Romane über Frauen, 30. Prinzessin Stephanie von Belgien - Verschiedene Autoren - E-Book

Romane über Frauen, 30. Prinzessin Stephanie von Belgien E-Book

Autoren Verschiedene

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Beschreibung

Die 16-jährige Stephanie und Rudolf heirateten am 10. Mai 1881 in Wien. Die Ehe der beiden galt in den ersten Jahren als glücklich. Die unerfahrene und unaufgeklärte Stephanie erkannte, dass ihr Mann durchaus liebenswürdig war. Die Geburt der Tochter Elisabeth Marie, im Jahr 1883 war für Rudolf eine große Enttäuschung. Er war in eine Dauerkrise mit seinem wesentlich konservativeren Vater, Kaiser Franz Joseph I., verwickelt, die die Geburt eines Thronfolgers hätte entschärfen können. Der erhoffte Thronfolger blieb weiterhin aus, was vermutlich darauf zurückzuführen war, dass Rudolf nun viele Affären hatte und sich bei einer seiner Liebschaften mit einer Geschlechtskrankheit infizierte, seine Frau ansteckte und sie dadurch unfruchtbar machte. Schließlich zerbrach die Ehe daran, dass die beiden sich mehr und mehr auseinandergelebt hatten. Am Wiener Hof war Stephanie nie beliebt. Sie trug dort den Spitznamen "kühle Blonde". Ihre Schwiegermutter, Kaiserin Elisabeth, nannte sie, da sie nicht so grazil wirkte wie die Kaiserin selbst, "Trampeltier". Durch Rudolfs Suizid am 30. Januar 1889 in Mayerling wurde Stephanie im Alter von 25 Jahren Witwe. Der Kronprinz schrieb in seinem Abschiedsbrief an Stephanie: Liebe Stephanie! Du bist von meiner Gegenwart und Plage befreit; werde glücklich auf Deine Art. Sei gut für die arme Kleine, die das einzige ist, was von mir übrig bleibt. Seine und Stephanies Tochter Elisabeth Marie wurde von ihrem Großvater, Kaiser Franz Joseph, in Obhut übernommen. Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn.

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Verschiedene Autoren

Romane über Frauen

30. Valeria Messalina

Von Prinzessin Stephanie von Belgien

Ich sollte Kaiserin werden

Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn

Romane über Frauen

Verschiedene Autoren

30. Band: Prinzessin Stephanie von Belgien

Von Prinzessin Stephanie von Belgien

Impressum

Texte: © Copyright by Verschiedene AurorenUmschlag:© Copyright by Walter Brendel

Verlag:Das historische Buch, 2024

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Widmung

Aus einem Brief des Herausgebers an die Verfasserin

I. Strenge Kindheit

II. Mit 16 Jahren verheiratet

III. Kronprinzessin von Österreich-Ungarn

IV. Politische Reisen

V. Unruhvolles Leben

VI. Die Katastrophe

VII. Ausklang

Widmung

Ein Hymnus ewiger Dankbarkeit erhebt sich aus der Tiefe meines Herzens zu jenem geliebten Wesen, das seit der gesegneten Stunde unserer Verbindung nie aufgehört hat, mich durch seine Seelengröße, seinen Edelsinn, seine hohe Begabung und seine rührende Sorgfalt mit dem reinsten und vollkommensten Glück zu überschütten.

Ich widme dieses Buch meinem teuren Gemahl, dem Fürsten Elemér von Lónyay.

Stephanie, Prinzessin von Belgien

Herzogin zu Sachsen

Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha

geb. Schloß Laeken 21. Mai 1864

vermählt Wien 10. Mai 1881 mit Erzherzog Rudolf

Kronprinz von Österreich-Ungarn

geb. Laxenburg 21. August 1858

gest. Mayerling 30. Januar 1889

Tochter: Erzherzogin Elisabeth

geb. Laxenburg 2. September 1883

vermählt Wien 23. Januar 1902

mit Otto Fürst zu Windischgraetz

vermählt in zweiter Ehe Miramare 22. März 1900 mit

Elemér Fürst von Lónyay

geb. Bodrog-Olaszi (Ungarn) 24. August 1863

Aus einem Brief des Herausgebers an die Verfasserin

... Als Eure Königliche Hoheit mir im Sommer 1933 in Oroszvar das Manuskript dieses Werkes übergab, erschien es mir wie ein Vermächtnis aus längst verflossenen Tagen an unsere junge Zeit.

Obgleich die geschilderten Erlebnisse und Eindrücke erst knapp 50 Jahre zurückliegen, ist uns die Sicht in diese so nahe Vergangenheit von den Trümmern welterschütternder Ereignisse verschattet. Und doch ist es kein Zufall, wenn gerade aus diesem Zeitraum so viele biographische und historische Werke vorliegen. Wir brauchen sie, um die vielfach unterbrochene Fühlung mit der letzten und vorletzten Generation nicht zu verlieren, um das unmittelbare Ineinandergreifen, das sonst wohl die eine Zeit mit der anderen verbunden hat, zu ersetzen. Nur so kann die starke Beziehung zwischen dem Damals und dem Heute geschaffen werden und eine immer tiefere Erkenntnis von Ursache und Voraussetzung für unser heutiges Geschehen entstehen.

Ich glaube, es wird, wie mich, auch viele andere mit Dank erfüllen, daß mit diesem Memoirenwerk eine lange und schmerzlich empfundene Lücke in der Darstellung der letzten Glanzzeit der österreichisch-ungarischen Monarchie geschlossen worden ist.

Ganz so, wie Eure Königliche Hoheit diese Erinnerungen niedergeschrieben haben, werden sie auch verstanden werden: Nicht etwa als ein politisch-historisches Memoirenwerk im eigentlichen Sinne, vielmehr als die Aufzeichnungen einer Frau in der abgeklärten Höhe ihres Lebens – aus der Zeit einer Jugend, die glanzvoll und bitterschwer zugleich war.

Die ungezwungene, temperamentvolle und poetische Art, in der das geschieht, hat mich immer aufs neue ergriffen. Der Aufriß des Kindheitsbildes und der darauffolgenden acht Jahre Ehe zeigt in dem raschen Ablauf der Schilderung so viel Lebenskraft und so viel Wärme, daß an Stelle des bloßen Lesens ein Mitfühlen, ein Mitleben tritt.

Kein Wunder, wenn man sich schließlich auch mit hineingerissen fühlt in den Schmerz, der das Buch letztlich zu einer tragischen Historie werden läßt. Ja, die Tragik weitet sich zu einem allgemeingültigen Problem, weil das Los der gekrönten Frau einem jungen, noch kindhaften Menschen als Schicksal aufgebürdet wird. Das alles wird zum Urteil – und dort, wo es verurteilt, zur Verurteilung – nicht der Menschen, sondern der Zeit ...

Eberstadt, den 30. Januar 1935

Ferdinand Graf Gatterburg

I. Strenge Kindheit

In Belgien, unweit der Hauptstadt, in Schloß Laeken, der Residenz des Königs, bin ich, die Tochter S. M. des Königs Leopold II., König der Belgier, Herzog zu Sachsen, Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha, und I. M. der Königin Marie Henriette, Königin der Belgier, Erzherzogin von Österreich, Prinzessin von Ungarn, geboren. Es war im Frühjahr – zu der Zeit, da der Lenz die Fülle seiner überschwänglichen Gaben ausbreitet und die Vögel die Natur mit ihren Liedern erfüllen – am 21. Mai 1864.

Eine Tochter und ein Sohn waren meinen Eltern schon vor mir geschenkt: Louise am 18. Februar 1858 und Leopold am 12. Juni 1859.

Das erste Ereignis, das sich meinem Gedächtnis tief eingeprägt hat, war der Tod dieses geliebten Bruders, den es Gott gefiel, im Alter von noch nicht zehn Jahren zu sich heim zu berufen. Obwohl ich erst viereinhalb Jahre war, entsinne ich mich doch deutlich dieses entzückend schönen, zärtlichen Kindes, seiner Geduld während der kurzen Krankheit und dann des furchtbaren Schmerzes meiner Mutter, als das Leben ihres einzigen Sohnes in ihren Armen erloschen war. Eine Lungenentzündung, die sich der Prinz durch einen Sturz ins Wasser beim Spielen mit einem Segelboot zugezogen hatte, raubte uns das Glück unserer Familie, die Hoffnung unserer Dynastie. Die Vorsehung legte ein grausames Opfer auf uns und das ganze Land. Für lange Zeit schwand das Lächeln von den Lippen meiner Mutter, ihr rosiger Teint verlor seine Jugendfrische; in ihren Augen war eine Herzensnot zu lesen, die nie mehr ganz verschwand.

Von dieser Stunde an erscheint mir in der Erinnerung das Zusammenleben meiner Eltern verdüstert. In tiefster Seele durch den Verlust ihres Sohnes getroffen, war meine Mutter eine andere geworden. In diesem Kind hatte sie den Sinn ihres Lebens erblickt, es hatte sie mit dem Los, das ihr zugefallen war, versöhnt; nun war alles zunichte geworden. Nie anders hatte sie dieses Leben erträumt, als sie jung und schön mit siebzehn Jahren, ohne recht zu wissen wie und weshalb, ihre Hand dem Herzog von Brabant – dem ältesten Sohne Leopolds I., König der Belgier, und der Königin Marie Louise, Prinzessin von Orléans – reichte.

In Budapest aufgewachsen inmitten eines fröhlichen Familienkreises, von zahlreichen Geschwistern geliebt, zwanglos erzogen, hatte meine Mutter ein heiteres Gemüt und einen Liebreiz, den ihre Freundlichkeit noch anziehender erscheinen ließ. Eine Tochter des Erzherzogs Joseph, des großen Palatins von Ungarn, dessen Name noch heute im Lande voll Verehrung genannt wird, und seiner Gemahlin, einer Prinzessin von Württemberg, erhielt sie von ihren Eltern eine sorgfältige und ausgezeichnete Erziehung, die ihre geistigen Anlagen auf das vollkommenste ausbildete. Auch künstlerisch hoch begabt, malte sie ebenso schön, wie sie Klavier und Harfe spielte oder sang. Eine große Naturfreundin, liebte sie jede Beschäftigung im Freien und besonders Hunde und Pferde. Keiner vergaß ihre schlanke, geschmeidige Gestalt, der sie je in der Reitschule sah, wo sie ihre englischen Pferde selbst zuritt. Auch noch als Königin konnte sie, tagelang an der Seite des Königs Wiesen und Äcker, Felder und Wälder durchquerend, unerschrocken jedes Hindernis nehmend, die Kaltblütigkeit und den Mut, die sie auszeichneten, beweisen.

Marie Henriette, verwöhnt von Eltern und Geschwistern, und von all denen, die sie heranwachsen sahen, vergöttert, mußte Vaterland, Familie und Heim verlassen, um einem Mann zu folgen, den sie noch niemals gesehen. Oft hatte sie mir später erzählt, wie schwer ihr dieses Scheiden, die Reise in das Ungewisse, gefallen ist. Sie wurde Belgierin und weihte sich ihrer neuen Heimat. Allein in der Tiefe ihres Herzens blieb sie Ungarin, sie konnte ihre Heimat nicht vergessen. Dort hatten keine Tränen ihre schönen Augen getrübt und ihre Wangen gebleicht; die süßesten Erinnerungen verbanden sie mit ihrem Elternhaus.

Leopold I., König der Belgier, hatte durch seine große Beliebtheit, seine Familienverbindungen und seine Stellung als Senior eines der ältesten deutschen Fürstenhäuser es verstanden, seiner Dynastie Weltgeltung zu verschaffen. Er selbst hatte die präsumptive Erbin des englischen Königsthrones, die Prinzessin Charlotte geheiratet, und, als diese frühzeitig starb, die Tochter Louis Philippe's. Seine Schwester war die Mutter der Königin Victoria von England. Andere Geschwister, Neffen und Nichten hatten sich mit Mitgliedern der russischen, französischen und portugiesischen Herrscherfamilien vermählt. Um die Verbindung mit dem österreichischen Kaiserhaus herzustellen, wünschte König Leopold I. seinen Sohn, der damals achtzehn Jahre alt war, mit einer Erzherzogin zu vermählen. Erzherzog Johann, der zu Leopold I. in freundschaftlichen Beziehungen stand, übernahm die vertrauliche Mission, sich zu erkundigen, ob man am Wiener Hof einer Verbindung des belgischen Thronerben mit der Erzherzogin Marie Henriette geneigt wäre. Es bestand zwar schon der Plan, daß sie die Gemahlin Kaiser Franz Josefs werde, da aber die Kaiserin-Mutter nicht dafür war, wurde der belgische Heiratsplan in Wien freundlich aufgenommen und Erzherzog Johann ersucht, im günstigen Sinne zu antworten. Dann erst weihte man die junge Erzherzogin ein. Diese erklärte, sie könne sich nicht an einen Mann binden, den sie noch nie gesehen. Man ließ ihr jedoch keine Ruhe, bestürmte sie mit Lockungen und stellte ihr alle Vorteile dar, welche sie als die Gemahlin des zukünftigen Königs zu erwarten habe. Endlich willigte sie ein. Zunächst wurde sie in Wien per procura dem Erzherzog Karl Ludwig, dem Bruder des Kaisers, angetraut, der die Braut dann nach Belgien geleitete. Als sie zu ihrem zukünftigen Gemahl nach Brüssel reiste, hielt sie sich sechsunddreißig Stunden in Schaumburg bei ihrem Bruder, dem aus der Monarchie verbannten Erzherzog Stephan, auf, um sich Mut und Trost zu holen. Wohl achtete sie ihren Schwiegervater König Leopold I. hoch, allein der Verbindung mit dem Herzog von Brabant ging sie mit bangem Herzen entgegen.

Mein Vater hinwiederum stand unter dem Einfluß seines Vaters, der ihn davon überzeugt hatte, daß diese Verbindung von höchstem politischen Interesse für Belgien sei. Mein Vater, zur Zeit seiner Heirat noch nicht erwachsen – er zählte erst neunzehn Jahre –, war zu jung, um die Bedeutung einer so ernsten Handlung ermessen zu können. Allerdings war er auch nicht dafür verantwortlich – der König hatte die Heirat beschlossen, und der Sohn mußte sich seinem Willen fügen.

Der Herzog von Brabant, mein Vater, besaß eine hervorragende Intelligenz, einen durchdringenden Scharfblick; seine Begabung für politische Unternehmungen und Geschäfte aller Art war außergewöhnlich. Seine Bildung war bedeutend, er hatte ein staunenswertes Gedächtnis, die Gabe der Rede stand ihm wie wenigen zu Gebot. Als er nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1865 als Leopold II. die Regierung, die er keineswegs nur auf dem Papier und dem Namen nach zu führen gesonnen war, antrat, blieb ihm wenig Zeit, sich mit seiner Frau und seinen Kindern zu beschäftigen. Dem Familienleben wenig zugetan, verlor er unglücklicherweise mehr und mehr den Geschmack an dessen Freuden und Pflichten. Es ist schmerzlich und peinlich, daran zu denken, wie diese beiden, von der Vorsehung mit so glücklichen Gaben beschenkten Menschen, mein Vater und meine Mutter – sie voll edler Neigungen und Tugenden, er von scharfem Verstand und genialer Begabung – in bester Eintracht hätten leben und sich ein glückliches Heim schaffen können. Doch leider verstanden sie sich nicht. Ihre Wege kreuzten sich einen Augenblick, um sich dann innerlich für immer zu trennen. Der eine Teil schlug den Weg der Gleichgültigkeit, der Ungerechtigkeit, der Untreue ein, der andere Teil den der würdigen Ergebung, der Abgeschiedenheit und des Leidens bis in den Tod.

Es ist kein Wunder, wenn den Kindern, die einer solchen Ehe entsprossen sind, das Herz nicht froh wurde. Während andere mit Freuden an die glückliche Zeit im Elternhaus zurückdenken, erinnerten wir uns nur ungern der düsteren Eindrücke, die wir unter dem elterlichen Dache erlebten. Seltsame Fügung! Diese freudlose Jugend ist für jede von uns gleichsam eine Vorbereitung gewesen für die ernsten Jahre einer bitteren Zukunft, die uns beschieden sein sollte.

Vertrauen und Zärtlichkeit, Gefühle, die schon die Wiege des Kindes schmücken sollen und das Herz der Jugend bilden, wurden uns nicht geschenkt. Trotz ihrer Kälte, ihrer scheinbaren Unbeugsamkeit und einer Strenge, die an Härte streifte, liebte ich meine Mutter unendlich. Ich bewunderte und verehrte sie, aber sie flößte mir Scheu ein. Dies war der Grund, weshalb ich niemals an ihr jene Stütze und liebevolle Hingabe fand, nach der sich mein ganzes Wesen sehnte. Die Zurückhaltung meiner Mutter war mir nicht begreiflich – erst viel später wurde ich in die Kämpfe eingeweiht, die dieses Herz gelähmt hatten.

Wir wurden nicht etwa als Königskinder in Wohlbehagen, Pracht und Luxus, sondern wie die Kinder einfacher Bürger, bescheiden und ohne Ansprüche, erzogen. Meine Mutter wollte ihre Töchter vor allem für das Gute heranbilden. Sie erzog uns christlich, damit die Wohltaten eines unerschütterlichen Glaubens uns jene Charakterfestigkeit verleihen sollten, die sie selbst besaß. Heute segne ich meine vorausschauende Mutter. Ich danke es ihr, daß ich eine ernste, pflichtbewußte Frau geworden bin, die ein zwanzigjähriges Ringen, ohne zu straucheln, bestanden hat.

*

Im Alter von sechs Jahren begann mein Unterricht; ich verstand bald, daß nun Bücher und Hefte meine Spielsachen ersetzen mußten, daß ein geregeltes Leben beginnen würde, Gleichzeitig trat die Gouvernante meiner Schwester, Fräulein Legrand, an Stelle meiner bisherigen Kinderfrau, der guten Antoinette Polsterer, einer Wienerin, die mich mit selbstloser Liebe umgeben und gepflegt hatte.

Die Stunde des Aufstehens war früh: im Sommer um fünf, im Winter um sechs Uhr. Während des Ankleidens war strengstes Stillschweigen Gebot, dessen Bruch harte Strafen nach sich zog. Wir mußten uns allein ankleiden und kämmen. Die Kammerfrau stand im Zimmer und überwachte die Toilette. Um sich vom Gehorsam ihrer Schülerinnen zu überzeugen, trat die Gouvernante oft überraschend ein. Ich gewöhnte mich schnell an diese neue Ordnung – nur das Kämmen kostete mich manche Träne. Ich hatte prachtvolles, feines Haar, das sich von selbst lockte und wellte; es wurde immer schwieriger, es zu glätten und zu teilen. Wir trugen eine weder schöne noch kleidsame Frisur. Ein runder Kamm, der die Form des Kopfes hatte, hielt die Haare aus der Stirn, an den Zähnen des Kammes war ein Netz befestigt, das die über den Rücken fallenden Haare wie in einem Sack einschloß. Unsere Kleider waren ebenso einfach wie unsere Haartracht. Hemdartig zugeschnitten, reichten sie ohne jeden Aufputz bis über die Kniee, ein Ledergürtel hielt sie zusammen.

Um uns abzuhärten, blieben die Fenster unserer 5chlafzimmer Winter wie Sommer geöffnet; nur selten wurde geheizt. Ich erlebte es beim Erwachen, daß das Wasser in Kannen und Krügen eingefroren war – eine peinliche Überraschung für uns, wenn es ans Waschen ging; aber man sagte, es sei wohl unangenehm, jedoch gesund, sich mit eisigem Wasser zu waschen.

Sobald wir mit unserem Ankleiden fertig waren, mußten wir unsere Betten selbst machen, unsere Sachen aufräumen und abstauben. Unsere Zimmer waren der Einfachheit unserer Lebenshaltung entsprechend geradezu dürftig eingerichtet. Kein Gemälde zierte die Wände, ein Spiegel war verpönt, kein Teppich bedeckte den Boden. Die Einrichtung war geschmacklos und bestand aus Möbeln von weichem Holz. Betten, Kästen und Sessel waren häßlich und unbequem. Die Gegenstände meines Toilettetisches waren aus Holz, die Kämme aus Horn. Der Salon unserer Gouvernante, der uns als Speisezimmer diente, wenn unsere Eltern Gäste empfingen, war ebenso häßlich eingerichtet.

War die Toilette beendigt und das Zimmer in Ordnung gebracht, kniete ich vor meinem kleinen Altar nieder und sprach mit lauter Stimme mein Morgengebet. Um halb acht Uhr ging ich zu meiner Mutter, um sie zu begrüßen. Meist war sie schon fertig angekleidet, während ich ihr die Hand küßte, flog ihr mein Herz zu, und ich wünschte sehnlich, sie möchte mich in ihre Arme schließen und mit Zärtlichkeiten überschütten. Aber dies Glück blieb mir meistens versagt, und die ständige Angst, wegen irgendeiner Nachlässigkeit gescholten zu werden, erstickte allmählich meine Gefühle.

Bisweilen fand ich meine Eltern bei ihrem ersten Frühstück, das sie meist zusammen einnahmen. Prachtvolle Blumen schmückten den sorgfältig gedeckten Tisch, daneben stand Obst von selten schönem Aussehen. Es gab da so viele gute Sachen: Babas, kleine gezuckerte Brote, Schokoladebäckereien und köstliche Kuchen. Aber ich bekam nichts von all den Herrlichkeiten – nur ab und zu steckte mir ein alter Kammerdiener im geheimen solchen Leckerbissen zu; und dann mußten wir flink sein, um Zeit zu haben mit Louise und Toni die Beute zu teilen.

Um halb neun saßen wir am Schreibpult. Im Winter zitterte ich vor Kälte im Schreibzimmer, das wie eine Eisgrube war. Ich vermute, daß die Gouvernanten, um dies ertragen zu können, ihre Kleider mit Pelz fütterten, denn sie schienen nie so unter der Kälte zu leiden wie wir Kinder. Meine steifen, von Frostbeulen geschwollenen Finger konnten die Feder kaum halten.

Ich liebte das Lernen. Meine Lieblingsfächer waren später Geschichte, Literatur, Geographie, Naturgeschichte, Botanik und Kunstgeschichte. Besonders liebte ich den Sprachunterricht, die literarischen Aufsätze und das Zeichnen. Dagegen konnte ich Mathematik, Grammatik und das Auswendiglernen nicht ausstehen. Es freute mich, meiner Mutter oder meiner Erzieherin das Gelernte nach eigener Auffassung vorzutragen, aber es fiel mir schwer, wortwörtlich jeden Ausdruck eines Buches wiederzugeben. Im allgemeinen lernte ich leicht. Je schwerer die Aufgabe war, um so spannender fand ich es, um so intensiver trachtete ich, mich in meine Bücher und Studien zu vertiefen.

So verlernte ich bald, zu begreifen, wie man sich mit Puppen abgeben konnte. Es langweilte mich, sie an- und auszuziehen, für sie zu arbeiten und an die kleinen Spielereien zu denken, welche die meisten anderen Kinder unterhalten. Wenn es dagegen hieß, Handarbeiten zu verrichten, zu nähen, Strümpfe, Schals und Fäustlinge zu stricken, tat ich es mit Freuden, wenn es für die Armen war. Am liebsten aber hatte ich einen Zeichenstift oder ein Buch in der Hand. Man behauptete, ich hätte die Geschmacksrichtung eines Knaben, und ich glaube, daß das zutreffend war.

Große Freude habe ich immer an Tieren gehabt, und besonders gern beschäftigte ich mich mit Gärtnerei. Beide Liebhabereien sind mir geblieben. Die Tiere waren meine liebste Unterhaltung; so lange man mich ließ, konnte ich dem Eifer der Ameisen zusehen oder eine dicke brummige Hummel beobachten, selbst die lästigen Fliegen interessierten mich. Wir hatten ein großes Vogelhaus mit zahlreichen Vögeln aller Arten. Ich kannte sie alle, jeder einzelne hatte seinen Kosenamen und flog mir zu, wenn ich ihn rief. Es gab ein Hühnerhaus, das die seltensten Geflügelarten enthielt, dann Tauben, schwarze und weiße Kaninchen, einen Esel und Ziegen; unsere Menagerie wurde noch durch Fische und ungeheure Schildkröten, die meine Eltern von einer ihrer großen Reisen heimgebracht hatten, vervollständigt.

Es war unser schönstes Vergnügen, den Esel oder die Ziegen an langen roten Zügeln mit Peitschenknall zu kutschieren und so im Trab und Galopp die schönen langen Alleen von Laeken zu durchsausen. Da die Erzieherin, die den strengen Auftrag hatte, uns nie aus dem Auge zu verlieren, uns aber oft nicht folgen konnte, wurde dieser schöne Sport verboten, worüber viele vergebliche Tränen flossen. Wir waren viel zu lebhaft, um ruhig an der Seite der Erzieherin einherzugehen, und erfanden als Ersatz ein Spiel, welches darin bestand, sich gegenseitig einzufangen. Dadurch entgingen wir der entsetzlichen Langeweile der feierlichen Spaziergänge. Auch dieses Spiel fand man zu ausgelassen, und somit wurde es verboten. Aber wir kamen immer auf neue Gedanken. Da war ein schöner alter Baum, eine duftende Linde; aus seinem umfangreichen Stamm teilten sich zwei dicke Äste breit auseinander, einen einladenden Sitz bildend. Dieses Plätzchen eroberten wir uns, es wurde unsere Zufluchtsstätte. Wir schmückten es mit bunten Tüchern und Bändern, das Laub war unser Dach, der Vogelsang unser Konzert. Wir nannten ihn »feu-feu«; warum weiß ich nicht, aber »feu-feu« war unser geliebter Schlupfwinkel, wo wir ständig auf der Lauer lagen. Nichts entging uns auf unserem Beobachtungsposten. Wir lernten sogar dort, oder lasen, und fanden es ungemein romantisch und lustig da droben. Nahte sich aber die Erzieherin, so waren wir mit einem Sprung gehorsam bei ihr, nur um unseren »feu-feu« nicht aufgeben zu müssen.

Wir hatten jedes einen kleinen Garten, den wir selbst umstechen, rechen, pflegen und pflanzen mußten. Sie lagen nebeneinander, von einer Hecke umgeben, und jedes von uns Kindern hatte den Schlüssel seines Gartentores. Es waren drei kleine Gärten, der Louisens, der Leopolds und der meine. Nach Louisens Hochzeit wurde ihr Garten Eigentum meiner Schwester Clementine, den meines entschlafenen Bruders betreuten wir gemeinsam und wetteiferten in der Pflege dieses Heiligtums. Die Hofgärtner kannten wir alle, sie waren meine besonderen Freunde. Einer von ihnen unterwies mich in der Einteilung der Beete, im Umstechen, Düngen und Säen, ich lernte pflanzen, jäten und Stecklinge machen. Dort setzte ich vor fünfundfünfzig und fünfundsechzig Jahren manchen Baum mit eigener Hand. Sie wuchsen und wurden groß, schön und stark. Nicht ohne Rührung sehe ich, wenn mich mein Weg nach Laeken führt, die Bäume wieder, die meine Schwester, mein lieber kleiner Bruder und ich einst mit so viel Liebe und Eifer gepflanzt hatten.

Vom bescheidenen Schneeglöckchen bis zur Chrysantheme wuchs und blühte alles in meinem Garten, jede Jahreszeit brachte ihre Blumen, Früchte und Gemüse. Sie schmückten die Beete mit tausendfältigem Farbenzauber, erfreuten mein Auge und Herz und belohnten meine Geduld. Ich war stolz, die Salons meiner Mutter und die kleinen Hausaltäre mit meinen Blumen zieren zu dürfen oder meine Früchte bei Tisch gereicht zu sehen. Meine Immortellen und Margueriten legte ich wehmütig auf die Gruft meines geliebten Bruders.

Eine Stunde vormittags, zwei Stunden nachmittags waren, gleichviel welches Wetter herrschte, dem Spiel, den Spaziergängen und der Pflege des Gartens gewidmet. Winter wie Sommer trug ich die gleiche Kleidung. Stark gesohlte Schuhe, warme Strümpfe, Pelzwerk, warme Unterröcke waren unbekannte Dinge. Weder Verkühlung noch Hals- und Kopfweh vermochten die Vorschriften für unsere Toilette oder die Temperatur in unseren Zimmern zu ändern. Außer den Stunden, die für die Bewegung im Freien und die Mahlzeiten bestimmt waren, blieb die übrige Zeit unseren Studien gewidmet.

Ich hatte ausgezeichnete Lehrer. Die ersten Professoren von Brüssel rechneten es sich zur Ehre an, die Kinder ihres Herrschers unterrichten zu dürfen. Fast alle waren mir sympathisch. Ich bewunderte ihr Wissen und ihre Geduld. Der bedeutendste von ihnen war Monsignore van Weddingen, unser Hausprälat, ein würdiger, gütiger Priester, der mich leitete, mich tröstete, mir Mut einflößte und mich für das Leben vorbereitete. Sein Andenken ist mir unauslöschlich. In den deutschen Stunden dagegen hatte ich einen pedantischen Professor, der große Brillen trug; jedesmal, wenn er mich durch seine Gläser unheimlich anfunkelte, schwante mir Böses. Ich fürchtete mich vor ihm.

Am wenigsten konnte ich meinen Klavierlehrer leiden, der mir sogar mit einem Lineal auf die Finger klopfte, wenn die Klavierstunden schlecht ausfielen, und das taten sie meist. Aber Sonaten von Beethoven und Clementi und die Fantasien von Chopin waren zu schwierig für ein Kind ohne ausgesprochen musikalisches Talent. Dieser Lehrer war auf dem besten Weg, mir eine Kunst zu verleiden, die ich eigentlich liebte. In meiner freien Zeit saß ich im Zimmer meiner Mutter und freute mich, ihrer schönen Stimme, ihrem Klavier- und Harfenspiel zu lauschen. Ich selbst aber habe immer schlecht Klavier gespielt, und da man schließlich einsah, daß ich keine Fortschritte machte und die Klavierstunden verlorene Zeit waren, so wurden sie durch Unterricht im Harfenspiel ersetzt – es schien, als habe ich mehr Talent für dieses Instrument. Dagegen besaß ich eine ausgesprochene Vorliebe für Zeichnen und Malen. Meine Anlagen wurden aber nicht ausreichend entwickelt, da meine Mutter fürchtete, diese Beschäftigung könnte mich zu sehr von anderen wichtigen Dingen ablenken. Das gleiche galt auch für andere Studien, für die ich ein besonderes Interesse zeigte – die betreffenden Bücher wurden mir weggenommen und versteckt. Man wollte mich in allem gleichmäßig vervollkommnen und bestand darauf, ein besonderes Gewicht auf jene Studien zu legen, in denen ich keine oder nur geringe Fortschritte aufwies.

Da ich besonders mit Mathematik, die mir ein Greuel war, geplagt wurde, und – was mir am schwersten fiel – endlose Gedichte auswendig lernen sollte, kam eine Zeit, in der ich ein schweres Leben hatte: Strafe folgte auf Strafe, alles was ich liebte, wurde verboten oder weggenommen, nichts blieb mir erspart, nicht einmal die Rute. Bei den Mahlzeiten wurden mir die süßen Speisen, Bäckereien und Bonbons entzogen, die Spiele mit meinen lieben Tieren wurden untersagt. Manchmal mußte ich auf Erbsen knien. Am meisten von allen Strafen aber fürchtete ich die Doppeltüre. Zwischen einer solchen wurde ich für Stunden, ja ganze Tage eingeschlossen. Weder Seufzen noch Weinen, keinen Versprechungen gelang es, meine Mutter umzustimmen und mich aus meiner furchtbaren Lage zu befreien. Ein Kind zwischen zwei Türen in der Finsternis einzusperren, es konvulsivisch weinen zu lassen, war hart. Man kann sich meine Furcht in dieser dunklen Einsamkeit, aus der es kein Entrinnen gab, nicht vorstellen. Gräßliche Angstzustände überkamen mich; ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Nur Gebete, die mein gequältes Herz in seiner Verzweiflung gen Himmel sandte, erfüllten meine Seele mit Ergebung und trockneten meine Tränen.

All diese Strafen trug ich mit Ergebung, wenn meine Mutter sie über mich verhängte, aber mein ganzes Wesen empörte sich, wenn ich sie Unaufrichtigkeiten und Verleumdungen der Erzieherinnen zu verdanken hatte. Ebenso wie die Lüge haßte ich schon als Kind alle Ungerechtigkeit, ich ertrug sie nicht. Ich erinnere mich furchtbarer Szenen mit den Erzieherinnen. Mit Güte und Sanftmut war bei mir alles zu erreichen, mit Härte und Rücksichtslosigkeit nichts. Wenn eine der Erzieherinnen es wagte, die Hand gegen mich zu erheben, mich zu zwicken, mich oder eine meiner Schwestern mit der Doppeltüre zu bedrohen, so gab es Widerstand. Ich war außer mir, mein Blut wallte auf, mein ganzes Innere bäumte sich auf gegen diese Frauen, die weder Geduld noch Gerechtigkeit kannten. Nach solchen Auftritten lief ich oft zu meiner Mutter, um ihr mein Leid zu klagen, aber sie vertraute den Erzieherinnen mehr als ihren eigenen Kindern. Ein einziges Mal gelang es mir schließlich, meine Mutter zu bewegen, einer Stunde versteckt beizuwohnen. Ich wußte, daß die Gouvernante meine Schwester bei dieser Gelegenheit schlagen würde. Meine Mutter, Zeuge der schlechten Behandlung ihrer Tochter, entließ noch am selben Tag die Erzieherin, die uns so viel Leid zugefügt hatte. Wie stolz war ich, meine Schwester befreit zu haben!

Die Mahlzeiten nahmen wir gewöhnlich allein mit unseren Eltern ein: das Dejeuner um halb eins, das Diner um halb sieben. Zehn Minuten vorher führte uns die Erzieherin in den Salon unserer Mutter, die uns meist erwartete. Sie kam uns entgegen, um die Erzieherin zu begrüßen und sich nach unserer Aufführung zu erkundigen. Ich zitterte stets vor diesem Verhör, aber weder meine flehenden Bitten vor unserm Eintritt noch meine ängstlichen Blicke rührten die Erzieherin, die der Königin die kleinsten Zwischenfälle des Tages meldete. Zornausbrüche, Unfolgsamkeiten, schlecht gelernte Aufgaben, Unhöflichkeiten, vorlaute Antworten – ich sagte nämlich meine Meinung sehr unverblümt heraus –, zuviel Lebhaftigkeit, alles wurde tadelnd berichtet, beurteilt und bestraft. Dieses peinlich genaue Ausforschen unseres Tuns und Lassens bedrückte uns ständig. War das endlich überstanden, gingen wir mit unserer Mutter in das Schreibzimmer des Königs, um ihn zur Mahlzeit abzuholen.

Oft, wenn er beschäftigt war oder Besuch hatte, ließ er uns allein mit dem Speisen beginnen. Trat er dann ein, so erhoben wir uns, verneigten uns und gingen ihm entgegen, um ihm die Hand zu küssen, die er dann auf unsere Stirnen legte. Das war alles – nicht ein freundliches Wort, nicht ein Zeichen des Willkomms entschlüpfte seinen Lippen. Wortlos, wie er eingetreten, setzte er sich zu Tisch, meine Mutter nur mit einer Handbewegung begrüßend. Bei Tisch mußten wir Kinder schweigen. Lachen, an den Gesprächen teilnehmen, sich Zeichen machen war streng verboten. Wir durften nur reden, wenn wir angesprochen wurden, aber mein Vater war während des Essens von Zeitungen und Briefen umgeben; er las, während er speiste, und machte nur selten eine Bemerkung. Wenn er aber einmal sprach, dann lauschten wir begierig. Herrschte jedoch Schweigen, dann beschäftigte sich meine Mutter unausgesetzt mit uns, schalt und tadelte. Wir mußten ohne Ausnahme alles essen, was gereicht wurde. Kraut und Sellerie widerten uns an, der Geruch dieser Gemüse ekelte uns bis zum Erbrechen. Manchmal versuchte ich diese Speisen zurückzuweisen, aber meine Mutter, die Launen nicht duldete, gestattete mir dann überhaupt nicht weiterzuessen. Am Aschermittwoch und in der Karwoche wurden Champagner, Bordeaux und heiße Biersuppen serviert. An Alkohol nicht gewöhnt – wir bekamen sonst niemals Wein – endeten diese Mahlzeiten stets mit Katastrophen.

Nur selten durften wir die süßen Speisen anrühren. Meine Mutter wollte uns an den Verzicht auf Leckerbissen gewöhnen und erlaubte keine Naschhaftigkeit, gerade weil unsere Küche außerordentlich schmackhaft und gut war – sie wurde die erlesenste Europas genannt. Man kann sich kaum einen Begriff machen von der Güte der Gemüse und Süßigkeiten, der Bäckereien und des Obstes, die auf den Tisch kamen. Bonbons und Desserts aber, die uns angetragen wurden, mußten wir aus Gründen der Selbstzucht zurückweisen.

Nach beendeter Mahlzeit begaben wir uns in das Schreibzimmer meines Vaters. Wir blieben stehen, sahen zum Fenster hinaus und flüsterten nur leise miteinander. Während der König seine Zigarre rauchte, saß meine Mutter neben ihm und nahm die Zeitungen zur Hand, die sie meist gründlich las. Oft hörten wir dabei die Eltern politische Fragen besprechen. In diesem Zimmer, das mehr ein Saal war, fühlten wir immer neben zaghafter Scheu etwas wie Stolz; es war die Arbeitsstätte eines bedeutenden Menschen, des Staatsmannes, Forschers und Vaters des Volkes, König Leopold II. Ringsum an den Wänden standen Bücherschränke mit ihrer schweren Last kostbarst gebundener Werke, staatswissenschaftlichen, historischen, geographischen oder ethnographischen Inhaltes. Über oder neben den Schränken hingen Gemälde von Rubens, Van Dyck, Rembrandt, Frans Hals und viele Familienporträts von berühmten Meistern. Der Schreibtisch meines Vaters war eine Welt für sich, er war so groß, daß er die ganze eine Seite des Zimmers füllte. Darauf türmten sich Papiere aller Art: Dokumente, Briefe, Pläne, Zeitungen. Der König allein kannte jeden Akt. Niemand durfte diesen Schreibtisch anrühren, er selbst ordnete ihn einmal wöchentlich. Ich sehe meinen Vater noch vor mir an diesem Schreibtisch sitzend. Wir Kinder waren sehr neugierig über den Inhalt der zahllosen Schriften und wunderten uns oft, daß unser Vater sich in diesen Bergen von Akten auskannte.

Waren wir endlich entlassen, so flogen wir über Treppen und Gänge, selig, den Ketten, die uns die Anwesenheit unserer Eltern auferlegte, für Stunden entronnen zu sein. Ich lief geradewegs in das Zimmer meiner lieben Toni, Mlle. Antoinette Schariry, warf mich in ihre Arme und vertraute ihr meine Ungeschicklichkeiten, meine Entbehrungen, meine Sorgen und Einfälle an. Die wenigen Augenblicke, die ich mit dieser treuen Seele verbringen konnte, waren die glücklichsten des Tages und erwärmten mein erstarrendes Herz.

Es hieß mit der größten Vorsicht vorgehen, um nicht mit Toni allein ertappt zu werden. Denn die Erzieherin, die meist auf der Lauer lag, beobachtete jede meiner Handlungen. Es wäre gefährlich gewesen, die Besuche bei Toni zu oft zu wiederholen, die Vertraulichkeit mit ihr nicht zu verbergen. Das hätte ihre Entlassung zur Folge gehabt, da man ihre Güte und Anhänglichkeit übel ausgelegt hätte. Oft zitterte ich in dem Gedanken, ich könnte sie verlieren. Was wäre aus mir in meiner Vereinsamung geworden ohne sie, die mich herzte und pflegte, ohne ihre Zuneigung, ihre Liebe, ihre Worte, die mich erheiterten und ermutigten?! Toni Schariry war deutscher Abstammung. Sie war von meinem Onkel, dem Erzherzog Stephan, meiner Mutter empfohlen worden; ihre Eltern, würdige und ehrbare Leute aus Schaumburg, standen damals im Dienst meines Onkels. Toni wurde mit fünfzehn oder sechzehn Jahren, kurz nach meiner Geburt, in unser Haus aufgenommen. Von diesem Tag bis zu dem meiner Hochzeit hat mir dieses tapfere Mädchen ihr Leben mit jener Selbstverleugnung, Ergebenheit und Heiterkeit geweiht, die der Schmuck großer Seelen ist.

Ihr Leben war nicht leicht, sie wurde von vielen beneidet, eifersüchtig und mißtrauisch überwacht, gequält und verfolgt, man fand sie dumm, aber sie wankte trotz aller Angriffe nicht. Schließlich erzielte ihre Geduld, daß man sie allgemein achtete, von mir aber wurde sie geliebt und verehrt. Ich verdanke ihr viel. Obwohl nur Dienerin, war sie mir eine Freundin, Beschützerin, eine uneigennützige Ratgeberin und Pflegerin. Wenn es jemals geschehen sein sollte, daß ich ihr einen Augenblick Kummer bereitet habe, dann möge sie in diesen Zeilen mein aufrichtiges Bedauern darüber finden, aber auch den bescheidenen Beweis der Gefühle, die mich beseelen für diejenigen, welche treu und liebend für mich sorgten. Unter diesen bleibt ihr Name meinem Gedächtnis jetzt und für immer eingeprägt.

Lichtblicke in meinen ersten Kindheitsjahren waren die Festzeiten. Der 6. Dezember, dem hl. Nikolaus geweiht, brachte geheimnisvolle Überraschungen. Am Vorabend erschien er mit den Insignien seiner Würde, mit Blumen, Bäckereien und Süßigkeiten, oder aber er verkündete durch eine Lawine von Nüssen, Haselnüssen, Äpfeln, Orangen und anderen guten Dingen, die mit viel Getöse in der Mitte des Zimmers niedergingen und mich sehr erschreckten, seine Nähe. Dann versäumte ich nicht, vor dem Schlafengehen ein Paar Schuhe vor die Türe zu stellen. War ich unartig gewesen, so fand ich am nächsten Tag eine Rute darin, sonst aber waren sie mit den herrlichsten Leckereien gefüllt, darunter auch eine Brüsseler Spezialität: große, herrliche Honigkuchen, welche die Gestalt des hl. Nikolaus hatten.

Weihnachten, das große Fest der Kinder, wurde bei uns sehr feierlich begangen. Lange vorher zählte ich schon die Stunden bis zu dem Abend, der mich heute noch so entzückt wie vor Jahren. Im Speisesaal waren zwei oder drei riesige Tannenbäume, deren Wipfel bis zur Decke reichten, aufgestellt und mit den reizendsten Kleinigkeiten, den besten kandierten Früchten und anderen köstlichen Dingen beladen. Zahllose Lichter warfen ihren magischen Schein über die Bäume, die den Raum mit ihrem harzigen Duft erfüllten. Unter und neben den Bäumen standen die mit weißen Tischtüchern bedeckten Gabentische. Da gab es im bunten Durcheinander Spielzeug, Bücher, Unterhaltungsspiele, nützliche Dinge aller Art, manchmal auch ein kleines Schmuckstück. Jeden Abend bis zu Silvester wurden die Kerzen an den Bäumen angezündet, am 31. Dezember durften wir Kinder den Baum abräumen. Einen Teil der Süßigkeiten durften wir behalten, das übrige verteilten wir unter die Dienerschaft.

Auch Ostern brachte freudige Überraschungen. Zucker- und Schokoladeeier aller Größen und in allen Farben, mit Bonbons gefüllt, wurden, wenn es das Wetter erlaubte, im Garten, sonst in den Zimmern versteckt. Das Suchen und Finden gab immer einen großen Jubel.

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Meine nächsten Verwandten waren mein Onkel Philipp, Graf von Flandern, der einzige Bruder meines Vaters, und seine Gemahlin, Prinzessin Marie von Hohenzollern. Ich sah sie selten, nur Sonntags abends beim Diner, zu welchem sie ihre Kinder mitbrachten. Diese Mahlzeiten, bei denen wir in dekolletierten Kleidern erschienen, waren von einer eisigen Steifheit, ganz im Einklang mit der Temperatur der Salons, in denen außer im Sommer eine wahre Kellerluft herrschte. Mein Vater und mein Onkel, deren Ansichten voneinander abwichen, waren selten einig und stritten viel. Ich empfand warme Sympathie für meinen Onkel. Seine schönen blauen Augen, sein offener Blick, seine wohlklingende Stimme, sein herzliches Lachen, sein freundliches Entgegenkommen zogen mich unwiderstehlich an. Auch meine Tante hatte ich innig ins Herz geschlossen und lernte sie mehr und mehr bewundern. Diese ausgezeichnete Gattin und musterhafte Mutter wußte ihre Kinder zu rechtschaffenen Männern und klugen Frauen, würdig ihres Namens, ihres Ranges und ihrer Stellung zu erziehen. Sie wurden in des Wortes edelster Bedeutung wahre Fürsten , aufopfernde Eltern und treue Freunde. Man mußte das herzliche Zusammenleben, das im Schoße dieser Familie herrschte, die Ehrfurcht und das Vertrauen, die die Kinder für Vater und Mutter hegten, bewundern.

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Zweimal wöchentlich, Donnerstag und Sonntag, hatte unsere Gouvernante Ausgang; während dieser Zeit waren wir der Obhut unserer englischen oder deutschen Lehrerin anvertraut. Manchmal nahm mich aber auch meine Mutter zu sich. Wir beschäftigten uns dann gemeinsam, sie musizierte, malte, schrieb oder las, während ich meine Aufgaben oder Handarbeiten machte. Ich strickte und häkelte Kleider für die armen Kinder, besserte meine eigenen Sachen aus oder stickte Kirchenparamente.

Meine größte Freude war es, meine Mutter auf ihren Spaziergängen und Wagenfahrten zu begleiten oder die Stallungen mit ihr zu besichtigen. Diese geräumigen Stallungen in Laeken wie auch in Brüssel waren mit allem Luxus ausgestattet. Auf den Gängen waren Sitzplätze hergerichtet, wo man den Tee einnehmen konnte; die Tische zierten Blumen in schönen Majolikatöpfen, alles war wie in einem Salon so rein und ordentlich gehalten. Für mich war es geradezu ein Fest, die sorgfältig gepflegten Pferde zu streicheln und zu füttern. Es gab ein eigens dafür bereitetes schwarzes Brot, das wir reichen durften, es schmeckte so gut, daß ich selbst gern davon aß. Die zwanzig isabellfarbenen Pferde mit schwarzen Mähnen und Schweifen waren eine Zierde des Marstalls. Es waren lauter ungarische Pferde, die wohllautende Namen aus ihrer schönen Heimat trugen. Der Bruder meiner Mutter, Erzherzog Joseph, suchte sie selbst in den berühmten Gestüten Ungarns aus. Unermüdlich war meine Mutter darin, ihre feurigen Pferde selbst im Vierer- oder Fünferzug einzufahren oder die Reitpferde zuzureiten. Als ich sechs Jahre alt war, gab sie mir den ersten Reitunterricht, den später ein Reitlehrer fortsetzte. Bald war ich sattelfest, nach wenigen Jahren durfte ich springen und Hohe Schule reiten.

Meist war die Forêt de Soignies, der Bois de la Cambre das Ziel unserer Wagenfahrten – Orte, die den Vereinigungspunkt der eleganten Welt Brüssels bildeten. Wir fuhren entweder durch den oberen Teil der Stadt oder durch die belebten Straßen des Zentrums, in denen sich die herrlichsten Läden befanden. Meine strahlenden Augen wußten nicht, wohin sich richten, um all die schönen Dinge zu bewundern. Meine Mutter verlangsamte dann den Gang ihrer Pferde, um meinem Wunsch, besser sehen zu können, zu willfahren. Besonders erheiternd war es, durch die Avenue Louise zu fahren, in welcher die elegante Welt zu Wagen, zu Pferd und zu Fuß dem Walde zustrebte, wenn man meine Mutter erblickte, blieb kein Kopf bedeckt, jeder grüßte, die Damen verneigten sich tief, die Wagen hielten an – alle Welt kannte und bewunderte die feine und liebliche Erscheinung der Königin und hoffte, ein freundliches Lächeln zu erhaschen.

Der Wald erfüllte mich mit Begeisterung und Entzücken. Oh, wie liebte ich diesen Wald mit seinem undurchdringlichen Schatten, mit seinem grünen, in warmen Farben sich wölbenden Laubdach, mit seinen stolz und majestätisch zum Himmel ragenden Bäumen! Ich liebte seine Farne, sein Geisblatt, die wilden Beeren im Moos. Nie kehrten wir von unseren Ausflügen zurück, ohne mit Blumen und Blüten beladen zu sein. Die Liebe zur Natur, die unsere Mutter in uns groß zog, war dazu bestimmt, unsere Seelen zu Gott zu erheben und unsere Sinne auf die Poesie des Schönen und Guten hinzulenken.

Wenn meine Mutter nicht den Weg in den Wald einschlug, durchstreifte sie die Fluren der reizenden Umgebung Brüssels. Man brach am frühen Morgen auf, um erst spät abends zurückzukehren. Vorräte wurden dann mitgenommen. Irgendwo draußen auf einem malerischen Platz hielt man an, die Pferde wurden ausgespannt, die Polster des Wagens am Boden ausgebreitet, auf ihnen und mitgebrachten Decken setzte man sich im Schatten der Bäume am Ufer eines rauschenden Bächleins nieder, und die Proviantkörbe voll guter Dinge wurden ausgepackt. Zur Abwechslung hielten wir bisweilen auch vor einer jener reinen und netten Herbergen. Meine Mutter setzte sich dann mitten unter die Arbeiter. Wurde sie erkannt, so umringten sie die guten Leute, um ihr in treuherziger Weise zu sagen: »Liebe gute Königin, wir sind so froh, dich mit deinen Kindern zu sehen.« In Belgien duzt einen das Volk.

Auf solchen Ausflügen lernte ich meine schöne Heimat kennen. Besonders liebte ich unsere Wallfahrten nach Hal und Montaigu. Diese geweihten Stätten, an denen man die Muttergottes tief verehrt, sahen uns alljährlich an den Stufen ihrer Altäre. An der Seite der Königin sank ich vor dem wundertätigen Bild der heiligen Jungfrau in die Knie, ihre Gnade und Hilfe für unsere Seelen erflehend. Die Wände dieser Kirchen sind mit unzähligen Exvotos bedeckt, Zeichen der Dankbarkeit all jener, die erhört wurden. Sie erfüllten mich mit der Hoffnung, daß auch meine Gebete nicht zurückgewiesen würden. Als einfache Touristin gekleidet, um nicht aufzufallen, stieg meine Mutter immer schon weit vor dem Wallfahrtsort aus. Sie wollte unbemerkt in der Menge bleiben und mit ihrem Volk bitten und flehen.

Mitunter begleitete ich meine Mutter auch bei ihren Besuchen in Klöstern und bei den Armen. Bei den Karmelitern, Franziskanern, den Trappisten und Klarissinnen und in manchen andern Klöstern wurde sie wie eine gute Fee empfangen. Ich sah zufriedene und dankbare Gesichter und hörte Segensworte um mich her. Wo immer sie eintrat und vorüberging, tat sie Gutes, tröstete und ermutigte. Ihr Interesse für alles und ihr einfaches Wesen machte, daß jedermann sich in ihrer Nähe wohl fühlte. Dieses Beispiel der Güte und Demut hatte einen ausgezeichneten Einfluß auf mich. Es erweckte in meinem jungen Gemüt das Mitleid mit den Leidenden, mit den Unterdrückten, mit allen, die das Elend heimgesucht hat. Seit meiner früheren Jugend gewöhnte man mich, die Armen nicht zu meiden, den Unglücklichen beizustehen und die Freude kennenzulernen, die im Helfen, Schenken und Trösten liegt.

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