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Risiko & Recht macht es sich zur Aufgabe, Rechtsfragen der modernen Risikogesellschaft zu analysieren. Berücksichtigung finden Entwicklungen in verschiedensten Gebieten, von denen Sicherheitsrisiken für Private, die öffentliche Ordnung, staatliche Einrichtungen und kritische Infrastrukturen ausgehen. Zu neuartigen Risiken führt zuvorderst der digitale Transformationsprozess und der damit verbundene Einsatz künstlicher Intelligenz; des Weiteren hat die Covid-Pandemie Risikopotentiale im Gesundheitssektor verdeutlicht und auch der Klimawandel zwingt zu umfassenderen Risikoüberlegungen; schliesslich geben gesellschaftliche Entwicklungen, u.a. Subkulturenbildung mit Gewaltpotential, Anlass zu rechtlichen Überlegungen. Risiko und Recht greift das breite und stets im Wandel befindliche Spektrum neuartiger Risikosituationen auf und beleuchtet mit Expertenbeiträgen die rechtlichen Herausforderungen unserer Zeit.
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Seitenzahl: 126
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Risiko & Recht macht es sich zur Aufgabe, Rechtsfragen der modernen Risikogesellschaft zu analysieren. Berücksichtigung finden Entwicklungen in verschiedensten Gebieten, von denen Sicherheitsrisiken für Private, die öffentliche Ordnung, staatliche Einrichtungen und kritische Infrastrukturen ausgehen. Zu neuartigen Risiken führt zuvorderst der digitale Transformationsprozess und der damit verbundene Einsatz künstlicher Intelligenz; des Weiteren hat die Covid-Pandemie Risikopotentiale im Gesundheitssektor verdeutlicht und auch der Klimawandel zwingt zu umfassenderen Risikoüberlegungen; schliesslich geben gesellschaftliche Entwicklungen, u.a. Subkulturenbildung mit Gewaltpotential, Anlass zu rechtlichen Überlegungen. Risiko und Recht greift das breite und stets im Wandel befindliche Spektrum neuartiger Risikosituationen auf und beleuchtet mit Expertenbeiträgen die rechtlichen Herausforderungen unserer Zeit.
1
Editorial
Grundlagen
GASTBEITRAG:Was «Risiko und Recht» mit einer Just Culture zu tun haben sollten[Mark Roth]
Polizei & Militär
Demografie, Delinquenz und psychische Störungen bei jungen Erwachsenen mit einer Massnahme nach Art. 61 StGB[Elisa Lanzi / Jana Dreyer / Christoph Sidler / Karoline Niedenzu / Évi Forgó Baer / Carmelo Campanello / Andreas Wepfer / Francesco Castelli / Thierry Urwyler / Marc Graf / Marcel Aebi]
Amtsmissbrauch: Polizist:innen vor Gericht – Ein Blick auf Art. 312 StGB mit Fokus auf die Zwangsanwendung durch Angehörige der Polizei[Jan Imhof]
Elektrokonvulsionstherapie unter Zwang im stationären Massnahmenvollzug[Lena Machetanz / Michael Pommerehne / Gian Ege / Madeleine Kassar / Elmar Habermeyer / Johannes Kirchebner]
Sehr geehrte Damen und Herren
Die vorliegende Ausgabe 1/2025 der Risiko & Recht deckt ein breites Themenspektrum aktueller Sicherheitsfragen ab. Eingangs untersucht der Autor Mark Roth in seinem Gastbeitrag was «Risiko und Recht» mit einer Just Culture zu tun haben sollten. Gemeint ist die «Redlichkeitskultur», die in Hochrisikobranchen wie der Luftfahrt und der Medizin eine zunehmend zentrale Bedeutung erlangt.
Die Autorinnen und Autoren Elisa Lanzi, Jana Dreyer, Christoph Sidler, Karoline Niedenzu, Évi Forgó Baer, Carmelo Campanello, Andreas Wepfer, Francesco Castelli, Thierry Urwyler, Marc Graf und Marcel Aebi setzen sich in einem weiteren Beitrag mit Demografie, Delinquenz und psychischer Störungen bei jungen Erwachsenen mit einer Massnahme nach Art. 61 StGB auseinander. Hiernach besteht in der Schweiz die Möglichkeit, bei einer zum Tatzeitpunkt 18-25-jährigen Person, bei welcher eine erhebliche Störung der Persönlichkeitsentwicklung im Zusammenhang mit dem Tatverhalten sowie dem Rückfallrisiko besteht, eine spezifische, auf das Alter zugeschnittene Massnahme anzuordnen.
Jan Imhof setzt sich mit dem Strafverfahren gegen Angehörige der Polizei auseinander. In seinem Beitrag behandelt er die rechtliche Überprüfung polizeilichen Handelns unter dem Gesichtspunkt des Strafrechts.
Schliesslich befassen sich die Autorinnen und Autoren Lena Machetanz, Michael Pommerehne, Gian Ege, Madeleine Kassar, Elmar Habermeyer und Johannes Kirchebner mit der Elektrokonvulsionstherapie unter Zwang im stationären Massnahmenvollzug. Sie gehen aus medizinischer, ethischer und juristischer Perspektive der Frage nach, ob ein psychisch kranker Mensch mit therapierefraktärer Schizophrenie und fehlenden Rehabilitationsperspektiven auch gegen seinen Willen einer Elektrokonvulsionstherapie unterzogen werden darf.
Wir wünschen Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, eine anregende Lektüre und erlauben uns noch auf die Möglichkeit eines Print-Abonnements hinzuweisen.
Tilmann Altwicker Dirk Baier Goran Seferovic Franziska Sprecher Stefan Vogel Sven Zimmerlin
Mark Roth
Just Culture,auf Deutsch «Redlichkeitskultur», hat in Hochrisikobranchen wie der Luftfahrt und der Medizin eine zunehmend zentrale Bedeutung erlangt. Die aktive Auseinandersetzung mit diesem Konzept – sowohl auf Ebene von Organisationen und Einzelpersonen als auch durch Behörden und Strafverfolgungsinstitutionen – offenbart in aktuellen wie auch vergangenen Ereignissen die Komplexität und Vielschichtigkeit seiner praktischen Umsetzung.
Die unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen erschweren jedoch die einheitliche Implementierung in den genannten Industrien. Insbesondere im Gesundheitswesen bleibt abzuwarten, wie dieses Konzept langfristig und nachhaltig auf nationaler Ebene umgesetzt werden kann.
Angesichts der Notwendigkeit, Risiko und Recht in Einklang zu bringen, gibt es aus Sicht des Verfassers kaum Alternativen zu einer konsequenten Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Herausforderungen. Nur durch ein aktives Engagement in diesem Spannungsfeld kann eine Zukunft gestaltet werden, die sowohl das Risiko minimiert als auch die Sicherheit nachhaltig steigert.
In der schweizerischen Rechtsprechung wurden die Prinzipien der Just Culture insbesondere im Bereich der Luftfahrt thematisiert. Zwei bedeutende Fälle betrafen Flugverkehrsleiter, die wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs nach Art. 237 StGB[1] angeklagt wurden.
Im ersten Fall bestätigte das Bundesgericht die Verurteilung eines diensthabenden Fluglotsen durch das Bundesstrafgericht.[2] Im zweiten Fall wurde der Fluglotse freigesprochen, da das Bundesgericht keine konkrete Gefährdung oder Störung des öffentlichen Flugverkehrs erkannte und feststellte, dass keine Verurteilung basierend auf Hypothesen erfolgen könne.[3] Diese Urteile verdeutlichen das Spannungsfeld zwischen der Förderung einer offenen Fehlerkultur zur Verbesserung der Sicherheit und der strafrechtlichen Verfolgung individueller Fehler.
Im Gesundheitswesen ist die Just Culture ein zentraler Bestandteil der Qualitätsstrategien des Bundes für die Jahre 2025–2028 und wird in den systemorientierten Handlungsfeldern als wesentliche Grundlage für die Entwicklung einer positiven Fehler- und Sicherheitskultur hervorgehoben.[4] Ziel ist es, eine nachhaltige Anwendung der Prinzipien der Just Culture sicherzustellen, bei der nicht bestrafende Reaktionen auf Fehler, die systematische Analyse von Zwischenfällen sowie die Unterstützung betroffener Fachpersonen und Patienten im Vordergrund stehen. Die Prinzipien der Just Culture sollen dabei auf allen Ebenen des Gesundheitssystems – Makro‑, Meso- und Mikroebene – verankert werden. Insbesondere verpflichtet sich die Eidgenössische Qualitätskommission (EQK), die Implementierung dieser Prinzipien zu überwachen, Messungen durchzuführen und Empfehlungen abzuleiten. Qualitätsverträge zwischen Leistungserbringern und Versicherern sollen die Umsetzung unterstützen und den Fortschritt bewerten. Die gesetzliche Basis bildet Artikel 58 KVG,[5] der den Bundesrat verpflichtet, alle vier Jahre Ziele für die Qualitätsentwicklung festzulegen. Die Diskussion über die Integration von Just Culture-Prinzipien in die schweizerische Rechtsordnung ist daher weiterhin aktuell und relevant.
Just Culture beschreibt eine Arbeitskultur, die Mitarbeitende dazu ermutigt, sicherheitsrelevante Ereignisse ohne Furcht vor Sanktionen zu melden. Der Fokus liegt auf der Förderung eines offenen Austauschs, um systemische Schwachstellen frühzeitig zu erkennen und präventive Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit einzuleiten. Dabei wird zwischen individuellen Fehlern und strukturellen Defiziten differenziert, wobei insbesondere der Lernprozess im Vordergrund steht.
Die rechtliche Grundlage auf europäischer Ebene bildet insbesondere die Verordnung (EU) Nr. 376/2014[6], die auch in der Schweiz gilt. Diese verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einführung von Meldesystemen, welche den Schutz der meldenden Personen garantieren und verhindern, dass deren Meldungen für strafrechtliche Verfahren herangezogen werden – ausser in Fällen von grober Fahrlässigkeit, vorsätzlichen Verstössen oder destruktiven Handlungen. Ergänzt wird diese Regelung durch die in der Schweiz ebenfalls geltende Verordnung (EU) Nr. 996/2010[7], die sicherstellt, dass Sicherheitsuntersuchungen ausschliesslich der Prävention und nicht der Schuldzuweisung dienen.
In der Praxis findet Just Culture insbesondere in Hochrisikobranchen wie der Aviatik oder dem Gesundheitswesen Anwendung. Kleine Fehler können in diesen Bereichen schwerwiegende Konsequenzen haben. Durch das Vertrauen in ein gerechtes Umfeld soll gewährleistet werden, dass Mitarbeitende nicht aus Angst vor beruflichen oder rechtlichen Konsequenzen davon absehen, sicherheitskritische Ereignisse zu melden. Dieses Prinzip steht im Einklang mit der Forschung zur psychologischen Sicherheit,[8] welche aufzeigt, dass Teams, die offene Kommunikation und Fehlerakzeptanz fördern, produktiver und innovativer sind. Just Culture strebt damit eine Vertrauenskultur an, welche die Meldung von Fehlern fördert und gleichzeitig die Verantwortlichkeiten der Mitarbeitenden sowie der Organisation klar regelt. Entscheidend sind dabei eine konsequente Umsetzung und eine klare rechtliche Basis, um Missbrauch oder unangemessenen Druck durch Organisationen oder Behörden zu verhindern. So trägt Just Culture zu einem nachhaltigen Sicherheitsmanagement bei, das auf Offenheit, Vertrauen und Prävention basiert.
Historisch war die Schweizer Luftfahrt lange durch eine strikte strafrechtliche Herangehensweise geprägt. Kleinste Fehler von Fachpersonen, wurden oft streng geahndet. Dies führte zu einer Zurückhaltung bei der Meldung von Vorfällen, aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen.[9]
Mit der zunehmenden Anerkennung der Notwendigkeit einer lernorientierten Sicherheitskultur begann sich das Just-Culture-Konzept zu etablieren. Insbesondere dessen thematische Einführung durch die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) markierte einen Wendepunkt. Die SUST agiert unabhängig und fokussiert sich auf die Untersuchung sicherheitsrelevanter Vorfälle, um Schwachstellen im System zu identifizieren. Dabei wird sichergestellt, dass die gesammelten Informationen primär der Verbesserung der Sicherheit dienen und keine Grundlage bieten, welche zur Bestrafung von beteiligten Personen verwendet werden kann.
Aktuell steht die Schweiz vor der Herausforderung, die Just-Culture-Prinzipien vollständig in ihre Prozesse zu integrieren. Einerseits sind rechtliche Anpassungen notwendig, um den Schutz der meldenden Personen zu gewährleisten. Andererseits gilt es, eine Balance zwischen der Unabhängigkeit der Sicherheitsuntersuchungen und der Zusammenarbeit mit Straf- und Verwaltungsbehörden zu finden. Annex 13 des ICAO-Abkommens dient hierbei als internationaler Leitfaden, welcher besagt, dass die Sicherheitsuntersuchungen ausschliesslich zur Aufarbeitung und Prävention dienen sollen und keine Grundlage für eine Schuldzuweisung geben dürfen.[10]
Die Schweiz hat mit der Etablierung einer Just Culture in der Luftfahrt wichtige Fortschritte erzielt. Dennoch bleibt die vollständige Implementierung dieses Ansatzes ein laufender Prozess, der eine enge Kooperation zwischen Behörden, Unternehmen und Fachpersonen erfordert. Nur so kann die Sicherheit im komplexen Umfeld der Aviatik nachhaltig verbessert werden.
Die ersten systemischen Ansätze zur Just Culture in der Schweiz lassen sich auf das Jahr 1998 zurückführen. Inspiriert von den Prinzipien der Luftfahrt, initiierte der Anästhesist Daniel Scheidegger am Universitätsspital Basel das Critical Incident Reporting System (CIRS), das seither landesweit Verbreitung gefunden hat. Institutionen wie beispielsweise die Stiftung «Patientensicherheit Schweiz» fördern seither den Austausch über Just Culture. Trotz einer zunehmenden Sensibilisierung in Spitälern und bei anderen Leistungserbringern bleibt die praktische Umsetzung jedoch vielerorts herausfordernd.[11] Hindernisse wie hierarchische Strukturen, Silodenken, die Angst vor negativen Konsequenzen bei Fehlermeldungen sowie rechtliche Haftungsfragen und die Furcht vor strafrechtlicher Verfolgung sind nur einige Beispiele, die die Umsetzung erschweren.
Das föderalistische Schweizer Gesundheitswesen stellt hierbei eine besondere Herausforderung dar. Während das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den gesetzlichen Rahmen vorgibt – etwa durch das KVG[12] oder das EpG[13] –, liegt die Verantwortung für Spitalplanung, Gesundheitsversorgung und Berufsaufsicht bei den Kantonen. Diese setzen nationale Programme um und ergänzen sie durch eigene Initiativen, was zu regionalen Unterschieden führt. Die Schweizerische Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) unterstützt zwar die Kooperation, jedoch erschwert der kantonale Handlungsspielraum eine einheitliche Entwicklung. Im Gegensatz zur zentralisierten Struktur der Luftfahrt unter dem Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) werden Prozesse im Gesundheitswesen zudem durch eine Vielzahl von Interessengruppen komplexer, wie etwa bei Tarifverhandlungen oder der Implementierung des elektronischen Patientendossiers (EPD). Diese Fragmentierung macht die Etablierung zentraler Konzepte wie der Just Culture besonders anspruchsvoll.
Die Implementierung einer Just Culture im Schweizer Gesundheitswesen befindet sich deshalb noch in einem frühen Entwicklungsstadium. Erst wenige Leistungserbringer haben sich zu einer offiziellen Einführung einer Just Culture-Policy durchringen können. Auf nationaler Ebene gibt es derzeit keine gesetzlichen Vorgaben oder Richtlinien, die eine Just Culture explizit verankern. Dennoch bieten die im Kapitel I erwähnten Qualitätsstrategien des Bundesamts für Gesundheit (BAG) Ansätze, um Fortschritte zu erzielen. Wie diese Vorgaben in den Kantonen und bei den Leistungserbringern konkret umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Ob dabei tatsächlich ein tiefgreifender Kulturwandel hin zu einer Vertrauenskultur entsteht, ist offen. Zu hoffen bleibt, dass der Prozess nicht in einem blossen «Abhaken» aus Compliance-Gründen endet.
High Reliability Organizations (HROs) zeichnen sich dadurch aus, dass sie trotz hochkomplexer und risikoreicher Umgebungen durch eine ausgeprägte Sicherheitskultur, kontinuierliches Lernen und eine ausgeprägte Anpassungsfähigkeit dauerhaft nahezu fehlerfreie Leistungen erbringen (sollten). Obwohl sich die Luftfahrt und die Medizin nur begrenzt miteinander vergleichen lassen, ist der Umgang mit Risiken sowohl für Einzelpersonen als auch für Organisationen essenziell, insbesondere im Hinblick auf ihre Reputation.
Für Strafverfolgungsbehörden mag der Eindruck entstehen, dass Konzepte wie Just Culture und verwandte «Softfaktoren» – darunter Kulturwandel und Vertrauenskultur – schwer in den rechtlichen Kontext einzuordnen sind. Zudem ist zu vermuten, dass die unterschiedlichen Zielsetzungen von Strafverfolgern einerseits und den gesetzgebenden Behörden andererseits kaum eine gemeinsame Vision mit Hochrisikobranchen zulassen. Dennoch sollte eine Balance zwischen Risiko und Recht angestrebt werden. Die Luftfahrt, als eine der führenden Hochrisikobranchen, in der das Just-Culture-Konzept insbesondere in westlichen Ländern am weitesten entwickelt ist, liefert durch ihre Unfallstatistiken überzeugende Argumente für die Fortführung solcher Ansätze.[14] Dieses Konzept wird inzwischen nicht mehr nur in grossen Organisationen, sondern zunehmend auch in mittelständischen und kleineren Betrieben umgesetzt. Eine Abkehr von diesen Prinzipien ist nicht zu erwarten. In der Medizin hingegen erschwert die föderalistische Struktur den Fortschritt in diesem Bereich. Dennoch weisen die Qualitätsstrategien 2025–2028 des Bundes in eine vielversprechende Richtung.
Ein zentrales Risiko in beiden Industrien liegt in der Diskrepanz zwischen der formellen Verankerung solcher Konzepte und deren fehlerhafter praktischer Umsetzung. Solche widersprüchlichen Verhaltensweisen können, wie die Vergangenheit leider gezeigt hat, langfristige Schäden nach sich ziehen. Ein weiteres Risiko besteht in der mangelnden Auseinandersetzung mit dieser komplexen, aber bedeutenden Thematik. Organisationen sind gut beraten, sich frühzeitig und systematisch mit diesen Herausforderungen auseinanderzusetzen, um unvorhergesehene und potenziell schwerwiegende Ereignisse zu vermeiden.
Die angestossene Auseinandersetzung mit Just Culture zeigt die essenzielle Bedeutung dieses Konzepts in Hochrisikobranchen wie der Luftfahrt und der Medizin. Während in der Luftfahrt deutliche Fortschritte erzielt wurden, steht das Gesundheitswesen in der Schweiz noch am Anfang eines umfassenden Kulturwandels. Die rechtlichen, strukturellen und kulturellen Unterschiede beider Branchen erschweren eine einheitliche Umsetzung. Dennoch bieten die Qualitätsstrategien des Bundes vielversprechende Ansätze, um Just Culture als Grundlage einer positiven Fehler- und Sicherheitskultur zu etablieren.
Entscheidend bleibt, dass Organisationen und Behörden aktiv an der Balance zwischen Risiko und Recht arbeiten, um Vertrauen, Offenheit und Prävention zu fördern. Eine fehlerhafte oder rein formale Umsetzung birgt Risiken, die sowohl die Sicherheit als auch die Glaubwürdigkeit der beteiligten Akteure gefährden können. Letztlich zeigt die Luftfahrt, dass eine nachhaltige Just Culture sowohl die Sicherheit steigert als auch Lernprozesse stärkt – ein Ziel, das auch im Gesundheitswesen konsequent verfolgt werden sollte.
Edmondson Amy C., The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth, Hoboken, 2018.
Widmer-Kaufmann Raphael, Die Flugunfalluntersuchung nach schweizerischem Recht: rechtshistorische Entwicklung – heutige verfahrensrechtliche Ausgestaltung – zukünftig anzugehende Probleme, Diss. St.Gallen 2021, Zürich 2022.