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Das Jahr 65 vor Christus: Delia ist eine junge Ärztin an der berühmtesten Bildungsstätte der bekannten Welt – dem Museion in Alexandria. Als sich eine Ärzte–Delegation aus Pergamon ankündigt, wird ihr geregeltes, von der Medizin bestimmtes Leben völlig durcheinandergebracht. Noch ahnt Delia nichts von dem Netz aus Intrigen, Verrat und einem weit zurückliegenden Geheimnis, in dessen Zentrum die berühmten Schriften ihres verstorbenen Vaters stehen.
Was geschah vor 27 Jahren in dieser stürmischen Nacht auf der griechischen Insel Delos? Und welche Rolle spielen die Ärzte aus Pergamon? Allem voran der imposante Römer Marcus, in den sich Delia wider jede Logik verliebt ...
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Seitenzahl: 320
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Jahr 65 vor Christus: Delia ist eine junge Ärztin an der berühmtesten Bildungsstätte der bekannten Welt – dem Museion in Alexandria. Als sich eine Ärzte–Delegation aus Pergamon ankündigt, wird ihr geregeltes, von der Medizin bestimmtes Leben völlig durcheinandergebracht. Noch ahnt Delia nichts von dem Netz aus Intrigen, Verrat und einem weit zurückliegenden Geheimnis, in dessen Zentrum die berühmten Schriften ihres verstorbenen Vaters stehen.
Was geschah vor 27 Jahren in dieser stürmischen Nacht auf der griechischen Insel Delos? Und welche Rolle spielen die Ärzte aus Pergamon? Allem voran der imposante Römer Marcus, in den sich Delia wider jede Logik verliebt ...
Die Passion für Literatur begleitet die deutsch-österreichische Bestsellerautorin Gerlinde Friewald seit ihrer Kindheit, die sie im Süden Wiens in Österreich verbrachte. Leserinnen und Leser begeistert Gerlinde Friewald mit spannungsgeladenen Inhalten, facettenreichen Figuren und einer feingezeichneten Sprache. Unter ihrem Klarnamen widmet sie sich voller Leidenschaft der Spannungsliteratur und historischen Romanen. Als Olivia Anderson vereint Gerlinde Friewald ihre Leidenschaft für Geschichten über Liebe und Freundschaft sowie ferne Länder, die ihr ans Herz gewachsen sind. Als Dozentin für Kreatives Schreiben gibt sie ihr Wissen weiter. Gerlinde Friewald lebt heute mit ihrer Familie im Süden Wiens.
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Gerlinde Friewald
Das Versprechen der Medica
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Vorwort
Auf der Insel Delos — Griechenland
I: Adelphos
II: Zenon
III: Zenon
IV: Zenon
V: Adelphos
In Alexandria — Ägypten
VI: Delia
VII: Delia
VIII: Delia
IX: Zenodoros
X: Delia
XI: Delia
XII: Delia
XIII: Acoreus
XIV: Delia
XV: Delia
XVI: Delia
XVII: Zenodoros
XVIII: Delia
XIX: Delia
XX: Delia
XXI: Zenodoros
XXII: Delia
XXIII: Zenodoros
XXIV: Delia
XXV: Delia
XXVI: Zenodoros
XXVII: Delia
XXVIII: Der Schüler
XXIX: Delia
XXX: Delia
XXXI: Der Schüler
XXXII: Delia
XXXIII: Delia
XXXIV: Zenodoros
XXXV: Delia
XXXVI: Marcus
XXXVII: Delia
XXXVIII: Delia
XXXIX: Delia
XL: Delia
XLI: Delia
XLII: Agapetos
XLIII: Agapetos
XLIV: Delia
XLV: Potheinos
XLVI: Delia
XLVII: Delia
XLVIII: Marcus
XLIX: Delia
Glossar
Impressum
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Liebe Leserinnen und Leser,
üblicherweise verfasse ich in meinen Romanen kein Vorwort (interessanterweise sind es jetzt knapp hintereinander sogar drei). In diesem Fall ist es mir aber ein besonderes Anliegen, ein wenig über die Welt, in der unsere Heldin lebt, zu erzählen.
Die Geschichte beginnt vor Delias Geburt auf der Insel Delos. Heute ist der Ort verlassen, und nur wenige Touristen besuchen von Mykonos aus die Überreste des Apollon–Tempels. Damals jedoch florierte die Insel und fungierte als Hauptumschlagplatz für Sklaven. Delia selbst besitzt in Alexandria, ihrer Heimat, übrigens auch Sklaven – eine völlig normale Sache zu dieser Zeit. Ihr Gedanken über die Ungerechtigkeit der Sklaverei zuzuschreiben, wäre nicht sachgemäß.
Das antike Alexandria – eine Stadt, die wir heute nicht nur als multikulturelle Metropole bezeichnen würden, sondern sicher ebenso als das Zentrum der Wissenschaften schlechthin. Und das kommt nicht von ungefähr. Die Ptolemaier, die seit dem Ende der Diadochenkriege über Ägypten herrschten, betrieben mit dem Museion und der Bibliothek die wohl größte und berühmteste Bildungsstätte der bekannten Welt. Weibliche Gelehrte waren dort zwar selten, aber es gab sie.
Es war äußerst vergnüglich, Delia von einigen historischen Persönlichkeiten aus dem Museion und dem Palast begleiten zu lassen. So begegnen wir etwa dem namhaften Arzt Herakleides von Tarent, den Astronomen Acoreus und Sosigenes. Sie waren es, die Julius Caesar später das alexandrinische Kalendersystem nähergebracht haben sollen. Da der römische Kalender tatsächlich nicht viel taugte, holte sich Caesar jedenfalls einen der beiden, nämlich Sosigenes, für die Entwicklung des über Jahrhunderte gültigen Julianischen Kalenders nach Rom. Auch der Philosoph Areios, der nur einmal auftritt, hat wirklich gelebt und war ein enger Freund und Berater von Octavius, dem ersten römischen Kaiser Augustus.
Zur Zeit unserer Geschichte befand sich Ägypten, obwohl eigenständig, bereits seit geraumer Zeit in Abhängigkeit von Rom. König Ptolemaios XII. ließ nichts unversucht, um Ägyptens vermeintliche Freiheit zu bewahren. Aber nicht nur Rom bedrohte seine Macht. Im Jahr 58 v. Chr. wurde er von seiner eigenen Tochter Berenike vertrieben und musste nach Rom flüchten. Erst im Jahr 55 v. Chr. gelang ihm mithilfe Roms die Wiedereinsetzung. Berenike und ihre Anhänger wurden umgehend hingerichtet – die Ptolemaier waren fix im Töten von Familienmitgliedern.
Neben Berenike hatte der König noch weitere Kinder: Kleopatra, die berühmte letzte Ptolemaier-Königin von Ägypten, Arsinoe sowie die beiden Söhne Ptolemaios XIII. und Ptolemaios XIV. Als Ptolemaios XII. im Jahr 51 v. Chr. starb, sollten Ptolemaios XIII. und Kleopatra die Nachfolge antreten.
In diesem Zusammenhang fällt der Name Potheinos auf, der in die Annalen als Erzieher von Ptolemaios XIII. und einflussreicher Minister einging. Unter seinem Befehl wurde auch der vor Caesar nach Ägypten geflüchtete Pompeius ermordet. Ein Umstand, der Caesar getroffen und sehr verärgert hat. Darauffolgend unterstützte er die junge Kleopatra bei ihren Bestrebungen nach der Alleinherrschaft über Ägypten. Die Liebschaft der beiden, die sich dabei entwickelte, ist legendär.
Ich wünsche Ihnen nun viel Vergnügen beim Lesen
Gerlinde Friewald
Griechenland
Jahr 92 vor Christus
I
Ein kräftiger Wind trug das Geräusch der Wellen, die in einem schnellen Rhythmus gegen die im Hafen verankerten Sklavenschiffe und Fischerboote schlugen, über die Insel.
Automatisch hatte Adelphos seine Schritte diesem Takt angepasst und näherte sich zielstrebig der Anhöhe, die in westlicher Richtung an die Hafenstadt grenzte. Kurz sah er über die Schulter und betrachtete die sechs jungen Männer, die ihm wie Gänseküken der Mutter folgten. Weit abgeschlagen entdeckte er seinen Sohn, der sich sichtlich erfolglos abmühte, aufzuschließen. Natürlich besaß er mit seinen zehn Jahren weder die Kraft noch die Ausdauer der anderen, doch könnte er deutlich flinker sein. Was Linos fehlte, waren nicht Muskeln und Größe, sondern Beharrlichkeit und ein eiserner Willen.
Adelphos unterdrückte ein unzufriedenes Murren und hielt abrupt vor einem Strauch mit saftig grünen Blättern an. Als Linos endlich mit hochrotem Kopf und keuchend bei ihnen eintraf, sagte er sofort: »Um welche Pflanze handelt es sich, mein Sohn?«
Der Kleine atmete mehrmals tief durch, um zur Ruhe zu kommen. »Ich … ich weiß es nicht, Vater.« Hilfe suchend blickte er in die Runde, aber alle sechs starrten wie gebannt auf ihre Zehenspitzen.
»Lorbeer«, zischte Adelphos. »Das musst du wissen! Wie willst du jemals in meine Fußstapfen treten, wenn du nicht einmal Lorbeer erkennst?«
»Bitte, Vater, verzeih mir! Ich habe wirklich keine Ahnung.« Linos schluchzte auf und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Zorn wallte in Adelphos auf. Wie war es möglich, dass er einen derartigen Schwächling in diese Welt gesetzt hatte? Blind und taub gegenüber den Wissenschaften, weinerlich und faul, ohne Ansporn, dafür schon heute erfüllt von dem Wunsch nach Vergnügungen. Lieber jagte der Junge mit anderen einem Ball oder bereits Mädchen hinterher, als sich seines Vermächtnisses bewusst zu sein und es dankbar anzunehmen.
Ein erneutes Aufschluchzen brachte Adelphos’ Wut endgültig zum Überlaufen. Mit einem Ruck packte er Linos und stieß ihn zu Boden. Dann riss er einen langen dünnen Zweig von dem Lorbeer–Strauch ab, entfernte die Blätter und versetzte seinem Sohn einen Hieb. Als Arzt kannte er die Stellen genau, die zwar schmerzten, aber keinen bleibenden Schaden hinterließen – und genau auf diese schlug er jetzt ein, wieder und wieder.
Als sich Adelphos schließlich schwer atmend aufrichtete und den zerfransten Zweig achtlos wegwarf, fühlte er sich deutlich besser. Er würde Linos schon beibringen, sich korrekt zu verhalten und die ihm durch Geburt zugefallene Aufgabe wahrzunehmen. Wie er sollte auch der Junge zu Ruhm und Ehre gelangen.
Unwillkürlich ließ er den Blick über die jungen Männer gleiten und blieb an Zenons ebenmäßigem Gesicht hängen. Nicht unbegründet munkelte man, die Grazien persönlich hätten dieses Antlitz geschaffen. Zenon war sein bester Schüler und würde es einst weit bringen. Der Jüngling war nicht nur schön und freundlich, sondern besaß einen Wissensdrang, wie er ihn nur von sich selbst kannte. Er verspürte ihn seit seiner Kindheit und dankte den Göttern täglich für diesen Wesenszug. Ohne ihn hätte er es nie geschafft, die Asklepios–Schriften zu verfassen. Das erschöpfende Werk über die Naturheilkunde, das er dem Gott Asklepios gewidmet hatte, war sein ganzer Stolz, und es stand außer Frage, dass es von seinem eigenen Fleisch und Blut weitergetragen wurde.
»Zenon, bring meinen Sohn nach Hause«, sagte Adelphos. »Despoina soll ihn sofort in die Kammer sperren. Er darf nichts zu essen bekommen, bis ich weitere Anweisungen gebe. Du selbst brauchst danach nicht wiederzukommen. Der Weg in die Stadt und zurück dauert zu lange.« Obwohl er wusste, dass seine Frau den Befehl missachten würde, Linos hungern zu lassen, gab er ihn.
Despoina war eine liebevolle und aufopfernde Mutter, die ihm Hera auf den Leib hetzen würde, wenn er derartige Anordnungen mit Gewalt durchzusetzen versuchte. Er scheute sich nicht, in ihr seine Waage des Gewissens und der Gnade zu sehen, die alles im Gleichgewicht hielt.
Wie aus dieser Vereinigung ein solcher Nichtsnutz hatte entstehen können, war Adelphos unverständlich. Sogar Linos’ Zwillingsschwester Althaia wäre geeigneter, Arzt zu werden und die Asklepios–Schriften fortzuführen. Um eine Tochter zu unterrichten, müssten sie allerdings an einem anderen Ort leben. Mehrfach hatte er gehört, dass etwa am Museion von Alexandria, der größten und wichtigsten aller Bildungsstätten, Frauen unter besonderen Umständen arbeiten und forschen durften.
Adelphos beobachtete, wie sich Zenon neben seinem nach wie vor auf dem Boden kauernden Sohn hinkniete, dessen Hand ergriff und leise sagte: »Komm, Kleiner, alles wird gut werden.«
Linos hob sein tränenverschmiertes Gesicht und sah Zenon mit einer dermaßen offenkundigen Hingabe an, dass sich in Adelphos Eifersucht regte. Bei ihm zeigte der Junge nur Abwehr und Furcht.
Unbeholfen stand Linos auf, wobei er Zenons Hand nicht losließ. Seine Knie waren aufgeschunden, und von den Schlägen hatte er bestimmt starke Schmerzen, doch hielt er sich tapfer und humpelte langsam davon.
Mit einer entschiedenen Bewegung wandte sich Adelphos von den beiden ab und drehte sich seinen verbliebenen Schülern zu. Der Unterricht musste weitergehen.
II
Nachdem Zenon den kleinen Linos bei seiner Mutter abgeliefert hatte, lenkte er seine Schritte in Richtung des Hafens. Der Junge hatte ihm mit seiner Dummheit einen guten Dienst erwiesen. Andernfalls wäre er nämlich gezwungen gewesen, eine Ausrede zu finden, warum er vom Unterricht fortmusste. Nicht, dass es auf eine weitere Lüge angekommen wäre, aber die Unwahrheit barg immer ein gewisses Risiko.
Mit eingezogenem Kopf schritt er flott voran, wobei er die Menschen um sich herum verstohlen musterte. Auf keinen Fall sollte ihn jemand erkennen. Immerhin lag sein Ziel nicht im ehrbaren Viertel der Stadt, sondern dort, wo unredliche Sklavenhändler, Diebe und sonstige zwielichtige Gestalten in engen dunklen Gassen ihren Geschäften nachgingen.
Vor einer niedrigen Tür hielt er schließlich an und klopfte dreimal. Sofort wurde die aus alten Schiffsplanken grob gezimmerte Konstruktion einen Spaltbreit aufgezogen, und der Kopf eines Mannes in mittleren Jahren erschien. Das zerfurchte und von Narben entstellte Gesicht zeugte von einem kampferprobten Leben. Als er Zenon erkannte, verzog er den Mund zu einer Grimasse, die einem Lächeln gleichkam, und murmelte: »Ich habe dich später erwartet.« Er beugte sich vor, nahm die Gasse in Augenschein, dann ließ er Zenon ein.
»Eine glückliche Fügung. Bin ich zu früh?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Die Vorbereitungen sind abgeschlossen, und alle stehen bereit. Jetzt braucht es nur noch dunkel zu werden.«
»Ich habe nie daran gezweifelt, dass du dein Handwerk verstehst. Mein Dank ist dir gewiss, Kleitos«, erwiderte Zenon.
Er kannte den Banditen seit geraumer Zeit und wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Dafür sorgten vor allem die ständigen medizinischen Gefälligkeiten, die er diesem Mann und seiner Bande erwies. Einmal gab es eine Messerwunde zu nähen, dann eine delikate Krankheit zu behandeln oder eine kleinere Operation durchzuführen. Die Arbeiten waren nicht angenehm, doch für seinen Plan, den er über Jahre hinweg entwickelt hatte, benötigte er Kerle wie diesen und musste sich ihr Wohlwollen sichern.
Allein deshalb war er auch auf die aberwitzige Forderung eingegangen, Kleitos’ Tochter zu heiraten. Offenbar war der Schurke dem Mädchen sehr zugetan und wollte für sie einen Mann aus besserem Hause finden. Ein Unterfangen, das für die Tochter eines Diebes und Piraten prinzipiell unmöglich war, außer der zukünftige Ehemann war ebenfalls in dubiose Angelegenheiten verwickelt.
»Bleiben die Dinge wie gehabt?«, fragte Kleitos.
Zenon nickte. »Ja. Ihr begebt euch nach Anbruch der Dunkelheit zum Tempel und versteckt euch. Ich stoße dazu, und alles läuft wie besprochen. Es darf keinerlei Abweichungen geben. Instruiere deine Männer entsprechend.«
»Mach dir um uns keine Sorgen. Wenn wir nicht ganz genau wüssten, was wir tun, würde keiner mehr leben.« Der Mann lachte rau auf und klopfte Zenon auf die Schulter. »Nun, was ist? Willst du jetzt deine zukünftige Frau sehen?«
»Sehr gern. Wenn du es erlaubst, werde ich mit ihr einen Spaziergang machen.«
Wieder ertönte das Lachen. »Einen Spaziergang! Natürlich erlaube ich das.« Er drehte sich um und rief: »Helena, komm hierher!«
Auf der Stelle trat ein molliges Mädchen mit fliehendem Kinn und Knollennase hinter einer Holzwand im rückwärtigen Teil des Raums hervor.
Zenon lächelte ihr einnehmend zu und zeigte auf die Tür. »Ich möchte ein wenig die Sonne genießen. Begleitest du mich?«
Unsicher zuckte sie mit den Schultern, aber das Leuchten in ihren Augen zeugte von der Bereitschaft, und schnell schlüpfte sie hinter Zenon nach draußen.
Kaum, dass Kleitos die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, fragte sie leise: »Wo gehen wir hin?«
»Das wirst du schon sehen.« Zenon vollführte eine strikte Handbewegung zum Zeichen, dass sie schweigen sollte. Er hatte keine Lust, sich mit diesem dummen hässlichen Weib zu unterhalten. Die schönsten Frauen von Delos spreizten für ihn die Beine. Mit Helena gab er sich bloß wegen ihres Vaters ab.
Während sie schweigend nebeneinanderher schritten, veränderte sich langsam die Umgebung. Die Gassen wurden zwar nicht breiter, doch es herrschte zusehends regeres Treiben. Eine Gaststätte reihte sich an die andere, und Gelächter erfüllte die Luft. Falls ihn hier jemand erkannte, störte es Zenon nicht. Das Lokalviertel der Stadt wurde von beinahe allen Schichten besucht – Seeleuten, Handwerkern, sogar ehrenwerten Bürgern.
Abrupt betrat er eine Gaststätte und ging direkt auf den Tresen zu. Um Helena kümmerte er sich nicht. Sie folgte ihm ohnehin auf dem Fuß. Er reichte dem Mann hinter dem Ausschank ein Geldstück, ergriff Helenas Hand und zerrte sie in eine Art Verschlag, der sich unter einer hölzernen Treppe befand. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sie mit dem Gesicht zur Mauer und drückte ihren Körper gegen den rauen Verputz. Dann schob er ihren Rock bis zu den Hüften hoch, spuckte auf seine Finger und fuhr mit der Hand zwischen ihre Beine.
Helenas plötzliches Wimmern kümmerte ihn nicht, doch wollte er etwaigem Geschrei von vornherein Einhalt gebieten. »Sei gefälligst still«, zischte er. »Danke mir lieber, weil ich deine Jungfräulichkeit unversehrt lasse – auch wenn sich keiner darum schert.«
Mit einer geübten Bewegung lüftete er sein Gewand und drang in sie ein. Wenn er ihr Gesicht nicht sah, hatte er tatsächlich nichts gegen diesen warmen weichen Körper einzuwenden.
III
Bereits seit einer geraumen Weile kauerte Zenon hinter dem dichten Blätterwerk der Feigensträucher und wagte kaum zu atmen. Gebannt starrte er auf die Silhouette seines Lehrers, der am Fenster stand und in die Dunkelheit hinausblickte. Keinesfalls durfte er riskieren, von Adelphos im Licht des vollen Mondes gesehen zu werden. Abends galt ein striktes Ausgehverbot, das er und seine Kollegen jedoch nicht einhielten und sich gegenseitig deckten.
So etwa lag in seinem Bett jetzt eine zusammengerollte Strohmatte unter zwei aufgebauschten Decken. Für die Gruppe wiederum befand er sich in den Armen einer hübschen jungen Frau, deren deutlich älterer Mann, ein Schmuckhändler, verreist war. Schon vor Langem war er dahintergekommen, dass eine Lüge umso besser funktionierte, wenn das Maß stimmte. Zu viele Details machten argwöhnisch, zu wenige ebenso.
Lösch doch endlich die Lichter!, dachte Zenon flehentlich und strich sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn. Wie hätte er auch ahnen können, dass Adelphos ausgerechnet heute so lang wach blieb. Aber er musste warten. Erst wenn sein Lehrmeister schlief, war er sicher und konnte loslaufen.
Unwillkürlich seufzte er auf. Dabei war bisher alles reibungslos verlaufen. Nachdem er Helena wieder zu Hause abgeliefert hatte – nicht ohne die Drohung, Schlimmeres mit ihr anzustellen, sollte sie auch nur ein Wort über den Besuch in der Gaststätte verlieren –, war er in das Schülerquartier zurückgekehrt, das direkt an Adelphos’ Haus grenzte. Er hatte mit allen gegessen und die anschließende Abendbesprechung über sich ergehen lassen. Um nichts zu riskieren, war er sogar noch eine Weile bei seinen Kollegen geblieben, obwohl sich Adelphos längst zurückgezogen hatte.
Ein Geräusch ließ Zenon aufhorchen. Es waren die Fensterläden, die Adelphos gerade aus der Verankerung gelöst hatte und nun mit einem kräftigen Ruck schloss. Durch die Ritzen des Holzes drang der Schein der Lampen, die auf Adelphos’ Platz standen. Dann wurde es schrittweise dunkler, bis kein Licht mehr den Raum erhellte.
Kurz wartete Zenon noch in seinem Versteck, dann überquerte er in geduckter Haltung den Platz vor dem Haus seines Lehrers und schlug den Weg zum Tempel des Apollon ein. Immer wieder verbarg er sich hinter einem der majestätischen Steinlöwen, die den Pfad zum Tempel säumten, und spähte in alle Richtungen.
Zenon wusste, dass er übertrieben vorsichtig war. Niemand spazierte in der Nacht zum Tempel, um Apollon zu huldigen. Außerdem neigte sich die Zeit für Pilger, Händler und andere Reisende mit dem Einsetzen des Herbstes ihrem Ende entgegen. Dennoch fühlte er sich mit dieser Vorgehensweise sicherer.
Sobald die Umrisse des imposanten Gebäudes erschienen, verschanzte er sich hinter einem Strauch, ironischerweise war es Lorbeer, und taxierte sein Umfeld. Der kräftige Wind des Tages hatte sich gelegt, und kein Blatt regte sich. In der Stille hätte er wahrscheinlich eine Maus über den Boden laufen hören. Vorsichtig trat er wieder auf den Weg hinaus und schlich zum Tempel. Das Knirschen unter den Sohlen dröhnte in seinen Ohren. Es musste an der vollkommenen Stille und seinen sensibilisierten Sinnen liegen, dass ihm dieses leise Geräusch wie ein einziger bombastischer Hall erschien.
Zenon hatte die Stufen des Tempels noch nicht erklommen, als sieben in dunkle Kleidung gehüllte Gestalten hinter den Säulen hervortraten. Beinahe verschmolzen sie mit der Umgebung, doch als sie die Kapuzen zurückschlugen, kamen im Mondlicht vom Kampf gezeichnete Gesichter zum Vorschein. Wären diese Männer nicht auf seiner Seite, hätte er auf der Stelle kehrtgemacht und die Flucht ergriffen.
Sein zukünftiger Schwiegervater machte einen Schritt auf ihn zu. »Die Wachen und Priester haben wir erledigt.«
Zenon nickte. »Sehr gut. Dann lasst uns beginnen.« Mit durchgestreckter Wirbelsäule und zurückgezogenen Schultern ging er an den Männern vorbei auf den Eingang zu und betrat den Tempel. Das Innere war mit unzähligen Feuern ausgeleuchtet. »Schnappt euch jeder eine Fackel«, sagte er und übernahm die Führung.
Sie durchquerten den für Besucher zugänglichen Teil des Heiligtums, passierten zwei hintereinanderliegende Räume und gelangten schließlich über einen schmalen, leicht abschüssigen Gang in einen gewölbeartigen Bereich. Die Wände waren mit Regalen ausgekleidet, die bis zur Decke reichten, und in der Mitte stand ein langer Tisch. In einer Ecke waren einige Schemel übereinandergestapelt, und eine Leiter lehnte neben dem Eingang. Über allem hing der Geruch von beschriebenem Papyrus.
Zenon kannte dieses typische Aroma, das er nicht mit Worten beschreiben könnte, aus Adelphos’ hauseigener Bibliothek, wo die originalen Asklepios–Schriften fest verschlossen hinter einer massiven Holztür lagerten. In ein Gebäude umringt von Nachbarn vorzudringen war viel gefährlicher, als in einen abgeschiedenen Tempel einzubrechen. Die Papyri hier im Heiligtum waren bloß Kopien, doch für seine Zwecke genügten sie allemal. Wer brach schon in ein Haus umringt von Nachbarn ein, wenn er auch einen abgeschiedenen Tempel wählen konnte?
Ein Schauer rann über Zenons Rücken – in dem Gewölbe war es deutlich kühler als im vorderen Teil des Gebäudes, den die Sonne tagsüber aufgeheizt hatte. Er rieb sich die Hände und las die Etikettierung des ersten Regals zu seiner Linken. »Hier. Und hier.« Dann begutachtete er das nächste. »Und das.« Als er alle betreffenden Fächer gekennzeichnet hatte, drehte er sich zu den Männern um. »Arbeitet flink, aber hastet nicht.«
Ohne ein Wort der Erwiderung zogen sie große Leinensäcke unter ihren Umhängen hervor und begannen sofort, die von ihm gewünschten Papyri einzustecken. Mit vollen Taschen verließen sie den Raum.
Zufrieden blickte Zenon ihnen nach. Wenn sie so schnell liefen, wie sie die Säcke einräumten, würden sie früher fertig sein, als er gedacht hatte. Ganze zehn Mal war er für diese Berechnung den Weg in jedem erdenklichen Tempo abgegangen, hatte Verschnaufpausen eingelegt, Stürze und andere Pannen simuliert. Die heikelste Passage war nicht der Hain, der in östlicher Richtung an den Tempel grenzte, sondern das letzte Stück des Hügels hinab zum Meer. Auch die kleine felsige Bucht, in der das Boot vertäut war, hatte ihre Tücken.
»Hier ist was!« Kleitos, der sich als Anführer der Gruppe natürlich ebenfalls nicht abrackerte, zeigte auf einen unauffälligen Spalt zwischen den Regalen an der längsseitigen Mauer. Er rüttelte an dem vertikalen Brett, bis es aus der Verankerung sprang, und schob es vorsichtig zur Seite. Dann streckte er die Hand, in der er die Fackel hielt, und gleich darauf den Kopf durch die Öffnung. »Wusste ich’s doch«, murmelte er und schlüpfte hindurch.
Zenon folgte ihm auf der Stelle. Er ahnte, was Kleitos meinte, und hatte bereits ähnliche Überlegungen angestellt. Neugierig sah er sich um. Der Raum war kaum kleiner als der, in dem die Papyri aufbewahrt wurden, und auch mit Regalen ausgestattet. Auf ihnen lagen allerdings keine Schriftrollen, sondern die Geschenke der Gläubigen und Bittsteller an Apollon. Fein gehauene Miniaturstatuen reihten sich an verzierte goldene Becher und bemalte Schmuckkästchen. Es gab Vasen, Schalen mit Edelsteinen, prächtige Waffen, Halsgeschmeide, Armbänder, Ringe und vieles mehr.
»Kannst du mir erklären, warum du die Mühe mit diesen Schriften auf dich nimmst, wo vor uns ein Vermögen liegt?« Kleitos zog eine Perlenkette von einem Regal und ließ sie durch seine dicken, schrundigen Finger gleiten.
Kurz überlegte Zenon, wie er einem solchen Kerl seine Beweggründe am besten erläuterte. »Hast du schon einmal etwas so sehr begehrt, dass du beinahe alles dafür getan hättest?«
Der Mann zuckte mit seinen Schultern. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich. Als Kind musste ich ständig Hunger leiden. Für ein Stück Brot …« Er vollendete seinen Satz nicht und vollführte eine Handbewegung, als würde er jemanden erdrosseln. Dabei benutzte er die Kette wie eine Schnur.
»Dann wirst du mich vielleicht verstehen, obwohl es mir nicht um Brot geht.«
»Und worum geht es dir?«
»Seit ich zurückdenken kann, ist es mein sehnlichster Wunsch, Arzt zu werden. Doch nicht irgendeiner unter vielen. Ich will berühmt sein und geachtet werden, eine überragende Persönlichkeit unter den einfachen Gelehrten darstellen.«
»Und das schaffst du mit diesen vollgekritzelten Schriftrollen?« Die Skepsis in Kleitos’ Stimme war unverhohlen.
»Sei vorsichtig, was du sagst«, zischte Zenon, fasste sich aber sofort wieder und sprach in höflichem Ton weiter. »Bei diesen Papyri handelt es sich um ein bedeutungsvolles Werk über die Naturheilkunde. Zum einen beschreibt Adelphos die Wirkung von Pflanzen und anderen Substanzen, zum anderen erklärt er, wie man Medizinen herstellt und welche Dosierungen anzuwenden sind. So manches heilt in geringer Menge und tötet, wenn man zu viel einnimmt.« Er winkte ab. »Als Schöpfer eines solchen Meisterwerks bin ich allerorts schlagartig eine Berühmtheit.«
»Was wir da wegschaffen, sind nur Zweitschriften. Meinst du, ich weiß das nicht?«
Zenon sah, wie Kleitos’ Augen im Schein der Feuer listig aufblitzten. Offensichtlich hatte er es trotz der Erklärung nicht kapiert. Lagen Tücke und Dummheit im Fall dieses Diebs wirklich so nah beieinander? »Es geht um den Inhalt, nicht um Adelphos’ Handschrift und Zeichnungen.«
»Und das ist ein Glück.« Kleitos nickte bedächtig, als hätte er den Umstand ohnehin von Beginn an durchschaut. »Aus der Bibliothek deines Lehrers hätten wir die Papyrusrollen nämlich nicht so einfach stehlen können. Ihn und seine Familie zu erledigen, wäre noch leicht gewesen, aber dann hätten die Schwierigkeiten begonnen.« Achtlos warf er die Perlenkette zurück in das Regal.
Für einen Moment hielt Zenon den Atem an. Die Antwort von Kleitos zeigte ihm deutlich, mit wem er es zu tun hatte. Ausschließlich zählten die Durchführbarkeit und das Risiko, nicht die Tatsache, dass sie in Adelphos’ Haus auch Kinder und Despoina hätten ermorden müssen. Dieser Mann war so gefährlich wie unerbittlich, und wünschte sich Kleitos nicht eine bessere Zukunft für Helena, hätte er selbst spätestens jetzt beim Anblick der Schätze ein Messer zwischen den Rippen stecken.
»Deine Tochter und ich werden irgendwo weit genug entfernt von Delos neu beginnen«, sagte Zenon, um den Dieb seine Rolle nicht vergessen zu lassen. »Niemand wird je erfahren, woher Helena kommt und wer ihr Vater ist. Reichtum und Glück sind ihr dank mir beschieden.« Mit dem Kinn deutete er auf das Regal vor sich. »Ich nehme nur so viel, um uns einen angemessenen Start zu ermöglichen.«
»Die Aufteilung werden wir auf dem Boot durchführen«, erwiderte Kleitos und schob den Kiefer hin und her.
Zenon brauchte weder die besondere Gabe der Deutung noch übermäßiges Feingefühl, um zu erahnen, was in Kleitos’ Kopf vorging. Er stellte sich die Frage, was mehr wog – die Schätze oder Helenas glänzende Zukunft an der Seite eines Arztes.
IV
»Komm ans Feuer und iss mit uns!«, rief Kleitos und winkte.
Obwohl Zenon nicht hungrig war, erhob er sich von dem Felsvorsprung, wo er gesessen hatte, und sprang auf den groben Sand hinunter. Der feste Boden unter den Füßen fühlte sich gut an, und die Übelkeit kam trotz der Erschütterung nicht wieder.
Noch während des Abtransports der Papyrusrollen hatte aus dem Nichts ein Sturm eingesetzt, der das Vorhaben beinahe zunichtegemacht hätte. Es war der Erfahrung dieser Männer zu verdanken, dass sie trotzdem pünktlich vor Anbruch der Morgendämmerung in See gestochen waren und es geschafft hatten, binnen drei Tagen die Küste Asias zu erreichen.
Zenon war nicht zimperlich, doch allein das Umschiffen der Insel Mykonos, die direkt neben Delos lag, hatte ihm den Angstschweiß auf die Stirn getrieben. Im Vergleich dazu war die freie See trotz des starken Wellengangs harmlos gewesen. Untergehen hätten sie da wie dort können, aber die Vorstellung, an den Felsen von Mykonos zu zerschellen, war in doppelter Hinsicht schrecklich gewesen. Dann nämlich hätte man den Raub vermutlich entdeckt, und er wäre – tot oder nicht – für alle Zeiten gebrandmarkt. Nichts zählte mehr für ihn als sein guter Name.
Mit einem verschämten Lächeln trat Zenon an das Feuer. Der Eintopf roch köstlich, und sein Magen regte sich. Nicht nur als Seeleute hatten diese Männer ihr Können unter Beweis gestellt. Er war erstaunt gewesen, wie geordnet sie nach der Ankunft in der Bucht binnen kurzer Zeit ein brauchbares Lager für sich und ein zweites für die Papyri errichtet hatten. Die Nahrungsbeschaffung war darüber hinaus wie nebenbei geschehen.
Kleitos grinste und zeigte auf den Kessel, der über dem Feuer in einer Konstruktion aus frisch abgehackten Ästen hing. »Los, nimm dir was. Die vergangenen Tage hast du schließlich alles gleich wieder über die Reling gespien. Außerdem benötigen wir einen Vorkoster. Wenn du tot umfällst, haben wir irrtümlich eine giftige Wurzel mitgekocht.«
Die Männer lachten, und Zenon griff pflichtschuldig nach einer Schale. Mit der Holzkelle befüllte er sie bis zum Rand und kostete. Die Mischung aus Hase, Fisch, wilden Kräutern und Pflanzen schmeckte besser, als er erwartet hatte. Er ging zu einem Platz mit Blick auf die Papyri und setzte sich.
»Keine Angst. Deine Schriftrollen sind hier sicher«, sagte Kleitos. »Der Verschlag ist durch die mitgebrachten Planen für Monate wetterfest gemacht, und wir haben die nächste Umgebung erkundet. Da ist niemand weit und breit. Aber wirst du ohne uns zurechtkommen? Die nächste Ansiedlung kann irgendwo sein.«
»Wie geplant besteigt ihr das Boot und segelt zurück nach Delos. Ich wandere indessen die Küste entlang in Richtung der Stadt Pergamon. Du musst dich nicht sorgen. Mir passiert schon nichts.«
»Und ob ich mich sorge!« Kleitos strich sich über das Kinn. »Nicht um dich, Zenon – von mir aus kann dich Kerberos fressen –, sondern um unsere Vereinbarung. Tot bist du wertlos für mich.«
Zenon unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Mehrere Male hatte er Kleitos sein Vorhaben erklärt und die Gründe dafür umfassend erläutert. Bevor er in Pergamon einzog, musste er irgendwo außerhalb auf dem Land ausharren, um die Zeit ziehen zu lassen und sich schrittweise eine neue Identität zu schaffen. Delos und Pergamon waren Knotenpunkte, und es bestand zumindest die theoretische Möglichkeit, dass sich die Geschichte der verlorenen Asklepios–Schriften verbreitete. In zwei oder drei Jahren hingegen war sie längst vergessen.
Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf und räusperte sich, um seiner Stimme einen weichen Klang zu geben. »Wie ich bereits erklärt habe, werde ich mich vorerst in einem Dorf an der Küste niederlassen. Die Papyri hole ich nach und nach.«
»Der Schatz aus dem Tempel wird dir in einem verdreckten Fischernest nichts bringen.«
»Der nicht, da hast du recht, aber meine Dienste als Arzt. Menschen aus der ganzen Gegend werden kommen, und vorläufig lasse ich mich mit allem bezahlen, was ich zum Leben und für ein Heim brauche – Naturalien, Baumaterial, Arbeitskraft, Essen, Tiere«, erwiderte Zenon geduldig. »Ich habe deine Tochter wirklich gern und möchte, dass sie ein ordentliches Zuhause hat. Sobald ich mich eingerichtet habe, übermittle ich dir auf dem Seeweg eine Nachricht. Dann schickst du Helena zu mir.« Er beugte sich vor. »An meiner Seite wird sie später ein ebenso feudales wie achtbares Leben führen.«
Kleitos hob die Hand und fuhr sich mit ausgestrecktem Zeigefinger quer über den Hals. »Brichst du dein Versprechen, werde ich dich aufspüren – in Pergamon oder sonst wo auf der Welt.«
Zenon setzte eine ernste Miene auf und nickte. »Dein zukünftiger Schwiegersohn ist ein Ehrenmann, Kleitos. Vergiss das nie.« Er wusste, dass der Dieb ihm vertraute, dennoch durfte er nicht nachlassen und musste seine Rolle bis zum Ende perfekt spielen. Mit einem genussvollen Laut löffelte er den letzten Rest des Eintopfs aus der Schale und stand auf. »Es duftet zu köstlich. Kann ich mir einen Nachschlag nehmen?«
Erneut lachten die Männer, und einer sagte: »Beeil dich! Wenn wir erst zulangen, ist schnell nichts mehr übrig.«
»Dann will ich mich mal sputen.« Zenon machte einen Schritt vor und beugte sich weit über den Topf, als würde er das Aroma einatmen. Während er die Schale neben dem Feuer abstellte, die Kelle ergriff und sich nachnahm, glitt er mit der freien Hand unbemerkt unter sein Gewand und zog ein Fläschchen hervor. Er entfernte den Verschluss mit dem Daumen und kippte den gesamten Inhalt in den Kessel.
Vermutlich würde bereits die Hälfte des Mittels ausreichen, um den Tod dieser Männer herbeizuführen, doch er wollte sichergehen. Zu riskieren, sie im Morgengrauen endgültig erledigen zu müssen, wäre ihm unangenehm. Mit Gift schied man langsam und qualvoll aus dem Leben. Kein Mensch hatte es verdient, gewissermaßen zweimal zu sterben.
Mit einem stummen Seufzer setzte er sich wieder auf seinen Platz und begann sofort zu essen.
»Stopf es dir nicht so rein, Zenon«, sagte Kleitos. »Dein Magen ist noch empfindlich. Wir heben dir schon was auf.«
»Danke.« Kurz betrachtete Zenon beinahe versonnen die Schale in seiner Hand, dann hob er den Kopf und sah Kleitos direkt an. »Zenon gibt es nicht mehr. Nenn mich ab jetzt Zenodoros.«
V
Seit die Kopien seiner Asklepios–Schriften aus dem Tempel verschwunden waren, wurde Adelphos regelrecht bevölkert. Jeder auch nur im Ansatz bedeutende Mann auf Delos wollte mit ihm reden und seine Meinung hören. Seit einer Woche war er sogar gezwungen, den Unterricht auszusetzen. Mit den ständigen Unterbrechungen konnte er seine Lehreinheiten nicht gewissenhaft und in Ruhe durchführen.
Wie ein Lauffeuer war die Kunde umgegangen, und bald hatte sich eine Eigendynamik entwickelt, die Adelphos mit Erstaunen, Sorge und einem Hauch von Hoffnung verfolgte. Jeder hatte etwas Besonderes gesehen und wusste mehr als sein Nachbar zu berichten. In einem Punkt aber herrschte Einigkeit: Kein menschliches Wesen wäre imstande gewesen, ein derart umfangreiches Werk innerhalb einer einzigen Nacht zu entwenden.
Apollon höchstpersönlich musste an den Ort seiner Geburt zurückgekehrt sein und die Papyri an sich genommen haben. Wohl aufgrund ihres Namens gingen die Mutmaßungen so weit, dass die Schriftrollen in Wahrheit für Asklepios, den Gott der Heilkunst, vorgesehen waren – sozusagen ein Geschenk des Vaters an den Sohn.
Was Adelphos in dem ganzen Aufruhr am meisten verblüffte, war die Selbstverständlichkeit, mit der das Verschwinden seines Schülers Zenon erklärt wurde. Apollon hatte den wunderschönen begabten Jüngling während seines Aufenthalts hier entdeckt und kurzerhand mitgenommen. Als wäre der Gott einfach so über die Insel spaziert und hätte Zenon eingesammelt wie eine Muschel am Strand. Das war doch alles zusammen nur lächerlich!
Ein Klopfen riss Adelphos aus seinen Gedanken. Bereits im nächsten Moment wurde die Tür aufgezogen, und Despoina betrat gefolgt von Leonides, dem obersten Apollon–Priester, seinen Arbeitsraum. Noch nie hatte ihm der Mann einen Besuch abgestattet. Gab es etwas zu besprechen, wurde er in den Tempel zitiert.
Adelphos verneigte sich. »Ehrwürdiger Leonides …«
»Wir haben zu reden«, sagte der Apollon–Priester knapp und wies Despoina mit einem kaum merklichen Zeichen an, zu verschwinden.
Adelphos nickte ihr zu, woraufhin sie auf der Stelle den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog.
Ungefragt setzte sich Leonides auf den freien Stuhl neben Adelphos. »Ich hörte, dass du sehr zurückhaltend antwortest, wenn dich jemand auf die besondere Wertschätzung Apollons anspricht, die uns zuteilwurde. Erkläre mir den Grund.«
Adelphos strich sich über das Kinn und senkte den Blick. Es widerstrebte ihm, diesen Mann anzulügen. Aber durfte er es wagen, seinen inneren Zwiespalt vor dem Vertreter Apollons offen darzulegen? Womöglich würde er damit den Gott erzürnen oder – vielleicht noch schlimmer – seine Priester gegen sich aufbringen.
»Ich bin Wissenschaftler«, murmelte er schließlich. »Es gibt einige … Ungereimtheiten, und viele Fragen sind offen.«
»Ach ja? Und welche?«
Wieder benötigte Adelphos eine Weile, bis er antwortete. »Nun, beispielsweise wäre es ohne Probleme machbar gewesen, die Schriftrollen binnen einer Nacht fortzuschaffen. Ich habe es durchgerechnet. Fünf oder sechs Männer hätten dafür ausgereicht.« Er hüstelte. »Was ist mit den Priestern, die im Tempel schliefen, und den Wachen? Warum treten die nicht auf und berichten, was sie in dieser Nacht gesehen haben? Die Angelegenheit mit meinem Schüler Zenon erscheint mir ebenfalls unlogisch. Verzeih mir die Anmaßung, aber hätte Apollon nicht eher mich mitgenommen? Ich trage sämtliches Wissen über die Naturheilkunde in mir und habe die Asklepios–Schriften verfasst.«
Leonides wischte Adelphos’ Worte mit einer schnellen Handbewegung weg und runzelte die Stirn. »Gefallen dir der unvermutete Ruhm und die besondere Anerkennung?«
Die sanfte Stimme des Priesters passte so gar nicht zu dem grimmigen Gesichtsausdruck. Dies waren Schmeichelei und Drohung zugleich. »Würden die Umstände nicht meine Arbeit behindern, natürlich sehr«, sagte Adelphos wahrheitsgemäß. »Es ist eine große Ehre für mich, derart gewürdigt zu werden.« Er wiegte den Kopf. »Trotzdem werde ich nicht gegen die Vernunft sprechen, wenn jemand meine ehrliche Meinung hören will.«
»Und wenn … du es doch tätest?«
Mischte sich nun auch noch Tücke in das Verhalten des Priesters? In Windeseile versuchte Adelphos, seine Empfindungen und die Fakten in Einklang zu bringen. Jedenfalls musste er äußerst achtsam vorgehen, um nicht zu einem Opfer der seltsamen Geschehnisse zu werden. Es wäre ein immenser Fehler, die Macht der Priesterschaft zu unterschätzen.
Adelphos faltete die Hände und beugte sich einen Tick vor. »Leonides, wir kennen einander seit vielen Jahren, und du weißt, welch treuer Diener Apollons ich bin.« Er setzte ein reserviertes Lächeln auf und fügte hinzu: »Dass ich außerdem alles für meine Asklepios–Schriften machen würde, ist genauso wenig ein Geheimnis für dich.«
»Gut. Bewahre diesen Standpunkt wie einen Schatz in deinem Gedächtnis.« Leonides nickte sichtlich zufrieden. »Ab sofort unterstützt du aktiv die Hypothese von Apollons Besuch im Tempel. Nicht eine Menschenseele darf sich über deine Zurückhaltung wundern oder gar neugierige Fragen stellen.«
»Hypothese, keine Tatsache?« So unüberlegt Adelphos die Worte ausgesprochen hatte, wähnte er sich endlich dichter an der Wahrheit. Die verkrampfte Haltung des Priesters war unmissverständlich.
»Was ich dir jetzt offenbare, Arzt, unterliegt strengster Geheimhaltung«, zischte Leonides. »Erwähnst du das Geheimnis je einer anderen Person gegenüber, ist dein Leben und das deiner Familie verwirkt – sei dir dessen gewiss.« Kurz pausierte er. »Wir haben sowohl die Priester als auch die Wachen ermordet aufgefunden, und neben den Papyri sind Schätze aus einem Lagerraum verschwunden. Apollons Begeisterung für die Asklepios–Schriften dient unserem Ansehen – die Gläubigen werden im Frühling herbeiströmen –, Mord und Diebstahl hingegen würden sie bloß abschrecken. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, die tragischen Details für uns zu behalten.«
Adelphos brauchte einen Moment, um die Informationen in ihrer gesamten Tragweite zu begreifen. »Dann habt ihr also …?«
»Die Geschichte erfunden und verbreitet? Ja, genau das haben wir.«
Jäh erfasste Adelphos ein Schwindel. Zweifellos erlangte er durch dieses Ereignis einen Bekanntheitsgrad, den er sich sonst nur erträumen könnte. Doch welchen Preis hatte er dafür zu zahlen? War es überhaupt möglich, mit einer solchen Lüge weiterhin Stolz auf sich und die Asklepios–Schriften zu empfinden?
Ein Schauer rann über seinen Rücken, als er sich die unverhohlene Drohung vergegenwärtigte. Was brachte es ihm, seine Ehre zu behalten, wenn er tot war? Und nicht nur er befand sich in Gefahr. Traf er die falsche Entscheidung, landete seine Familie gleich mit ihm in der Unterwelt.
Mit einem tiefen Seufzer straffte Adelphos die Schultern und blickte dem Priester direkt in die Augen. »Ich werde tun, was du wünschst.«
***
Fünf Jahre nach dem Verschwinden der Asklepios–Schriften aus dem Tempel des Apollon fielen die Einwohner der Insel Delos dem Feldherrn Menophanes im Mithridatischen Krieg zum Opfer. Der Heerführer kannte keine Gnade, tötete oder versklavte die schutzlosen Menschen, plünderte und zerstörte – auch das Heiligtum Apollons. Delos erholte sich nie wieder von diesem Schlag.
Adelphos und seine Familie lebten zu dieser Zeit längst an einem anderen Ort. Gesandte des ägyptischen Palasts hatten von der Geschichte des herabgestiegenen Gottes gehört und dem Herrscher von den Asklepios–Schriften berichtet. Ptolemaios, ständig auf der Suche nach Wissenschaftlern für sein Museion, holte Adelphos daraufhin an diese berühmteste Bildungsstätte der bekannten Welt. Mit im Gepäck befanden sich die originalen Schriftrollen, ein weiterer Schatz für die Bibliothek in Alexandria.