, die wissen, was richtig und was falsch ist. Entsprechend sind viele Philosophen jahrhundertelang in die Irre gegangen, indem sie nach Gewissheiten suchten, wo es keine gibt, oder, wie John Dewey, der bedeutende Vertreter des philosophischen Pragmatismus, dargelegt hat, Wissen mit Gewissheit und Glaube mit Ungewissheit gleichsetzten.21 Heute wird mithilfe moderner Technik – von der mathematischen Vorhersage der Aktienkurse bis hin zu bildgebenden Verfahren in der Medizin – um jenes Vertrauen geworben, das bisher Religion und Autorität einflößten.

Die Suche nach Gewissheit ist das größte Hindernis auf dem Weg zur Risikokompetenz. Es gibt Dinge, die wir wissen können, aber wir müssen auch wissen, was wir nicht wissen können. Wir wissen fast mit Sicherheit, dass der Halley’sche Komet im Jahr 2062 zurückkehren wird, aber wir können selten Naturkatastrophen und Börsencrashs vorhersagen. »Nur Narren, Lügner und Scharlatane prognostizieren Erdbeben«, sagte Charles Richter, Namengeber der Skala, die ihre Stärke misst.22 Ganz ähnlich erbrachte eine Analyse der Vorhersagen Tausender politischer und wirtschaftlicher Fachleute, dass sie selten besser abschnitten als Laien oder Dart werfende Schimpansen.23 Sehr beschlagen erwiesen sich die Experten jedoch darin, Entschuldigungen für ihre Irrtümer zu finden (»Ich lag fast richtig«). Das Problem besteht darin, dass falsche Gewissheit enormen Schaden anrichten kann. Wie wir sehen werden, führt blinder Glaube an Tests und finanzielle Prognosen unter Umständen zu einem Leben in Not und Elend. Er kann nicht nur unsere körperliche und geistige Gesundheit gefährden, sondern auch unser Bankkonto und die Wirtschaft in Gänze ruinieren. Wir müssen lernen, mit Ungewissheit zu leben. Es wird Zeit, dass wir uns dieser stellen. Ein erster Schritt besteht darin, uns den Unterschied zwischen bekannten und unbekannten Risiken klarzumachen.

Risiko und Ungewissheit

Zwei prächtig gekleidete junge Frauen sitzen, einander zugewandt, aufrecht und ruhig auf ihren Stühlen. Doch keine nimmt Notiz von der anderen. Fortuna, die launische, mit dem Lebensrad spielende Göttin, sitzt mit verbundenen Augen auf der linken Seite, während menschliche Figuren verzweifelt versuchen, das Rad in ihrer Hand zu erklettern, sich an ihm festklammern oder von ihm herunterfallen (Abbildung 2.2). Sapientia, die berechnende, eitle Göttin des Wissens und der Wissenschaft, blickt, versunken in die Bewunderung ihrer selbst, in einen Handspiegel. Diese beiden allegorischen Figuren stellen einen uralten Gegensatz dar: Fortuna bringt, je nach Laune, Glück oder Unglück, Wissen hingegen Gewissheit.

Dieser Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert entstand hundert Jahre vor einer der größten Umwälzungen des menschlichen Denkens, der »probabilistischen Revolution«, umgangssprachlich auch als »Zähmung des Zufalls« bezeichnet. Dessen Domestizierung begann Mitte des 17. Jahrhunderts. Seither hat sich der Gegensatz zwischen Fortuna und Sapientia zu einer engen Beziehung gewandelt, die allerdings nicht frei ist von Versuchen, einander die angestammten Besitzungen streitig zu machen. Das Wissen versuchte, die Menschen vom Rad der Fortuna zu befreien, den Glauben an das Schicksal zu verbannen und den Zufall durch Kausalität zu ersetzen. Fortuna wehrte sich, indem sie das Wissen ihrerseits mit dem Zufall unterwanderte und das ausgedehnte Reich der Wahrscheinlichkeit und Statistik schuf.24 Beide gingen gewandelt aus diesen Kämpfen hervor: Fortuna war gezähmt, und das Wissen hatte seine Gewissheit verloren.

Abbildung 2.2: Fortuna, die mit dem Lebensrad spielende Göttin des Glücks und des Zufalls (links), rechts Sapientia, die himmlische Göttin des Wissens und der Wissenschaft. Auf diesem Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert sind die beiden Frauen traditionell gegenübergestellt: Das launische Glück der Fortuna lässt die Menschen an dem Rad in ihrer Hand emporklettern und abstürzen, während Wissen Gewissheit verspricht. Ein Jahrhundert später sorgte eine der größten wissenschaftlichen Revolutionen dafür, dass der Zufall gezähmt wurde und die Wissenschaft ihre Gewissheit verloren hat.

Heute leben wir in der berauschenden Welt, die diese beiden allegorischen Figuren hervorgebracht haben. In unserem Bewusstsein wimmelt es von Zahlen und Wahrscheinlichkeiten. Der Fußball ist den Straßen und Bolzplätzen in den Arbeitervierteln entwachsen und wird heute von Statistiken beherrscht: Prozent des Ballbesitzes, Zahl der Torschüsse, Prozent der gewonnenen Zweikämpfe, Anzahl der roten Karten pro Spiel und pro Saison. Märkte und Handel wurden von kühnen, weltklugen Männern geschaffen, die ferne Reiche bereisten und Vermögen erwarben, bis sie die herrschende Aristokratie an Reichtum übertrafen und am Ende eine Revolution auslösten, die anderen Leuten ohne Titel und Stammbaum ein menschenwürdiges Leben ermöglichte. Heute müssen sich die Händler nicht mehr auf abenteuerliche Reisen begeben, um ihre Vermögen zu machen; ihnen genügen Hochgeschwindigkeitsrechner, die mithilfe von mathematischen Modellen die Entwicklung der Aktienmärkte voraussagen sollen. Währenddessen dreht Fortuna mit verbundenen Augen still und unbeirrt an ihrem Rad, führt Wirtschaftsprognostiker an der Nase herum und stürzt Hedgefonds von Nobelpreisträgern ins Verderben.

Das Zwielicht der Ungewissheit weist unterschiedliche Schattierungen und Abstufungen auf. Seit dem 17. Jahrhundert vermittelte die probabilistische Revolution der Menschheit die Methoden des statistischen Denkens, um über Fortuna zu triumphieren. Doch diese Methoden waren nur für die blassesten Töne der Ungewissheit bestimmt, für eine Welt bekannter Risiken, oder einfach: von Risiken (Abbildung 2.3, Mitte). Ich verwende diesen Begriff für eine Welt, in der alle Alternativen, Folgen und Wahrscheinlichkeiten bekannt sind. Das gilt beispielsweise für Lotterien und Glücksspiele. Meistens leben wir jedoch in einer sich verändernden Welt, in der einige dieser Faktoren unbekannt sind: wir haben es mit unbekannten Risiken oder Ungewissheit zu tun (Abbildung 2.3, rechts). Die Welt der Ungewissheit ist riesig im Vergleich zu der des Risikos. Wen sollen wir heiraten? Wem vertrauen? Was fangen wir mit dem Rest unseres Leben an? In einer ungewissen Welt ist es unmöglich, den optimalen Verlauf einer Aktion zu bestimmen, indem man die genauen Risiken berechnet. Wir müssen mit den »unbekannten Unbekannten« fertig werden. Überraschungen sind unvermeidlich. Doch selbst wenn Berechnungen keine klaren Antworten liefern, müssen wir Entscheidungen treffen. Zum Glück können wir weit Besseres leisten, als uns panisch an Fortunas Lebensrad zu klammern und von ihm herunterzupurzeln. Fortuna und Sapientia zeugten neben der mathematischen Wahrscheinlichkeit noch ein zweites Geisteskind, das häufig übersehen wird: die Faustregel oder, wissenschaftlich ausgedrückt, die Heuristik.25 Um gute Entscheidungen zu treffen, sind zwei Arten geistiger Werkzeuge erforderlich:

RISIKO: Wenn die Risiken bekannt sind, verlangen gute Entscheidungen logisches und statistisches Denken.

UNGEWISSHEIT: Wenn einige Risiken unbekannt sind, verlangen gute Entscheidungen auch Intuition und kluge Faustregeln.

Meistens ist eine Kombination von beidem erforderlich. Einige Dinge lassen sich berechnen, andere nicht, und was berechnet werden kann, ist oft nur eine grobe Schätzung.

Abbildung 2.3: Gewissheit, Risiko und Ungewissheit. In unserer Alltagssprache unterscheiden wir zwischen »Gewissheit« und »Risiko«, trotzdem werden die Begriffe »Risiko« und »Ungewissheit« meistens synonym verwendet. Das sind sie aber nicht. In einer Welt bekannter Risiken weiß man alles, einschließlich der Wahrscheinlichkeiten, mit Gewissheit. Hier reichen statistisches Denken und Logik aus, um gute Entscheidungen zu treffen. In einer ungewissen Welt ist nicht alles bekannt und lässt sich die beste Option nicht berechnen. Da sind zusätzlich gute Faustregeln und Intuitionen erforderlich.

Bekannte Risiken

Die Zähmung des Zufalls brachte die mathematische Wahrscheinlichkeit hervor. Ich werde den Ausdruck bekanntes Risiko oder einfach Risiko für Wahrscheinlichkeiten verwenden, die sich empirisch messen lassen, im Gegensatz zu jenen Ungewissheiten, bei denen das nicht möglich ist.26 Beispielsweise lässt sich Regenwahrscheinlichkeit ebenso wie durchschnittlicher Ballbesitz und Thromboserisiko anhand der beobachteten Häufigkeiten berechnen. Ursprünglich bedeutete Risiko nicht nur Gefahr oder Schaden, sondern auch gleichermaßen Glück wie Unglück in den Händen Fortunas: Ein Risiko kann eine Bedrohung oder eine Hoffnung sein. Ich werde diese ursprüngliche Bedeutung des Wortes beibehalten. Schließlich gäbe es ohne Risikobereitschaft wenig Innovation. Und in vielen Situationen kann ein negatives Ergebnis aus einer anderen Perspektive auch als positiv beurteilt werden: Die Regenwahrscheinlichkeit kann sich auf ein gefährliches Ereignis beziehen, etwa schwere Regenfälle, die Autounfälle verursachen, aber auch auf einen positiven Ausgang, zum Beispiel Regen, der eine Trockenperiode und Hungersnot beendet. Das Risiko, dass Sie Ihr Vermögen in einem Spielkasino verlieren, ist eine Katastrophe für Sie, aber ein willkommenes Ereignis für die Kasinobesitzer.

Die drei Gesichter der Wahrscheinlichkeit

Eine wichtige Tatsache wird häufig übersehen: Wahrscheinlichkeit ist kein einheitliches Phänomen; sie ist mit drei Gesichtern zur Welt gekommen: Häufigkeit, Design und Überzeugungsgrad.27 Und die sind bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben.

Häufigkeit: Bei der ersten Identität beruht die Wahrscheinlichkeit auf Abzählen. Das Zählen der Tage mit Niederschlägen oder der Minuten, während derer eine Mannschaft den Ball in den eigenen Reihen hält, sowie die Division dieser Resultate durch die Gesamtzahl der Tage oder Spielminuten ergibt Wahrscheinlichkeiten, die relative Häufigkeiten sind. Ihr historischer Ursprung liegt in den Sterbetafeln, aus denen Lebensversicherungen die Todeswahrscheinlichkeiten errechneten.

Design: Zweitens, Wahrscheinlichkeit hat mit Konstruktion zu tun. Wenn etwa ein Würfel so hergestellt wird, dass er vollkommen symmetrisch ist, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Sechs 1/6. Dazu brauchen Sie nicht zu zählen. Entsprechend sind mechanische Spielautomaten so konstruiert, dass sie, sagen wir, 80 Prozent dessen ausgeben, was die Leute hineinwerfen. Bei elektronischen Automaten werden die Wahrscheinlichkeiten von der Software bestimmt. Eingebaute Wahrscheinlichkeiten heißen auch Propensität oder Tendenz. Historisch betrachtet waren Glücksspiele der Prototyp der Propensität. Diese Risiken sind bekannt, weil die Menschen sie konstruiert, nicht gezählt haben.

Überzeugungsgrad: Drittens, Wahrscheinlichkeit hat mit Überzeugung zu tun. Die Grundlage einer Überzeugung kann alles sein von einer Erfahrung bis zu einem persönlichen Eindruck. Historisch liegt ihr Ursprung in der Augenzeugenaussage vor Gericht oder, noch spektakulärer, in der Überlieferung der Wunder in der jüdisch-christlichen Tradition.28 Bis auf den heutigen Tag zählt die Aussage zweier unabhängiger Zeugen mehr als diejenige zweier Zeugen, die zuvor miteinander gesprochen haben, und Gleiches gilt für die Aussage eines Zeugen, der den Angeklagten nicht kennt, im Vergleich zu derjenigen des Bruders. Doch wie soll man solche Intuitionen quantifizieren? Diese Frage führte zu Überzeugungsgraden, die als Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt werden.

Anders als bekannte Risiken, die auf messbaren Häufigkeiten oder Design beruhen, können Überzeugungsgrade sehr subjektiv und unterschiedlich sein. Häufigkeiten und Design grenzen die Wahrscheinlichkeit auf Situationen ein, für die große Datenmengen vorliegen oder über deren Beschaffenheit vollkommene Klarheit herrscht. Überzeugungsgrade dagegen sind weit umfassender und erwecken den Eindruck, dass mathematische Wahrscheinlichkeit auf jedes denkbare Problem anwendbar sei. Dadurch kann man leicht zu der Annahme verführt werden, ein Werkzeug – die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten – genüge für den Umgang mit allen Arten von Ungewissheit. Infolgedessen werden andere wichtige Werkzeuge, etwa Faustregeln, in der Kiste vergessen.

Spielt diese »multiple Identität« eine Rolle? Keine besondere, wenn es ums Würfelspiel geht, aber sicherlich eine beträchtliche, wenn wir uns der modernen Technik zuwenden. Das Risiko eines größeren Störfalls in einem Kernkraftwerk lässt sich anhand der Anzahl früherer Störfälle, der Konstruktion des Kraftwerks oder der Überzeugungsgrade von Fachleuten oder durch eine Kombination derselben abschätzen. Die resultierenden Bewertungen können sich erheblich voneinander unterscheiden. Während es an der Zahl der Störfälle kaum Zweifel geben kann, lassen sich Propensitäten für die Konstruktion eines Kernkraftwerks schwer bestimmen, sodass es zu erheblich voneinander abweichenden Einschätzungen kommen kann – je nachdem, welche politischen Einstellungen die Gutachter haben oder wer ihre Geldgeber sind. Aus diesem Grund ist es immer wichtig zu fragen, wie die Risiken einer Kernschmelze oder irgendein anderes Risiko tatsächlich berechnet wurden.

Die Kunst der Risikokommunikation

Ein Risiko zu berechnen ist eine Sache, es den Menschen zu vermitteln eine andere. Risikokommunikation ist eine wichtige Fertigkeit für Laien und Fachleute gleichermaßen. Da sie jedoch selten gelehrt wird, ist die Fehldeutung von Zahlen eher die Regel als die Ausnahme. Jede der drei Wahrscheinlichkeitsarten – relative Häufigkeit, Design oder Überzeugungsgrad – lässt sich verwirrend oder verständlich darstellen. Bislang haben wir zwei Werkzeuge für die Vermittlung von Risiken kennengelernt:

•Verwende Häufigkeiten statt Wahrscheinlichkeiten von Einzelereignissen.

•Verwende absolute statt relative Risiken.