Rosenhain & Dschinnistan - Christoph Martin Wieland - E-Book

Rosenhain & Dschinnistan E-Book

Christoph Martin Wieland

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Beschreibung

Diese Sammlung wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. Christoph Martin Wieland (1733-1813) war ein deutscher Dichter, Übersetzer und Herausgeber zur Zeit der Aufklärung. Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geistermärchen ist eine Geschichtensammlung. Ein häufig in den Geschichten auftauchendes Motiv ist das eines märchenhaften, arkadische Züge tragenden Reiches, das – ganz in der Tradition der im Rokoko so beliebten Schäferidyllen – von einfachen, genügsamen, tugendhaften Menschen bewohnt wird. In großer Zahl werden die Erzählungen von wundertätigen Zauberern, Magiern und Feen aller Art bevölkert. Inhalt: Das Hexameron von Rosenhain Narcissus und Narcissa Daphnidion Die Entzauberung Die Novelle ohne Titel Freundschaft und Liebe auf der Probe Die Liebe ohne Leidenschaft Dschinnistan Nadir und Nadine Adis und Dahy Neangir und seine Brüder, Argentine und ihre S… Der Stein der Weisen Timander und Melissa Himmelblau und Lupine Der goldene Zweig Die Salamandrin und die Bildsäule Alboflede Pertharit und Ferrandine Der eiserne Armleuchter Der Greif vom Gebürge Kaf Das Gesicht des Mirza

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Christoph Martin Wieland

Rosenhain & Dschinnistan

Zauber- und Geistermärchen

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-2547-7

Inhaltsverzeichnis

Das Hexameron von Rosenhain
Narcissus und Narcissa
Daphnidion
Die Entzauberung
Die Novelle ohne Titel
Freundschaft und Liebe auf der Probe
Die Liebe ohne Leidenschaft
Dschinnistan
Nadir und Nadine
Adis und Dahy
Neangir und seine Brüder, Argentine und ihre Schwestern
Der Stein der Weisen
Timander und Melissa
Himmelblau und Lupine
Der goldene Zweig
Die Salamandrin und die Bildsäule
Alboflede
Pertharit und Ferrandine
Der eiserne Armleuchter
Der Greif vom Gebürge Kaf
Das Gesicht des Mirza

Das Hexameron von Rosenhain

Inhaltsverzeichnis

Narcissus und Narcissa

Inhaltsverzeichnis

Es war an einem Abend, der vielleicht so schön war als der heutige, als die Perise Mahadufa, aus der dritten Ordnung der weiblichen Schutzgeister, sich auf einer aus den süßesten Düften des Frühlings zusammengeronnenen, leichtschwebenden Wolke niederließ, um einige Augenblicke von einem langen Flug auszuruhen und die Sorgen, die ihr Gemüt verdüsterten, im Anblick der prächtig untergehenden Sonne aufzulösen.

»Verzeihung«, sagte Nadine, mit einer Verneigung gegen die ganze Gesellschaft, »daß ich die Erzählung gleich anfangs unterbrechen muß, um mir einen kleinen Unterricht auszubitten, was eine Perise ist und was ich mir bei der dritten Ordnung der weiblichen Schutzgeister zu denken habe.«

»Kommen Sie mir zu Hülfe, lieber Wunibald«, sagte Rosalinde, sich gegen den jungen P., ihren Verwandten und erklärten Liebhaber, wendend; »ich muß zu meiner Beschämung gestehen, daß ich auf diese Frage nicht vorbereitet bin, und ich fürchte sehr ...«

»Fürchten Sie nichts«, fiel ihr Wunibald ins Wort; »meine Kenntnis der innern Verfassung der Geisterwelt ist zwar auch nicht weit her, denn ich habe sie größtenteils nicht tiefer als aus Tausendundeiner Nacht geschöpft; aber Nadine wird sich auch genügen lassen, wenn ich ihr mit zwei Worten alles sage, was ich selbst davon weiß, nämlich daß unter den Peris oder guten Genien ein Geschlechtsunterschied stattfindet und daß sie größtenteils Schutzgeister der Menschen und, je nachdem sie entweder ganzen Völkern und Ländern oder regierenden Königen und Fürsten oder andern durch große persönliche Vorzüge und eine höhere Bestimmung über die gemeinen Menschenkinder emporragenden Personen zu Beschützern gegeben sind, in ebenso viele besondere Ordnungen abgeteilt werden. Diese Peris heißen auch Dschinnen, und das Reich, wo sie zu Hause sind und von einem unumschränkten Monarchen ihres Geisterstammes beherrscht werden, wird Dschinnistan genannt. Daß sie übrigens mit den Elementgeistern des Grafen Gabatis, den Sylphen, Gnomen, Ondinen und Salamandern, nicht zu verwechseln sind, will ich nur im Vorbeigehen bemerkt haben.«

Rosalinde nickte Wunibalden ihren Dank mit einem etwas schalkhaften Lächeln zu und fuhr fort: »Wenn Herr von P. nicht durch die alberne Art, wie ich meine Erzählung anfing, Gelegenheit bekommen hätte, sich um uns alle durch Mitteilung seiner Kenntnisse in diesem wichtigen Teil der Geisterlehre verdient zu machen, so könnt ich mir selbst gram deswegen sein, daß ich – was doch so leicht gewesen wäre – den Anlaß zu dieser Unterbrechung nicht vermieden habe. Denn wozu hatte ich denn nötig, die Perisen und die dritte Ordnung ins Spiel zu mengen? Brauchte ich doch nur zu sagen: der Schutzgeist Mahadufa habe sich auf die Wolke niedergelassen, so war jedermann zufrieden.« – »Das sind wir auch jetzt«, sagte Frau von P., »wenn Sie so gut sein wollen fortzufahren, ehe jemand in Versuchung gerät, Sie durch eine neue Frage zu unterbrechen.«

»Wenn die Rede von Geistern ist«, sagte der Philosoph M., »muß man nicht fragen, sondern hören und glauben. Durch Fragen kommt man zwar, wie das Sprüchwort sagt, nach Rom; aber das gilt nur von diesem groben planetarischen Erdklumpen; in der Geisterwelt kommt man durch Fragen um kein Haarbreit vorwärts. Also wieder auf Ihre duftreiche Abendwolke, zur Schutzgeistin Mahadufa, wenn ich bitten darf, mein Fräulein!« – »Und ich«, sagte der alte Herr von P., »verspreche Ihnen für uns alle, Sie sollen nicht wieder unterbrochen werden.«

Mahadufa hatte kaum einige Minuten von der Wolke Besitz genommen, als Zelolo, ein männlicher Genius aus derselben Ordnung, sie im Vorüberfliegen gewahr wurde. Wiewohl sie sich lange nicht gesehen hatten, erkannte er doch Mahadufen auf den ersten Blick und steuerte sogleich auf die Wolke zu, in der Absicht, die alte Bekanntschaft wieder aufzufrischen. Nach den ersten Begrüßungen fragte Mahadufa, wohin sein Weg ginge. – »Wohin mein Amt mich ruft«, war seine Antwort; »ich habe das Unglück, der Schutzgeist eines jungen Menschen zu sein.«

»Du gibst der Sache ihren rechten Namen, Zelolo; ich weiß auch ein Wort davon zu sprechen.«

»Zwischen dir und mir gesagt, Mahadufa, ich glaube nicht, daß es in allen Planeten und Kometen, Sonnenwirbeln und Milchstraßen des unermeßlichen Weltalls ein schnöderes Handwerk gibt als das unsrige. Ich begreife nicht, was der Geisterkönig für ein Vergnügen daran finden kann, uns unter dem vornehmen Titel von Beschützern zu bloßen Zuschauern und Zeugen der unergründlichen Torheit und des ewigen Selbstwiderspruchs dieser närrischen Adamskinder zu machen. Ja, wenn uns noch erlaubt wäre, als mithandelnde Personen im Spiel aufzutreten; wenn wir ihnen in unsrer eigenen Gestalt erscheinen oder eine menschliche annehmen dürften, um ihnen zu raten, wo sie sich nicht zu helfen wissen, sie zu warnen, wenn sie etwas Dummes, und zurückzuhalten, wenn sie etwas Schlechtes begehen wollen! Aber dürfen wir das? Ist uns doch beinahe alle geistige Einwirkung auf ihr Gemüt untersagt; wenn wir ihnen ja noch einen Gedanken eingeistern dürfen, so ist es unter dem Beding, ihm eine so völlige Ähnlichkeit mit ihren eigenen zu geben, daß sie ihn aus sich selbst gedacht zu haben glauben sollen. Was ist die Folge dieses weisen Gesetzes? Sooft ich meinem Zögling einen wirklich klugen Gedanken einhauche, bin ich sicher, daß er ihn als einen törichten Einfall, der ihm so von ungefähr angeflogen komme, verlachen wird. Ehmals gaben uns wenigstens ihre Träume einen großen und freien Spielraum; aber auch diese Befugnis ist uns neuerlich durch so viele Anhängsel und Einschränkungen erschwert und beschnitten worden, daß entweder wir nichts Gescheites aus ihren eignen Träumen zu machen wissen oder sie aus denen, die wir ihnen zuschicken, nicht klug werden können.«

»Nur allzuwahr«, sagte Mahadufa. »Unser Dienst, der so ehrenvoll scheint, ist im Grund eine bloße Art, zur Frone müßigzugehen. Wie oft hab ich mich's schon reuen lassen, daß wir aus einem unzeitigen Übermaß von Mitleiden und Großmut das alte Reich der Feen zerstören halfen, die uns ehmals durch ihre unverdrossene Geschäftigkeit, Böses, und ihre unverständige Art, Gutes zu tun, so viel zu schaffen machten, daß wir über keine Langeweile zu klagen hatten.«

»Diese Hülfsquelle ist nun einmal abgegraben«, versetzte Zelolo. »Das schale Vergnügen, über unsre sich klug dünkende Narren und Kindsköpfe zu lächeln, oder das bißchen Schadenfreude, sie für ihr ewiges starrsinniges Sträuben und Anstreben gegen alle Eingebungen der Vernunft durch die Folgen ihrer eigenen weisen Maßnehmungen gestraft zu sehen, ist am Ende alles, was uns Schutzgeistern dafür wird, daß wir das herrliche Amt übernommen haben, Mohren zu bleiben und Wasser mit einem Siebe in ein Faß ohne Boden zu schöpfen.«

»Und sogar dieses schale Vergnügen«, fuhr Mahadufa fort, »kann uns nur dann werden, wenn wir keinen Anteil an unsern Zöglingen nehmen, was bei mir wenigstens der Fall nicht ist; denn ich liebe den meinigen, und diese Liebe macht mich so unglücklich, als Geister unsrer Art zu sein fähig sind.«

Zelolo: »Darf man fragen, wer dein Zögling ist?«

Mahadufa: »Sie ist das einzige Kind eines der vornehmsten und reichsten Häuser in der Hauptstadt des Landes, über dessen westlicher Grenze wir itzt schweben; ein Mädchen, an welches die Natur ihre reichsten Gaben verschwendet hat, das schönste, reizendste, talentvollste, das je von der Sonne beschienen wurde; geboren mit den herrlichsten Anlagen zu allen Tugenden und zu allem, was ein Weib liebenswürdig machen kann.«

Zelolo: »Und mit allen diesen Vorzügen macht sie dich unglücklich, sagst du?«

Mahadufa: »Weil sie selbst das unseligste Geschöpf ist, das ich kenne.«

Zelolo: »Wie geht das zu?«

Mahadufa: »Stelle dir vor, Zelolo, daß die Unglückliche, die allen Liebe einflößt, nichts liebt und, wie ich besorge, nichts mehr lieben kann als sich selbst. Ich pflege sie deswegen nur meine Narcissa zu nennen, wiewohl ihr wahrer Name Heliane ist.«

Zelolo: »Ich würde vielleicht unglaublich finden, was du mir sagst, wenn dein Fall nicht von Wort zu Wort auch der meinige wäre. Der junge Dagobert, dessen Schutzgeist von seiner Geburt an zu sein ich das Unglück habe, ohne verhindern zu können, daß Aufwärterinnen und Aufwärter, Zofen, Schranzen, Schmeichler und Sklaven aller Gattung dem Vater, der Mutter und der ganzen Sippschaft das Werk der Natur in ihm, von seinem ersten Atemzug an, hemmen und zerstören halfen, dieser unglückliche Jüngling, der einzige Sohn eines der reichsten Großen des Landes, wo ich herkomme, ist alles, was du von deiner Narcissa sagst. Wenn je ein Menschenkind mit der Anlage, ein edler und guter Mann zu werden, in die Weit trat, so ist es er; aber der arme Mensch kann, gleich dem Narcissus der Fabel, nichts lieben als sich selbst, und ich nenne ihn daher, wenn zwischen mir und meinen Freunden die Rede von unsern Schützlingen ist, nur meinen Narcissus.«

Mahadufa (nachdenkend): »Eine sonderbare Übereinstimmung!«

Zelolo: »Du trauest mir zu, daß ich nichts von dem wenigen, was uns zu tun erlaubt ist, unversucht an ihm gelassen habe; aber gegen alle die Mächte, die sich wider seinen Verstand und sein Herz zusammen verschworen hatten, war keine Rettung. Wenn den scharfsinnigsten Köpfen auf dem ganzen Erdenrund ein ungeheurer Preis ausgesetzt worden wäre, einen Plan zu entwerfen, wie man es angehen müsse, um aus meinem jungen Fürstensohn den Erzkönig aller Gecken zu bilden, dieser edle Zweck hätte nicht vollständiger erreicht werden können als durch die Erziehung, die er im Palast seines Vaters und in der großen Welt erhielt, in welche seine Geburt und seine glänzenden Naturgaben ihm sehr früh den freiesten Zutritt und die schmeichelhafteste Aufnahme verschafften. Von seiner Kindheit an beeiferte sich jedes, ihm liebzukosen und aufzuwarten; seine unverständigsten und unbilligsten Wünsche mußten erfüllt, seine unartigsten Launen gefürchtet, seine wunderlichsten Grillen auf der Stelle befriedigt werden. Alles, was er sagte, wurde bewundert, alles, was er tat, war recht. Nun, da die Früchte einer solchen Aussaat in üppigster Fülle stehen, wehklagen sie, daß ihm nichts gefällt als er selbst, daß er nichts liebt noch achtet als sich selbst, von nichts spricht als von sich selbst, keinen Finger rührt als für sich selbst, kurz, sich nicht anders benimmt, als ob er das einzige Wesen in der Welt und alles übrige bloße Werkzeuge seines Vergnügens und Spielwerk für seine Launen wäre.«

Mahadufa: »Ich glaube die Geschichte meiner armen Narcissa zu hören. Diese Ähnlichkeit ist sehr sonderbar!«

Zelolo: »Das schlimmste für uns ist indessen, daß die Zeit immer näher rückt, wo wir dem König Rechenschaft von unsern Pfleglingen geben müssen; und du wirst sehen, Mahadufa, daß die Schuld, warum nichts Besseres aus ihnen geworden ist, zuletzt doch auf uns ersitzen bleiben wird.«

Mahadufa: »Sei ohne Sorge, Zelolo! Ich hoffe ein Mittel gefunden zu haben, das alles wiedergutmachen soll.«

Zelolo: »Kannst du Wunder tun? Oder, wenn du es könntest, darfst du es?«

Mahadufa: »Es soll ganz natürlich zugehen. – Rate doch ein wenig! – Es ist das einfachste Mittel von der Welt.«

Zelolo: »Ah! Nun versteh ich dich! – Sie sollen zusammengebracht werden, sollen sich sehen, und der Erfolg, hoffst du ...«

Mahadufa: »Der Erfolg kann nicht fehlen.«

Zelolo: »Aber bedenke, gute Mahadufa, daß ich meinen Narcissus bereits mit allem, was auf dreihundert Meilen im Umkreis das Schönste und Liebenswürdigste ist, umgeben habe, ohne mehr damit zu gewinnen, als daß er noch verliebter in sich selbst geworden ist als jemals.«

Mahadufa: »Das nämliche ist mir mit Narcissa begegnet. Aber das schreckt mich nicht, seitdem ich weiß, daß es einen Narcissus in der Welt gibt. Sie müssen zusammengebracht werden, Zelolo! Sie sind füreinander geschaffen; zwei Hälften, die ganz ineinanderpassen und sich unversehens so zusammenschrauben werden, daß du deine Freude daran sehen sollst. Niemand als Narcissus kann meine Narcissa, keine als Narcissa kann deinen Narcissus heilen.«

Zelolo (sich vor die Stirne schlagend): »Du hast recht, Mahadufa. Laß dich umarmen für den glücklichen Einfall! Du hast recht! Wie konnt ich so dumpf sein, das nicht auf den ersten Blick zu sehen? Aber bei euch andern ist der erste Blick immer der entscheidende. Laß uns nun keine Zeit verlieren. Mache du deine Anstalten auf deiner Seite; und bevor der Mond sein Gesicht zweimal verändert hat, soll mein Narcissus, flimmernd und strahlend wie eine Sonne, an eurem Hofe aufgegangen sein.«

Nach dieser Abrede trennten sich die Schutzgeister wieder, vergnügt über ihr unverhofftes Zusammentreffen und ungeduldig, ihr Vorhaben aufs schleunigste ins Werk zu richten.

Hier unterbricht der Verfasser der Handschrift die Erzählung auf einige Augenblicke.

Wir hätten sehr gewünscht (sagt er), aber es stand nicht in unserm Vermögen, dieses Gespräch der beiden Schutzgeister für die Leser so unterhaltend zu machen, als es für Rosalindens Zuhörer durch die Anmut und Lebhaftigkeit ihres mündlichen Vortrags war; zumal da sie vermittelst einer seltnen Biegsamkeit der Stimme jeder redenden Person einen besondern, von ihrer eigenen verschiedenen Ton zu geben wußte und sie dadurch so fest und richtig bezeichnete, daß sie, um die Personen anzugeben, keinen Namen zu nennen brauchte. Da dieser Mangel weder den Augen noch den Ohren unsrer Leser zu ersetzen ist, so wollen wir uns auch keinen Kummer deswegen machen und laden sie ein, mit uns in die Rosenlaube zurückzukehren und, so gut als ihre eigene Einbildungskraft sie darin unterstützen will, der schönen Erzählerin zuzuhören, die, von der Zufriedenheit ihrer Zuhörer nicht wenig aufgemuntert, in der Geschichte der beiden Selbstliebhaber folgendermaßen fortfuhr.

In den meisten Geschichten kommt nicht wenig darauf an, daß der Ort und die Zeit, wo und wann sie sich zugetragen, genau angegeben werde. Dies ist nun zwar bei der, worin ich itzt befangen bin, keineswegs der Fall; indessen, da es uns nun einmal unmöglich ist, Personen und Begebenheiten an keinem Ort und in keiner Zeit zu denken, so wünschte ich (um der Ungelegenheit, die deutsche Stadt, wo, und die eigentliche Zeit, wann sich meine Geschichte zutrug, nennen zu müssen, ein für allemal zu entgehen), daß wir als etwas Ausgemachtes annähmen, sie habe sich vor ziemlich langen Jahren zu Trapezunt, am Kaiserhof eines von den Abkömmlingen des weltberühmten Amadis aus Gallien oder des schönen Galaor, seines Bruders, zugetragen; und wenn wir solchergestalt unsre so gern zur Unzeit geschäftige Einbildungskraft über diesen Punkt eingeschläfert hätten, wünschte ich, daß wir uns weiter nicht darum bekümmerten, sondern uns begnügten, meinen Helden und meine Heldin als bloße Bürger der Geisterwelt oder geistige Weltbürger anzusehen, mit welchen alles, was ich von ihnen zu erzählen habe, der Hauptsache nach wenigstens, sich ebensowohl an jedem andern Ort und zu jeder andern Zeit zugetragen haben könnte. Dieses vorausbedungen und zugestanden (denn alle hatten der Erzählerin ihre Einwilligung lächelnd zugenickt), fahre ich nun mit froherem Mute und freiern Armen in meiner Erzählung fort.

Sobald Mahadufa nach Trapezunt zurückgekommen, war ihre erste Sorge, mit guter Art Anstalt zu treffen, daß Narcissa-Heliane von dem Dasein und dem Charakter des schönen Narcissus-Dagobert so viel Kundschaft erhielt, als nötig war, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie mußte, glaubte Mahadufa, alles, was ihr von seiner entschiedenen Unfähigkeit, in eine andere als seine eigene Person verliebt zu sein, zu Ohren käme, notwendig als eine Herausfoderung ansehen, die Unwiderstehlichkeit ihrer Reizungen an diesem Widerspenstigen zu bewähren, und die Ungeduld nach seiner Ankunft (wovon man in Trapezunt bereits als von einer nahe bevorstehenden Sache sprach) würde, dachte sie, die erste aller der Gemütsregungen und Leidenschaften sein, welche ihr noch ungebändigtes Herz bearbeiten und für die Liebe empfänglich machen würden. Aber die Perise, wiewohl selbst eine Art von Weib, kannte die Töchter Edens noch nicht genug, um alle Gestalten zu kennen, welche ihre Eitelkeit anzunehmen fähig ist.

Narcissa, welche ganz und gar keinen Begriff davon hatte, wie irgendein Sterblicher bei ihrem Anblick ungerührt bleiben, geschweige ihrem Willen, ihn zu besiegen, wofern sie diesen Willen hätte, widerstehen könnte, blieb bei allem, was man ihr von dem stolzen Narcissus sagte, so gleichgültig, als sie bei dem schalsten und unglaublichsten Ammenmärchen hätte bleiben können, und zeigte nicht die leiseste Spur weder einiger Neugier, seine Bekanntschaft zu machen, noch eines Zweifels, was erfolgen werde, wofern er die ihrige suchen sollte.

Narcissus hingegen hatte durch Zelolos geheime Veranstaltung nicht sobald Nachricht von Helianen erhalten, als er sich unverzüglich anschickte, eine Reise von mehreren hundert Meilen zu unternehmen, in keiner andern Absicht, als die hoffärtige Schöne für ihren Übermut zu züchtigen und von der Unmöglichkeit, ihm zu widerstehen, durch die Erfahrung zu überzeugen. Seine Ungeduld, sich selbst diese Befriedigung zu geben, wurde durch ein Bildnis der schönen Heliane, welches Zelolo ihm in die Hand spielte, so sehr erhöht, daß, wer ihn nicht näher kannte, nichts anders hätte vermuten können, als dieses Bild habe bewirkt, was man bisher für etwas Unmögliches gehalten, und er eile, von der feurigsten Liebe beflügelt, sein Herz zu den Füßen seiner Überwinderin zu legen.

Narciß erschien unter seinem gewohnten Namen Dagobert am Hofe von Trapezunt mit einem Glanz, der seinen Mitbewerbern auf einmal den Mut benahm, sich mit ihm in einen Wettkampf einzulassen. Der zuversichtliche Stolz, womit er sich der allgemeinen Bewunderung, als eines ihm gebührenden Zolles, bemächtigte, wurde gleichwohl durch die Artigkeit seines Betragens und die Anmut, die alles, was er tat und sprach, begleitete, so schön gemildert, daß man kaum daran denken konnte, ihm Ansprüche streitig zu machen, an welche so viele blendende Vorzüge ihm ein entschiedenes Recht zu geben schienen; und da er über all dieses noch einen fürstlichen Aufwand machte und der freigebigste aller Menschen war, erhielt er allgemeinen Beifall am Hofe von Trapezunt. Die Männer selbst fanden es lächerlich, ihn beneiden zu wollen, und die Frauen – soll ich's sagen? – die Frauen – genug, es war keine Dame in Trapezunt, die Kaiserin Nicea selbst nicht ausgenommen, die nicht entweder ziemlich öffentliche Anstalten gegen die Freiheit seines Herzens machte oder sich nicht wenigstens, in vollem Vertrauen auf die Probhaltigkeit ihrer eignen Tugend, um das Vergnügen, von ihm unterschieden zu werden, beeiferte.

Narcissa allein machte die Ausnahme; Narcissa war die einzige, die sich so betrug, als ob sie weder Augen für seine Vollkommenheiten noch das mindeste Verlangen hätte, von ihm bemerkt, geschweige ausgezeichnet zu werden. Nicht als wäre sie von seinem ersten Anblick nicht ebenso stark betroffen worden als er von dem ihrigen; aber beide waren es weniger darüber, was sie sahen, als was sie erwartet hatten und nicht fanden. Narcissus zweifelte so wenig daran, daß der erste Eindruck, den er auf Narcissa zu machen gewiß war, entscheidend sein werde, daß er sich ihr mit einer Miene darstellte, welche ihr in der kraftvollen Geistersprache der Augen mit aller nur möglichen Stärke sagte: Fühlst du die Gegenwart deines Überwinders? Gibst du nicht jeden Gedanken auf, ihm einen vergeblichen Widerstand zu tun? – Aber Narcissa, die seinen Blick nur zu gut verstand, blitzte ihm die Antwort in ebenderselben Sprache so behend entgegen, daß sie seiner Frage selbst zuvorzueilen schien: Wie? Mir erkühnst du dich mit solchen Anmaßungen in die Augen zu sehen? du verwirrst mich nicht? dein Blick stürzt nicht vor dem meinigen zu Boden? Eitles Geschöpf! wie freu ich mich, daß es in meiner Macht ist, dich zu demütigen!

So kurz auch die Dauer dieses ersten Augengesprächs war, so schien es doch entscheidend zu sein und auf beide einerlei Wirkung zu tun. Ohne einander auszuweichen und (was sich von selbst versteht) ohne sich jemals von der Linie der feinsten Anständigkeit, auf ihrer Seite, und der ritterlichen Galanterie, auf der seinigen, nur ein Haarbreit zu entfernen, benahmen sich beide so gleichgültig, so absichtlos, so frostig-kalt gegeneinander, daß sie sich in der Rechenschaft, so jedes sich selbst darüber gab, beinahe notwendig irren mußten. Narcissa, der allgemeinen Huldigung aller Herzen so gewohnt als des Atemholens, glaubte den Prinzen, der ihren Reizen so offenbar Trotz bot, viel zu tief zu verachten, um sich durch seine Gleichgültigkeit beleidigt zu finden, und verdoppelte gleichwohl, ohne sich recht bewußt zu sein, in welcher Absicht, alles, was die Kunst vermochte, den Zauber ihrer Reize unwiderstehlich zu machen. Narcissus hingegen, der ihre Kälte für eine Wirkung ihrer schwer beleidigten Eitelkeit, im Grund aber für bloße Verstellung hielt, zweifelte nicht, daß er nur einige Tage standhaft auszuhalten brauche, um sie ein gutes Teil geschmeidiger zu finden. Aber darin hatte er falsch gerechnet. Narcissa wurde, so deuchte ihm, mit jedem Tage liebenswürdiger und – kälter; er selbst hingegen bildete sich zuweilen ein, er fühle eine Art von Ahnung in sich, daß sie ihm gefährlicher werden könnte, als sein Stolz sich gestehen wollte. Ob diese Ahnung vielleicht ein Werk Zelolos war, kann ich nicht sagen; genug, sie erschreckte ihn, und er glaubte nicht genug Vorsichtsanstalten dagegen machen zu können. Er warf sich in einen Strudel von Zerstreuungen aller Gattung, vernachlässigte Narcissen bis an die Grenze der Unhöflichkeit, schien sich, in Hoffnung, ihre Eitelkeit zu kränken, bald um diese, bald um jene Dame zu bewerben, die einigen Anspruch an eine solche Auszeichnung machen konnte, kurz, versuchte alles, was ein Liebhaber seiner selbst in einem solchen Fall versuchen kann, um seinem Stolze den Triumph zu verschaffen, den ihm der Stolz einer nicht weniger in sich selbst verliebten Schönen vorenthielt. Aber Narcissa, es sei nun, weil sie wirklich nichts für ihn fühlte oder ihn nicht eher genug gedemütigt zu haben glaubte, als bis er sich ihr auf Gnad und Ungnade gefangengeben müßte, beharrte bei ihrem wirklichen oder angenommenen Kaltsinn mit einer so freien und ruhigen Unbefangenheit, daß Narcissus, durch den schlechten Erfolg seiner Maßnehmungen in eine ihm ganz ungewohnte Verlegenheit gesetzt, mehr als einmal in Versuchung geriet, den großen Zauberer Arkelaus um Beistand anzurufen, wenn er nur gewußt hätte, wo er anzutreffen wäre.

Das Wahre indessen – was er aber freilich (aus einer Ursache, die in unsern Tagen schwerlich stattfände) ohne Hülfe des besagten Zauberers unmöglich wissen konnte – war, daß die schöne Narcissa, bei aller ihrer Kälte und anscheinenden Unaufmerksamkeit, sich mehr, als sie selbst gewahr zu werden schien, mit ihm beschäftigte. Hermeline, die vertrauteste ihrer Dienerinnen, hätte ihm viel davon erzählen können, wenn sie nicht zugleich die treueste, verschwiegenste und unbestechlichste aller Zofen im ganzen trapezuntischen Kaiserreich gewesen wäre. Hermeline war in der Tat die einzige Person in der Welt, mit welcher Heliane von dem Prinzen Dagobert sprach; aber mit ihr sprach sie auch von nichts anderm. Hermeline hörte zwar kein Wort aus dem Mund ihrer Gebieterin, woraus sie berechtigt gewesen wäre zu schließen, daß er ihr mehr als der gleichgültigste aller Menschen sei; aber sie sprach doch von ihm, sie lachte, scherzte und spottete über ihn, erkundigte sich nach allem, was er tat und nicht tat, und Hermeline erhielt sogar den Auftrag, seinen vertrautesten, aber nicht so unbestechlichen Kammerdiener, durch ihre Nichte, die seine Geliebte war, über die geringsten Umstände seines täglichen und nächtlichen Lebens auszuholen. Aus welchem allem Hermeline, ohne sich das mindeste gegen ihre Dame merken zu lassen, den Schluß zog: daß sie im Grunde doch wohl einigen Anteil an dem Prinzen Dagobert nehmen könnte.

So standen die Sachen zwischen Narcissus und Narcissa, als die Schutzgeister Zelolo und Mahadufa, welche diese Zeit her alles seinen eigenen Gang gehen ließen und, nach ihrer Gewohnheit, bloße Zuschauer dabei abgegeben hatten, sich wieder zusammenfanden, um einander ihre Beobachtungen mitzuteilen und gemeinschaftlich zu überlegen, was etwa zu tun sein möchte.

»Dein Mittel, Mahadufa«, sagte Zelolo, »wovon wir uns beide soviel versprochen hatten, scheint nicht anschlagen zu wollen.«

»Wieso?« fragte die Perise.

»Die Sache zeugt von sich selbst. Unsre beiden Narcissen sind noch so weit auseinander und so verliebt in sich selbst als jemals.«

»Das sollt ich nicht meinen; oder wie steht es mit deinem Prinzen?«

»Ich muß bekennen, er scheint wohl allmählich ein wenig mürbe zu werden. Er hat Augenblicke, wo er ganz nahe daran ist, sich selbst zu gestehen, daß es ihm nicht möglich sein werde, die unsichtbare Kette, an die sie ihn gelegt hat, zu zerreißen, wie übel sich auch sein Stolz gegen ein solches Geständnis gebärdet. Aber dieses Geständnis ihr zu tun, solange sie ihn so schnöde behandelt wie bisher? – Nimmermehr! Eher tut er den Sprung vom Leukadischen Felsen, eh er sich so tief erniedriget.«

»Auch hat er dies nicht nötig, Zelolo. Alles müßte mich täuschen, oder die Liebe hat ihr Netz um beide Widerspenstige geworfen, und Narcissa ist so gut darin gefangen als er.«

»Was hast du für Ursachen, dies zu glauben?«

»Sehr bedeutende. Sie beschäftigt sich alle Tage mehr in ihren Gedanken mit ihm, ja, es ist schon so weit gekommen, daß er der einzige Gegenstand ist, der ihre Phantasie beherrscht und auf den sich alles bezieht, was sie denkt und tut. Für ihn umgibt sie sich mit allem Glanz und Schimmer, den die Kunst der Natur leihen kann; seinetwegen wünscht sie sich noch schöner, wenn's möglich wäre, machen zu können, als sie ist; seinetwegen erscheint sie überall, wo sie ihn zu finden hofft...«

»Um ihn durch die kälteste Verachtung zum Wahnsinn zu treiben!«

»Wenn dies auch wäre, so bedenke die Absicht, warum sie es tut. Welchen andern Zweck kann sie dabei haben, als sein Herz mit Gewalt zur Übergabe zu zwingen, da es sich in Güte nicht ergeben will? Fängt sie nicht schon an, sobald sie sich wieder allein sieht, ihre Laune an allem auszulassen, was sie unter die Hände bekommt? Muß sie sich nicht sogar in Gesellschaft die äußerste Gewalt antun, um ihren Unmut über sein Betragen gegen sie zu verbergen, wiewohl es so höflich ist, als eine gleichgültige Person nur immer verlangen kann? Ich schwöre dir, Zelolo, sie hat Augenblicke, wo sie sich in eine Tigerin verwandeln möchte, um mit Zähnen und Klauen über ihn herzufallen.«

»Wenn dies«, sagte Zelolo lachend, »ein Zeichen sein soll, daß sie ihn zu lieben anfängt, so gesteh ich, daß ich von der Liebe dieser Evenstöchter keinen Begriff habe.«

»Das möchte wohl wirklich der Fall bei dir sein, Zelolo. Indessen behaupte ich auch nicht, daß sie ihn bereits liebe. Alles, was ich für den Anfang wünschte, war bloß, daß Narcissus ihr nicht gleichgültig sein möchte. Von dem Augenblick an, da sie ihm zu zürnen anfing, ihn zu hassen, zu verabscheuen glaubte, war ich ruhig, und was ich bedaure, ist nur, daß diese Leidenschaften noch zu vorüberrauschend sind.«

»Ich besorge sehr, Narcissus wird sich an einer Liebe, die dem Haß so ähnlich sieht, nicht genügen lassen.«

»Dies ist seine und deine Sache, Zelolo; seht zu, wie ihr es weiter bei ihr bringen könnt!«

»Ernsthaft zu reden, Mahadufa, ich kenne keine Liebe, als die sich auf gegenseitige Hochschätzung gründet, und keine andre kann unsre Schützlinge von der Krankheit, nichts als sich selbst zu lieben, heilen. Alles, was in beider Gemüte, seitdem sie sich gesehen haben, vorging, ist weiter nichts als die bittre Frucht dieser kranken Selbstliebe; wie könnte sie die glückliche Veränderung bewirken helfen, die wir beabsichtigen?«

»Die Leidenschaften der Menschen«, versetzte die Perise, »scheinen mir ihrer Seele das zu sein, was die Fieber ihrem Körper. Die Natur sucht sich, durch diese stürmischen Bewegungen, eines zufälligen, aber beschwerlichen Übels zu entledigen, und es gelingt ihr meistens, wo nicht allemal, wenn Seele oder Körper noch jung, kräftig und in ihren wesentlichen Lebenswerkzeugen noch unverdorben sind. Da dies der Fall bei unsern Schützlingen ist, so habe ich gute Hoffnung, daß sie auf diesem Wege genesen werden. Sie konnten sich nicht sehen, ohne einander zu gefallen und sich gegenseitig anzuziehen. Aber die Foderungen der überspannten Selbstgefälligkeit fingen den elektrischen Funken auf; getäuschte Erwartungen, gekränkter Stolz, Ungeduld über ungewohnten Widerstand mußten endlich in diese quälenden Leidenschaften ausbrechen, welche, da sie ein bloßes Mißverständnis zur Nahrung haben, von keiner längern Dauer sein können als das Mißverständnis selbst.«

»Du meinst also«, sagte Zelolo, »alles müßte gut werden, wenn Narcissa und Narcissus wüßten, daß sie, allem widrigen Anschein zu Trotz, eine starke Neigung haben, einander zu lieben? Aber wie sollen sie sich davon überzeugen, solange die unsinnigen Foderungen der Eigenliebe sogar die bloße Annäherung zwischen ihnen unmöglich machen?«

»Ich begreife sehr wohl«, erwiderte Mahadufa, »wie dies möglich ist; aber ich gestehe, es wird Zeit erfodern, wofern ihnen nicht äußere Umstände zu Hülfe kommen.«

»Sollten wir nichts tun können«, sagte Zelolo, »um unvermerkt solche Umstände zu veranlassen, ohne daß wir darum ihrer Freiheit zu nahe treten müßten, was uns, wie du weißt, durch ein unverbrüchliches Gesetz verboten ist?"

»Mir schwebt so etwas vor, Zelolo, und es soll dir mitgeteilt werden, sobald ich selbst darüber im klaren bin.«

Hiemit trennten sich die beiden Geister abermals und ich kehre wieder zu meinen Selbstliebhabern zurück.

Narcissa war, ihren zu hoch gespannten Stolz (den sie freilich für bloßes Zartgefühl hielt) abgerechnet, ein edles, gutartiges und in jeder Betrachtung höchst liebenswürdiges Wesen. Die Fehler ihrer Erziehung hatten die schönen Anlagen der Natur in ihr wohl aufhalten und entstellen, aber nicht zerstören können, und selbst die Beschaffenheit ihrer Eigenliebe bewies, daß sie der edelsten Art von Liebe fähig sei. Denn sie hatte sich von der ersten Jugend an mit Eifer um alle die Eigenschaften und Vorzüge beworben, wodurch man wirklich liebenswürdig wird. Der Wunsch, liebenswürdig zu sein, schließt den Wunsch, geliebt zu werden, in sich; und ich wenigstens (sagte die Erzählerin dieser Geschichte) begreife nicht, wie man geliebt zu werden wünschen könne, ohne der Gegenliebe fähig zu sein. Eine unmäßige Eigenliebe, die Frucht einer unverständigen Erziehung, mit einem gerechten, aber zu hoch getriebenen Stolz verbunden, hatten ihr, bis zur Zeit ihrer Bekanntschaft mit Dagobert, den allerdings scheinbaren Ruf, daß sie nichts als sich selbst lieben könne, zugezogen; aber worauf hätte Mahadufa die Hoffnung, sie von dieser Krankheit durch Liebe heilen zu können, gründen wollen, wenn es nicht. auf die Gewißheit war, daß der Keim einer edlern Liebe in ihrem Busen liege? Diesen Keim hatte Dagobert zuerst belebt; und wie viele feindselige Mächte sich auch gegen die schwachen Lebensanfänge ihrer Liebe verschworen hatten, sie lebte fort, sie nahm unmerklich zu und wurde, in der Tat, durch die Leidenschaften selbst, die ihr den Tod zu dräuen schienen, nur immer mehr entwickelt, genährt und gestärkt. Diese Leidenschaften waren nämlich nicht so gar tigerartig, als Mahadufa (die sich, nach der Genien Weise, zuweilen stärker ausdrückte, als nötig war) uns vielleicht glauben machte. Narcissa war im Gegenteil von sanfter und fröhlicher Sinnesart, und wenn ja (was ihr selten begegnete) ein zornartiger Stoff in ihrem Gemüt aufbrausete, so ließ sie immer die erste Bewegung an irgendeinem zwar unschuldigen, aber wenigstens gefühllosen Dinge aus, und sogleich legte sich der Sturm, und das unbedeutende Opfer söhnte sie wieder mit der ganzen Welt aus. So viele Ursache sie auch zu haben glaubte, auf Dagoberten ungehalten zu sein, so ist doch mehr als wahrscheinlich, daß dieser Unmut, wenn er auch zuweilen in ein schnell vorüberrauschendes Ungewitter ausbrach, doch, unter gewissen Voraussetzungen, immer bereit war, sich in Liebe zu verwandeln. In der Tat überraschte sie sich nicht selten in einer sanft schwermütigen, sich selbst vergessenden Träumerei, wo ihre Seele mit stillem Wohlgefallen an seinem Bilde hing; und wenn es (wie die Perise sagte) Augenblicke gab, wo sie ihn hätte zerreißen mögen, so gab es deren noch mehr, wo sie, wäre er gekommen und hätte sich ihr zu Füßen geworfen und mit zwei großen Tropfen in seinen schönen Augen um Verzeihung zu ihr aufgeblickt, sich fähig gefühlt hätte, ihm ihre Hand zum Unterpfand der Versöhnung hinzureichen. Die Stunden, worin sie sich in dieser Stimmung befand, kamen immer öfter, so daß ihre Phantasie endlich Ernst aus der Sache machte und ihr in einem lebhaften und wohlzusammenhängenden Morgentraum jenen geheimen Wunsch ihres Herzens als etwas wirklich Geschehenes darstellte. Ob die Schutzgeister bei diesem an sich wenig bedeutenden, aber ihren Absichten sehr beförderlichen Ereignis geschäftig gewesen oder nicht, läßt sich nicht mit Gewißheit sagen; doch könnte das erstere um so eher vermutet werden, weil Narcissus, von ähnlichen Träumen angereizt, sich mehr als einmal so mächtig versucht fühlte, sie wahr zu machen, daß es wirklich geschehen wäre, wenn sein Stolz, hinter die Furcht, ihr einen gar zu großen Triumph über sich zu verschaffen, versteckt, ihn nicht noch mächtiger zurückgehalten hätte.

Um diese Zeit ereignete sich etwas, wovon zu erwarten war, daß das bisher so zweideutige und schwankende Verhältnis unsrer beiden Liebenden (wenn ich sie anders so nennen kann) aufs reine dadurch gebracht werden könnte.

Der Kaiser von Trapezunt hatte zur Verherrlichung eines Besuchs, womit er von seinem Großoheim, dem Kaiser Esplandian von Konstantinopel, beehrt wurde, ritterliche Kampfspiele ausgeschrieben, wozu alle namhafte Ritter in der Christenheit und im Heidenland eingeladen wurden. Trapezunt war noch nie so lebhaft und glänzend gewesen als während der Feste, die bei dieser Gelegenheit gegeben wurden; der Hof und die Stadt wimmelten von mannhaften Rittern und schönen Damen; aber ein Paar, das Dagoberten und Helianen den Vorzug hätte streitig machen können, ward nicht gefunden. jeder Höfling gestand, so laut man wollte, daß, nächst den beiden Kaiserinnen und ihren Töchtern, Enkelinnen und Basen – jeder Ritter, daß, nächst der Dame seines Herzens, Heliane über alle andern wie der Vollmond über die Sterne hervorglänze; die Damen hingegen – gestanden zwar auch, aber jede nur sich selbst, daß Dagobert ohne Ausnahme der schönste, mannhafteste und liebenswürdigste aller Ritter sei. Was Helianen betrifft, so hatte sie alle Ursache, mit dem allgemeinen und unzweideutigen Beifall vorliebzunehmen, den die Frauen ihr dadurch erteilten, daß sie – gar nichts von ihr sagten.

Da eine Beschreibung der besagten Feste und Spiele aus irgendeinem der fünfzig dicken Bände des Amadis aus Gallien und seiner Sippschaft zu borgen und meine gefälligen Zuhörer damit zu belangweiligen etwas ganz Unverantwortliches wäre, so begnüge ich mich zu sagen: daß für die verschiedenen Gattungen ritterlicher Spiele, wobei mehr als hundert Ritter auf dem Plan erschienen, auch verschiedene Preise ausgesetzt waren, daß Narcissa von den Kaiserinnen ernannt worden war, den Dank, den der Sieger im Lanzenstechen davontragen sollte, auszuteilen, und daß sie, bei einer so feierlichen Gelegenheit, nichts vergessen hatte, was den natürlichen Glanz ihrer majestätischen Schönheit bis zum Verblenden erhöhen konnte.

Dagobert, welcher ihr (im Vorbeigehen gesagt) seit einigen Tagen mit einer ihm ungewöhnlichen zarten Ehrerbietung begegnete, die ihr nicht unbemerkt bleiben konnte, erschien vor den Schranken in einer Rüstung von weißem Schmelz, mit Gold eingelegt; auf seinem hellgeglätteten silbernen Schilde waren in goldnen Buchstaben die Worte »Für die Ungenannte« zu lesen, und ein Herold forderte in seinem Namen alle diejenigen heraus, welche nicht bekennen wollten, daß diese ungenannte Beherrscherin seines Herzens die Schönste aller Schönen sei. Dreißig junge Ritter, von welchen jeder unter den gegenwärtigen Frauen oder Jungfrauen eine Gebieterin hatte, deren erklärter Dienstmann er zu sein stolz war, fanden sich durch diesen Aufruf herausgefordert, und Dagobert-Narcissus hatte also keine andre Wahl, als entweder dreißig wackere Ritter einen nach dem andern aus dem Sattel zu heben oder als ein windiger Prahler von mehr als hunderttausend Zuschauern mit Schimpf und Spott aus der Rennbahn hinausgelacht zu werden. Das Wagestück wär eines Paladins von Karl dem Großen würdig gewesen; und wiewohl er die Wünsche aller Zuschauer, welche gewöhnlich den Verwegensten begünstigen, auf seiner Seite hatte, so waren doch wenige, die sich auf ihn zu wetten getrauten, und das Herzklopfen der Frauen und Jungfrauen nahm mit jeder neuen Lanze, die er brach, überhand. Indessen, sei es nun, daß seine eigene Stärke und Gewandtheit alles tat oder daß unsichtbare Arme die seinigen stärkten, genug, er hatte bereits neunundzwanzig Gegenkämpfer zur Erde geworfen, und es war nur noch einer, aber seinem Ansehen nach der furchtbarste von allen, übrig, der ihm den Preis für neunundzwanzig Siege durch einen einzigen zu entreißen drohte.

Narcissa, wiewohl durch die Ungewißheit, ob sie selbst oder eine andere die Ungenannte sei, nicht wenig beleidigt, konnte sich doch nicht erwehren, einen wärmern Anteil, als sie sich selbst gern gestehen wollte, an demjenigen zu nehmen, der das Feld gegen alle, die es mit ihm aufnahmen, so ritterlich bisher behauptet hatte; und man wollte beobachtet haben, daß eine glühende Röte sich plötzlich über ihr Gesicht und ihren Busen ergoß, als der schöne Dagobert auch den dreißigsten, unsanfter als alle vorigen, zu Boden legte und nun allein mit emporgehobener Lanze in den Schranken stand, sich umsehend, ob noch jemand Lust habe, ihm die wohlerworbene Krone streitig zu machen.

Aber wie groß war seine Bestürzung und Helianens Erstaunen, als ein gewaltiger Ritter in einer ganz goldnen, über und über von Edelsteinen blitzenden Rüstung in die Schranken ritt und ihn aufforderte, entweder die ungenannte Dame seines Herzens zu nennen oder zu gestehen, daß sie mit der schönen Heliane in keine Vergleichung kommen könne.

Jedermann wurde gewahr, daß der Prinz durch diese Aufforderung in Verlegenheit geriet und eine gute Weile unentschlossen stand, die Augen bald auf das Prachtgerüste heftend, wo Narcissa, als Austeilerin des Danks, zu den Füßen der beiden Kaiserinnen saß, bald einen gramvollen Blick auf den unbekannten Ritter schießend, der mit großer Gelassenheit erwartete, wozu sich der weiße Ritter entschließen würde. "Soll ich mir", dachte Narcissus, "von einem Nebenbuhler, wie es scheint, den Namen meiner Ungenannten abtrotzen lassen? Kann ich es mit Ehre? Oder ist es vielleicht Heliane selbst, die mir diesen Beschwerlichen über den Hals geschickt hat? Erkläre ich mich, wenn ich mit ihm kämpfe, nicht öffentlich gegen sie, und ist nicht die Belohnung meines Sieges über die dreißig verloren, ich mag überwinden und überwunden werden?"

Diese Gedanken fuhren wie Blitze durch seinen Kopf, aber er hatte keine Zeit, sich lange zu bedenken. »Ich nehme«, sprach er, so laut, daß es alle Welt hören konnte, zu dem Unbekannten, »ich nehme deine Ausforderung unter der Bedingung an, daß ich, wenn ich dich aus dem Sattel werfe, den Namen meiner Ungenannten ihr selbst nennen will; streckst du aber mich zu Boden, so soll ihn weder ein Sterblicher noch ein Gott aus meinem Busen reißen.«

Nach dieser Erklärung, die der Fremde sich gefallen ließ, nahmen beide ihren Stand und sprengten mit eingelegten Lanzen gegeneinander. Die Lanzen brachen, aber die Ritter blieben fest im Sattel, und nachdem sie sich frische Lanzen geben lassen, rennten sie zum zweitenmal. Die Lanzen zersplitterten abermals, und Dagobert erhielt sich mit der höchsten Anstrengung noch kaum im Steigbügel; aber beim dritten Ritt raffte er alles, was ihm von Kraft noch übrig war, zusammen und hob seinen Gegner so gewaltig aus dem Sattel, daß er über zwanzig Schritte weit hinausflog und dem Ansehn nach einen sehr gefährlichen Fall getan haben mußte. Dagobert sprang von seinem Roß, um dem Gefallenen zu Hülfe zu eilen; aber dieser hatte sich schon wieder, so leicht, als ob ihm nichts geschehen wäre, in den Sattel eines andern für ihn bereitstehenden Pferdes geschwungen, ritt in vollem Sprung aus den Schranken und ließ sich nicht wieder sehen.

Ein jauchzendes Siegesgeschrei des unzähligen Volks, das sich Kopf an Kopf um die Schranken her drängte, begleitete nun den von seinem Abenteuer noch verwirrten Sieger zu den Füßen der schönen, nicht weniger betroffnen Narcissa-Heliane, die, in einer seltsamen Schwebe zwischen ihrem Stolz und ihrem Herzen, nicht Zeit hatte, zum Entschluß zu kommen, ob sie ihm Kaltsinn oder Teilnahme in ihren Augen zeigen sollte. Vermutlich würde das Herz die Oberhand behalten haben, wenn sie nicht in dem Blicke, womit der Prinz, indem er sich vor ihr aufs rechte Knie niederließ, ihre Augen bis auf den Grund zu durchforschen schien, den Triumph eines seiner Sache schon gewissen Siegers zu sehen geglaubt hätte. »Darf ich mir schmeicheln«, sagte er, »daß die schöne Heliane keinen Augenblick zweifelte, wer die Ungenannte sei, die allein mich in einunddreißig Kämpfen zum Sieger machen konnte?«

»Empfanget, edler Ritter«, antwortete Narcissa, indem sie ihm den Dank (eine aus goldnen Lorbeerblättern zierlich gewundne und mit Perlenschnüren durchflochtene Krone) aufsetzte, »mit meinem Glückwunsch den Preis Euer Tapferkeit, und trauet mir soviel Bescheidenheit zu, ein Geheimnis, wofür Ihr soviel wagtet, weder erraten noch erforschen zu wollen.«

Sie sagte dies mit einem Blick und einem Lächeln, die ihren Worten mehr als die Hälfte von ihrer Bitterkeit benehmen sollten; aber auf den stolzen Narcissus wirkte beides das Gegenteil; der sanfte Blick und das holde Lächeln schienen ihm die Verachtung noch durch Hohn zu schärfen. Er raffte sich hastig auf, warf einen Blick, der bloß zürnen sollte, aber seinen Schmerz nicht verhehlen konnte, auf Narcissen und entfernte sich von ihr mit einer tiefen Verbeugung, wie einer, der nicht wiederzukommen gesonnen ist.

Daß übrigens von dem goldnen Ritter, den niemand kennen wollte, und von seinem ebenso plötzlichen Erscheinen als Verschwinden bei Hof und in der Stadt etliche Tage lang viel gesprochen, vermutet und gestritten wurde, ist leicht zu erachten. Da man aber immer weniger von der Sache begriff, je mehr man sie auf alle Seiten kehrte, so blieb die allgemeine Meinung endlich bei der Voraussetzung stehen, es sei ein von Helianen angestellter Handel gewesen, um dem Prinzen eine Erklärung abzunötigen, zu welcher er, aus Ursachen, die er selbst am besten wissen müsse, sich nicht entschließen zu können scheine.

Sobald unsre Selbstliebhaber sich wieder allein sahen, fand sich, daß sie mit ihrem geliebten Selbst noch weniger zufrieden waren als eines mit dem andern. Dagobert machte sich Vorwürfe, daß er, anstatt Helianen öffentlich für seine Dame zu erklären, es darauf habe ankommen lassen, ob sie sich in der Ungenannten erkennen werde; und wie sehr er sich auch durch ihre unbezwingbare Gleichgültigkeit beleidigt fühlte, so waren doch die Augenblicke die häufigsten, worin er sie entschuldigte, ja sogar rechtfertigte, und gegen sich selbst behauptete, sie habe sich ohne Verletzung alles Zartgefühls nicht anders benehmen können. Narcissa hingegen zürnte über sich selbst, daß sie seine Erklärung bei Empfang des Preises in einem Ton beantwortet hatte, der, wofern er sie wirklich liebte, sein Herz empfindlich kränken und, falls die Liebe seinen Stolz noch nicht völlig überwältigt hatte, für eine förmliche Abweisung aufgenommen werden mußte. Beide glaubten also einander eine Art von Genugtuung schuldig zu sein, nur war die Schwierigkeit, wie dies geschehen könne, ohne vielleicht einen Schritt zuviel zu tun und das, was jedes sich selbst schuldig zu sein glaubte, auf ein ungewisses Spiel zu setzen.

Diese Bedenklichkeiten eines übertriebenen Zartgefühls gaben ihrem gegenseitigem Betragen eine Miene von zwangvoller Unschlüssigkeit zwischen Annäherung und Zurückhaltung. Sie beobachteten einander mit einer Art von mißtrauischer Teilnahme, welcher kein Blick, keine noch so leise vorübergehende Veränderung der Gesichtszüge entwischte, die aber immer geneigt war, etwas Zweideutiges zu sehen, und immer zweifelhaft, von welcher Seite sie es nehmen sollte. Das Peinliche eines solchen Verhältnisses brachte sie nicht selten in einem Anfall von Ungeduld zum Entschluß, es gänzlich abzubrechen; aber bei jedem Versuch überzeugten sie sich stärker von der Unmöglichkeit der Ausführung. Siegen oder sterben schien itzt beider Wahlspruch zu sein; und wer kann sagen, wie lange diese seltsame Art, die Liebe wie einen Zweikampf auf Leben und Tod zu behandeln, noch hätte dauern und welche Folgen sie wenigstens für die zärter gebaute Heliane hätte haben können, wenn ihr Verhältnis nicht durch eine zufällige Begebenheit eine andere Wendung bekommen hätte.

Nicht lange nachdem in Trapezunt alles wieder seinen gewöhnlichen Gang zu gehen begonnen hatte, traf ein Fremder daselbst ein, der in kurzer Zeit die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er kam, seinem Vorgeben nach, aus einem so weit entfernten Lande, daß dessen Name schwerlich jemals zu Trapezunt gehört worden war; und weil sein eigener etwas schwer auszusprechen sei, sagte er, so habe er ihn ins Griechische übersetzt und nenne sich dermalen Sophranor sowie seine ihn begleitende Schwester Euphrasia. Da sie sich einige Zeit zu Trapezunt aufzuhalten und auf einem ziemlich großen Fuß zu leben gesonnen waren, so mietete Sophranor einen der schönsten Paläste der Stadt, nahm zu dem Gefolge, so er mitgebracht, noch eine Menge Hausbediente aller Arten an und richtete sich in allem so ein, als ob er immer dazubleiben gedächte.

Beide, Sophranor und seine Schwester, hatten in Gestalt und Anstand etwas zugleich Anziehendes und Ehrfurchtgebietendes; und da sie ein prächtiges Haus machten und (was, in ihrem Falle, das wesentlichste ist) alles bar und ohne zu handeln in gutem blankem Golde bezahlten, so wurde ohne weiteres Nachforschen angenommen, daß sie unfehlbar Personen von großer Bedeutung sein müßten; was sie denn auch um so mehr wurden, da sie sich mit einem Geheimnis umgaben, welches immer die Hoffnung irgendeiner wichtigen Entdeckung oder Entwicklung übrigließ. Alle Abende versammelte sich bei Euphrasien eine Gesellschaft, die aus allem, was der Hof und die Stadt Ausgezeichnetes hatte, bestand und in verschiedenen Sälen und Zimmern aufs angenehmste unterhalten wurde.

Euphrasia schien eine Person von dreißig Jahren zu sein, keine eigentliche Schönheit; aber in ihrem Wuchs und Anstand war etwas, das an Majestät grenzte, und in ihrer Gesichtsbildung und ihrem Auge so viel Geist, Anmut und Ausdruck, daß nur wenige, die auf den Apfel des Paris hätten Anspruch machen können, innern Wert genug besaßen, um neben ihr bemerkt zu werden. Es fiel sehr bald in die Augen, daß es nur auf sie angekommen wäre, sich aller Männerherzen in Trapezunt zu bemächtigen und alle Weiber zur Verzweiflung zu bringen; aber man überzeugte sich auch ebenso bald, daß sie nichts weniger im Sinne habe, als die Rolle einer Ruhestörerin zu spielen. Sie schien vielmehr einen unsichtbaren Zauberkreis um sich her gezogen zu haben, an dessen Rande die Männer alle, gern oder ungern, stehenbleiben mußten; und während sie allen, die den Zutritt in ihre Abendversammlungen hatten, mit gleicher Achtung und Artigkeit begegnete, war keiner, der sich der geringsten Auszeichnung rühmen konnte, welche nicht auf unbestrittene Vorzüge des Geistes und des sittlichen Charakters gegründet gewesen wäre.

Durch dieses Benehmen erwarb sich Euphrasia – was so selten ist – zu gleicher Zeit mit der Zuneigung und dem Vertrauen ihres eigenen Geschlechts die Hochachtung des andern und erhielt dadurch die stillschweigende Erlaubnis, so liebenswürdig zu sein, als sie wollte, ohne durch Vorzüge, deren sie sich nicht bewußt schien, die Eifersucht des einen Geschlechts zu reizen oder vergebliche Hoffnungen in dem andern zu erregen.

Weil die Abendgesellschaften in Sophranors Hause von niemand, der zur großen Welt in Trapezunt gehörte oder sich dazu rechnete, unbesucht blieben, so fanden sich auch Narcissus und Narcissa dabei ein, und in ziemlich kurzer Zeit schien jener an Sophranorn und diese an Euphrasien so viel Anziehendes zu finden, daß sie jeden Tag für verloren schätzten, von welchem sie nicht einen großen Teil in ihrem Umgang zugebracht hatten. Sophranor, dem Ansehn nach wenig älter als seine Schwester, heitern und lebhaften Geistes, wiewohl mit einem Ansatz von stiller Melancholie, der vielleicht Ursache war, warum er in den Zirkeln seiner Schwester meistens nur erschien, um wieder zu verschwinden, Sophranor besaß tausend Vorzüge, wodurch sein Umgang einem fürstlichen Jüngling wie Dagobert ebenso nützlich als angenehm sein mußte. Er redete beinahe alle Sprachen, war in allen Wissenschaften bewandert, mit allem, was Kunst heißt, bekannt, hatte alles gesehen, was auf dem ganzen Erdboden sehenswürdig ist, und auf seinen Reisen einen so großen Schatz von seltnen Natur- und Kunsterzeugnissen gesammelt, daß beinahe sein ganzer Palast damit angefüllt war. Die Wißbegierde des von Natur edeln Jünglings fand also hier so reiche Nahrung, und so manche Morgen- und Abendstunden wurden zwischen ihm, Sophranorn und einigen andern einheimischen oder fremden Männern von nicht gemeinem Verdienst mit lehrreichen Unterhaltungen zugebracht, daß Narcissus, indem er so vieles, was ihm fehlte, und so viele, die ihn an innerm Wert übertrafen, kennenlernte, unvermerkt einen großen Teil des sich zu laut ankündenden und übermäßigen Gefühls seiner Vorzüge verlor oder, um alles mit einem Worte zu sagen, täglich immer weniger Narcissus wurde.

Bei der schönen Narcissa, für welche Euphrasiens hohe und eben darum so anspruchlose Liebenswürdigkeit eine ganz neue Erscheinung war, wirkte der immer vertrautere Umgang mit einer so seltnen Frau ebendieselbe glückliche Veränderung noch schneller. Ihr war, als ob sich ein ganz neuer Sinn für das wahre Schöne und Gute in ihrer Seele auftue, ein Sinn, der bisher geschlummert hatte oder von Wahnbegriffen, Eitelkeit und einer alles bloß auf das unechte Selbst beziehenden Vorstellungsart übertäubt worden war. So wie ihre Anhänglichkeit an Euphrasia zunahm, nahm ihr bisheriges Wohlgefallen an ihr selbst ab; anstatt sich immer in ihrem eignen Bilde zu bespiegeln, verglich sie sich mit ihrer soviel vollkommnern Freundin; und statt stolz darauf zu sein oder nur an sich selbst gewahr zu werden, daß sie ihr täglich ähnlicher wurde, sah sie mit jedem Tage heller, wieviel ihr noch fehle, um der guten Meinung, welche Euphrasia von ihr zu hegen schien, würdig zu sein. Kurz, sie nahm es immer genauer mit sich selbst und errötete, wenn sie sich bei irgendeiner Anmaßung, einem erkünstelten Gefühlsausdruck, oder was sie etwa sonst des bloßen Scheinens wegen gesagt oder getan hatte, ertappte, beinahe ebensosehr, als wenn sie von tausend fremden Augen bei einer schlechten Handlung überrascht worden wäre. Euphrasia wußte, ohne den geringsten Zwang und ohne sich jemals die Miene einer Lehrerin oder Aufseherin zu geben, jeden Anlaß zu benutzen, wo sie auf den Verstand oder das Gemüt ihrer jungen Freundin wohltätig wirken konnte, nicht indem sie ihre eigene Begriffe und Gesinnungen gleichsam in sie hineinschob, sondern indem sie bloß mit leichter Hand und unvermerkt alles wegräumte, was Helianen bisher verhindert hatte, auf die Stimme ihres eigenen Herzens zu lauschen und seinen reinsten Trieben und Gefühlen zu gehorchen.

Während Heliane und Dagobert, von ihren neuen Freunden täglich mehr bezaubert, sich solchergestalt in ihrem Umgang und durch ihr Beispiel von den Fehlern einer verkehrten Erziehung reinigten, hätte jedermann, nach den äußerlichen Anscheinungen zu urteilen, glauben müssen, das seltsame Verhältnis, worein sie seit dem Abenteuer des Lanzenstechens geraten waren, habe sich endlich in eine entschiedene Gleichgültigkeit aufgelöst. Sie sahen einander zwar alle Tage, wiewohl nie anders als in großer oder wenigstens in Euphrasiens Gesellschaft, schienen aber da so unbefangen und hatten einander so wenig Besonderes zu sagen, daß man deutlich zu sehen glaubte, sie würden sich nicht mehr zu sagen haben, wenn sie sich bloß selbander sähen. Allein das Wahre an der Sache war, daß der lebenskräftige, obschon noch unentfaltete Keim der Liebe, seitdem er von Stolz und Selbstsucht nicht mehr angefochten wurde, sich so tief in ihr Inneres eingesenkt hatte, daß er von ihnen selbst nicht mehr gespürt wurde, aber, während er seine zarten Wurzeln im verborgenen um alle Fasern ihres Herzens schlang, in kurzem nur desto kräftiger und fröhlicher aufschoß, um zu einer der schönsten Blumen zu werden, die jemals in den Gärten der Grazien blühten.

Helfen Sie mir nur getrost lachen, sagte Rosalinde, indem sie sich selbst lachend unterbrach, über diesen plötzlichen Anfall von Schönrednerei, eine arme unschuldige Metapher zu einer vollständigen zierlichen Allegorie aufzublasen. – Es soll mir nicht wieder begegnen! Ich falle sogleich, wie sich's gebührt, in meinen natürlichen Ton zurück und sage in guter Prose: Es war wohl nicht anders möglich, als daß der tägliche Umgang mit Sophranorn und Euphrasien die auf beständigem Anschauen beruhende Überzeugung in Dagoberten und Helianen hervorbringen mußte, daß wahre Liebenswürdigkeit, auf wahres Verdienst gegründet, ihrer Natur nach bescheiden und anspruchlos ist; und wie hätte diese innige Überzeugung durch eine natürliche Folge nicht auch sie immer bescheidener in ihrer Meinung von sich selbst, immer gemäßigter in ihren Forderungen an andere und, sobald sie dieses waren, auch geschickter und geneigter machen sollen, jedes die Vorzüge des andern zu sehen, zu schätzen und ohne mißtrauisches, eifersüchtiges Abmessen und Abwägen, ob man nicht einen Schritt zuviel tue oder ob das andere nicht mehr von uns empfange als wir von ihm, sich bloß dem reinen Eindruck, den das Liebenswürdige auf unsre Seele macht, zu überlassen.

Das alles entwickelte sich itzt so leicht und natürlich aus einander, daß sie, anstatt über die Veränderung ihrer ehemaligen Sinnesart betroffen zu sein, sich vielmehr wunderten, wie es möglich gewesen, alle die liebenswürdigen Eigenschaften, welche sie itzt täglich aneinander entdeckten, so lange zu übersehen oder zu verkennen. Sie sahen sich itzt öfters allein und näherten sich einander immer mit dem Zutrauen, welches die Gewißheit zu gefallen voraussetzt, ohne sie anzukündigen. Ihre Gespräche waren zwangfrei, lebhaft und geistreich; an Stoff konnte es so gebildeten Personen, als beide waren, in einem Hause wie Sophranors nie gebrechen; aber, wovon auch die Rede sein mochte, Dagobert wußte ihm eine begeisternde Seite abzugewinnen, und nie wurden wohl, ohne das Wort Liebe jemals zu nennen, mehr in alle mögliche Gestalten und Einkleidungen vermummte Liebeserklärungen getan und ohne Verlegenheit oder Ziererei mit einem feinern Zartgefühl beantwortet als diejenigen, wovon Zelolo und Mahadufa täglich, wenn sie wollten, in den Gärten Sophranors Zeugen sein konnten.

Inzwischen war die Vertraulichkeit zwischen Sophranor, seiner Schwester und unsern Liebenden auf einen so hohen Grad gestiegen, daß jene sich nicht länger entbrechen konnten, aus dem Geheimnis, worein sie ihren Stand und die Ursache ihres Aufenthalts in Trapezunt allen andern verbargen, für ihre jungen Freunde herauszutreten.

Ein reizender Sommermorgen hatte sie einzeln in die Gärten herabgelockt und alle vier bei einem kleinen, mit Rosen- und Myrtenbüschen umgebenen Tempel, Amorn und Psychen gewidmet, zusammentreffen lassen, wo sie sich auf einer Moosbank dem lieblichsten aller griechischen Dichterbilder gegenüber niederließen. Alle vier waren von der Schönheit des Morgens, der Anmut des Orts und dem Vergnügen, sich ohne Abrede gerade hier, wo alles Liebe und Ruhe atmete, zusammengefunden zu haben, in eine sonderbare Stimmung versetzt. Eine gute Weile waren ihre mit Wohlgefallen aufeinander ruhenden Blicke die einzigen Ableiter ihrer Empfindungen; sie fühlten zuviel, um Worte zu machen, und doch war es, als ob auf allen Lippen ein Geheimnis schwebte, das sich nicht länger verbergen lassen wollte und jeden Mund, gleich einer vollen, vom innern Drang aufberstenden Nelkenknospe, mit Gewalt zu sprengen schien.

Sophranor konnte keinen günstigern Augenblick wählen. »Es ist Zeit, meine liebenswürdige junge Freunde«, sagte er, »daß wir euch entdecken, wer wir sind und was uns bewogen hat, uns so lange an diesem fremden Orte aufzuhalten.

Wir sind aus der heiligen Stadt Balkh im Khorasan gebürtig und als Parsen oder Gebern (wie uns die rohen und unduldsamen Anhänger Muhammeds nennen) in der uralten Religion erzogen, welche das Feuer, die Quelle des Lichts und der Wärme, als das reinste Sinnbild des ewigen und unergründlichen Urwesens, verehrt. Unsre Seele, als einen Funken jener allbelebenden, aber nur dem reinsten Geistesauge sichtbaren allgemeinen Sonne des unermeßlichen Weltalls, von allen Befleckungen tierischer Begierden und stürmischer Leidenschaften rein zu erhalten ist der Inbegriff aller Pflichten, zu welchen wir von Kindheit an, mehr durch Angewöhnung als mühsamen Unterricht, angehalten werden. Jede Leidenschaft wird in einem jungen Parsen gleich im ersten Aufbrausen erstickt, und er lernt kaum eher aufrecht gehen und vernehmliche Worte aussprechen als seine Naturtriebe mäßigen, seinen Gelüsten Gewalt antun, seinen Zorn bändigen und seinen liebsten Wünschen Stillschweigen gebieten.

In diesem Geiste wurden auch wir erzogen, und ich schmeichle weder meiner Schwester noch mir selbst, hoffe ich, zuviel, wenn ich hinzusetze, wir machten unsern Erziehern die Arbeit nicht schwer. Die angeborne innige Sympathie, die uns vereinigt, zeigte sich schon in der ersten Frühe des Lebens. Kaum konnten wir unsre kleinen Arme aus- strecken, so streckten wir sie gegeneinander aus, kaum die ersten Silben stammeln, so stammelten wir einander unsere Liebe zu. Diese hielt nun mit dem Wachstum des Körpers gleichen Schritt; sobald wir gehen und reden konnten, waren wir unzertrennlich und kannten keinen Genuß, woran das andere nicht seinen Anteil hatte. Schon als ein Knabe von drei oder vier Jahren war ich für einen Schmerz, den meine Kantsadeh (dies ist der persische Name meiner Schwester) ausstehen mußte, viel empfindlicher als für meine eigenen und wußte von keinem größern Vergnügen, als etwas für sie zu leiden oder irgendeine Arbeit für sie zu verrichten; aber beides wurde mir nur selten zuteil, weil Kantsadeh ebendieselben Gesinnungen für mich hatte und immer nur darauf dachte, mir etwas zulieb zu tun oder etwas Unangenehmes von mir zu entfernen.

Unser Vater sah leicht vorher, wohin das alles führen würde, und sah es mit Vergnügen; denn die Ehe zwischen Bruder und Schwester ist bei uns nicht nur erlaubt, sondern wird als die reinste und heiligste aller ehlichen Verbindungen angesehen. Als wir uns aber den Jahren näherten, wo der Naturtrieb, den die Liebe zwar reinigt und adelt, der aber von den meisten sehr irrig mit ihr verwechselt wird, sich stärker zu äußern beginnt, hielt unser Vater, welcher in den tiefsten Geheimnissen der Magie des großen Zerdusht eingeweiht war, für nötig, die Sterne über unsere künftigen Schicksale zu befragen. Er stellte also unser Horoskop und erhielt die Antwort: daß unsre Liebe von einem feindseligen Geiste bedrohet werde und eine engere Verbindung unfehlbar großes Unglück über uns bringen würde. Er säumte sich nicht, uns diesen strengen Schluß des Schicksals anzukünden, und erhielt, vermöge der hohen Ehrfurcht, die wir für ihn fühlten, von so lenksamen Kindern, als wir waren, ohne große Mühe eine mit den heiligsten Schwüren bekräftigte Zusage, daß wir in jungfräulicher Reinigkeit und Zurückhaltung beisammen leben und auf jede nähere Vereinigung auf immer Verzicht tun wollten, wofern er nicht vielleicht in seinen erhabenen Wissenschaften ein Mittel, das angedrohte Unglück von uns abzuwenden, entdecken würde. Ich gestehe, daß ich mir nicht verwehren kann zu denken, die Sterne könnten unsers guten Vaters gespottet und gerade das Unglück und kein anderes gemeint haben, das er durch das Mittel über uns brachte, wodurch er uns den Streichen des Schicksals zu entziehen hoffte. Sein guter Wille gegen uns und sein Glaube an die Mysterien der Magie waren indessen so groß, daß er Tag und Nacht keine Ruhe hatte, bis er endlich herausbrachte: der Dämon, der unsre Liebe verfolge, werde alle seine Gewalt über uns verlieren, sobald wir noch zwei Liebende, die, anstatt (wie gewöhnlich) im andern nur sich selbst zu lieben, sich selbst nur im andern liebten, gefunden haben würden. Diese Bedingung schien uns, einer zweifachen Schwierigkeit wegen, wenig oder keine Hoffnung zu lassen; denn, wofern auch auf dem ganzen Erdenrund noch ein Paar so rein liebende Sterbliche atmeten, was für ein Mittel hatten wir, es zu entdecken?

Unser Vater, von seiner Liebe zu uns angespornt, verwandte sieben ganzer Jahre auf die Erfindung eines solchen Mittels und brachte endlich durch den hartnäckigsten Fleiß einen talismanischen Spiegel zustande, der die wunderbare Tugend besitzt, reine Liebe von verkappter Eigenliebe durch ein untrügliches Zeichen zu unterscheiden.«

»Und dieses Zeichen?« unterbrach ihn Dagobert, mit einer Unruhe, welche deutlich genug verriet, wie nahe seine Frage ihn selbst angehe.

»Wenn du Lust hast, es durch dich selbst zu erfahren«, erwiderte Sophranor lächelnd, »so gehen wir unverzüglich in den Saal, der mit den Schilderungen aller wahren und getreuen Liebhaber, die uns Fabel und Geschichte kennen lehrt, geziert ist, und du hast nichts weiter zu tun, als in ebendenselben Spiegel hineinzuschauen, worin du dich, wie ich wohl den Spiegel selbst wetten wollte, gewiß schon mehr als einmal besehen hast.« Dagobert und Heliane erröteten beide bei diesen Worten bis an die Fingerspitzen, und Sophranor, ohne daß er es wahrzunehmen schien, fuhr in seiner Erzählung fort.

»Solange jemand in der Person, die er zu lieben vermeint oder vorgibt, nur sich selbst liebt, könnt er sein ganzes Leben durch in diesen Spiegel hineinschauen, er würde nie etwas anders sehen als sich selbst; aber sobald das, was er für sie fühlt, reine Liebe ist, sieht ihm, statt seiner eigenen Gestalt, das Bild der geliebten Person entgegen. Dieser magische Spiegel war das letzte Werk unsers Vaters, und als er sich kurz darauf seinem Ende nahe fühlte, befahl er uns: sobald wir ihm die letzte Pflicht erstattet hätten, Khorasan zu verlassen und so lange von einer großen Stadt zur andern zu reisen, bis wir endlich diejenigen gefunden haben würden, denen die Macht verliehen sei, den Bann, der auf unsrer Liebe liege, aufzulösen. Es sind nun bereits zehn Jahre, seitdem wir, diesem Befehl zufolge, in der Welt umherschweifen, ohne gefunden zu haben, was wir, in der Tat mit wenig Hoffnung, suchten; bis uns endlich ein Traumgesicht in der berühmten Kaiserstadt Trapezunt das Ende unserer Wanderungen und die seligste Umwandlung unsers Schicksals versprach. Wir gehorchten, wie ihr sehet, diesem Traum, und es wird sich nun bald zeigen müssen, ob er uns getäuscht oder die Wahrheit gesagt hat.«

Dagobert und Heliane fanden diese Geschichte wunderbar genug, aber doch nicht wunderbarer als die Personen dieser außerordentlichen Geschwister. Beide fühlten ein ungeduldiges Verlangen, den talismanischen Spiegel, in welchen keines von ihnen seit mehr als zehen Tagen gesehen hatte, nun, da ihnen seine Wundertugend entdeckt worden war, genauer in Augenschein zu nehmen; aber ein Rest von falscher Scham (wenn wir es nicht lieber mit ihnen Zartgefühl nennen wollen) hielt sie zurück, dieses Verlangen laut werden zu lassen.

Indessen kehrte die kleine Gesellschaft, Euphrasia an Dagoberts, Heliane an Sophranors Arm, unvermerkt in den Palast zurück, und ebenso unvermerkt befanden sich alle vier in dem Saal der wahren Liebenden.

Dabobert und Heliane besahen mit großer, wiewohl etwas zerstreuter Aufmerksamkeit die schon oft betrachteten Gemälde und baten Sophranorn bald um diese, bald um jene Erklärung, ohne daß sie den Mut hatten, einander anzusehen, geschweige einen verstohlnen Blick in den Spiegel zu tun; und Sophranor wiederholte mit der größten Gefälligkeit, was über die Gegenstände dieser Gemälde, über die Kunst der Ausführung und über die Künstler selbst zu sagen war.

Aber welcher Sterbliche kann seinem Schicksal entgehen?