Ruanda - Gerd Hankel - E-Book

Ruanda E-Book

Gerd Hankel

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Beschreibung

Wie entwickelt sich ein Land nach einem Völkermord? Wie leben Täter und Opfer zusammen? Welche Wahrheit bildet das Fundament des Zusammenlebens? Und welcher Gebrauch wird von dieser Wahrheit nach innen bzw. nach außen gemacht? Mit welchem Erfolg? Über fast fünfzehn Jahre hinweg hat Gerd Hankel Ruanda und dessen Nachbarland, die Demokratische Republik Kongo, immer wieder besucht und dabei Antworten auf all diese Fragen gesucht. Das Bild, das er zeichnet, ist ernüchternd. Der Völkermord ist zu einem politischen Instrument geworden, das der Absicherung von Herrschaft dient. Nicht um Aufarbeitung und Versöhnung geht es, sondern um die Durchsetzung eines Geschichtsbildes, das keinen Widerspruch duldet. Hinter dem Vorzeigestaat in Zentralafrika, der gemeinhin als Leuchtturm der Entwicklung in der Region und als Vorbild der Vergangenheitsaufarbeitung gilt, verbirgt sich ein totalitäres Regime. Wie passt das zusammen? Wie viel Unrecht verträgt der Fortschritt?

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Gerd Hankel

Ruanda

Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord

Wie Geschichte gemacht und zur offiziellen Wahrheit wird

Dieses Buch wird gefördert von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

© 2016 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Lektorat: Clemens Wlokas

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

Umschlaggestaltung: Hildendesign · München · www.hildendesign.de

Umschlagmotive: © Gerd Hankel

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Fotos der Bildteile: © Gerd Hankel

ISBN 978-3-86674-487-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Meiner Familie und

den Menschen in Ruanda

gewidmet.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Karten Ruandas und des Ostkongo

Zeittafel

Einleitung

Teil I Erste Eindrücke, ein kurzer Rückblick und beginnende Reflexionen über die Fragwürdigkeit von Begriffen (im Jahr 2002)

1. Der allgegenwärtige Völkermord und das normale Leben

1.1 Ferne Verbrechen und Formen des legitimen Umgangs damit

1.2 Die Wahrheit der Sieger, die Wahrheit der Besiegten und die Notwendigkeit einer Vereinbarkeit von beidem

2. Die Gacaca-Pilotverfahren und ihre Wahrnehmung in Ruanda

2.1 Zwischen Verheißung und Zumutung – Aspekte einer widersprüchlichen justiziellen Herausforderung

2.2 Völkermord, Massaker und andere Verbrechen – Begriffe und ihre Botschaften zur Benennung von Unrecht

Teil II Eine neue Verfassung, erstmalige Präsidentschafts- und Parlamentswahlen und die Herausbildung eines Narrativs (in den Jahren 2003 und 2004)

1. Ein Staat konstituiert sich unter schwierigen Bedingungen, aber nach vorgefasstem Plan

1.1 Das Selbstverständnis der neuen ruandischen Politik und die Frage nach seiner Berechtigung

1.2 Der Unterschied zwischen geschriebenem Recht und praktischer Politik oder der Verweis auf die afrikanische Form der Demokratie

2. Zehn Jahre danach – Erinnerung an den Völkermord und Aufbau eines neuen Feindbildes

2.1 Individuelles Leid und dessen öffentliche Anerkennung – über Inhalt und Grenzen von Betroffenheit und Gedenken

2.2 Schlimmste Verbrechen, viele Täter, eine Schutzmacht: von Abgründen in dieser und jener Richtung

Teil III Die Zeit der Konsolidierung (in den Jahren 2005–2007)

1. Die Gesellschaft bekommt Helden

2. Gacaca beginnt im ganzen Land. Die Hoffnungen der Täter und die Befürchtungen der Opfer

Exkurs Was 1994 in Ruanda Täter zu Tätern machte und die Frage nach der Besonderheit der ausgeübten Gewalt

3. Die neue Politik nach außen. Vom Nutzen mächtiger Freunde

Exkurs Was den Völkermord in Ruanda vom Holocaust unterscheidet

4. Die neue Politik nach innen. Effizienz, Effizienz, Effizienz

Teil IV Ein selbstbewusster Staat in Afrika (die Jahre 2008–2010)

1. Siege (und Scheinsiege) in der Politik

Exkurs Entwicklungspolitik in Ruanda – zwischen Anbiederung, Verständnis und Kritik

2. Siege (und Scheinsiege) im Recht – vom zweifelhaften Erfolg rechtsoffensiver Maßnahmen

3. Siege (und Scheinsiege) im Krieg – das überraschende Bündnis mit dem Kongo und dessen Folgen

Teil V Die langen Schatten der Vergangenheit und die fortdauernde Vereitelung ihrer Aufhellung (die Jahre 2011 und 2012)

1. Gacaca – Ende und Ergebnis eines ambivalenten Unternehmens

2. Arusha – vom zweifelhaften Sinn einer gezügelten internationalen Strafjustiz

3. Die Gefährlichkeit oppositioneller Tätigkeiten innerhalb und außerhalb Ruandas

4. Die Lüge als politisches Prinzip? – Der Fall der Bewegung M 23 und seine grundsätzliche Bedeutung

Abschließende Bemerkungen, einschließlich eines Rückblicks auf die Jahre 2013 bis 2015 und einer Annäherung an die Frage: Wie viel Unrecht verträgt der Fortschritt?

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Weitere Bücher

Fußnoten

Karte von Ruanda (bis 2006)

Hinweis: Die auf der Karte als Präfekturgrenzen bezeichneten gestrichelten Linien sind nach der 2006 erfolgten administrativen Neuordnung des Landes die Provinzgrenzen. Die als ganz im Süden liegend angegebene Stadt Nyanza liegt tatsächlich zirka 30 Kilometer nördlich von Butare. Zudem sind einige Städte umbenannt worden, so z.B. Gisenyi in Rubavu, Ruhengeri in Musanze, Byumba in Gikumbi, Gitarama in Muhanga, Cyangugu in Rusizi oder Butare in Huye. Häufig werden jedoch die alten und neuen Städtenamen nebeneinander verwendet.

© Heidrun Simm, 2012

(beide Karten)

Zeittafel

ab dem 11. Jahrhundert

Auf dem Gebiet des heutigen Ruanda bilden sich kleinere Herrschaftsverbände heraus, die als Königreiche bezeichnet werden können.

14.–17. Jahrhundert

Die Vorherrschaft des Reichs Nyiginya entsteht, an dessen Spitze ein König (Mwami) steht. Dieser ist Tutsi.

19. Jahrhundert

Die Gegensätze in der Bevölkerung verschärfen sich, nur mit Mühe kann der Mwami seine Macht behaupten.

1884/85

Auf der Berliner Kongo-Konferenz werden die bis dahin kaum bekannten Königreiche Ruanda und Urundi (heute: Burundi) dem deutschen Kaiserreich zugeordnet.

1894

Oberleutnant Gustav Adolf Graf von Götzen durchquert mit einer Expedition Afrika von Ost nach West und hält sich dabei vom 2. Mai bis 26. Juni als erster Europäer in Ruanda auf.

1898

Beginn dauerhafter deutscher Präsenz in Ruanda.

1900

Die Afrika-Missionare »Weiße Väter« gründen die erste katholische Missionsstation in Ruanda.

1908

Der kaiserliche Resident, Arzt, Ethnologe und Schriftsteller Richard Kandt richtet die Residentur Ruanda in Kigali ein.

1916

Mit dem Einmarsch belgischer und britischer Truppen in Ruanda endet faktisch die deutsche Kolonialherrschaft über Ruanda-Urundi.

1923

Ruanda-Urundi wird als Mandatsgebiet des Völkerbunds belgischer Verwaltung unterstellt.

1933

Nach einer Volkszählung erhalten die Ruander Ausweise, in denen die ethnische Zugehörigkeit Hutu, Tutsi oder Twa vermerkt ist.

1946

Ruanda-Urundi werden der UN-Treuhand unterstellt, als Verwaltungsmacht wird Belgien bestellt.

1946

Das katholische Christentum wird in Ruanda Staatsreligion.

1957

Veröffentlichung des Hutu-Manifests, in dem sich Vertreter der Hutu-Mehrheit gegen die Unterdrückung durch die Tutsi-Minderheit wenden.

1959

Gründung der Partei »Parmehutu« (Parti du mouvement et de l’émancipation hutu/Partei für die Bewegung und die Emanzipation der Hutu); gewaltsame, als Ausdruck einer »sozialen Revolution« bezeichnete Auseinandersetzungen zwischen Hutu und Tutsi, die Fluchtbewegungen von Tutsi auslösen.

1.7.1962

Unabhängigkeit Ruandas; Erste Republik unter Präsident Grégoire Kayibanda, ein Hutu aus dem Süden des Landes und einer der Unterzeichner des Hutu-Manifests.

1959–1964

Massaker von Hutu an Tutsi; über 300000 Tutsi fliehen in Nachbarstaaten, u.a. nach Uganda.

ab Feb. 1973

»Säuberungsaktionen« im öffentlichen Dienst, an Schulen und Universitäten; viele Tutsi verlassen das Land.

5.7.1973

Staatsstreich; Zweite Republik unter Generalmajor Juvénal Habyarimana, einem Hutu aus dem Norden.

1975

Gründung der Einheitspartei MRND (Mouvement révolutionnaire national pour le Développement/national-revolutionäre Bewegung für Entwicklung), einer Hutu-Partei, der jeder Ruander qua Geburt angehörte.

1988

Gründung der FPR (Front Patriotique Rwandais/ruandische patriotische Front) in Uganda, eine Tutsi-Bewegung, die die Rückkehr nach Ruanda propagierte.

1.10.1990

Angriff der FPR von Uganda aus auf Ruanda; das Habyarimana-Regime wird vor allem von französischen Soldaten erfolgreich verteidigt; Repressalien gegen Tutsi in Ruanda; immer wieder kommt es in der Folgezeit zu Kämpfen zwischen Hutu und Tutsi und Massakern an Tutsi.

10.6.1991

Einführung eines Mehrparteiensystems; danach: Gründung von Oppositionsparteien.

4.8.1993

Friedensvertrag von Arusha zwischen der Einheitspartei MRND, den Oppositionsparteien und der FPR (Rückkehrrecht für die Tutsi, Machtteilung).

1.11.1993

Mit der UN-Sicherheitsratsresolution 872 vom 5.10.1993 wird die UNAMIR (United Nations Assistance Mission in Rwanda)-Mission nach Ruanda entsandt.

6.4.1994

Beim Landeanflug auf Kigali wird das Flugzeug mit Staatspräsident Habyarimana, dem burundischen Staatspräsidenten Ntaryamira, einem Hutu, und mehreren hohen ruandischen Offizieren an Bord abgeschossen. Unmittelbar danach beginnen Massaker an Tutsi und oppositionellen Hutu. Bis Juli fallen mindestens 500000 Menschen dem Genozid zum Opfer.

4.7.1994

Einnahme der ruandischen Hauptstadt Kigali durch die FPR.

18.7.1994

Vollständiger militärischer Sieg der FPR. Flucht von etwa 2 Millionen Ruandern in die Nachbarländer, vor allem nach Zaire und Tansania, außerdem 2,5 Millionen Binnenflüchtlinge.

19.7.1994

Konstituierung einer neuen Regierung in Kigali auf Grundlage des Arusha-Abkommens von 1993. Pasteur Bizimungu (FPR), ein Hutu, wird Staatspräsident, Generalmajor Paul Kagame (FPR), ein Tutsi, Vizepräsident und Verteidigungsminister.

23.3.2000

Rücktritt von Staatspräsident Pasteur Bizimungu.

22.4.2000

Einsetzung des neuen Staatspräsidenten Paul Kagame.

18.6.2002

Beginn der Pilotphase der reaktivierten Gacaca-Justiz.

26.5.2003

Referendum zur Annahme der neuen Verfassung Ruandas (93 Prozent Zustimmung).

25.8.2003

Wahl von Paul Kagame zum Staatspräsidenten (Amtszeit 7 Jahre) mit 95,1 Prozent der Stimmen.

30.9.2003

Parlamentswahlen: Die FPR erhält 73,8 Prozent der Stimmen; Ende der politischen Übergangszeit (période de transition).

9.3.2004

In der französischen Zeitung Le Monde erscheint ein Vorabbericht über eine Untersuchung des französischen Untersuchungsrichters Jean-Louis Bruguière, wonach die FPR unter Paul Kagame für den Abschuss des Präsidenten-Flugzeugs am Abend des 6. April 1994 verantwortlich ist. Ruanda wirft Frankreich im Gegenzug vor, den Völkermord aktiv unterstützt zu haben; die Beziehungen zwischen Ruanda und Frankreich verschlechtern sich.

15.1.2005

Gacaca wird im ganzen Land durchgeführt.

3.2.2006

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag weist eine Klage der Demokratischen Republik Kongo gegen Ruanda wegen massiver Menschenrechtsverletzungen und gravierender Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht mangels Zuständigkeit ab.

24.11.2006

Ruanda bricht die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich ab, weil der französische Untersuchungsrichter Bruguière eine Woche zuvor internationale Haftbefehle gegen neun ruandische Politiker und Militärs ausgestellt hat.

13.12.2007

Erste internationale Versöhnungskonferenz in Kigali, organisiert von Memos Learning from History (Ruanda) und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

6.2.2008

Der spanische Untersuchungsrichter Fernando A. Merelles bewirkt die Ausstellung eines internationalen Haftbefehls gegen vierzig ruandische Offiziere wegen Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und Kriegsverbrechen, begangen zwischen 1990 und 2002.

13.8.2008

Infolge einer Verfassungsänderung heißt der Völkermord jetzt offiziell »Genocide against the Tutsi« (Genozid an den Tutsi).

15–18.9.2008

Parlamentswahlen: Das von der FPR/RPF angeführte Bündnis aus vier weiteren Parteien erhält 78,8 Prozent und 42 von 53 Sitzen.

20.1.2009

Beginn der »Umoja Wetu« (Unsere Einheit) genannten gemeinsamen Militäroperation von kongolesischer und ruandischer Armee (FARDC und RDF) gegen die Rebellenbewegung FDLR im Ostkongo; nach ihrem Ende am 27. Februar wird sie von den FARDC allein mit Unterstützung von UN-Friedenstruppen fortgesetzt.

29.11.2009

Ruanda wird Mitglied des Commonwealth.

10.12.2009

Zweite und letzte internationale Versöhnungskonferenz in Kigali, organisiert von Memos Learning from History (Ruanda), der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und dem Auswärtigen Amt in Berlin.

9.8.2010

Bestätigung von Paul Kagame als Staatspräsident für eine weitere siebenjährige Amtszeit; bei einer Wahlbeteiligung von 97,5 Prozent entfallen 93,1 Prozent der Stimmen auf ihn.

26.8.2010

Ein UN-Bericht (Mapping Report) wird bekannt, in dem vor allem Ruanda zwischen 1993 und 2003 die Begehung schwerster Verbrechen, einschließlich Völkermord, im Kongo vorgeworfen wird.

April 2012

Die Rebellenbewegung M 23 beginnt ihren Eroberungsfeldzug im Ostkongo.

18.6.2012

Offizielles Ende der Gacaca-Justiz zur Ahndung von Völkermordverbrechen.

20.11.2012

Die Rebellenbewegung M 23 erobert Goma, die Hauptstadt der Provinz Nordkivu.

1.1.2013

Ruanda ist für zwei Jahre nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat

30.6.2013

Beginn der Kampagne »Ndi Umunyarwanda« (»Ich bin Ruander«), die ruandisches Nationalgefühl und nationale Einheit stärken soll

Mai 2013

Die Beziehungen zwischen Ruanda und Tansania verschlechtern sich rapide, nachdem der tansanische Präsident Jakaya Kikwete Kigali zu einem Dialog mit den FDLR aufgefordert hatte.

16.–18.9.2013

Parlamentswahlen: Das von der FPR/RPF angeführte Bündnis aus erneut vier weiteren Parteien erhält 76,2 Prozent und 41 von 53 Sitzen.

Ende Oktober/Anfang November 2013

Mit Unterstützung der UN-Interventionsbrigade besiegt die kongolesische Armee die Rebellenbewegung M 23.

April – Dezember 2014

In Ruanda werden Politiker, Militärs und Personen des öffentlichen Lebens verhaftet, weil sie angeblich in staatsfeindliche Aktivitäten verwickelt sind.

Juni – August 2015

In London wird der ruandische General Emmanuel Karenzi Karake aufgrund eines europäischen Haftbefehls festgenommen. Seine Überstellung an die spanische Justiz wird geprüft, doch letztlich abgelehnt. Spanien hält den Haftbefehl aufrecht.

Juni – Dezember 2015

Beginn und Intensivierung einer Kampagne, die den Staatspräsidenten Paul Kagame zu einer von der Verfassung nicht vorgesehenen dritten Amtszeit verhelfen soll. Die Verfassung wird schließlich im Dezember geändert. Kagame bekommt ab 2017 die Möglichkeit einer dritten und dazu zweier weiterer, nunmehr auf fünf Jahre verkürzten Amtszeiten. Er kann bis 2034 an der Macht bleiben.

Einleitung

Von April bis Juli 1994 fand in Ruanda ein Völkermord statt. Zwischen 500000 und einer Million Menschen verloren ihr Leben.1 Die Täter stammten aus der Bevölkerungsgruppe der Hutu, der die große Mehrheit der Ruander angehörte. Die Opfer waren zumeist Tutsi, die die Minderheit innerhalb der ruandischen Bevölkerung bildeten, oder Hutu, die der Opposition zugerechnet wurden.

Der Völkermord war grausamer Höhepunkt eines Krieges, der am 1. Oktober 1990 begonnen hatte und der mit dem Völkermord noch nicht zu Ende war. Mal mehr, mal weniger intensiv begleitete dieser Krieg die erste Phase der politischen Konsolidierung in Ruanda und griff dann über auf das benachbarte Zaire. Offiziell zu Ende war er erst 2003, doch noch immer gibt es vor allem in den beiden Kivu-Provinzen im Osten der Demokratischen Republik Kongo, in die Zaire 1997 umbenannt worden war, bewaffnete Auseinandersetzungen, die nicht selten – zuletzt im Herbst 2013 und Frühjahr 2015 – kriegerische Formen annehmen.

In Ruanda selbst herrscht heute Frieden. Eine neue Verfassung wurde per Referendum angenommen. Sie verspricht politische Pluralität, unbedingte Achtung vor den Menschenrechten und Bewahrung demokratischer Strukturen. Drei Parlaments- und zwei Präsidentschaftswahlen haben stattgefunden, ohne dass es zu ernsthaften Spannungen gekommen wäre. Die Wirtschaft wächst, das Land modernisiert sich und erhöht ständig seine Attraktivität für ausländische Investoren. Kigali, die Hauptstadt, hat heute nichts mehr mit der verschlafenen Stadt zu tun, die es mal gewesen ist. Seit 1994 hat sich ihre Bevölkerung mehr als vervierfacht. Hotels, Bürotürme und Banken bestimmen das Stadtbild, Straßen wurden neu angelegt oder verbreitert und Glasfaserkabel verlegt, nicht nur in Kigali, sondern entlang aller größeren Verkehrsachsen des Landes.

»Vision 2020« heißt das Programm, das Ruandas künftiges Gesicht prägen soll. Es ist das Gesicht eines Staates, der sein Inlandsprodukt über Dienstleistungen erwirtschaftet und sich als Drehscheibe der ökonomischen Aktivitäten im Gebiet der Großen Seen begreift. Eines Staates, der selbstbewusst seine Zukunft gestaltet und alle Ruander in dieses Vorhaben einbezieht. Der für ein neues, modernes Ruanda steht, auf das die Ruander stolz sind und das wie ein Leuchtturm weit über seine territorialen Grenzen hinaus strahlt.

Schon jetzt ist das Land zu einem wichtigen Akteur in der afrikanischen Politik geworden. Bei der internationalen Friedensmission in Darfur ist es mit dem größten Kontingent vertreten, in der Afrikanischen Entwicklungsbank stellte es von 2005 bis 2015 den Präsidenten, und in der Ostafrikanischen Gemeinschaft ist ein Ruander seit 2011 Generalsekretär. Staatspräsident Paul Kagame gilt als Inkarnation des neuen afrikanischen Staatsführers, pragmatisch, ideologiefern und von ökonomischem Sachverstand, ein viel umworbener Gesprächspartner, wenn es um die Kooperation mit Afrika geht. Und die Frauenquote, die seine Regierung in Politik und Verwaltung eingeführt und auch der Wirtschaft nachdrücklich empfohlen hat, wird weltweit als vorbildlich gepriesen.

Es ist unübersehbar: Aus einem kleinen Land, so unbedeutend und entlegen, dass in ihm nahezu unbemerkt Krieg und Völkermord stattfinden konnten, ist ein Staat geworden, der in der Welt zur Kenntnis genommen wird. Ein vormals typischer Schauplatz des destruktiven Zusammenspiels von Ethnizismus, Landknappheit, Armut und Gewalt hat sich zu einem Symbol des Aufbruchs in Afrika entwickelt. Es scheint, dass in Ruanda der reflektierte Umgang mit der eigenen Vergangenheit und der Wille, daraus die notwendigen Lehren zu ziehen, eine überaus fruchtbare Symbiose eingegangen sind.

So gesehen ist es auch nicht verwunderlich, dass Ruanda große internationale Anerkennung und Unterstützung erfährt. Als Vertreter Afrikas war es ab Januar 2013 für zwei Jahre nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung stellen Weltbank und Währungsfond immer wieder hohe Summen zur Verfügung, westeuropäische und nordamerikanische Staaten leisten Budgethilfe oder fördern gezielt bestimmte Projekte, vom Straßenbau bis hin zum Wiederaufbau der Justiz. Nichtstaatliche Organisationen (NGOs) arbeiten, gewöhnlich zusammen mit ruandischen NGOs, an der Überwindung der physischen und vor allem psychischen Folgen des Völkermords und engagieren sich in diversen Maßnahmen der offiziellen Versöhnungspolitik. Ausländische Studentengruppen und Mitglieder kirchlicher Vereinigungen gehen aufs Land oder in Provinzstädte und helfen durch ihre »Friedensarbeit« mit, den Appell des »Nie wieder!«, der vor beinahe siebzig Jahren, anlässlich der Verabschiedung der UN-Völkermordkonvention 1948, zur Verhinderung des Völkermordverbrechens lanciert worden ist, endlich Wirklichkeit werden zu lassen.

Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass der weltweiten Anerkennung und solidarischen Unterstützung heftige, erbitterte Kritik gegenübersteht. Folgt man ihr, dann ist es so, als ob es kein Übel der Welt gäbe, das nicht in Ruanda zu Hause ist. Massenmord, Beseitigung politischer Gegner mitsamt ihren Familien, Folter, Erpressung, Betrug und zynische Machtpolitik seien die wahren Merkmale des neuen Ruanda, behauptet sie. Ein Menschenleben sei dort nichts wert, mit großer Unerbittlichkeit werde das Land transformiert. Wer sich diesem Prozess widersetze oder zu widersetzen scheine, werde mundtot gemacht oder einfach liquidiert, denn hinter der Fassade des afrikanischen Musterstaates verberge sich eine Diktatur schlimmsten Ausmaßes. Deren Ziel sei der bloße, materiell lukrative Machterhalt, nicht das Wohl der Bevölkerung, die in ihrer übergroßen Mehrheit lediglich den Status von Marionetten habe.

Wie passt das zusammen? Wie ist es möglich, in Bezug auf ein Land zu zwei so diametral entgegengesetzten Aussagen zu gelangen? Aussagen, die am Ende auch dann noch zur Sprache kommen und stehen bleiben, wenn in die eine wie die andere Richtung nuancierter argumentiert wird, da es für Zwischentöne offensichtlich keinen Raum gibt. Guter oder böser Wille, blinde Zustimmung oder harsche Ablehnung können es allein nicht sein. So wie es deutliche Belege für einen beeindruckenden Fortschritt gibt, so gibt es ebenso deutliche Belege für zahlreiche Verbrechen, an deren Begehung der ruandische Staat beteiligt war, und sie stammen nicht nur aus der Zeit von Krieg und Völkermord, sondern auch aus dem Umfeld des letzten Präsidentschaftswahlkampfs vom August 2010 und sogar noch aus jüngster Zeit.

Nein, es ist anzunehmen und wird sich auch als zutreffend erweisen, dass das, was diese letztlich radikale Gegensätzlichkeit in der Wahrnehmung Ruandas erklärt, eng damit zusammenhängt, welcher Gebrauch von der jüngsten Vergangenheit des Landes gemacht wird. Denn dabei geht es um einiges. Es geht um die Deutungshoheit und Bestimmung eines Narrativs nach massiver Gewalterfahrung, um den Stellenwert von Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung beim Aufbau eines Staates und bei der Befriedung einer Gesellschaft, letztlich also – und vor dem konkreten Hintergrund nicht verwunderlich – um fundamentale Fragen der Moral und, je nach Perspektive, ihrer zynischen Umkehrung, die sich gleichwohl den Anschein höchster Moralität gibt. Auf diese Weise sind Projektionsflächen entstanden, die sich weiter verfestigen und auf denen die Meinungen und Handlungen der jeweils anderen Seite zwischen falsch, verhängnisvoll und verbrecherisch angesiedelt werden. Was für die einen Ausweis gelungener Versöhnung, ist für die anderen nur billiges Politspektakel. Wo die einen wirtschaftlichen Fortschritt erkennen, sehen andere gefährliche Trugbilder.

Eine Untersuchung über Ruanda zu schreiben, ist somit ein Unternehmen, das sich zwischen Extremen bewegt. Die Wahrheit in der oft beschworenen Mitte zu suchen, scheidet aus. Die ruandische Realität ist zu komplex und widersprüchlich, als dass einzelne ihrer Phänomene gegeneinander aufgerechnet werden könnten. Außerdem kann das, was in ihr kritikwürdig zu sein anmutet, nicht einfach durch sein Gegenteil gewissermaßen neutralisiert werden, ganz davon abgesehen, dass sich das als kritikwürdig Erscheinende unter gewissen Voraussetzungen sogar als alternativlos darstellen mag. Die Medienpolitik Ruandas beispielsweise ist selbst im afrikanischen Kontext als restriktiv zu bezeichnen. Zensur ist an der Tagesordnung, Journalisten werden verfolgt und verlassen das Land. Trotzdem klingt es durchaus nachvollziehbar, wenn die Regierung die rigiden Pressegesetze und die Kontrolle der Medien damit rechtfertigt, dass die Medien – Stichwort: Hassradio – eine Schlüsselfunktion bei der Durchführung des Völkermords gespielt hätten.

Doch wo sinnvollerweise ein Gesamtblick auf eine Entwicklung geworfen werden sollte, ist wegen der Fülle der zu verarbeitenden Informationen die Gefahr inhaltlicher Aussagelosigkeit nicht weit, die im Ergebnis mit der Sprachlosigkeit gleichzusetzen ist, von der der bosnische Jurist Jacob Finci einmal im Gespräch berichtete. Bei Wissenschaftlern, die durch den Besuch von Schauplätzen der Massengewalt Empirie und Theorie anschaulich verbinden wollten, stellte er fest: »Diejenigen, die zu uns nach Sarajewo kamen, um mehr über den Krieg und dessen Auswirkungen zu erfahren, lassen sich«, so Finci, »in drei Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe bleibt wenige Wochen, hat alles verstanden und kann alles erklären und ihren Publikationen ist dann auch jeder Zweifel fremd. Die zweite Gruppe bleibt länger, in der Regel einige Monate, in denen sie die vergangene Kriegsgewalt gewöhnlich unter einer bestimmten Fragestellung untersucht. Am Ende ist die Frage beantwortet, die Master- oder Doktorarbeit sieht ihrer Vollendung entgegen. Verstehens- und Erklärungsfähigkeit sind zwar nur auf einen Geschehensausschnitt beschränkt, werden aber notfalls mit der für Halbwissende typischen Vehemenz vertreten. Die dritte Gruppe von Wissenschaftsbesuchern, zahlenmäßig die kleinste, bleibt schließlich länger als ein Jahr oder kehrt immer wieder für längere Zeit zurück. Eine Publikation, die Spiegel des Aufenthalts sein könnte, erscheint dennoch nicht. Es erscheint gar nichts, weil die Fähigkeit zu schreiben abhanden gekommen ist. Das ursprüngliche Forschungsvorhaben, noch aus der Ferne formuliert, hat sich nämlich laufend infolge der wechselnden Eindrücke und des wachsenden Einblicks verändert. Was vorher noch klar gewesen ist, ist es jetzt nicht mehr. Statt Antworten entstehen ständig neue Fragen.«

Das vorliegende Buch ist das Resultat einer langjährigen Beschäftigung mit Ruanda. Sie begann 2002, als sich das Land anschickte, sich mit Hilfe der Gacaca-Justiz2 intensiv seiner jüngsten Vergangenheit zuzuwenden, als die politische Übergangszeit zu Ende ging und Vorbereitungen getroffen wurden für die Annahme einer neuen Verfassung und für die Durchführung von Präsidentschafts- sowie Parlamentswahlen, den ersten Wahlen, die, wie die neue Verfassung versprach, frei und gleich sein sollten. Sie endete zunächst 2012 mit dem offiziellen Abschluss der Gacaca-Justiz, geht dann aber noch kursorisch auf die Entwicklung bis 2015 ein. Zu diesem Zeitpunkt ist die Untersuchung schon lange nicht mehr nur auf Ruanda bezogen, sondern nimmt auch dessen Verhältnis zum großen Nachbarn Kongo und die Situation in den Grenzregionen in den Blick. Dazwischen liegen weitere Stationen der Untersuchung, die sich auf die verschiedenen Phasen der juristischen Aufarbeitung des Völkermords vor allem durch die Gacaca-Gerichte beziehen, auf eine tiefgreifende Verwaltungsreform, die forcierte Öffnung des Landes für ausländische Investitionen, das hohe Wirtschaftswachstum, aber auch auf Putschversuche, die Ausschaltung von Regimegegnern, eine allgemeine Verschärfung des innenpolitischen Klimas, erneute Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sowie offene und verdeckte Militäroperationen in der Demokratischen Republik Kongo. Und dazwischen liegt auch die Rezeption einer beständig steigenden Wahrnehmung des Landes durch Medien und Literatur. Die Versuche Ruandas und seiner Bevölkerung, aus dem Schatten der gewaltgeprägten Vergangenheit zu treten, boten reichlich Stoff für Artikel, Filme und Reportagen, und die Zahl der Bücher, Fachpublikationen und Romane, die vornehmlich in Europa und Nordamerika erschienen sind, ist kaum noch zu überblicken.

Wenn im Folgenden auf alle diese Entwicklungen eingegangen wird, spiegelt sich darin die Weiterung des Untersuchungsansatzes, die nicht geplant war. Es sollte zunächst um Gacaca gehen und um die Frage, ob und inwieweit sie eine sinnvolle Variante der Transitional Justice ist. Dass dabei auch historische Abläufe zu berücksichtigen sein würden, erschien angesichts der bekannten Vorgeschichte des Völkermords als selbstverständlich, nicht aber, in welchem Ausmaß darüber hinaus das Augenmerk auf Aspekte gelegt werden musste, die normalerweise weit ab von der Justiz anzusiedeln sind. Als eine von drei klassischen Staatsgewalten steht sie überall dort, wo es Gewaltenteilung gibt, in einer Wechselbeziehung zu den übrigen Gewalten. Insofern stellt Ruanda keine Ausnahme dar. Auffallend ist dort jedoch, wie sehr die Justiz – allen voran die Gacaca-Justiz – als Aushängeschild eines neuen Ruanda präsentiert wird, eines Ruanda, das entschlossen die Lehren aus der Vergangenheit zieht und mit gleicher Entschlossenheit die Herausforderungen der Zukunft annimmt. Alles wird umgestaltet – Verwaltung, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft – und immer ist es die Justiz, die den Legitimationsrahmen liefert. Wer ihre Botschaften verstehen will, sollte den außerjustiziellen Bereich kennen. Und wer diesen kennt, weiß, warum die ruandische Justiz so funktioniert, wie sie funktioniert.

Ausgangs- und Zielpunkt ist immer und überall der Völkermord. Die Tatsache, dass er geschehen konnte und von den Konstrukteuren eines neuen Ruanda beendet wurde, erlaubt keine kritischen Nachfragen. Das ist zunächst überaus verständlich. Immerhin geht es um mehrhunderttausendfachen, insgesamt sogar um millionenfachen Mord. Es geht um Überlebende, die nicht aus der Endlosschleife der Gewalt in ihren Köpfen herauskommen und deren Traumatisierung sich auf das soziale Umfeld überträgt. Es geht um Täter, die das »Weiterleben« allein für sich fordern und wieder ihren Platz in der ruandischen Gesellschaft beanspruchen. Und es geht um die unaufhörlich praktizierte Umkehrung von Täter und Opfer, nicht etwa aus politischem Kalkül, sondern aus Überzeugung und mit großem Skandalisierungspotenzial. Dass das Land mit etwa 26000km2 zu den kleinsten Afrikas gehört und zugleich mit über 400 Einwohnern pro Quadratkilometer die zweithöchste Bevölkerungsdichte des Kontinents hat (nur in Mauritius leben mehr Menschen auf dem Quadratkilometer), befördert noch die Entstehung und Intensivierung widersprüchlicher Emotionen. Wo Nachrichten und Gerüchte im Nu von Nord nach Süd oder von West nach Ost durch das Land eilen und jeweils eigene Wahrheiten schaffen, ist immer wieder Raum für Grundsätzliches, das umso apodiktischer vertreten wird, je bedeutungsvoller sein Erörterungsgegenstand erscheint. Und was kann bedeutungsvoller sein als die Frage von Leben und Tod, wie sie in einem Völkermord und dem Umgang damit allgegenwärtig ist. Sie lässt niemanden gleichgültig und fordert den Staat, Vorkehrungen zu treffen, um den fragilen inneren Frieden zu wahren.

Aber wo verläuft die Grenze zwischen der Politik eines Staates, der ein unbestreitbar sinnvolles Ziel durchaus auch kompromisslos durchzusetzen versucht, und einer Politik, die jede Kritik mit dem Hinweis auf den Völkermord und seine imperativen Lehren zum Schweigen bringt, um zuallererst den eigenen Herrschaftsanspruch zu sichern? Da, wo Machtpolitik zu Willkür und Unterdrückung wird, könnte man sagen, wo Transitional Justice ein Deckmantel ist zur Kaschierung von Interessen, die notfalls mit Gewalt – und nicht nur der justiziellen – durchgedrückt werden, wo also, in anderen Worten, die Vergangenheit ohne Rücksicht auf ihre Opfer instrumentalisiert wird.

Eben dies geschah in Ruanda, und es geschieht dort bis heute. Nicht in einer Weise, die es sofort auffällig gemacht hätte oder die sich im täglichen Leben immer noch unmittelbar bemerkbar macht. Die Verantwortlichen in Ruanda wissen, dass die Entwicklung des Landes, dessen Name und Lage vormals nur vergleichsweise wenigen bekannt war und das heute gleichwohl eindeutige Assoziationen weckt, aufmerksam verfolgt wird, weit aufmerksamer jedenfalls als die anderer Länder der Region. Die Verantwortlichen wissen auch, dass Ruanda zu einer Art Testfall für die Entwicklungsfähigkeit subsaharischer Staaten geworden ist: weg von Diktatur, Gewalt und Krieg, hin zu Demokratie, Rechtsstaat und Frieden. Diese Erwartungen bedienen sie mit großem Erfolg. Nicht nur rege Bautätigkeiten und zahlreiche Investitionsprogramme, auch Hinweistafeln und Plakate, die bis in die letzten Winkel des Landes hinein von Einheit und Versöhnung künden, sind augenfällige Zeugen eines Aufbruchs, der nahezu Bilderbuchcharakter hat.

Es gibt allerdings auch ein anderes Ruanda. Es ist das Ruanda, das sich dem ausländischen Besucher erst nach einiger Zeit zu erschließen beginnt. Und dieses Ruanda ähnelt sehr der bereits erwähnten zweiten Seite dieses Landes, nur dass sich die Gewalt weitaus subtiler vollzieht. Die Repression funktioniert lautlos, die Werkzeuge sind oft genug gezeigt worden, jede Ruanderin und jeder Ruander kennt sie und weiß, dass ein Aufbegehren zwecklos ist. Umso leichter fällt es der Staatsmacht, die dunkle Seite des Regimes unsichtbar zu machen. Die an europäischen oder nordamerikanischen Universitäten geschulte Rhetorik ihrer Repräsentanten in Sachen Entwicklung, Selbstbestimmung und Menschenrechte, deren eisenharte und doch einnehmende Argumentationsweise und der, bei wachsendem Widerspruch zu internationalen Rechtsstandards, zuverlässige Verweis auf die gemeinschaftsbildende ruandische Tradition lassen den Eindruck entstehen, in einem Land zu sein, das selbstbewusst und mit der gebotenen Energie auf dem Weg in eine bessere Zukunft ist.

Wer wollte da an Gewalt und Unterdrückung denken? Wer es dennoch tat, wurde umgehend korrigiert. Weil der Völkermord Ruanda als ein Beispiel für Zivilisationsversagen in die Menschheitsgeschichte eingeschrieben habe, hieß es dann sinngemäß, stünde es Vertretern dieser Zivilisation, die Menschenrechte und deren Schutz in fein ziselierter Ausprägung auf ihre Fahnen geschrieben hätten, nicht an, den Leidtragenden dieses Versagens Vorwürfe zu machen. Ermutigende Begleitung beim Staatsaufbau sei angeraten, ansonsten Zurückhaltung die angemessene Reaktion.

Als ich im Frühsommer 2002 erstmals nach Ruanda reiste, bedurfte es dieses Rats nicht. Das Verbrechen war, so dachte ich, zu groß und zu eindeutig. Gut und Böse waren klar getrennt. Täter waren Täter, und Opfer waren Opfer. Dazu gab es noch die Perspektive einer Vergangenheitsaufarbeitung, die traditionelle ruandische Werte mit der Lösung eines gewaltigen innergesellschaftlichen Konflikts zu verbinden versprach. Getragen von gesamtgesellschaftlicher Ermutigung sollten Täter und Opfer friedlich, ja baldmöglichst versöhnt zusammenleben. Das verdiente einfach ein besonderes, wohlwollendes Interesse, umso mehr als es, wie im ersten Teil des Buchs dargestellt, ein von seinem Umfang und von seiner Intensität her betriebenes Vorhaben war, das im Vergleich mit den Erfahrungen anderer Länder seinesgleichen suchte. Wie zu sehen sein wird, waren die Hoffnungen, die an Gacaca geknüpft wurden, trotz einiger Bedenken auf Seiten der Opfer riesig. Gerechtigkeit sollte stattfinden und über den Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung eine Geschichte des Landes geschrieben werden, in der sich möglichst viele Ruanderinnen und Ruander wiederfinden und die darum ein umso solideres Fundament für das künftige Zusammenleben abgeben würde.

Es sollte jedoch nicht lange dauern, bis deutlich wurde, dass das Drehbuch für diese Geschichte nicht von den Ruanderinnen und Ruandern selbst geschrieben werden würde. Es waren die neuen Machthaber, die das Drehbuch verfassten. Die meisten von ihnen hatten den größten Teil ihres Lebens im Exil in der anglophonen Nachbarschaft Ruandas (Uganda, Tansania) verbracht und ziemlich klare Vorstellungen davon, was nun geschehen sollte und vor allem, wie sie es erreichen wollten. Eine Vorahnung davon erhielt ich bereits während der ersten Gacaca-Pilotverfahren, die ich besuchte. Es bestand auf offizieller Seite eine klare Vorgabe, was verhandelt werden sollte. Wenn auch das anzuwendende Recht so formuliert war, dass es allgemein und ohne Beschränkung auf eine Tätergruppe galt, ließen Gacaca-Beauftragte des Staates doch keine Zweifel daran, dass nur Völkermordverbrechen angeklagt werden würden, Verbrechen von Hutu an Tutsi also. Umgekehrte Verbrechenskonstellationen, das heißt Verbrechen von Tutsi an Hutu, während und nach der Eroberung des Landes und der Beendigung des Völkermords begangen, gehörten logischerweise nicht dazu. Noch sagten die Beauftragten das nicht laut und bestimmt. Die weit verbreitete Hoffnung, mit der die Menschen in Ruanda der justiziellen Beschäftigung mit Krieg und Völkermord entgegensahen, sollte nicht zu sehr erschüttert werden.

Diese Zurückhaltung gab es 2003 und endgültig 2004 nicht mehr. Wie ich im zweiten Teil des Buchs darstellen werde, sind die neue Verfassung sowie die Wahlen des Jahres 2003 und deren Ergebnisse ein unmissverständlicher Hinweis auf den Willen der neuen Führung, die Macht nicht aus den Händen zu geben. Die Selbstlegitimierung duldete keinen Widerspruch, erst recht nicht nachdem 2004 der zehnte Gedenktag an den Völkermord begangen worden war. Inmitten weltweiter Aufmerksamkeit (nicht allerdings in entsprechend repräsentativer Anwesenheit) beanspruchten dort die Führer des neuen Ruanda die alleinige Herrschaft über Inhalt und Vermächtnis der ruandischen Geschichte. Sie erinnerten an die jahrzehntelange Demütigung und Verfolgung der Tutsi, erklärten die Notwendigkeit des organisierten Widerstands gegen das Unterdrückungsregime der Hutu, beklagten die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem Völkermord in Ruanda und forderten auf zu Einheit, Wachsamkeit und Stärke als Garantien für ein friedliches Ruanda. Das zu erkennen und zur Richtschnur künftigen Handelns zu machen, sei, so die Führer des neuen Ruanda in ausnahmslos jeder Ansprache, die Verpflichtung der Zukunft. Und wer könne diese Verpflichtung besser und glaubwürdiger übernehmen als diese Führer selbst, die sich mit ihren Soldaten als Einzige dem Wüten der Völkermörder entgegengeworfen hätten, war die mitklingende zusätzliche Botschaft. Es war unüberhörbar: Ein Narrativ wurde konturiert und inhaltlich sowie personell besetzt.

Dann, einige Monate später, las ich im Buch von Roméo Dallaire über seine Zeit als Kommandeur der UN-Friedensmission in Ruanda (1993–1994) eine Passage, in der er die Rückkehr von Tutsi aus der Diaspora im Spätsommer 1994 beschreibt. Er sieht viele hässliche Szenen, als die Rückkehrer in Kigali Hutu aus ihren Häusern vertreiben, um sie widerrechtlich in Besitz zu nehmen. Niemand schreitet dagegen ein. Dallaire wörtlich, unter dem Eindruck dieser Bilder: »Mir stellte sich unversehens die bittere Frage, ob der Feldzug und der Völkermord nicht orchestriert worden waren, um den Weg frei zu machen für eine Rückkehr Ruandas zum Status quo vor 1959, wo die Tutsi allein das Sagen gehabt hatten. Zehn Jahre später wollen diese beunruhigenden Fragen in mir noch immer keine Ruhe geben, besonders im Lichte dessen, war seither in der Region geschehen ist.«3

Ein ungeheurer Gedanke, und einer, der wohl mehrmals gelesen werden muss, wenn er ganz begriffen werden will. Diejenigen, die sich als die Befreier des Landes von einem völkermörderischen Hutu-Regime präsentieren und daraus den unbedingten moralischen Anspruch für die Gestaltung seiner Zukunft herleiten, sollen Krieg und Massenmord willentlich herbeigeführt haben? Sie sollen aus reinem Machtinteresse gehandelt haben und dabei buchstäblich über Leichen gegangen sein? Ist also das offizielle Wehklagen über die vielen Opfer und über die selbstsüchtige Arroganz des Westens nichts als eine zynische Inszenierung? – Ein schwer erträglicher Gedanke, selbst wenn man schon den einen oder anderen Blick in die Untiefen menschlichen Verhaltens geworfen hat.

Doch Roméo Dallaire ist nicht irgendwer. Über ein Jahr lang war der Kanadier vor Ort und hat sich ein Bild machen können von den handelnden Personen und ihren Motiven. Bei ihm liefen alle Informationen zusammen. Er traf sich mit Vertretern der extremistischen Hutu-Regierung und mit Militärs, für die die Zukunft Ruandas nur ohne Tutsi denkbar war. Er traf sich auch mit Vertretern der sogenannten Befreiungsarmee, meist mit deren Anführer Paul Kagame, die den Fanatismus der Gegenseite in eigene Stärke umzuwandeln verstanden und doch weit weniger vom Schicksal der bedrohten Menschen als vom Ziel der möglichst uneingeschränkten Erlangung der Macht angetrieben waren. Davon ist bei Dallaire an mehreren Stellen zu lesen und der Umstand, dass er dies noch Jahre später so aufgeschrieben hat, spricht gegen einen nur oberflächlichen Eindruck. Sein Stellvertreter, der belgische Oberst Luc Marchal, kommt im Übrigen in seinen Erinnerungen an seine Dienstzeit in Ruanda zum selben Ergebnis.4 Es sei Kagame und seiner Armee allein um die Erlangung der Herrschaft gegangen. Der Preis, den die Bevölkerung und namentlich die Tutsi dafür bezahlen mussten, spielte keine Rolle, schreibt Marchal.

Aber macht das einen Völkermörder etwa nicht zu einem Völkermörder? Ist das Verbrechen eines Hutu, der Tutsi – Männer, Frauen, Kinder – umgebracht hat, deshalb ein weniger großes Unrecht? Sind Paul Kagame und die Kämpfer seiner Befreiungsarmee die eigentlichen Täter? Dergleichen zu behaupten wäre Unsinn. Die Hutu, die getötet und den Völkermord begangen haben, diejenigen unter ihnen, die zur bösesten Erniedrigung und Vernichtung der Tutsi-Nachbarn aufgestachelt haben, waren keine willenlosen Werkzeuge eines abgefeimten Kriegsgegners. Sie wussten, was sie taten, wenn sie es auch aus unterschiedlichen Motiven oder Situationen heraus taten.

Mit ebensolcher Bestimmtheit allerdings wird man sagen müssen, dass auch der Kriegsgegner, an seiner Spitze Paul Kagame mit seinen Offizieren, eine Verantwortung für die dramatische Zuspitzung der Ereignisse trägt – sofern die Auffassung von Dallaire und Marchal über Vorgeschichte und Verlauf des Völkermords zutreffend ist. Dass sie das ist, davon sind viele Ruander überzeugt. Ich selbst sprach mit Hunderten von ihnen. Mit Männern und Frauen, Hutu und Tutsi, Tätern und Überlebenden, in allen Teilen dieses kleinen Landes, immer wieder und über Jahre hinweg. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren sie überzeugt davon, Opfer eines teuflischen Plans geworden zu sein und hatten jeweils Geschichten zu erzählen, die ihre Überzeugung begründeten.

Ob diejenigen unter meinen Gesprächspartnern, die Täter waren, sich aus Berechnung, Scham oder Wut so äußerten, weiß ich bis heute nicht. Darum waren und sind die Gespräche mit den Tätern auch nicht ursächlich für mein sich allmählich herausbildendes Verständnis von der fürchterlichen Instrumentalisierung des Völkermords durch die neuen Machthaber. Das wurde vielmehr zum einen beeinflusst durch den Schmerz der Überlebenden, die zum Teil mehrere Dutzend Familienmitglieder verloren hatten (der Preis, den die Tutsi-Minderheit laut Kagame angeblich »für die Sache« zahlen musste)5 und die in ihrer Erinnerung obendrein vergeblich nach einem Grad an Diskriminierung suchten, die ein militärisches Eingreifen zu ihrem Schutz gerechtfertigt hätte. Zum Zweiten war es der Kollektivschuldvorwurf, der sich pauschal und mit erheblicher Vehemenz an die Hutu-Bevölkerung richtete, obwohl viele Tutsi von Hutu gerettet worden waren (unter Umständen und in einer Größenordnung, die die Deutschen der 1930er und 1940er Jahre beschämen müssten), und der zudem absichtlich ignorierte, dass auch Hutu zu den Opfern der Massaker zählten (Oppositionelle und »gebildete Hutu« aus dem Süden, die nach Meinung der Extremisten aus dem Norden des Landes durchweg als zu »weich« und »unzuverlässig« galten). Zum Dritten schließlich zeigte mir die Art und Weise, in der die neuen Machthaber sich den Staat, dessen Bevölkerung und Geschichte aneigneten, dass an einer wirklichen Aufarbeitung des Völkermords kein Interesse bestand. Autoritär in der Vorgabe einer Wahrheit, die von der großen Mehrheit der Ruanderinnen und Ruander nicht geteilt wurde und wird, und in der Folge zunehmend totalitärer agierend, um Widerstand im Keim zu ersticken, das war und ist nach meinem Eindruck der vorherrschende Wesenszug des neuen Ruanda.

Was daraus konkret für das Land Ruanda, das Leben der Ruanderinnen und Ruander und – auch sie waren unmittelbar betroffen – die Menschen im Ostkongo folgte, beschreibe und erkläre ich in den Teilen drei bis fünf des Buchs. Die Periodisierung, die ich hier wie in den vorhergehenden zwei Untersuchungsteilen vorgenommen habe, ist keine offizielle. Sie entspringt meiner persönlichen Wahrnehmung der Entwicklung Ruandas, in der Schwerpunkte gesetzt und Selbstbilder geprägt wurden. Ich habe sie in Überschriften zusammengefasst und ihnen die Darstellung der jeweiligen Entscheidungen, Geschehensabläufe und ihrer Hintergründe zugeordnet. Immer dabei, als gewissermaßen klettenartiger Begleiter der einzelnen Untersuchungsschritte, ist der pragmatische Zynismus des Regimes. Wer, einem einmal gefassten Plan zufolge, die Macht wollte, musste eben alles unterdrücken, was diesen Plan gefährden könnte. Wie sagte mir einer der höchsten Gacaca-Beauftragten 2005, als Ruanda in die Phase der geplanten Konsolidisierung eintrat: »Wir werden nur die Völkermordverbrechen zur Verhandlung zulassen. Ließen wir alle Verbrechen zur Verhandlung zu, würde uns die ganze Sache um die Ohren fliegen.«6

So geschah es, und der Begriff des Völkermords begann, die jahrelange Abfolge von Krieg, Vertreibung und Massenmord in einer Ausschließlichkeit zu dominieren, die eine differenziertere Sicht erschwerte. Als weitere Erschwernis kam noch hinzu, dass die Diskussion über Ruanda zu einem Tummelplatz für Verschwörungstheoretiker, Völkermordleugner oder Anhänger der Theorie vom doppelten Völkermord (einem an den Tutsi, einem an den Hutu, jeweils 1994 mal von extremistischen Hutu, mal von extremistischen Tutsi begangen) wurde. Auf ein Unrecht kam ein viel größeres, ein so großes, dass es das erste (sofern es überhaupt anerkannt wurde) zum Verschwinden brachte, das war und ist ihr Credo, das sie umso lauter herausposaunen, je erfolgreicher sich das neue Ruanda präsentiert.

Die dritte Gruppe der von Jacob Finci skizzierten empiriebedachten Wissenschaftler schwieg, stumm gemacht von der Vielzahl widersprüchlicher Eindrücke und Berichte, die sie über eine lange Zeit sammelten. Und in der Tat war auch die Geschichte Ruandas vor, im und nach dem Völkermord komplex und von gegensätzlichen Interessen geprägt, die notfalls gewaltsam durchgesetzt wurden. Aber es gibt Antworten und Erklärungen, die darüber Aufschluss geben, wie der Neuaufbau Ruandas nach dem Völkermord vonstatten ging und warum die neue Staatsmacht so agierte, wie es sich in etlichen Entscheidungen und Maßnahmen äußerte. Es ist eine dunkle Geschichte und sie bleibt dunkel, auch wenn die eingangs angesprochene andere Seite in der Entwicklung des Landes, wonach Ruanda ein subsaharischer Vorzeigestaat geworden ist, in den Vordergrund gerückt wird. Man mag dazu neigen, diese Seite der Geschichte für die eigentliche zu nehmen und mit Unverständnis und Ablehnung auf Kritik an Ruanda zu reagieren. Ich halte das für falsch. Wenn die Gründungslüge des neuen Ruanda ignoriert und die Implementierung totalitärer Strukturen verharmlost werden, kann aus dem Ergebnis dieses Vorgangs nicht die Existenz einer stabilen und geeinten Gesellschaft (zudem noch mit einer ebensolchen Perspektive) herausgelesen werden. Im Schlussteil des Buchs werde ich noch einmal darauf zu sprechen kommen.

Nun noch einige abschließende Bemerkungen, zunächst zur Quellenlage: Durch Krieg und Völkermord wurden viele Dokumente zerstört. Im Prozess des staatlichen Neuaufbaus nach 1994 wurden, gerade in den Anfangsjahren, viele Maßnahmen und Entscheidungen nicht festgehalten und/oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Aber auch für spätere Jahre fehlt es oft an verlässlichen Quellen, besonders in den Bereichen, die, wie die Justiz oder das Militär, als sicherheitsrelevant galten. In diesen Fällen wurde von einer gewissen faktischen Dichte auf die Existenz einer entsprechenden Rechts- oder Ermächtigungsgrundlage geschlossen.

Wo Informationen in diesem Buch auf Personenquellen beruhen, wurden diese anonymisiert. Sich in Ruanda kritisch über das Land und seine führenden Kräfte zu äußern, ist sehr gefährlich.

Namen von Institutionen sowie Abkürzungen werden bis 2007 in ihrer französischen Form genannt, danach, als das Englische in Ruanda zur dominierenden offiziellen Sprache wurde, auf Englisch. Die Fotos am Ende eines jeden der fünf Untersuchungsteile dieser Arbeit sind so angeordnet, dass sie den inhaltlichen Aufbau des Untersuchungsteils spiegeln. Die Übersetzungen der französischen oder englischen Originaltexte ins Deutsche stammen vom Autor. Die im Buch angegebenen Internetquellen wurden letztmalig am 5. Juli 2016 aufgerufen.

Und zum Schluss: Die Verwendung der Begriffe »Hutu« und »Tutsi« ist im zeitlichen Umfeld des Völkermords zu dessen Verständnis erforderlich. Sie jedoch auch in einem größeren zeitlichen Abstand zu diesem Verbrechen und bis in die Aktualität hinein zu benutzen, kann möglicherweise befremdlich wirken. Der Eindruck könnte entstehen, als würde über die Zuschreibung eines Hutu- oder Tutsi-Attributs die Identität einer Person hauptsächlich auf ihre Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe reduziert. Das ist in keiner Weise beabsichtigt. Allerdings ist es auch eine Tatsache, dass trotz der offiziellen Devise »Wir sind alle Ruander« jeder und jede in Ruanda, einschließlich der Hauptstadt Kigali, weiß, »wer wer ist«. Das hat seine Gründe gewiss in der Vergangenheit, aber auch in dem, was auf den folgenden Seiten zu lesen sein wird.

Teil I

Erste Eindrücke, ein kurzer Rückblick und beginnende Reflexionen über die Fragwürdigkeit von Begriffen (im Jahr 2002)

Acht Jahre nach dem Völkermord sind die Spuren der Verbrechen noch allgegenwärtig. Auffallend ist allerdings, wie geteilt die Erinnerung ist. Allen Ruanderinnen und Ruandern gemeinsam ist die Hoffnung, dass ihnen durch die bevorstehende systematische justizielle Aufarbeitung der vergangenen Verbrechen Gerechtigkeit widerfahren wird. Die Hoffnung macht sich vor allem an der traditionellen Gacaca-Justiz fest, die in erster Linie nicht der Bestrafung der Täter, sondern der Wiederherstellung des Friedens innerhalb einer sozialen Gemeinschaft verpflichtet ist. Schon deshalb scheint sie vor dem Hintergrund bereits bekannter Wege, sich mit Massenverbrechen zu beschäftigen, einer besonderen Aufmerksamkeit wert. Hinzu kommt, dass Gacaca in Ruanda als eine Form der Justiz gilt, die der internationalen in Gestalt des Gerichtshofs in Arusha weit überlegen ist. Dort, wo die Verbrechen begangen wurden, sollen sie verhandelt werden, nicht fernab in einer anderen, verständnislosen Welt.

1. Der allgegenwärtige Völkermord und das normale Leben

Am Anfang, im Frühsommer des Jahres 2002, stehen Fragen, Fragen wie: Ist das ein Völkermörder? Wo war wohl diese Frau zur Zeit des Völkermords? Stammt die tiefe Narbe von einem Machetenhieb? Wer ist überhaupt ein Hutu, wer ein Tutsi? Dann, nach einigen Wochen, folgt Verwunderung. Verwunderung darüber, dass das Leben augenscheinlich seinen ganz normalen Gang geht. Menschen unterhalten sich, lachen und gehen ihrer Beschäftigung nach. Dass hier in diesem Land, oft als Idylle aus tausend Hügeln bezeichnet, vor beinahe genau acht Jahren ein Völkermord stattgefunden hat, vor aller Augen und mit Hunderttausenden von Toten, scheint undenkbar.

Natürlich sind dergleichen Fragen und Reaktionen naiv. Kein Verbrechen ist so groß, dass es noch nach Jahren dem zufälligen Blick erkenntlich wird. Kein Schmerz ist so präsent, dass er sich fortwährend auch dem Unbeteiligten gegenüber äußert. Keine Idylle so perfekt, dass dort nicht auch Abgründiges vorstellbar wäre. Und trotzdem. Es gibt Erinnerungen, die sich an Bildern und Eindrücken festmachen und darum stärker sind als der Naivitätseinwand. Da ist die Szene, aus der Distanz gefilmt und etliche Male gezeigt, von den zwei Männern, die auf einer rötlich schimmernden unbefestigten Straße Tutsi töten. Mit Wucht schlagen sie mit ihren Macheten auf menschliche Körper ein, einmal, zweimal, dreimal, bis diese hingestreckt und zu keiner Bewegung mehr fähig sind. Da ist das Buch von Philip Gourevitch mit dem verstörenden Titel »Wir möchten Ihnen mitteilen, daß wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden«, in dem in verschiedenen Episoden von der kalten Brutalität der Mörder und der Ausweglosigkeit der Situation derer berichtet wird, die von Hutu-Tätern für den Tod bestimmt waren. Und da sind schließlich noch die vielen Szenen, die für die Gleichgültigkeit stehen, mit der die Welt im Frühjahr 1994 auf das Geschehen in Ruanda geblickt hat: Um Hilfe flehende Frauen, Kinder und Männer, die ihrem Schicksal überlassen werden. Von UN-Soldaten gerettet werden nur Menschen mit heller Hautfarbe, Einheimische bleiben zurück, ja werden sogar gewaltsam zurückgestoßen und, woran für alle Beteiligten nicht der geringste Zweifel bestehen konnte, den in Sichtweite wartenden Killern zur Ermordung freigegeben. Es handle sich um eine rein innerruandische Angelegenheit, in die sich einzumischen nicht angeraten sei, hieß es damals.

Jetzt, im Frühsommer 2002, kommt der Besucher, auf dem Flughafen der Hauptstadt Kigali gelandet, in ein Land, das sich ganz entschieden der Zukunft zugewandt hat. Schon im Flughafengebäude künden große Bildtafeln von den Schönheiten des Landes. Endlose Hügellandschaften, terrassenförmig angelegte Felder, ein Sonnenuntergang am Kivusee, freilebende Gorillas in den Ausläufern der Virunga-Kette, jener Reihe von fünf Vulkanen, die die Grenze zu Uganda und zum Kongo bilden.

Über eine mäßig befahrene zweispurige Straße geht es Richtung Stadtzentrum. An ihren Rändern stehen Werbetafeln der einheimischen Kaffee- und Teeindustrie, auf anderen versprechen Telefonnetzbetreiber landesweit einen lückenlosen Empfang oder kündigt eine internationale Hotelgruppe die baldige Eröffnung eines Kongresszentrums an. Vorbei an dem Parlamentsgebäude, das nunmehr das Übergangsparlament beherbergt und noch deutlich sichtbare Spuren eines Granatenbeschusses zeigt, und vorbei an einer Reihe von Geschäften, kleineren Dienstleistungsunternehmen und Büros, die das Kigali Business Center ausmachen, kommt der Kleinbus nach Kiovu, einem zentral gelegenen Stadtteil, der von der Einfallstraße in zwei Hälften getrennt wird. Rechts, in Kiovu des pauvres, lebten die Armen, links, in Kiovu des riches, die Reichen und Diplomaten, erklärt mir der Beifahrer auf Französisch. Er ist es auch, der den Bus gezielt zum Hôtel des Mille Collines dirigiert. Am französischen Kulturzentrum vom Kreisverkehr rechts ab, einer ansteigenden Straße folgend, erscheint es nach gut 200 Metern auf der rechten Seite. Das Hotel, das zum Symbol der Hoffnung inmitten des Völkermords geworden ist. Während ringsumher die Menschen zu Zehntausenden getötet wurden, war es Zufluchtstätte für mehr als eintausend Tutsi, die dort dank der UN-Präsenz, vor allem aber dank des Verhandlungsgeschicks des Hotelgeschäftsführers, einem Hutu mit guten Verbindungen zu den politischen und militärischen Drahtziehern des Völkermordes, alle überlebten.

Viel hat sich seitdem augenscheinlich nicht im Hotel verändert. Der Pool, der damals die Flüchtlinge mit Wasser versorgte, ist noch vorhanden, wenn auch die Farbe an vielen Stellen abblättert und der Beton Risse hat. Auch die große Akazie, unter der, so heißt es, einige Völkermordopfer begraben sein sollen, steht noch im Garten. Die Zimmer wirken zwar, als müssten sie bald renoviert werden, aber zusammen mit dem Restaurant in der vierten Etage, das einen Panorama-Blick auf die Hügel von Kigali bietet, vermitteln sie durchaus noch eine Vorstellung von vergangenen Zeiten, als das Mille Collines das erste Hotel Ruandas war.

An der Rezeption kümmert sich Zozo, der Kleine, wie der Beifahrer aus dem Kleinbus in Anspielung auf seine geringe Körpergröße genannt wird, um Gepäck und Anmeldung. Er besorgt auch den Geldwechsel und den Fahrer, der mich am nächsten Morgen nach Ntarama und Nyamata bringen soll, zwei Gedenkstätten des Völkermords, die von Touristen gewöhnlich aufgesucht würden, wie mir Zozo versichert. Beide liegen etwa eine Fahrstunde von Kigali entfernt in südlicher Richtung, und beide lassen ein beklemmend-anschauliches Bild entstehen von dem, was sich hinter dem Wort »Völkermord« verbirgt. Übertroffen auf der Skala des Schreckens werden sie nur noch durch das, was ich wenige Tage später in der Gedenkstätte Murambi, knapp 100 Kilometer weiter westlich, sehen und, vielleicht noch schlimmer, riechen sollte.

Etwa 5000 Menschen wurden laut Informationstafel auf dem Gelände der Kirche von Ntarama und in der Kirche selbst getötet, 45000 sollen es an und in der Kirche von Nyamata gewesen sein. Die vermeintlich sicheren Refugien waren zur tödlichen Falle geworden, dort wie an vielen anderen Orten in Ruanda. In Ntarama sieht das Kircheninnere aus, als habe das Morden erst vor Kurzem stattgefunden. Der Boden im Gang und zwischen den Bänken ist bedeckt von einer makabren Mischung aus menschlichen Knochen, Kleidungsresten, Töpfen und Tellern und halbzerrissenen Gebetbüchern oder religiösen Heften. Handtaschen und aufgerissene Koffer, aus denen die Habseligkeiten der in Panik geflüchteten Tutsi quellen, liegen umher. Auch ein populärwissenschaftliches Lexikon gehört offensichtlich zu den Schätzen, die gerettet werden sollten, ebenso wie ein Buch, das just an der Stelle aufgeschlagen ist, wo ein weißes und ein schwarzes Mädchen schwesterliche Eintracht demonstrieren. Jetzt wirkt es nur noch wie ein naiver und völlig deplazierter Appell zur Überwindung rassischer Vorbehalte. Gebeine und Totenschädel, die an den Wänden und in den Ecken aufgehäuft wurden, warten darauf, in Säcke gefüllt und dann, nach einer Zwischenlagerung in einem Nebenraum, in dem bereits etliche Säcke stehen, zur Reinigung gebracht zu werden. Zuständig dafür sind eine Frau und ein Mann, beide, wie sie sagen, Überlebende des Massakers vom 15. April 1994. Schon seit Jahren arbeiten sie auf dem Kirchengelände, am Anfang, um Beweise zu sichern, jetzt, um die Erinnerung wachzuhalten. Sie sitzen vor zwei mit einer Lauge gefüllten Eimern, in die sie die Schädel und Knochen eintauchen, um sie danach mit einer Bürste zu bearbeiten. Eintauchen, abschrubben, eintauchen, abschrubben, der Ablauf sitzt, als handele es sich um Karotten. Die gereinigten Schädel und Knochen werden in einer Art Schuppen aus Holz mit vielen, die Luftzirkulation sichernden Spalten in den Wänden gelagert oder, genauer gesagt, ausgestellt. Auf zwei zirka fünfzehn Meter langen und bis zu zwei Meter breiten Tischen sind zunächst die Totenschädel aneinandergereiht, nebeneinander und hintereinander. Dann folgen die Knochen. Oberschenkelknochen sind es zumeist. Dicht an dicht liegen sie, manchmal auch mehrere übereinander. Ein Kondolenzbuch lädt dazu ein, Wünsche, Gedanken, Hoffnungen zu äußern. Die Betroffenheit der Besucher ist mit den Händen zu greifen. Immer wieder der Appell »never again«. »Manchmal haben wir den Eindruck«, sagt die Frau, und der Mann nickt zustimmend, »als kämen die Menschen zu uns aus einer anderen Welt«.

Die Kirche in Nyamata ist um einiges größer als die Kirche von Ntarama. Auf den ersten Blick sieht sie längst nicht so beschädigt aus wie die Kirche von Ntarama, wo Löcher in die Wände geschlagen wurden, damit die Mörder eindringen konnten. Im Innern jedoch sind die Spuren der Mordaktion unübersehbar. Rund um den Altar ist der Betonboden dunkel gefärbt, auch das Altartuch hat eine rostbraune Färbung. Ein wahrer Blutsee muss in der Kirche gestanden haben. Eine Ahnung von dem, was hier geschehen ist, geben auch die vielen kleinen Lichtsäulen in der Kirche. Es ist das Sonnenlicht, das durch Löcher strahlt, die von Handgranatensplittern ins Wellblechdach geschlagen wurden. Um das Töten zu beschleunigen, hatten die Täter Handgranaten in die Menge geworfen. Ausgeklügeltere Methoden des Tötens zeigen Instrumente, die in einem Nebenraum ausgestellt sind. Angespitzte Stöcke, die in Körperöffnungen gestoßen wurden, zählen da augenscheinlich noch zu den eher herkömmlichen Varianten.

Ansonsten ist bei der Präsentation des Verbrechens der Unterschied zwischen 5000 Toten und 50000 Toten nicht groß. Schädel und Knochen sind zu Hunderten und Tausenden ausgestellt. Einschnitte in den Knochen, Risse und Löcher in den Schädeldecken geben eine Ahnung davon, wie der dazugehörende Mensch gestorben sein muss. Bekanntere Persönlichkeiten sind vor der Kirche beigesetzt. Dort befindet sich auch das Grab von Tonia Locatelli, einer italienischen Entwicklungshelferin, die schon im März 1992 bei dem Versuch, ein Massaker an den Tutsi von Nyamata zu verhindern, getötet wurde und heute als das erste weiße Opfer des Völkermords gilt.

Wenige Tage später dann Murambi. Nichts weist auf das hin, was hier zu sehen sein wird. Wie die Karikatur eines Hausmeisters bei einer Schulinspektion läuft ein Mann eilfertig von Tür zu Tür eines ehemaligen Schulgebäudes. Er stößt eine Tür auf, verharrt kurz und eilt, ohne das Ankommen des Besuchers abzuwarten, weiter zur nächsten Tür. Wer den ersten Raum mit ohnehin schon dunkler Vorahnung betritt, bleibt abrupt stehen. Nicht menschliche Totenschädel oder Gebeine erwarten ihn, sondern mumifizierte Leichen, die auf Brettergestellen abgelegt wurden. Etwa fünfzig pro Klassenraum. Eng nebeneinander die Erwachsenen, auf gleicher Länge übereinander die Kinder. Kleinkinder oder Babys liegen, so scheint es, bei ihren Müttern oder Vätern, da die Körper in ihrer Lage wie zueinandergehörig wirken. Einige haben noch Reste ihrer Kopfbehaarung, andere zeigen Spuren tödlicher Verletzungen, in der Regel am Kopf, der das bevorzugte Ziel von Hieb- und Schlagwaffen gewesen sein muss. Am 23. April 1994 habe das Morden in Murambi begonnen, sagt Emmanuel Murangira am Ende des Gangs, als ich zu ihm aufschließe, noch halb betäubt vom Geruch der vielen mumifizierten Leichen. Zur besseren Konservierung wurden sie mit einer kalkartigen Substanz bestreut, was ihnen nicht nur ein gespenstisches Aussehen gibt. Auch die Luft in den stickigen, von außen mit Plastikplanen abgedunkelten Klassenräumen ist ekelerregend schlecht. Es ist beinahe so, als würde sie in jede Pore eindringen und mit jedem Atemzug intensiver und gegenständlicher schmecken. »Ich bin hier für meine Frau und meine fünf Kinder«, fährt Emmanuel Murangira fort. »Nach einem tagelangen Martyrium – die Belagerer hatten die Wasserleitung zur Schule unterbrochen und keine Nahrungsmittel mehr hineingelassen –, wurden sie hier umgebracht. Zusammen mit 50000 anderen.« Er selbst hat wie durch ein Wunder überlebt. Eine Kugel verletzte ihn an der Stirn. Für die Mörder war er wegen der Wunde, deren Spuren heute noch deutlich zu sehen sind, so sicher tot, dass nicht noch einmal geschossen oder zugeschlagen werden musste. »Vielleicht liegen meine Frau und Kinder auch auf den Gestellen. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich aber liegen sie noch in einem der Massengräber da oben«, meint Emmanuel Murangira und zeigt zum Eingang des Schulgeländes. »Ich jedenfalls gehe hier nicht mehr weg. Ich weiß, was hier geschehen ist und werde darüber reden.« Und wieder erzählt er von den Tausenden Tutsi-Flüchtlingen im Schulkomplex. Davon, dass die Behörden nur vier Polizisten zu deren Schutz abstellen wollten, von ihrer Verzweiflung und von dem Furor, mit dem die Hutu-Mörder von nah und fern sich an das Morden gemacht hätten. Sie seien jetzt (»aber noch längst nicht alle«) in Sichtweite im Gefängnis auf dem gegenüberliegenden Hügel, sie seien es auch gewesen, die die Leichen, die in den Klassenräumen zu sehen seien, hätten exhumieren müssen. »So werden sie immer an ihre Taten erinnert«, schließt Emmanuel Murangira in einem Anflug bitterer Zufriedenheit.

Erinnern. Erinnerung. Worte, die in Ruanda in vielen Gesprächen fallen und an vielen Orten visualisiert werden. Nicht nur in größeren Städten oder an den Hauptschauplätzen des Völkermords, auch in kleineren Dörfern und an den vielen kleinen Plätzen, wo Menschen umgebracht wurden. Ein kurzer Halt nur an einem der Kreuze oder Gedenksteine, an einer handbeschriebenen Holztafel oder einer Steinplatte, die ein Massengrab abdeckt, und schon kommen eine Frau oder ein Mann herbeigelaufen und erklären, was dort 1994 geschehen ist, wie vieler Toter an dieser Stelle gedacht wird und wie wichtig diese Form der Erinnerung ist, als Mahnung an die vielen noch unentdeckten Täter und als Aufruf, künftig wachsam zu sein. Das steht zwar so oder so ähnlich oft auch auf den Tafeln an den Gedenkstätten, zusätzlich zu Kinyarwanda meist in Französisch oder Englisch, aber mündlich bekräftigt scheint es Information und Botschaft in besonderer Weise zu beglaubigen, ganz so, wie es das Selbstverständnis der landesweit größten Opferorganisation Ibuka (Erinnere dich!) einfordert. »Welch’ bessere Antwort auf den Schrecken der Verbrechen gibt es in der heutigen Welt, als unbeirrbar davon Zeugnis abzulegen«, lautet eine ihrer Handlungsempfehlungen, nachzulesen auf dem Eingangstor zu einem Gedenkort an der Straße von Kigali nach Nyamata und Ntarama.1

Die Erinnerung an den Völkermord und das Sprechen über die Massaker sind jedoch, das wird schnell klar, nicht auf die Vergegenwärtigung der Vergangenheit beschränkt. Es geht nicht nur um die Sammlung und Bewahrung von Informationen, um Manifestationen der Betroffenheit und guten Absicht, also um das Gedenken an sich, damit das, was allgemein als Lernen aus der Geschichte bezeichnet wird, überhaupt möglich wird. Die verschiedenen Formen der Erinnerung sind vielmehr auch und vor allem ein Vehikel, um die Täter des Völkermords strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können. Immer zahlreicher werden die am Straßenrand aufgestellten Tafeln, die in großen Lettern von der Gacaca-Justiz künden. Selbst in entlegenen Regionen sind sie anzutreffen und fallen auch sofort auf, da sie ihre Botschaft auf mehreren Quadratmetern verkünden. Auf einem Hintergrund, der an den Völkermord und dessen Folgen erinnert – neben den Großaufnahmen einer Frau und eines Mannes, deren Gesichtsausdruck und Haltung tiefste Erschütterung und Verzweiflung zeigen, sind links ein brennendes Haus, vor dem ein mit einer Machete bewaffneter Mann steht, und rechts Szenen aus Gerichtsverhandlungen sowie zwei Frauen zu sehen, die bei der Feldarbeit sind und in einer Mischung aus Angst und Scham ihre Blicke auf etwas richten, das in der Nähe auf dem Boden liegen muss – ist zu lesen: »Gacaca-Gerichte«. Darunter: »Die Wahrheit heilt. Wenn wir gestehen, was wir getan haben, wenn wir sagen, was wir gesehen haben, wird das unsere Wunden schließen.«

Geplant ist, dass über eine landesweite Reaktivierung der traditionellen Gacaca-Justiz die justizielle Aufarbeitung des Völkermords beschleunigt werden soll. Es heißt, dass über 120000 Völkermordverdächtige in den Gefängnissen Ruandas sitzen, unter größtenteils entsetzlichen Haftbedingungen. Die ordentliche Justiz des Landes ist überfordert. »Zwischen 1000 und 1500 Verfahren kann sie im Jahr durchführen«, erklärt mir Jean de Dieu Mucyo, der Justizminister, »und der Internationale Strafgerichtshof in Arusha befasst sich nur mit den Organisatoren des Völkermords, nicht mit den vielen anderen Tätern«, ergänzt er noch. Bis zum Herbst 2002 sollen in zwei Etappen gut 700 Gacaca-Gerichte geschaffen werden. Sind die Erfahrungen, die in den Pilotverfahren, die der Informationsbeschaffung und Sachverhaltsklärung dienen und noch nicht mit einem Urteil enden sollen, ermutigend, soll ihre Zahl so erhöht werden, dass es bis hinunter zur untersten Verwaltungseinheit, der Zelle, je ein Gericht gibt. Das wären dann über 10000 Gacaca-Gerichte. »Wichtig ist«, so noch einmal Mucyo, »dass wir uns mit unserer traurigen Vergangenheit in einer Weise auseinandersetzen können, die zu unserer Kultur gehört, die den Menschen in Ruanda etwas sagt. Sonst wird es keine Versöhnung geben.«2

Einen ersten konkreten Eindruck von dem ruandischen Weg, an den Mucyo wohl gedacht haben muss, gewinne ich im November 2002, gut eine Woche, bevor nach der Wahl der Richterinnen und Richter die zweite, eigentliche Pilotphase der Gacaca-Justiz beginnt. In der Stadt Nyarutega im Süden des Landes findet eine so genannte »Présentation« statt. Das ist eine Art Gefangenenvorstellung, die das Ziel hat, möglichst früh unschuldige Häftlinge identifizieren und aus der Haft entlassen zu können. Ein Staatsanwalt liest vor, wessen ein Häftling beschuldigt wird, dieser äußert sich dazu und die lokale Bevölkerung, mit dem Geschehen in der Region zur Zeit des Völkermords gewöhnlich bestens vertraut, bestätigt, korrigiert oder verwirft die Beschuldigung. Hunderte, manchmal Tausende von Menschen nehmen daran teil, zuletzt, über mehrere Tage hinweg, im Stadion der in der Nähe gelegenen Provinzhauptstadt Butare, wo sage und schreibe 2700 Häftlinge »vorgestellt« wurden, von denen allerdings nur 32 ihre Freiheit erhielten.

In Nyarutega sind es gut 50 Gefangene, unter ihnen vier Frauen, die vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung von den Ladeflächen zweier Lastwagen steigen. Die meisten scheinen gut gelaunt, lachen, als sie von Familienmitgliedern und Freunden begrüßt werden. Wäre nicht die rosafarbene Kleidung, die sie als Völkermordhäftlinge kennzeichnet, könnte ein zufälliger Beobachter eher an eine folkloristische Feier oder an einen etwas bizarren Arbeitseinsatz denken als an eine justizielle Veranstaltung, auf der es leicht um Leben oder Tod gehen kann. Nachdem die Gefangenen Aufstellung genommen haben (für einige ältere wurde eine Bank bereitgestellt), beginnt die Veranstaltung. Zwei Gefangene führen Protokoll, drei weitere, auf deren Mützen Sûreté steht, sind für die Sicherheit verantwortlich, auch wenn nicht klar wird, für welche, schließlich sind auch bewaffnete Polizisten vor Ort.

Acht Häftlinge sollen heute zu Wort kommen, eine Frau wird nicht unter ihnen sein. Der Ablauf ist immer derselbe. Der Häftling tritt vor und nennt seinen Namen, der Staatsanwalt verliest die Beschuldigung, dann spricht wieder der Häftling. Wenn er geendet hat, kniet er nieder, beteuert, dass er die Wahrheit gesagt hat, bekreuzigt sich, steht wieder auf und geht zurück an seinen Platz.

Der erste Gefangene, ein Mann mittleren Alters, soll einen Mord begangen haben. Seine Unschuldsbeteuerungen werden von den Zuhörern zurückgewiesen, die dicht gedrängt auf dem Platz vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung stehen. Ein Gacaca-Gericht soll über die Anklage entscheiden. Der zweite Gefangene, der vortritt, wirkt noch sehr jung. Er soll eine Frau getötet haben, doch er behauptet, nicht er, sondern ein anderer habe die Tat begangen. Er nennt dessen Namen und auch den Namen einer Zeugin, die alles gesehen haben soll. Auch hier wird später ein Gacaca-Gericht entscheiden. Die nächsten drei Häftlinge sollen bald freigelassen werden, da sich die Anklagen als substanzlos erwiesen haben. Alle drei sind der Bevölkerung gut bekannt, ihre Unschuld kann durch eine Reihe von Zeugen bestätigt werden, und als der Staatsanwalt tatsächlich die baldige Freilassung ankündigt, wird dies mit Applaus quittiert. Die letzten drei Häftlinge, die an diesem Tag »vorgestellt« werden, müssen sich wieder vor Gacaca-Gerichten verantworten. Während in einem Fall nicht geklärt werden kann, wie der Tatvorwurf überhaupt lautet, stoßen in den beiden anderen Fällen die Unschuldsbehauptungen auf heftigen Protest. Es geht um mehrfachen Mord, auch an Kindern, da reicht der kleinste Einwand, um den Fall zur Klärung an die Gacaca-Justiz zu verweisen. Alle, die mutmaßlichen Täter eingeschlossen, scheinen große Hoffnungen in sie zu setzen.