Roth - Schattenmann - Gerlinde Friewald - E-Book

Roth - Schattenmann E-Book

Gerlinde Friewald

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Beschreibung

Eine verschwundene Frau, eine alte Liebe, ein perfider Mord.

Trotz Bedenken übernimmt der renommierte Berliner Privatdetektiv Konstantin Roth, eigentlich spezialisiert auf Wirtschaftskriminalität, den lukrativen Auftrag, Hinweise auf den Verbleib von Thomas Sommerfels' Nichte Anna zu finden.

Dass ihn dieser Weg nicht nur zu einem furchtbaren Verbrechen führt, sondern auch in seine eigene Vergangenheit, ahnt Konstantin noch nicht. Als sich das Netz immer weiter zuzieht, gerät Konstantin selbst in Gefahr ...

Ein hochspannender Thriller, in dem nichts ist, wie es zu sein scheint von Bestsellerautorin Gerlinde Friewald.

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Über das Buch

Eine verschwundene Frau, eine alte Liebe, ein perfider Mord.

Trotz Bedenken übernimmt der renommierte Berliner Privatdetektiv Konstantin Roth, eigentlich spezialisiert auf Wirtschaftskriminalität, den lukrativen Auftrag, Hinweise auf den Verbleib von Thomas Sommerfels' Nichte Anna zu finden.

Dass ihn dieser Weg nicht nur zu einem furchtbaren Verbrechen führt, sondern auch in seine eigene Vergangenheit, ahnt Konstantin noch nicht. Als sich das Netz immer weiter zuzieht, gerät Konstantin selbst in Gefahr …

Ein hochspannender Thriller, in dem nichts ist, wie es zu sein scheint.

Über Gerlinde Friewald

Die Passion für Literatur begleitet die deutsch-österreichische Bestsellerautorin Gerlinde Friewald seit ihrer Kindheit, die sie im Süden Wiens in Österreich verbrachte. Leserinnen und Leser begeistert Gerlinde Friewald mit spannungsgeladenen Inhalten, facettenreichen Figuren und einer feingezeichneten Sprache. ROTH-Schattenmann ist ihr Debüt–Thriller. Mit ihm erfüllt sie sich den Traum eines vielschichtigen Romans, der diesen Anspruch auf Hochspannung, große Figuren und besondere Sprache in jeder Hinsicht ausschöpft. Unter dem Pseudonym Olivia Anderson vereint Gerlinde Friewald ihre Leidenschaft für Geschichten über Liebe und Freundschaft sowie ferne Länder, die ihr ans Herz gewachsen sind. Als Dozentin für Kreatives Schreiben gibt sie ihr Wissen weiter. Gerlinde Friewald lebt heute mit ihrer Familie wieder im Süden Wiens.

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Gerlinde Friewald

Roth – Schattenmann

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Kapitel 37

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Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Impressum

Kapitel 1

Julia

Mit gespreizten Fingern strich sie sich über den gewölbten Bauch. Selbst nach Monaten hatte sie noch nicht verwunden, was man ihr angetan hatte. Dachte sie daran, rebellierte ihr Magen, und die aufsteigende Säure verätzte ihre Kehle.

Zunächst war sie verzweifelt gewesen und hatte sogar versucht, das winzige, verhasste Ding aus sich herauszupressen. Als sich das Kind in ihr jedoch zum ersten Mal bewegt hatte, war eine überraschende Wandlung vonstattengegangen. Mit dem Begriff »Muttergefühle« hatte Julia nie etwas anfangen können. Jetzt verstand sie ihn nicht nur, sie verinnerlichte ihn. Ohne diesen kleinen Jungen leibhaftig gesehen und berührt zu haben, liebte sie ihn, und es war ihre Pflicht, ihn zu beschützen. Er trug keine Schuld an der Tat, die an ihr verübt worden war.

Durch den Stoff des dünnen Baumwollgewands spürte sie den Nabel, der sich seit einigen Wochen wölbte, und die Wulst einer gezackten Narbe. Bis heute war die Erinnerung verschwommen, wie sie sich damals verletzt hatte. Dafür saßen das Blut und der brennende Schmerz nach dem Erwachen aus dem dämmerschlafähnlichen Zustand in ihrem Gedächtnis fest. Sie musste ungefähr sechzehn Jahre alt gewesen sein, randvoll mit Pillen und Alkohol.

Ihr Blick glitt über das Bett, den Schrank mit dem eingebauten Fernseher, und weiter zu dem Schreibtisch, auf dem ein Laptop ohne Internetzugang und fünf Bücher, ordentlich aneinandergereiht, standen. Ein Synonym-Wörterbuch, zwei Sprachratgeber, die Grundlagen der Mathematik und Kurzgeschichten in Englisch mit deutscher Übersetzung. Um die Hindernisse in der Welt zu meistern, benötigte sie Wissen – zumindest eine gute Ausdrucksweise, Sattelfestigkeit in den Grundrechenarten, flüssigen Small Talk in Englisch. Wie hätte sie die Zeit hier lohnender nutzen können, als sich in der durchaus umfangreichen Bibliothek passende Lektüre auszuleihen und zu lernen?

Ihr Leben wäre unkomplizierter, betrachtete sie die Umstände anders – Sicherheit anstatt Freiheitsentzug, Betreuung anstatt Zwang, ein eigenes kleines Reich anstatt Kerker.

Tatsächlich verfügte sie zusätzlich zu diesem Raum über eine kleine Diele und ein Badezimmer in steril glänzendem Weiß – Dusche, Toilette und Waschbecken für sich allein. Das hatte sie zuvor noch nie gehabt.

Jeden Nachmittag um fünfzehn Uhr ging sie in den Gemeinschaftsbereich. Dort konnte sie mit den anderen plaudern, in Zeitschriften blättern, Karten spielen oder einfach dasitzen und das Treiben beobachten. Dreimal täglich bekam sie zu essen, zwei Ärzte kümmerten sich um sie, und man wusch ihre Wäsche. Die Wäsche! Ihr Symbol der Hoffnung und des Glaubens an eine bessere Zukunft.

Nachdem sie mit fünfzehn Jahren von zu Hause fortgelaufen war und unzählige Jahre auf den Straßen Berlins gelebt hatte, sollte sie sich eigentlich im Paradies wähnen, doch das tat sie eben nicht. Sie war eine Gefangene in diesen vier Wänden, mit Gittern vor dem Fenster und einer Zimmertür, die nur von außen abgeschlossen werden konnte. Draußen hatte sie gefroren und geschwitzt, gehungert und im Dreck gelegen, Drogen genommen und Fusel wie Wasser gesoffen, aber sie war unabhängig gewesen.

Nicht sofort nach der Einlieferung hatte sie begriffen, in welcher Situation sie sich befand. Auf den qualvollen Entzug war eine Phase des absoluten Glücks gefolgt, und sie hatte in einer unnatürlichen, rosafarbenen Blase dahinexistiert. Schließlich hatte sie jedoch klarer gesehen, und die Sehnsucht nach Selbstbestimmung war erneut aufgeflammt. Sie würde die Freiheit wiedererlangen – für sich und für das Kind in ihrem Bauch. Es durfte nicht hier in der Einrichtung geboren und ihr weggenommen werden.

Mein Name ist Julia, ich bin stark und werde es schaffen, sagte sie sich in Gedanken wie ein Mantra vor. Ihre Sinne mussten scharf bleiben, sonst hätte sie vergebens monatelang an ihrer Flucht gebastelt. Ohnehin war der Plan unvollkommen.

Zwar hatte sie herausgefunden, dass die gesamte Schmutzwäsche von einem externen Unternehmen gereinigt wurde, doch kannte sie das Prozedere nur bis zu der weißen Sicherheitstür am Ende des Flurs. Wie es danach weiterging, wusste sie nicht. Allerdings war sie nicht völlig ahnungslos. Ihre Mutter hatte als Zimmermädchen in einem Hotel mit einem ebensolchen Wäscheservice gearbeitet. Oft genug war sie durch das Hotel gestreunt und hatte beobachtet, wie die Container mit den schmutzigen Laken und Handtüchern in einen LKW verladen wurden und davonfuhren. Es war wohl Ironie des Schicksals, dass sie bereits damals den Wunsch gehegt hatte, sich in einem Wäschetransporter zu verstecken und von ihm in eine schönere Welt befördert zu werden. Abgehalten hatte sie nur die Strafe, die dem Streich gefolgt wäre. Ihre Mutter hätte hart zugeschlagen.

Unwillkürlich biss sie sich auf die Unterlippe. Eher würde sie samt ihrem Kind wieder auf der Straße leben, als nach erfolgreicher Flucht zu dieser Frau – mehr Monster als Mutter – zurückzukehren.

Vom Gang her hörte Julia ein vertrautes Geräusch. Freitags, pünktlich um vierzehn Uhr, wurde die Schmutzwäsche eingesammelt und frische ausgeteilt.

Sie atmete tief durch und blickte verstohlen zu der kleinen Kamera in der linken oberen Ecke des Raums, durch die sie bespitzelt wurde. Das Wichtigste war nun, sich normal zu verhalten und nicht aufzufallen. Jede unbedachte Handlung konnte sie verraten.

Julia betrat das Bad und setzte sich auf die Toilette. Ohnehin musste sie seit einigen Wochen ständig pinkeln, weil das Baby auf die Blase drückte. Sie wusch sich die Hände und tupfte etwas Wasser auf ihre Schläfen. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, brachte sie den ovalen Knauf des Türschlosses in eine schräge Stellung, exakt bevor der Mechanismus auslöste – sie hatte lange geübt –, und verließ den Raum. Um ihr Tun vor der Kamera zu verbergen, lehnte sie sich seitlich gegen die Wand, umfasste mit den Fingerspitzen den flachen Metallknopf der Verriegelung und drehte ihn, bis der Bolzen im Inneren der Tür einrastete und das rote Farbfeld für »besetzt« erschien. Man würde automatisch annehmen, sie befände sich im Bad, und ließe sie in Ruhe. Dieses Maß an Privatsphäre wurde ihnen allen weitgehend zugestanden.

Betont gelassen streckte sie sich und simulierte ein Gähnen, dann öffnete sie die Eingangstür und spähte auf den Gang hinaus. Auch die anderen taten das gelegentlich.

Erst sah sie zu der schwenkbaren Kamera, die auf Höhe ihres Zimmers an der Decke montiert war. Wie üblich zeigte sie direkt auf die weiße Sicherheitstür. Sowieso wagte es niemand, unerlaubt den Flur entlangzuspazieren. Daraufhin prüfte sie die Position des Wäschecontainers.

Das fast eineinhalb Meter hohe Aluminiumgefährt, das an eine Schuttmulde erinnerte, stand zwei Zimmer von ihrem entfernt.

Einem spontanen Impuls folgend wollte Julia sofort loslaufen, doch sie ermahnte sich zur Ruhe. Sie musste sich zurückziehen und warten, bis die Betreuerin den benachbarten Raum erreicht hatte.

Als das ratternde Geräusch des fahrenden Transporters einsetzte und gleich danach wieder verstummte, spannte sie die Muskeln an. Jetzt oder nie! Sie zog die Zimmertür erneut auf, schlüpfte hindurch und rannte zu dem Container. Mit beiden Händen umklammerte sie den Rahmen und hob das rechte Bein. Zwar schaffte sie es dank ihrer Größe, den Fuß über die Kante zu hieven, aber es gelang ihr nicht, sich allein mit der Kraft der Arme hochzuziehen. Sie beugte das linke Knie und stieß sich vom Boden ab. Kurz drohte sie, in die falsche Richtung zu kippen, doch mit einem zweiten Schwung fiel sie in den Wäschewagen. Durch die Energie der Bewegung rutschte sie unkontrolliert zur gegenüberliegenden Wand und prallte mit der Wange gegen das Metall. Ein heller Blitz zuckte in ihrem Kopf auf, sie hielt jedoch nicht inne und wühlte sich unverzüglich durch die Wäsche hinunter. Als sie den harten, kalten Boden erreichte, drehte sie sich zur Seite und rollte sich instinktiv zusammen. Die Haltung vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit und zügelte die Aufregung.

Würde die Betreuerin das veränderte Gewicht des Wagens beim Schieben bemerken?

Julia spürte ein Rucken und hörte – gedämpft durch die Laken und Handtücher – ein Stöhnen, an das sich nahtlos etwas reihte, das wie eine Verwünschung klang. Jedenfalls beinhaltete der Satz die Worte »Scheißding« und »verdammter Freitag«. Dann stoppte der Container.

Bange Sekunden traute sich Julia weder zu atmen noch zu schlucken, aber nichts geschah – kein Aufschrei, niemand schlug Alarm. Bitte klopf jetzt nur nicht an die Badezimmertür, dachte sie und begann langsam zu zählen.

Bei fünfhundertelf bewegte sich der Behälter. Am liebsten hätte Julia aufgejubelt. Die ersten Hürden waren genommen.

Vorsichtig zupfte sie sich einen Polsterüberzug zurecht und bettete die unversehrte Wange darauf. Der dröhnende Schmerz war einem rhythmischen Pochen gewichen, auch der Fötus verhielt sich ruhig. Was sie allerdings nicht bedacht hatte, war die stickige Luft und das Geruchspotpourri unter dem Wäscheberg. Nachtschweiß, Duschgel, feuchte Baumwolle. Dessen Gewicht hatte sie ebenso unterschätzt. Keine Panik! Konzentrier dich und löse das Problem, redete sie sich zu, hob den freien Arm und formte über ihrem Kopf eine kleine Höhle. Derart würde sie eine Weile lang durchhalten.

Nach ihrem Zimmer kamen drei weitere. Der vierte Stopp bedeutete, dass sie an der weißen Tür angelangt waren und warteten, bis die Sicherheitsschlösser entriegelt wurden.

Tatsächlich vernahm sie bald eine zweite Frauenstimme und nachfolgendes Gelächter. Die offensichtliche Fröhlichkeit der beiden bohrte sich wie eine spitze Nadel in ihre Brust. Voller Wut ballte Julia die Hände zu Fäusten. Verreckt, ihr abscheulichen Weiber!

Erstaunlicherweise verlieh ihr der Zorn einen Energieschub. Sie atmete leichter, hörte besser, nahm die Bewegungen des Wagens deutlicher wahr – und alles schien plötzlich im Zeitraffertempo abzulaufen: die ruhige Fahrt auf glattem Boden, ein Wackeln, das monotone Surren eines Lifts, abermals eine Stimme, die eines Mannes, und erneut Lachen – sie hoch und gekünstelt, er dunkel und anzüglich.

Hatten sie das Gebäude bereits verlassen und waren am Übergabeplatz an die Wäschefirma angekommen?

»Ich hab’s leider eilig und muss gleich aufladen. Der Boss ist heute in Kabbel-Laune. Schade. Hätte gern eine mit dir gequalmt und ein paar Takte gequatscht«, sagte der Mann laut und bestätigte ihre Vermutung.

Ungeahnt schaukelte der Container heftig und geriet in Schieflage. Julia drohte, über das blanke Metall zu rutschen, doch die Wäsche hielt sie auf und ummantelte sie wie ein Kokon.

Bevor die Angst überhaupt eine Chance bekam, sich zu entfalten, stand der Behälter wieder gerade. Kurz darauf wurden Türen zugeschlagen, und es ertönte das dumpfe Motorengeräusch eines LKW.

Die Vibrationen der Maschine übertrugen sich auf Julias Körper, und zum ersten Mal, seit sie in dem Gefährt kauerte, wagte sie, sich zu rühren. Sie entfernte die Wäsche über ihr und setzte sich auf.

Hatte sie es tatsächlich geschafft, ihrem Gefängnisdasein zu entfliehen? Trotz des Bewusstseins, dass sie sich in einem LKW befand und der Unabhängigkeit entgegenfuhr, wirkte der Moment unecht.

Julia fröstelte, und sie schlang ein Badetuch um ihre Schultern. Noch war sie nicht frei. Ein letztes Hindernis galt es zu überwinden: das unbemerkte Verschwinden.

Langsam erhob sie sich, streckte Arme und Beine aus, um die verspannten Muskeln zu lockern, und sah sich um.

Nachdem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, zählte sie mit ihrem vier Container, auf die leere Stelle passten zwei weitere. Das Endziel eingerechnet boten sich ihr also wahrscheinlich drei Gelegenheiten – und sie würde sie nutzen.

Kapitel 2

Konstantin

Konstantin Roth musterte die Frau, die hinter dem weißen, verschnörkelten Schreibtisch thronte. Anstatt der freundlichen Großmuttermiene, die sie sonst zur Schau trug, zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck, der mit dem einer Furie ungeniert zu konkurrieren vermochte.

Energisch schüttelte sie den Kopf, wobei sich kein einziges Haar aus ihren silbergrauen, akkurat gelegten Locken löste. »Oh, das wird dieser kleine, verräterische Mistkerl bereuen. Was tun wir nun, mein lieber Konstantin?«

»Mit dem Ergebnisbericht ist meine aktive Arbeit abgeschlossen«, sagte er. »Als nächsten Schritt erstatten Sie Anzeige gegen Leon Felsner und die Kuchenfactory. Den genauen Wortlaut der Vergehen finden Sie im Report. Darüber hinaus habe ich einige Möglichkeiten hinzugefügt, die die Anwälte ferner einbringen können. Es liegt in Ihren Händen, Tante Erni, wie massiv Sie vorzugehen gedenken.« Mit einem angemessenen Nicken unterstrich Konstantin seine Erklärung.

Wer meinte, als einer der renommiertesten Berliner Privatdetektive auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität hätte er es einerseits mit ehrbaren Geschäftsleuten, hochtechnischen geheimen Entwicklungen und spektakulären Geldbewegungen, andererseits mit zwielichtigen Gestalten, schmierigen Hackern und arglistigen Spionen zu tun, irrte gewaltig. Tante Ernis Fall war das beste Beispiel.

Vor dreißig Jahren hatte sie aus der Bäckerei ihres Vaters ein global operierendes Unternehmen erschaffen und verkaufte ihre Kekse, Kuchen und Törtchen von New York bis Tokyo. Hinter der reizenden Fassade mit goldfarbener Nickelbrille, geblümten Kleidern und puderzuckrigem Lächeln verbarg sich eine jähzornige, gewissenlose Geschäftsfrau. Sie beutete ihre Angestellten im Rahmen der Legalität aus – Konstantin hatte die Arbeitsverträge gesehen – und ließ es an jeglicher Wertschätzung fehlen, dafür ahndete sie Fehler unerbittlich. Als makabre Krönung zwang sie alle, sie »Tante Erni« zu nennen. Selbst er kam in den Genuss und hatte von ihr die Bezeichnung »mein lieber Konstantin« erhalten.

In der strengen Unternehmenshierarchie von »Tante Ernis Kuchenmanufaktur« wurde es schlimmer, je weiter unten man saß – der arme, unbedarfte Leon Felsner saß ganz unten. Er arbeitete als jüngster von vier Telefonfachverkäufern und wurde von Tante Ernis persönlicher Sekretärin beaufsichtigt.

So naiv wie blauäugig hatte Leon sein niedriges Gehalt mit dem Verkauf eines neuen, noch geheimen Rezepts für Mandelkekse an einen Mitbewerber aufgebessert. Unschuldig war der junge Mann natürlich nicht. Schließlich hatte er die Anleitung gestohlen, sich mit der Kuchenfactory in Verbindung gesetzt und das Rezept für vergleichbar läppische zweitausend Euro übergeben.

Die aufstrebende Kuchenfactory hatte prompt reagiert und nach einer geringfügigen Veränderung der Zutaten die Mandelkekse mit Pomp und Getöse vor Tante Erni auf den Markt gebracht. Tante Erni wiederum kannte das Geschäft und ihre Kreationen.

Betrachtete Konstantin seine Aufträge nicht mit gebührendem Abstand, empfände er trotz des Vergehens Mitleid für Leon. Tante Erni würde jede von ihm dokumentierte Möglichkeit ausschöpfen und rigoros Rache an dem jungen Mann nehmen.

Diesen Teil erlebte er allerdings nicht mehr mit. Wie er vorhin zu Tante Erni klar gesagt hatte, endete seine Verpflichtung mit dem Aufdecken des Sachverhalts. Folgeleistungen oder gar Mediationen wies er strikt von sich.

Nicht grundlos hatte er sich auf Industriespionage, Kriminalität gegen Banken sowie Behörden und andere Wirtschaftsverbrechen spezialisiert. Auch hier gab es Opfer und Täter, doch sie standen nicht im Vordergrund.

Wieder und wieder in einen Strudel von Gefühlen hineingezogen und von ihnen fortgerissen zu werden, hatte weder privat noch beruflich etwas in seinem Leben verloren. Er wollte dem Leid nicht beiwohnen – betrogene Eheleute, verzweifelte Familienmitglieder, ein entführtes und letztlich erdrosselt aufgefundenes Mädchen.

Am Beginn seiner Karriere als Privatdetektiv mit diesem schrecklichen Szenario des Todes konfrontiert worden zu sein, hatte ihn geläutert und seine ursprüngliche Intension gebeugt. Menschen zu helfen, war gut, solang man von den Umständen nicht verschlungen wurde.

Seine Ausrichtung und die fest gezogene Grenze verhinderten die unmittelbare Nähe und boten ihm jene Distanz, die er sich mühevoll aufgebaut hatte.

Mit dem Verlassen dieses Firmengebäudes etwa gehörten Tante Erni, Leon und die Kuchenfactory der Vergangenheit an, und er würde in eine neue Aufgabe eintauchen: Der Richter und Unternehmensmagnat Thomas Sommerfels hatte ihn angefordert.

Kapitel 3

Evelyne

Doktor Evelyne Dom ließ sich hinter dem Empfangspult neben Sandra in den freien Stuhl fallen. »Erstaunlich ruhig für einen Samstagabend.« Sie streckte sich. »Bloß die eine Sectio. Ich habe es tausendmal lieber, wenn viel los ist. Dann vergeht die Zeit schneller.«

Die Krankenschwester zeigte auf den Bildschirm. »Dein Wunsch erfüllt sich jeden Augenblick. Aus der Notaufnahme wird eine Neue hochgebracht. Sie ist es! Ich lese gerade das Protokoll. Irre, nicht wahr?«

Evelyne zog die Brauen hoch. »Wer, sie? Und inwiefern irre?«

»Herrje, hörst du im Dienst nie Radio oder schaust ins Internet? Am Spreeufer auf Höhe der Museumsinsel ist in der Früh eine Hochschwangere gefunden worden. Der Hund eines Spaziergängers hat sie aufgespürt. Sie lag im Gestrüpp neben der Promenade. Susanne vom Empfang hat erzählt, dass sie bei der Einlieferung nur ein leichtes Nachthemd anhatte und ein Badetuch um die Schultern gehängt – und sie war barfuß. Die Fußsohlen und Handinnenflächen sind voller Schnittwunden, an den Armen und Beinen hat sie massenhaft Hämatome, plus eine Lazeration auf der Wange. Keine Ahnung, wie lang die halb nackt herumgelaufen ist, um sich das alles zuzuziehen.«

Tatsächlich hatte Evelyne seit Tagen weder Radio gehört noch eine Zeitung gelesen oder im Internet gesurft. Das verfluchte Leben zieht an mir vorbei wie ein leeres Flughafen-Gepäckband. Was habe ich außer der Arbeit? Das Glas Wein am Abend, das ich mir aufzwinge? Die lächerliche Pseudo-Joggingrunde durch den Park? Mit einem leisen Unmutston riss sie sich aus dem ewig gleichen Gedankenstrudel der Trostlosigkeit und des Frusts. »Was sagt der Befund aus der Notaufnahme, und wer hat sie unten behandelt?«

»Doktor Binder.« Die Krankenschwester spitzte die Lippen. »Unterkühlung und Erschöpfungszustand bei der Ankunft. Die Wunden wurden versorgt. Vital- und Standardblutwerte sind okay.«

»Hat man sie schon auf Folsäure, Kalzium und so weiter getestet?«

»Warte.« Die Krankenschwester legte ihre Hand auf die Maus und klickte einige Male, dann nickte sie. »Wow. Einige Werte fehlen zwar noch, aber die bereits vorhandenen sind erstklassig. Das Alter wurde übrigens auf fünfundzwanzig Jahre geschätzt und der –«

»Sie wissen nicht, wie alt sie ist?«, fragte Evelyne.

»Die Patientin ist laut den Angaben desorientiert und war nicht mal fähig, ihren Vornamen zu nennen. Deshalb gibt’s auch keine Anamnese.« Sandra lehnte sich zurück. »Die müsste doch längst vermisst werden – es ist ein ganzer Tag vergangen. Echt spannend! Kann ich bei der Untersuchung dabei sein?«

»Du darfst sogar die Aufnahme abwickeln und bei ihr bleiben, bis ich wieder da bin. Ich rufe Binder an.« Evelyne stand auf. »Der Fötus …?«

Die Krankenschwester sah zu ihr hoch. »Sie haben einen Ultraschall durchgeführt. Keine Auffälligkeiten, normale Herztöne.« Mit einem bedeutungsvollen Blick fügte sie hinzu: »Wusstest du, dass Doktor Binder seit Kurzem geschieden ist? Er ist ungefähr in deinem Alter. Gynäkologie und Notaufnahme wäre keine üble Kombi.«

»Willst du mich verkuppeln?«

Sandra zuckte mit den Schultern. »Ein hormonaler Schub hat noch niemandem geschadet. Und du hättest ein paar Dosen Oxytocin und Co besonders dringend nötig.«

Evelyne verdrehte die Augen und flüchtete in das kleine Büro, das sich hinter dem Empfangsbereich der Abteilung befand. Was hätte sie Sandra antworten sollen? Ja! Du hast recht – und wie du recht hast.Sex, hübsch verpackt in einer liebevollen Beziehung, die auf Achtung und Verständnis basiert. Nichts leichter als das, oder? Sie seufzte.

Mit einer resoluten Bewegung klappte Evelyne das interne Telefonverzeichnis auf, suchte nach Theo Binders Durchwahl und tippte die angegebene Nummer in das Krankenhaus-Mobiltelefon ein.

Er meldete sich mit einem knappen »Ja?«.

»Hi, hier spricht Evelyne Dom aus der Gyn. Ich habe gerade die Akte der Neuen überflogen. Um sie wird ordentlich Wind gemacht, wie ich hörte. Gibt es etwas, das nicht drinnen steht?« Als erste Instanz nach der Einlieferung verfügte die Notaufnahme häufig über Einsichten, die der Fachabteilung verborgen blieben. Die Patienten kamen erstversorgt, gesäubert und im Nachthemd auf die Stationen.

»Na, und ob. Wie sie bei uns eingetroffen ist, hast du gelesen. Situationsbedingt habe ich ihren äußerlichen Zustand genauer dokumentiert. Dennoch wirst du staunen. Sie ist gewiss ein Model oder so was Ähnliches. Evelyne, ich schwöre dir, niemals zuvor habe ich eine schönere Frau in natura gesehen.« Theo Binder räusperte sich. »Gut, dass du Dienst hast. Bei dir ist sie in den besten Händen. Vielleicht schaue ich in den nächsten Tagen vorbei. Ich nehme zwei Coffee to go aus der Cafeteria mit. Wäre das okay?«

Unwillkürlich lächelte Evelyne. »Natürlich, sowohl der Besuch als auch der Coffee to go. Cappuccino für mich, bitte.«

»Sie wird wahrscheinlich einige Tage stationiert bleiben, oder?«

Evelyne gefror das Lächeln auf den Lippen. »Das bestimmt ihre Verfassung und wie flott man sie identifiziert. Du weißt, die Verwaltung ist bei derartigen Fällen nachsichtiger. Wir müssen sie nicht gleich rauswerfen.« Was hatte sie geglaubt? Dass sein Interesse ihr galt? Evelyne schluckte, um den bitteren Geschmack in ihrem Mund loszuwerden.

»Seltsam ist, dass sich noch niemand gemeldet hat«, sagte Theo. »Aber die Polizei findet ihren Namen sicher in null Komma nichts heraus. Sie ist nicht irgendeine beliebige Frau.«

Du brauchst nicht weiter auszuholen. Ich bin nicht blöd und habe längst verstanden, dachte Evelyne und erwiderte: »Hat sie etwas erzählt?«

»Nach der ersten Infusion und einer Wärmedecke so einiges. Sinnvolle Hinweise waren keine dabei. Sie ist sich bewusst, dass sie schwanger ist. Sonst kann sie sich an nichts erinnern. Die Psychiatrie habe ich schon verständigt. Sie setzen sich mit euch in Verbindung.«

Evelyne hörte ein Geräusch und drehte sich um. Sandra stand im Türrahmen und gab ihr ein Zeichen: Die Patientin war eingetroffen und lag auf der Drei – ein Einzelzimmer, das für überraschende und besondere Fälle freigehalten wurde. »Theo, ich muss los. Sie ist gelandet.« Evelyne beendete das Gespräch, verließ den Raum und bog in den Gang ein.

Sandra beeilte sich an ihre Seite. »Mach dich auf was gefasst«, flüsterte sie. »Nimm von Marilyn Monroe und Grace Kelly das Beste, und du hast eine perfekte Beschreibung. Sie ist echt abartig schön.«

Jetzt auch noch Sandra? Was soll das Getue? Als hätten wir nicht öfter hübsche junge Frauen auf der Station. Evelyne öffnete die Tür des Krankenzimmers Nummer drei und trat ein. Sie hielt inne und betrachtete die Patientin.

Wider Willen verzieh sie Theo Binder seine Begeisterung. Begegnete ihr jemals ein dermaßen attraktiver Mann, wäre sie ebenso aus der Fassung. Ob es an dieser Begeisterung, Sandras Enthusiasmus oder an den Umständen rund um die schwangere Frau lag – vermutlich spielte alles zusammen –, wusste sie nicht, jedenfalls war Evelynes Neugierde geweckt.

Kapitel 4

Der Schattenmann

Erneut warf er einen verstohlenen Blick auf sein Handy. Er hasste es zu warten – und er hasste Fehler.

Noch immer wurde nach der Sicherheitslücke gesucht, durch die sie entkommen war. Sämtliche Systeme arbeiteten einwandfrei, und es hatte keine Mängel oder Änderungen im Ablauf gegeben. Niemand war imstande, ihm die Flucht der jungen Frau zu erklären. Wenigstens war ihr Aufenthaltsort dank der Berichterstattung in den Medien einfach zu eruieren gewesen. Es ermöglichte ein rasches und effizientes Eingreifen.

Hätte er geahnt, welche Unannehmlichkeiten ihm die Entscheidung heute einbrachte, die er vor sechs Jahren in puncto dieser Göre Anna getroffen hatte, wäre er damals anders vorgegangen. Es war folgerichtig gewesen, sie zu entführen, um die Fäden der Marionetten fest in der Hand zu behalten, jedoch ein Fehler, sie in die Einrichtung zu sperren. Er musste sich eingestehen, die Eigendynamik unterschätzt zu haben, die in einer solch geschlossenen Gruppe entstehen konnte. Rückblickend war es absehbar gewesen, dass Anna allen von ihrem Schicksal erzählt hatte. Grundsätzlich war es egal, was die Frauen untereinander austauschten und ersannen, da keine von ihnen Kontakt zur Außenwelt hatte und ihn auch nie wieder haben würde – bis auf eine: die Flüchtige.

In ihrem Kopf befanden sich Hinweise auf das Projekt und auf ihn. Thematisierte sie ihre Halbkenntnisse und Vermutungen, nannte in diesem Zusammenhang darüber hinaus seinen Namen, führte das unweigerlich zu Komplikationen.

Wenngleich er sich weder über Gebühr sorgte, selbst ins Kreuzfeuer zu geraten, noch das Geschäft in Gefahr sah, sollten umfangreiche Präventivmaßnahmen ergriffen werden.

Als endlich das Handy klingelte, nahm er das Gespräch unverzüglich an. »Ich hoffe, Sie haben positive Nachrichten.«

»Ja. Einstweilen besteht kein Grund zur Aufregung. Sie leidet an einem vollständigen Gedächtnisverlust. Ob vorgetäuscht oder echt, lässt sich nicht feststellen. So oder so werden mich meine Kontakte im Krankenhaus über jede Kleinigkeit informieren. Um einen durchgängigen Nachrichtenfluss zu gewährleisten, habe ich pro Mitteilung, unabhängig vom Inhalt, ein großzügiges Honorar ausgeschrieben.«

»Sehr gut. Und alles Notwendige ist arrangiert?«

»Ich bin dabei, aber es wird einige Tage dauern. Erst gilt es, die geeignete Person für den Eingriff zu finden. Ich möchte kein Risiko eingehen und alle Eventualitäten einkalkuliert wissen. Jetzt überstürzt zu handeln, wäre unklug.«

»Sie haben völlig recht.« Er nickte zustimmend. Es reichte nicht aus, jemanden bloß zu bestechen. Außerdem musste ein Druckmittel als Rückversicherung gefunden werden. Nur ein dunkles Geheimnis im Leben des Erwählten gewährleistete dessen Stillschweigen.

Der Anrufer räusperte sich. »Um etwaigen Äußerungen der Flüchtigen entgegenzuwirken, schlage ich eine durchgreifende Neuinszenierung vor, die im Bedarfsfall für die Öffentlichkeit genutzt werden kann. Dringt wider Erwarten etwas an die Oberfläche, schaffen wir damit eine Basis, die jedem Argwohn standhält. Wer würde den obskuren Geschichten einer desorientierten Frau glauben, wenn sämtliche Fakten und ihre Handlungen dagegensprechen?«

»Ich bin Ihrer Meinung. Die Entfernung der Flüchtigen ist unzureichend.«

»Fürwahr. Vor allem wegen des erwähnten Zeitfaktors bis zur Eliminierung. Umgehend müssen wir ein Sicherheitsnetz auslegen, das Nebeneffekte und unliebsame Folgen von vornherein abfängt, filtert und in einem anderen Licht darstellt.«

»Um die Begebenheiten abermals aufzurollen, benötigt es einen stichhaltigen Grund. Haben Sie bereits einen Plan entwickelt?«

»Selbstverständlich. Er stellt allerdings einen beträchtlichen Aufwand dar. Für ein überzeugendes Konstrukt sollten wir jedoch keine Kosten und Mühen scheuen.«

Er lächelte. Es hätte ihn erstaunt, gäbe es noch kein Konzept. Nicht umsonst engagierte er diesen Mann seit vielen Jahren. Eine fähige und loyale Person an der Seite zu haben, war in seinem Metier außerordentlich schwierig. Hatte man eine aufgetan, sorgte man für ihr Wohlergehen – und das tat er, mit Geld, Anerkennung und Schmeichelei. »Ich habe wie immer volles Vertrauen zu Ihnen. Beginnen Sie mit den Vorbereitungen und erläutern Sie mir morgen die Details.« Ohne eine Verabschiedung beendete er das Telefonat.

In die Zufriedenheit über den günstigen Verlauf der prekären Situation vermengte sich jäh leiser Unmut. Obwohl die Zusatzmaßnahmen zweifellos erforderlich waren, widerstrebte es ihm, derartige Anstrengungen für die Angelegenheit aufzubieten. Die Gefahr, die von ihr ausging, war gering und würde in Kürze ohnehin nicht mehr existieren.

Wer konnte ihm etwas anhaben? Allein die Vorstellung empfand er als absurd und sinnwidrig.

Kapitel 5

Evelyne

Evelyne betrat das Krankenzimmer und setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett der Patientin stand. »Wie geht es Ihnen?«

»Viel besser, danke. Ich fühle mich schon fast wieder wie die Alte. Wenn ich nur wüsste, wer die war. Es ist komisch, nicht mal einen Namen zu haben.«

»Nun, warum suchen wir nicht einen Namen für Sie? Ich notiere ihn ganz oben auf Ihrer Krankenakte. Dann wissen die Kollegen und ich endlich, wie wir Sie anreden.« Evelyne schob die Unterlippe vor. »Gibt es eine Sängerin oder eine Schauspielerin, die Sie besonders mögen?« Jetztbin ich neugierig, was du erwiderst, dachte sie.

»Ja!« Mit den Fingern formte die junge Frau ein Herz. »Ich liebe Julia Stiles. Sie ist mein großes Vorbild, weil … ach, egal. In dem Film ›Jason Bourne‹ war sie so nice. Haben Sie ihn gesehen?«

Kurz hielt Evelyne den Atem an, doch sie durfte sich die Anspannung nicht anmerken lassen. Mittlerweile hatte sie ein vertrauensvolles Verhältnis zu der Patientin aufgebaut, das sie nicht stören wollte. Schließlich beabsichtigte sie, weiter vorzudringen. »Leider nein, aber ich kenne ›10 Dinge, die ich an dir hasse‹. Ich hatte damals gerade mit dem Studium begonnen. Es ist eine Ewigkeit her.« Sie lächelte. »Julia ist ein schöner, geschichtsträchtiger Name.«

»Also heiße ich Julia.« Die junge Frau stützte die Hände auf der Matratze ab und richtete sich auf. »Frau Doktor Dom, ich …« Sie pausierte. »Was haben denn diese Untersuchungen gestern ergeben? Man hat mir tausend Fragen gestellt, und ich musste einige Tests ausfüllen, gesagt hat mir niemand was.«

Der plötzliche Schwenk war merkwürdig. Hatte sich Julia im letzten Moment entschieden, ihr eigentliches Anliegen – womöglich ein persönliches – nicht auszusprechen?

Evelyne war gezwungen, den Wechsel hinzunehmen. »Ich erkläre es Ihnen«, antwortete sie. »Zuerst wurden bei Ihnen ein MRT und eine Messung der Hirnströme durchgeführt. Damit konnten wir bestimmte Ursachen, wie beispielsweise ein Hirntrauma oder einen Schlaganfall, ausschließen. Danach erfolgten eine ausführliche Unterhaltung – das waren die tausend Fragen – und Gedächtnistests. Die Diagnose lautet ›psychogen bedingte Amnesie‹. Sie bedeutet, dass Sie etwas Schreckliches erlebt haben und die Vergangenheit verdrängen. Gelöscht ist sie allerdings nicht. Die Erinnerungen werden zurückkommen, entweder schrittweise oder alle auf einmal.« Evelyne hob den Blick zur Zimmerdecke. »Wann das sein wird, steht in den Sternen geschrieben.«

»Werde ich bald aus dem Krankenhaus rausmüssen?« Julia senkte die Lider. »Ich wüsste nicht, wohin ich soll. Das macht mir eine Scheißangst.«

Instinktiv ergriff Evelyne die Hand der jungen Frau. »Was in Tagen oder Wochen geschieht, zählt gegenwärtig nicht. Vorläufig bleiben Sie uns erhalten. Ab morgen wird jemand aus der psychiatrischen Abteilung Übungen mit Ihnen durchführen. Außerdem dürfen wir das da nicht vergessen.« Sie schmunzelte und zeigte auf die gewölbte Bettdecke. »Sie befinden sich ungefähr in der siebenunddreißigsten Schwangerschaftswoche. Die Belastungen, denen sie ausgesetzt waren, könnten durchaus eine verfrühte Geburt auslösen. Machen Sie sich keine Gedanken, Ihr kleiner Sohn ist startfertig.« Evelyne wiegte den Kopf. »Haben Sie schon versucht, sich auf den Vater des Kindes zu konzentrieren? Er macht sich sicherlich große Sorgen.«

»Ich kenne ihn nicht.«

Üblicherweise bewegten sich Julias Aussagen innerhalb des Radius, keine Ahnung zu haben. Bisweilen jedoch schien sie beiseitezuschieben, dass sie sich an nichts erinnerte, und gab klare Auskünfte. Evelyne war aufgefallen, dass die Versprecher vorrangig bei heiklen Themen – wie jetzt bei der Erwähnung des Vaters des Kindes – oder auch in ungezwungenem Rahmen passierten, wie soeben bei der Namensfindung. Gleich verhielt es sich mit ihrem Wissen über bestimmte Dinge aus der Vergangenheit. Es widersprach Julias Darstellung eines umfassenden Gedächtnisverlustes, und genauso wenig passte es zu den Untersuchungsergebnissen der Psychiatrie.

Längst hätte Evelyne mit dem zuständigen Psychiater über ihren Verdacht geredet, würde es sich um mehr als einen bloßen Eindruck ohne feste Hinweise handeln. Sie verließ sich auf ihr Bauchgefühl, das sie selten trog, aber sich in einer diagnostischen Unterhaltung darauf zu berufen, wäre schlichtweg unprofessionell – und wirkte sich schlimmstenfalls negativ auf ihre Karriere aus.

Seit einem unangenehmen Konflikt vor zwei Jahren herrschte nicht das beste Einvernehmen zwischen ihr und der Psychiatrie. Zwar war der Arzt inzwischen in Rente, dessen Beurteilung einer Frau mit Wochenbettdepression sie damals angezweifelt hatte, der Vorfall war deshalb jedoch nicht vergessen.

Mit ihrer Hypothese über Julia lieferte sie sich außerdem nicht nur selbst aus, sondern die gesamte Gynäkologie. Abteilungsintern steuerte ein harter Konkurrenzkampf den Alltag, doch gegen andere hielt man eisern zusammen. Ebenfalls durfte sie nicht ignorieren, dass ein derartiger Zwist unter Umständen sogar die Patientin einbezog. Ihres Erachtens hatte Julia genug erduldet und brauchte allem voran Ruhe – keine rivalisierenden Fachärzte.

Evelyne hatte eine gewisse Zuneigung zu Julia entwickelt, die auf einer Mischung aus Mitleid und Neugierde basierte. Die Frage, ob die junge Frau tatsächlich an einer Amnesie litt oder diese vorspielte, rangierte auf den beiden Ebenen in unterschiedlichen Ausprägungen. Während sich ihr Mitleid ausschließlich mit den möglichen Empfindungen und Wirren Julias beschäftigte, wollte Evelyne in puncto Neugierde unbedingt mehr erfahren. Was könnte die Patientin dazu verleiten, ihre Identität bewusst zu verheimlichen? Fürchtete sie sich vor etwas oder jemandem und sah sie das Krankenhaus als Zufluchtsort? Wie sie aufgefunden worden war und dass niemand nach ihr suchte, wiesen für Evelyne direkt darauf hin. Doch woher kam sie?

Bezog Evelyne Faktoren wie den medizinischen Zustand Julias ein, musste sie sich in einem wohlbehüteten Umfeld aufgehalten haben, beispielsweise im Kreis der Familie oder in einem privat geführten Sanatorium. Dieser Annahme widersprach die fehlende Suchmeldung. Angehörige, der Partner oder gar eine Institution würden nicht die Hände in den Schoß legen und warten, ob eine hochschwangere Frau von sich aus wieder erschien.

Zudem steckte jeder Mensch in einem sozialen Netzwerk. Wo waren die aufmerksamen Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen? Die Medienberichte waren zwar oberflächlichen Inhalts gewesen, aber auch ohne Foto und ohne eine detaillierte Beschreibung bargen sie genügend Hinweise.

Das Ausbleiben einer Anzeige bei der Polizei und Julias ungewöhnliches Verhalten waren jedoch nicht die einzigen Rätsel. Evelyne hatte obendrein etwas bemerkt, das sie irritierte.

Abgesehen von den Verletzungen befand sich Julias Körper in einer ordentlichen Verfassung, allerdings gab es Abweichungen zu ihrem perfekten Gesundheitsstatus. Um diese zu entdecken, musste man aber genau hinschauen.

Die Nägel an Händen und Füßen etwa waren kurz geschnitten, doch auf den Fersen zeigten sich Schrunden, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Nagelhaut zu entfernen. Das Haar war bestimmt seit Monaten nicht geschnitten worden – man erkannte es am unregelmäßigen Wuchs und den gesplissten Spitzen –, ebenso wucherte die restliche Behaarung.

Nun zählte Julia eventuell zu jenem Personenkreis, der bewusst natürlich sein wollte und sich der gängigen Schönheitspflege verschloss. Kein Make-up, kein Wachsen, Lasern oder Rasieren, kein gefärbtes Haar, keine Maniküre und Pediküre, keine falschen Nägel. Exotischere Eingriffe wie Wimpernverlängerung, Permanent-Make-up, Botox oder Zahnbleaching blieben unter diesem Gesichtspunkt ohnehin außen vor. Was hingegen nicht steuerbar war und Evelyne somit am auffälligsten fand, war Julias Haut. Sie wies nicht die normale Blässe des Winters auf, sondern wirkte, als wäre sie seit Langem überhaupt nicht mit Witterungseinflüssen in Berührung gekommen.

Müsste Evelyne einen Ausdruck kreieren, fände sie aus dem Stegreif die markante Bezeichnung »Isolationshaftblässe«. Ja, exakt das ist es! Menschen, die in einem Raum eingesperrt sind und deren Haut nie mit Sonne, Regen und Wind, Hitze und Kälte konfrontiert wird – nicht einmal für einen Spaziergang.

»Sie kümmern sich so lieb um mich, und ich möchte Ihnen wirklich alles erzählen. Ach, wenn ich es nur … schaffen würde«, murmelte Julia.

Sag mir einfach, wovor du Angst hast, dann helfe ich dir, dachte Evelyne und erwiderte: »Wenn Ihnen etwas einfällt oder am Herzen liegt, können Sie jederzeit mit mir darüber sprechen. Ich bin Ärztin und unterliege der Schweigepflicht. Vertrauen Sie mir.« Sie lächelte aufmunternd. »Die Arbeit mit dem Psychotherapeuten wird Ihnen hoffentlich weiterhelfen. Es gibt Techniken, um Ihrem Erinnerungsvermögen einen Schubs zu geben.« Sollte sich Julia davor scheuen, ihre Täuschung als solche zu offenbaren, lieferte sie ihr damit einen Ausweg. Bereits nach der ersten Sitzung war es möglich, die Vergangenheit wie durch Zauber zurückkehren zu lassen.

»Einen Therapeuten hätte ich mit vierzehn dringend gebraucht«, flüsterte Julia. »Meine Mutter war nicht gerade die liebevollste Person. Und je älter ich wurde, desto fieser war sie zu mir. Ich vermute, sie war eifersüchtig auf mich. Keine Ahnung, warum. Vielleicht weil ich jünger war als sie, oder weil ich immer hübscher wurde.«

Da war es schon wieder! Erst die Schauspielerin Julia Stiles, dann der Vater des Kindes, nun ihre Mutter. Vor drei Tagen hatte Julia im Gegensatz dazu sogar erklärt, nichts mit dem Begriff »Jahreszeiten« anfangen zu können. Auf der einen Seite wusste sie nicht, woher sie kam und wer sie war, andererseits kommunizierte sie mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, dessen Gedächtnis normal funktionierte. Warum hältst du daran fest, dich an nichts zu erinnern? Würdest du wenigstens behaupten, das meiste vergessen zu haben, könnte ich dir glauben.

Diese junge Frau log, aber es steckten weder Bosheit noch ein perfides Austesten dahinter. Sie fürchtete sich. Eine Woge des Mitgefühls erfasste Evelyne und damit verbunden der Wunsch, Julia zu helfen.

In ihrem Kopf flammte der Name eines Mannes auf: Axel Bergmann, Kriminalhauptkommissar beim Landeskriminalamt Berlin.

Aus besagten Gründen war es nicht ratsam, ihren Verdacht im Krankenhaus zu äußern. Vielleicht sollte sie mit ihm darüber sprechen. Er genoss ihr volles Vertrauen und würde sie bestimmt unterstützen.

Kapitel 6

Konstantin

Konstantin betrachtete Lola und Lene, die sich mit hocherhobenen Schwänzen um seine Beine wanden und leise miauten. Er beugte sich vor und streichelte über ihre Köpfe. »Schon gut, meine Süßen, gleich bekommt ihr zu fressen.«

»Ein Glück, dass du Wohnzimmer und Küche in einem Raum untergebracht hast. So kann ich dich wenigstens beobachten, wenn du deinen Katzen mehr Aufmerksamkeit schenkst als mir.« Claudia erhob sich von der Couch und ging zu ihm. Sie wartete, bis er sich aufgerichtet hatte, und schlang die Arme um seinen Hals. »Es wäre schön, wenn wir es uns nach der hochstilisierten Raubtierfütterung noch einmal im Bett gemütlich machen oder einen Film ansehen würden. Beides hintereinander gefiele mir am besten. Was meinst du?«