Risse im Weg - Udo Keil - E-Book

Risse im Weg E-Book

Udo Keil

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Beschreibung

Zwei Geschwister werden nach dem Sieg der Wehrmacht in Lodz (Litzmannstadt) durch die deutschen Behörden als "germanisierungsfähig" befunden und an eine Familie in Deutschland vermittelt. Obgleich diese liebevoll ihre ermordeten Eltern ersetzten, werden die Kinder nach Kriegsende in ihre ungewisse ehemalige Heimat zurückgeschickt.

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www.tredition.de

Udo Keil

Risse im Weg

Ein Jugendbuch aus Deutschlands dunkler Zeit

www.tredition.de

© 2019 Udo Keil

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7497-8832-3

Hardcover:

978-3-347-00340-8

e-Book:

978-3-7497-8834-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1

Der Herbst hatte sich bisher von seiner besten Seite gezeigt. Die Sonne wärmte noch einmal Straßen und Fabriken der großen Stadt Lodz. Doch diese Stadt gab es nicht mehr. Fortan sollte sie „Litzmannstadt“ heißen. Über der großen Freitreppe des Hauptbahnhofes sei ein neues Bahnhofsschild angebracht mit dem neuen Namen ihrer alten Stadt, erzählten sich die Einwohner. Trotz aller Ungewissheit und Schikanen, welche die deutsche Besatzung mit sich brachte, ließ man sich nicht unterkriegen. Es herrschte lebendiges Treiben auf den großen Boulevards. An der Kreuzung, der jetzt so genannten, Adolf-Hitler-Straße und Meisterhausstraße, tobte das Leben wie eh und je. Da die Stadt im Krieg nicht zerstört wurde, glänzten die großen Schaufensterscheiben in der Sonne. Ungewohnt war nur, dass an Stelle der bekannten Firmenschilder der Geschäfte jetzt „Bäcker“ an Stelle„inkarniere“ stand. Dort wo ein Schild eine „cukiernia“ ausgewiesen hatte, konnte man „Konditorei“ lesen und eine „delikatessy“ nannte sich jetzt: „Feinkost.“

Menschen schlenderten an den Auslagen vorbei, suchend, ob etwas für sie dabei sei. Nur das jetzt mehr Uniformen im Straßenbild beherrschten. Neben den graugrünen der Deutschen Wehrmacht waren auch die der Polizei und die schwarzen der SS zu sehen. Auch sonst hatte sich einiges in dem Straßenbild geändert. Die Briefkästen der polnischen Post waren den roten der „Deutschen Reichspost“ gewichen. Natürlich wehten an allen Behörden und Dienstellen die verhassten Hakenkreuzfahnen. Hier in diesem Stadtteil reihten sich dicht an dicht die Paläste der ehemaligen Textilbarone. Lodz war das Manchester des Ostens. Der Reichtum der Elite der Stadt bestand darin die Armut der noch Ärmeren auszubeuten. Und davon gab es genug. Russland, Weißrussland und die baltischen Staaten hatten genug Potenzial um die polnische Textilindustrie zum Tuchlieferanten für Westeuropa zu machen. So erzeugte der Reichtum der Stadt auch unvorstellbaren Armut, die sich in den reichlich vorhandenen Elendsquartieren zeigte.

Ludwik folgte langsam aber zielsicher der Adolf-Hitler-Straße. Vor der Besatzung war sie die berühmte „ulica piotrowska“, die Prachtstraße der Stadt, vorbei an den Palais der ehemaligen polnischen Textilbarone. Die ehemaligen Besitzer der waren, wie alles Polnische, enteignet worden. Nicht normal enteignet, mit einem Richterspruch und Verteidiger. Nein, man hatte sie weggejagt. Wer sich am Ende des deutschen Feldzuges gegen Polen noch schnell in das Ausland absetzten konnte, der tat es. Wer das aber nicht konnte oder auf irgend eine Form der Zusammenarbeit mit den Deutschen hoffte, wurde einfach aus seinem Haus oder seiner Wohnung gesetzt. Jetzt gehörten sie den Besatzern. Das ging allen Polen so, ob arm oder reich. Auch wurde der älteste Teil der Stadt zwangsgeräumt und als Quartier für die Juden genutzt. Die polnischen Bewohner dieses Stadtteils wurden auf die frei werdenden Wohnungen der Juden in der verteilt.

Wobei zu bemerken ist, dass jede, aber auch jede, einigermaßen gute Wohnung natürlich den neuen Bürgern aus dem „Altreich“, zugesprochen. Die Wohnungen, die für die „Neubürger“ nicht gut genug waren, dort konnten die Polen einziehen und sehen wie sie zurechtkamen.

Es herrschte ein Gedränge auf dieser ehemaligen Prachtstraße von Lodz. Höllisch aufpassen musste man, denn wer einen Deutschen absichtlich oder unabsichtlich anrempelte, der wurde wild beschimpft und angeschrien. Natürlich konnte jeder sehen, wer ein Pole war, denn man musste das „Polenabzeichen“ an der Kleidung tragen. Überall sah man Personen mit dem violett-farbigen „P“ an der Kleidung. So gekennzeichnet eilten sie schnell zu ihren ihnen zugeteilten Arbeitsstellen. Bloß nicht zu spät kommen.

Dazu kam, dass die Straßenbahnen nur mit Genehmigung der Stadtverwaltung benutzt werden durften. Und diese bekam man nur, wenn man in einem kriegswichtigen Betrieb der Deutschen arbeitete. Sogar die Fahrradbenutzung war genehmigungspflichtig. Ludwik ging es genau so. Er wollte schnell zur Arbeit kommen. Er hatte großes Glück gehabt. Obgleich er Gymnasiallehrer für Physik und Chemie gewesen war, gelang es die deutschen Meldebehörden zu täuschen und sich als Chemielaborant eintragen zu lassen.

Alles, was irgendwie nach polnischer Intelligenz aussah, wurde von den deutschen Behörden rücksichtslos verfolgt. So glaubte er, würde er nicht so sehr von den deutschen Behörden beobachtet. Wichtig besonders, da er in der polnischen Untergrundschule illegal polnischen Schülern Unterricht gab. Die Deutschen hatten Schulunterricht für polnischen Kinder auf ein Mindestmaß gekürzt. Jetzt war er unterwegs um zu seiner Arbeitsstelle zu kommen.

Die „Likörfabrik Hans Steinmann KG“ war ihm von dem Arbeitsamt zugewiesen worden. Sie lag am oberen Ende der Straße. Vorn war es ein normales Mietshaus, in dessen Erdgeschoss sich die Wohnung und das Kontor des Besitzers befand und hinter dem lang gestreckten Vorderhaus breitete sich die Fabrik aus. Im Gegensatz zu anderen deutschen Unternehmen waren hier zwischen den Fabrikationshallen Grünanlagen angelegt worden und die Gebäude frisch gestrichen. Ja, es war sogar eine kleine Sportanlage für die Arbeiter geschaffen worden.Das war ungewöhnlich, sogar verboten, dass sich die Polen sich an solch eines Luxus erfreuen konnten. Bei dem Einstellungsgespräch hatte Steinmann Ludwik aufgefordert die Wahrheit zu sagen. „Von mir brauchen sie keine Angst zu haben, fragen sie meine Angestellten, die werden ihnen das betätigen.“

„Jawohl“, kam die Antwort von Ludwik. Die Antwort seines neuen Chefs überraschte ihn nach dem Gesehenen schon nicht mehr. „Mir reicht ein einfaches "Ja" oder von mir aus auch ein "Tak!“ Selten hatte er so etwas Ungewöhnliche von einem vorgesetzten Deutschen gehört. Normalerweise benahmen sie sich überheblich und hingen ihr angeblich überlegenes „Deutschtum“ heraus. „Was ist ihr Beruf?“, wurde er gefragt. Nach kurzem Überlegen kam die Antwort. „Ich war Chemie und Physiklehrer am ‚Deutschen Gymnasium‘ Lodz. Jetzt heißt es wohl “Günter-Prien-Schule.“ „Kennen sie mit alkoholischen Ingredienzien aus?“, wurde er gefragt.„Ich glaube schon, im Studium und im Unterricht habe ich ja ständig damit zu tun gehabt.“ „Danke, das reicht mir. Sie sind jetzt in meinem Labor angestellt. Wir stellen trinkbaren Alkohol für die Wehrmacht her. Trauen sie sich das zu?“„Ich glaube schon Herr Steinmann.“ „Dann sind sie mein neuer Laborleiter. Prima, dass sie Deutsch und Polnisch sprechen. Melden sie sich beim Schichtleiter Petrowski." Ludwik dachte, er spinne. Ein Pole als Schichtleiter. Was es nicht alles gab. Später lernte er noch mehr über diesen außergewöhnlichen Deutschen, der jetzt sein Chef war. Mehrmals schon hatte die SS und die Schutzpolizei seinen menschlichen Umgang mit polnischen Arbeitern gerügt und mit Zwangsmaßnahmen gedroht. Dann, so konnte er aus späteren Gesprächen entnehmen, rief Steinmann, das deutsche Kompetenzgerangel nutzend, die zuständige Heeresverwaltung in Litzmannstadt an und beschwerte sich über die Einmischung dieser Dienststellen. Dabei kam ihm die Spannung zwischen Heer, SS und Schutzpolizei zu Gute.

Steinmann informierte die Heeresleitung Litzmannstadts über die Einmischung und diese intervenierte bei den Behörden. Die „Hans Steinmann KG“ sei unverzichtbar für den Kampf im Osten. „Mischen sie sich nicht in die Angelegenheiten des Heeres ein. Mir ist das vollkommen egal wie die Polen behandelt werden. Hauptsache es wird geliefert und unsere Truppen bekommen ihre Zuteilungen und diese dient zur Erhaltung der Kampfmoral der kämpfenden Truppe. Wenn Herr Steinmann meint, sein Wirken sei gut für die Steigerung der Produktion, dann ist es so. Heil Hitler!“

Damit legte der General der Heeresverwaltung Litzmannstadt den Hörer auf. So war dann immer alles beim alten geblieben. Steinmann war sogar noch weiter gegangen. Zwei Polinnen wurden von ihm angefordert. Sie sollten für „seine Belegschaft“ kochen. „Bei diesem Fraß“, den sie in den Lagern bekämen, „kann man nicht gute Arbeit leisten.“ Zähneknirschend ließ die Arbeitsverwaltung von Litzmannstadt auch das geschehen. Besser man legte sich nicht mit dem Heer an. Hans Steinmann war ein typischer Fall eines Bürgers des „Altreichs“, der dem Aufruf gefolgt war den Osten des Deutschen Reiches, und dazu zählte ja jetzt der Warthegau, mit deutschen Leben zu erfüllen und den Geist des Großdeutschen Reiches in den ehemals polnischen Gebieten in das Land hineinzutragen. Im schlesischen Lauban besaß Steinmann ein seit Generationen betriebenes Kolonialwaren-Geschäft mit einer angeschlossenen Weinhandlung.

Dieses führte jetzt sein Prokurist, während er sich in das Abenteuer Litzmannstadt gestützt hatte. Sein bisheriges Leben in dieser Kleinstadt, in der auch noch seine Familie lebte, hatte wohl dazu geführt, dass ihm noch ein bisschen christliche Menschenliebe geblieben war. Da unterschied sich von vielen anderen Unternehmern, die sich als Glücksritter verstanden und die Gunst der Stunde beim Schopf zu packen und die ihnen zugefallenen Vergünstigungen weidlich ausnutzten.

2

Es war dunkel in der engen Wohnstube. Den Ofen hatten sie heute nicht angeheizt. Obwohl der Novemberwind kalt durch die Straße wehte und zu normalen Zeiten dafür gesorgt hätte, dass jedermann in warmen Stuben auf den kommenden, sich schon ankündigenden Winter wartete, war es in diesem Herbst anders. Jeder der noch Feuerholz und etwas Kohlen im Keller hatte, versuchte diesen eisernen Vorrat so lange wie möglich zu strecken.

Die deutschen Besatzer hatten alles unternommen, um die polnische Bevölkerung so kurz wie möglich zu halten. Ständig gab es in allen Versorgungslagen Kürzungen und Einsparungen. Natürlich nur für die polnische Bevölkerung. Da hieß es haushalten. Schon lange war nichts mehr, wie es einmal war. Seit der Besetzung Polens ging es ihnen schlecht. Leider nicht nur ihnen, sondern allen Polen. Besonders denen, die jüdischen Glaubens waren.

Ob sie den Glauben auch ausübten, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Auch nicht gläubige Juden wurden verfolgt. Die Nazis hatten sich in den Kopf gesetzt die germanische Rasse zur Weltherrschaft zu bringe und alles „Blutsfremde“ aus zu rotten. Das taten sie dann auch. Der älteste Teil von Lodz, der sich Baluty nannte und die Vorstadt Marysin wurde dafür ausgewählt.

In diesen Stadtteilen, dort wo das Elend am schlimmsten und die Wohnverhältnisse am schlechtesten waren, wurden alle Juden der Stadt zusammengetrieben und untergebracht. Doch nicht nur Lodzer Juden wurden dort zusammengepfercht. Nein, alles was in Deutschland und den besetzten Gebieten jüdisch war, war für das Litzmannstädter Lager vorgesehen. Die Bürger, die bis jetzt in den jüdischen Stadtteilen gewohnt hatten, wurden auf die freigewordenen Wohnungen jüdischer Bewohner in den anderen Gegenden verteilt. Das Ghetto war entstanden. Als Vorstufe des Todes. Umgeben von einem Stacheldrahtzaun und bewacht von Posten der SS und der berüchtigten Sonderpolizei. Dort waren alle Juden eingesperrt und sich selbst verwaltend zusammengepfercht.

Man sprach, über einhunderttausend jüdische Menschen seien dort untergebracht. Ein „Judenältester“ regierte über sie und es gab eine eigene Verwaltung.

Sogar eine Ghetto-Polizei versah hier ihren Dienst. Aber alles verlief so, wie es die deutsche Ghetto-Verwaltung angeordnet hatte. Schlimme Dinge wurden von dort erzählt. Doch auch ihnen, den „normalen“ Polen ging es schlecht.

Die Bahn, auch Bus und Straßenbahn durften sie nur mit Genehmigung benutzen. Sogar für ein Fahrrad brauchte man eine polizeiliche Berechtigung. Der Schulunterricht war stark eingeschränkt, Universitäten und Hochschulen geschlossen. Jeder Pole hatte ein fest angenähtes Abzeichen an der Kleidung zu tragen. Ein, in einem gelben Rhombus eingeschlossenes violettes „P“.

Früher hatten sie ein harmonisches Familienleben geführt. Doch seit der Besetzung Polens durch die Deutschen hatte sich vieles verändert. Ihr Mann Ludwik durfte nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Von einem normalen Schulunterricht war man weit entfernt. Nur wenig durften die polnischen Kinder jetzt lernen. Da sie Hilfsarbeiter vorgesehen waren, reichte es allemal. Magda hatte ihre Kinder in das Nebenzimmer geschickt, denn die Auseinandersetzung im Wohnzimmer war für sie nicht bestimmt. Post war gekommen. Und die hatte es in sich. Das Geplapper der Kinder drehte sich während dessen darum, was wohl der Grund sei, dass plötzlich herausgeschickt wurden. Es war eigentlich nicht üblich. Weder Vater noch Mutter hatten bisher Geheimnisse vor ihnen gehabt. Wenn sie etwas nicht verstanden in ihren jungen Jahren, dann versuchten die Eltern mit viel Geduld die Fragen zu erklären.

Das war bei Weitem nicht in allen Familien so. Sie jedenfalls waren damit aufgewachsen. Und so ging es nebenan laut her. Auf Polnisch und Deutsch redeten „Lenka“, die eigentlich Helene hieß und ihr älterer Bruder Viktor den sie „Viki“ nannten, durcheinander. Zu Hause wurde immer deutsch gesprochen. Sie waren ganz selbstverständlich zweisprachig aufgewachsen. Ihre Mutter war Deutsche und hatte ihren Mann während des Studiums in Göttingen kennengelernt. Später, als das Studium beendet war, waren sie in seine Heimat nach Lodz gezogen, wo ihm eine Stelle als Lehrer in einem Gymnasium angeboten wurde. Dann hatten sie geheiratet und als die Kinder gekommen waren, blieb Magda zu Hause um die Kinder und den Haushalt zu versorgen. Dass sie ihren Kindern beide Sprachen beibrachten, war nur natürlich.

In der Wohnung herrschte Deutsch vor. Hier hatte die Hausfrau das Sagen. In der Schule, bei Bekannten und wo man sonst so zusammen kam, wurde die Muttersprache des Vaters genutzt. So war das eben bei Familien, aus verschiedenen Herkunftsländern. Dadurch waren die beiden Kinder in einer zweisprachigen Familie aufgewachsen.

Sie beherrschten beide Sprachen wie ihre Muttersprache. Im Wohnzimmer besprachen die Eltern wie es weitergehen sollte. Gestern hatte Ludwik von der deutschen Post, die jetzt die Aufgaben der polnischen Post übernommen hatte, einen Brief gekommen. Darin forderte die deutsche Arbeitsverwaltung ihn auf, sich am nächsten Dienstag zum Arbeitseinsatz im „Altreich“ am Bahnhof zu melden. An Gepäck hätten sie sich an die, in den für den Arbeitseinsatz herausgegebenen Richtlinien zu halten. Als Ludwik dieses Schreiben las, hatte er wütend ausgerufen: „Vielleicht folge ich diesen Verbrechern!“, rief er. „Wenn die Deutschen meinen, jeder Polen habe diesen Befehlen zu folgen, in ihrer Rüstungsindustrie zu arbeiten und den Krieg in die Länge zu ziehen, dann haben sie sich bei mir geirrt.

Ich jedenfalls werde nicht dabei sein!“ Zu Hause traute er sich noch so etwas zu sagen. Seiner Frau vertraute er natürlich, obgleich sie eigentlich auf der anderen Seite stehen müsste. Aber sie kannte ihren Mann, der oft jähzornig und unduldsam war. Die polnischen Fachleute unter ihnen waren schon nach Deutschland, in das „Altreich“, wie sie sagten, gebracht worden, um Zwangsarbeit in Deutschlands Industrie zu leisten. Obgleich sie nicht gefragt wurden, sondern zu Transporten zusammengestellt, in ihr neues Arbeitsleben gebracht wurden, nannte sich dieser Arbeitseinsatz: „Freiwillig“.

So sollten sie in Deutschland für ihre Arbeit bezahlt werden, doch zog man ihnen das verdiente Geld sofort wieder ab für Unterkunft und Verpflegung. Die Unterkünfte waren Massenquartiere in Barackenlagern in der Nähe ihrer Arbeitsstätten. Die Verpflegung reicht gerade einmal, um die Arbeitskraft einigermaßen zu gewährleisten. Und auch das reichte oft nicht zum Leben. Bisher waren sie selber noch einigermaßen gut davon gekommen. Ihre geräumige große Wohnung in ihrem gut bürgerlichen Stadtteil hatten sie allerdings aufgeben müssen.

Dort waren Deutsche eingezogen, denen man in Litzmannstadt eine neue deutsche Zukunft versprochen hatte. Nur wenige Stunden waren ihnen verblieben, um die nötigsten Sachen zu packen und dann stand schon der Lastwagen der neuen Mieter vor dem Haus. Sie selber bekamen eine Wohnung eines angeblich in der Zwangsarbeit verstorbenen Ehepaars zugewiesen. Die Wohnung war klein ungemütlich und verwohnt. Trotzdem machten sie das Beste daraus. Ihre Kinder jedenfalls sollten nicht an den Umständen leiden.

Ludwik jedenfalls dachten gar nicht daran, dem Befehl folge zu leisten. Gleich morgen würde er bei Herrn Steinmann vorsprechen und ihn mit der Aufforderung sich für Deutschland zu melden, berichten. Auf jeden Fall und da war er sich sicher, würde sein Chef alles daran setzten, seinen Laborleiter zu behalten und bei den deutschen Behörden Einspruch einlegen.

Plötzlich klingelte das Telefon. Eigentlich unwahrscheinlich. Gestern gab es noch keinen Ton von sich. Die Deutschen hatten nach der Besetzung der Stadt in der Schaltzentrale der Telefongesellschaft dafür gesorgt, dass für Polen kein privater Telefonverkehr mehr stattfinden konnte. Irgendetwas musste sie jedoch dazu bewegt haben, wieder eine Schaltung vorzunehmen. Sicher brauchten sie die Anschlüsse für die Durchführung ihrer Besatzungsrechte. Victor überraschte das so, dass er bewegungslos stehenblieb, als könne er es nicht fassen, dass das Telefon wieder Töne von sich gab. Warum war in dieser Wohnung überhaupt noch ein Telefon? Magdalena war da schneller, sie ergriff den Hörer: „Hier bei Nowak.“ Aufgeregte Töne am anderen Ende. „Frau Nowak, hier spricht Frau Kaminska. Sagen Sie ihrem Mann, dass sich auf unserer Straße lauter Militärfahrzeuge versammelt haben. SS-Soldaten und Schutzpolizisten gehen mit Listen von Haus zu Haus und nehmen viele Polen fest. Überall stehen Uniformierte, solche mit schwarzen Uniformen aber auch normale deutsche Uniformen. Die Festgenommenen werden befragt und in einer Liste abgehakt. Das kann ich ganz genau sehen. Einige weigern sich. Sie werden mit den Gewehrkolben geschlagen und zwangsweise auf die Fahrzeuge gebracht. Man spricht davon, dass ein neuer Transport nach Deutschland abgehen soll. Wahrscheinlich werden diejenigen abgeholt, die der Aufforderung von Vorgestern nicht gefolgt sind. Jetzt, Frau Nowak fährt das erste Auto ab. Bitte warnen Sie ihren Gatten.“ Magda Nowak blickte ihren Mann erschrocken an. „Frau Kaminska war am Apparat, sie will dich warnen.“

Und dann erzählte sie, was sie gehört hatte. Kaum hatte sie geendet, quietschten Bremsen vor dem Haus. Und bevor sie überhaupt ein Wort wechseln konnten, wurde es an der Tür laut. „Macht auf, ihr Polengesindel, aber schnell!“ Dann krachte es auch schon. Mit dem Gewehrkolben hatten sie die Tür aufgebrochen. „Bist du Nowak?“ Kommt mit. Aber schnell, wenn ich bitten darf“, brüllte der Unteroffizier, der offensichtlich der Anführer war. „Befehl von Obersturmbannführer Müller!“ “Meine Herren, mir ist kein Herr Müller bekannt. Außerdem bin ich schon Kriegsdienstverpflichtet bei der Firma Steinmann KG.“ Dann holte er seinen Pass. „Wenn sie sich davon überzeugen wollen … „Da schrie plötzlich der Unteroffizier mit sich überschlagender Stimme. „Du polnisches Schwein. Du hast der Aufforderung einer deutschen Dienstelle für den Arbeitseinsatz nicht Folge geleistet. Was denkst du dir eigentlich!“ Dabei ging er einen Schritt vor. Ludwik blieb stehen und streckte die Hand zur Abwehr aus. „Hörst du schwer? Wie oft soll ich dir noch sagen, das du mitkommen sollst?“ „Nein! Rufen Sie meine Firma an, sie wird ihnen bestätigen, dass ich unabkömmlich bin.“ „Wer abkömmlich ist das bestimmen wir immer noch wir. Also los, ab geht‘s!“ Als er ihn fassen wollte, wehrte sich Ludwig. Es kam zu einer Rangelei. Plötzlich ein Schuss. Der Begleiter des Unteroffiziers hatte auf ihn geschossen. Ohne ein Wort zu sagen, brach Ludwik zusammen.

Seine Frau schrie auf, stürmte auf den Unteroffizier zu. Schreiend prügelte sie auf den Schützen ein, der sich vor Überraschung nicht wehrte. „Wie kannst du es wagen meinen Mann zu erschießen. Du willst ein Deutscher sein. Sie mich an. Ich bin auch eine Deutsche aus Göttingen und schäme mich für dich.“ und sie ließ nicht ab von ihm. „Was bist du? Eine Deutsche? Eine dreckige Polenhure bist du. Pass auf, was wir mit so einer wie sie machen.“ Dann riss er seine Maschinenpistole herum und eine Salve zertrümmerte Blumenvasen, riss Löcher in die Tapete und ließ das Rosshaar aus dem Sofa durch das Zimmer fliegen. Regungslos lag Magdalena Nowak neben ihrem Mann auf dem blutigen Parkett.

Nach einer gespenstigen Ruhe hörte man aus der Nebenstube ein leises Wimmern. „Was zum Teufel ist da los? Diese Polen vermehren sich wohl automatisch. Kaum ist hier Ruhe, geht nebenan das Kindergebrüll los.“ Ohne seine Waffe los zulassen, ging der Soldat zu der Stubentür und trat sie mit einem Tritt auf. Holz splitterte. „Was zum Donnerwetter ist denn hier los?“

Dann winkte er seinen Kameraden heran. „Was jetzt? Von Kindern hat man uns in der Sammelstelle nicht gesagt. Was machen wir mit den Bälgern? Am besten wir schicken sie zu ihren Eltern. Dort können sie in ihrem polnischen Himmel selig werden.“

Der Unteroffizier steckte seinen Kopf in die Stube, dann blickte er seinen Begleiter an schüttelte den Kopf und ranzte seinen Untergebenen an: „Bist du des Teufels. Hast du nichts von Himmlers Befehl gehört, das polnische Kinder, die irgendwie nicht polnisch aussehen, den Sammelstellen des Rasse- und Siedlungshauptamt zuzuführen sind. Dort entscheidet man, ob sie germanisiert werden können und eindeutschungfähig sind, Also, was fällt dir bei den Kindern auf? Guck nicht so doof. Was siehst du? Blonde Haare, helles Gesicht, blaue Augen. Also sind die beiden halbe Germanen also beinahe Deutsche. Man bist du blöd. Eine Belobigung kann das für uns bringen oder Sonderurlaub. Also packen wir sie und ab geht die Post.“

3

Viktor zog seine Schwester an sich. Es war kalt in diesem November. So versuchte er ihr etwas von seiner Wärme abzugeben. Zu den kalten Wind, der über das polnische Land wehte, kam der Fahrtwind hinzu. Offensichtlich hatten die beiden Soldaten in ihren dicken Mänteln ihre Freude daran, sie so frieren zu lassen.