Rückzug oder Kreuzzug? - Michael Blume - E-Book

Rückzug oder Kreuzzug? E-Book

Michael Blume

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Beschreibung

Religionen werden maßgeblich durch ihre Medien geprägt – z. B. Judentum, Christentum und Islam von ihren jeweiligen Alphabeten und dem darauf basierenden Denken. Digitalisierung bedeutet daher auch, dass Kirchen und Religionen immer weniger als unabhängige Akteure erscheinen, sondern als Varianten von »Religion« insgesamt wahrgenommen werden. Gegen den Trend zur globalen Vereinheitlichung stemmen sich religiöse Fundamentalisten, die seriöse Wissenschaften, freiheitliche Gesellschaften und andere Religionen bekämpfen. Auf der anderen Seite droht stiller Rückzug, also Selbst-Säkularisierung der Kirchen. Michael Blume zeigt Zusammenhänge auf, die nur auf den ersten Blick überraschen: Durch ihren Umgang mit der Digitalisierung und der Klimakrise entscheidet sich heute, welche Eigenständigkeit die christlichen Kirchen – und die Religionen überhaupt – sich zwischen Säkularismus und Fundamentalismus künftig bewahren können.

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Michael Blume

RÜCKZUG ODER KREUZZUG?

Die Krise des Christentums und die Gefahr des Fundamentalismus

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort: Hinschauen inmitten von Digitalisierung und Klimakrise

1. Das Kreuz mit der Wahrheit

Die Mär vom »Kampf der Kulturen«

1.1 Eine neue These: Monistinnen gegen Dualisten

Globale Vernetzung – Weltethos

1.2 Wird nun »alles gut«? – Neue Medien und die Gefahr des Historizismus

1.3 Das »Kreuz der Verantwortung«

Glaube an Gott vs. Vernunft des Menschen?

2. Von Sem zu Japhet, von Jehoschua zu Jesus

Das hebräisch-semitische Alphabet

Das griechisch-japhetitische Alphabet

Eine Botschaft der Liebe in einem Medium mit ­Zähnen

Von der Thorarolle zum Codex

2.1 Japhet, Sokrates und der Platonismus

Sind neue Medien gefährlich?

2.2 Erstes Testament: Semitischer Monotheismus

2.3 Neues Testament: Japhetitische Inkarnation

2.4 Gemeinsame Zukunft auch in Aschkenas?

3. Eine inklusivere und also bessere Vorgeschichte der Kirche

3.1 Eine erweiterte Perspektive

Die Entstehung der großen Weltreligionen und Weltanschauungen

Mesopotamien und die »Vertreibung aus dem Paradies«

Das Zeitalter der Pandemien

3.2 Antifeminismus: Lilith und Eva

3.3 Rassismus: Das Mittelmeer und Ham

3.4 Zion zwischen Historizismus und Gleichberechtigung

4. Jehoschua Christus: Der Beginn einer neuen Zeit

4.1 Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1879)

Die jüdische Familie: Mirjam steigt zu Jehoschua herab

Zeit – Herkunft und Zukunft

4.2 Semitismus und Bildung

Schriftgelehrte als Bauarbeiter

Gottesmedien: Schriftrolle, Codex, Mensch

Zurück in die Zukunft mit Sprache

Goldene Regel in der mündlichen Thora

Verfolgung durch die NSDAP

Das Unwahrscheinliche: Dennoch

Prognose: Sieg des Kulturchristentums

Personen- und Sacherklärungen

Danke

Anmerkungen

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort: Hinschauen inmitten von Digitalisierung und Klimakrise

»Nichts ist weniger sicher, als daß die Wahrheit geliebt werden will, geliebt werden kann, geliebt werden darf.«

Hans Blumenberg (1920–1996)1

»Man muss das positiv sehen. Es ist zwar das Ende der Welt, wie wir sie kennen, aber wir lernen auch total viel über Statistik dabei!«

Lars Fischer, Wissenschaftsblogger2

Der große Philosoph Hans Blumenberg hat einst die Entdeckung gemacht, dass wir Menschen – alle Menschen – »Namen« und »Mythen« benötigen, um dem »Absolutismus der Wirklichkeit« standhalten zu können. Denn mit der Entwicklung des Bewusstseins hätten schon unsere Vorfahrinnen und Vorfahren die »Risiken des erweiterten Horizontes« erfahren: das Unbekannte, Zukünftige, Fremde, ja den unvermeidbaren Tod. Mit Bezug auf einen Hirnforscher hat Blumenberg erkannt, »daß Angst immer wieder zu Furcht rationalisiert werden muss«3 – also mit Namen benannt, mit Geschichten eingekreist und beherrschbar erzählt werden muss. »Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht.«4

Doch heute stürzt der vermeintlich so ferne »absolute« Horizont sowohl durch Digitalisierung wie Klimakrise direkt auf uns zu. Texte, Bilder, Töne rasen in einem niemals gekannten Tempo um den Erdball und globalisieren, beschleunigen und personalisieren die Wahrnehmungen. Noch nie war es so leicht, sich nahezu in Echtzeit etwa über die Covid-19-Pandemie oder die rasch eskalierende Klimakrise in allen Erdteilen zu informieren, zu lesen, zu hören, Bilder und Videos zu sehen. Gleichzeitig war es aber auch noch nie so leicht, sich in eine digitale Parallelwelt zurückzuziehen, in der die Existenz des Virus und die globale Erwärmung geleugnet und die Berichte als Weltverschwörung abgetan werden.

Auch die Abwehr-Sprache ist dabei religiös durchtränkt. So warf mir ein Kommentator noch am 7. August 2021 zu einem Blogpost öffentlich vor, ich sei ein »Zeuge Coronas und Klimawandeljünger re­spektive Klimawandelprophet«.5 Dieser Vorwurf wurde nicht zufällig auf meinem Wissenschaftsblog bei den scilogs von Spektrum der Wissenschaft kommentiert, auf dem auch der eingangs zitierte Lars Fischer seit vielen Jahren erfolgreich bloggt. Das einerseits hohe Interesse an wissenschaftlich informierten Texten, die andererseits massive und sogar zunehmende Abwehr dagegen gehören zu den Erfahrungen, von denen wissenschaftliche Bloggerinnen und Blogger heute täglich zu berichten haben.

Wenn wir Blumenbergs wegweisender »Arbeit am Mythos« weiter folgen, dann ist es kein Zufall, dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem religiös konnotierten Vorwurf als »Zeugen Coronas«, ja als Jünger, gar Propheten einer Klimareligion konfrontiert werden. Denn wir erleben jetzt den Zusammenbruch von Zukunftsvertrauen auch »durch« Forschungsergebnisse und gleichzeitig ein aggressives Aufkommen von Verschwörungsmythen »gegen« Wissenschaft. Damit träte nach Blumenberg aber ein religiöser Ernstfall ein, wenn die alten Mythologien ihre Funktion kaum mehr erfüllen könnten, denn der »Mythos repräsentiert eine Welt von Geschichten, die den Standpunkt des Hörers in der Zeit derart lokalisiert, dass auf ihn zu der Fundus des Ungeheuerlichen und Unerträglichen abnimmt«.6

Wir dürfen hier an einen Gottesdienst denken, in dem Geistlichkeit und Gemeinde einander segnen und beschützen, einen Zeit-Raum außerhalb der weltlichen Bedrängnisse und Nöte erschaffen. 2020 aber war doch genau das Gegenteil der Fall – wegen eines Virus mussten Gottesdienste abgesagt und ins Digitale verlegt werden, und auch gegen die globale Erwärmung erwiesen sich Gebete allein als wirkungslos. Wissenschaft und Tagesnachrichten konfrontieren uns mit einer Realität aus Klimakatastrophen wie allsommerlich eskalierenden Feuersbrünsten und schmelzenden Gletschern.

Dazu schilderte Blumenberg jene »Mythe« zur »Eroberung Athens durch Xerxes«, nach der »der Ölbaum neben dem Meerwasserbrunnen schon am zweiten Tag nach dem Brand aus dem Stumpf wieder einen Schoß getrieben« habe.7 Zudem präsentierte er den Noah-Sintflut-­Mythos als »Verfahren des Nachweises von Zuverlässigkeit« des »durch den Regenbogen festgestellten biblischen Gottesschwures, keine zweite Ausrottung der Menschheit durch Wasser zu vollziehen«.8

Der vom NS-Staat wegen seiner jüdischen Mutter 1940 aus dem Priesterseminar gedrängte Blumenberg wusste dabei, wovon er sprach. Verfolgungen, Todesängste und Morde an Angehörigen, die militärische Niederlage des Deutschen Reiches, die beständige, auch atomare Bedrohung des »Kalten Krieges« und die beschleunigende Wirkung der elektronischen Medien Radio, Telefon und Fernsehen hatte er jeweils am eigenen Leib erlebt. Nach dem Warnruf »Die Grenzen des Wachstums« des Club of Rome von 1972 erfuhr sich der Philosophieprofessor in einer Zeit von wissenschaftlich, »professionell oder gar professoral ausgemalten Schrecknissen der Gegenwart und erst recht der Zukunft«, die jeden interessierten Menschen mit dem erschreckenden »Absolutismus der Wirklichkeit« konfrontierten.9 Menschen konnten darauf mit Ablenkung – Unterhaltung, Zerstreuung, Verdrängung – oder mit bedeutungsvollen, tröstenden, ermutigenden Mythologien reagieren.

Blumenberg entdeckte, »daß die Antithese von Mythos und Vernunft eine späte und schlechte Erfindung ist«, weil »die Funktion des Mythos bei der Überwindung jener archaischen Fremdheit der Welt selbst als eine vernünftige anzusehen« sei.10 Wir bräuchten Geschichten, um in der wissenschaftlich erkundeten Welt erst vernünftig, heimisch und tätig werden zu können.

Zuversicht und Weltvertrauen, die von gewachsenen und bewährten Mythen gespendet werden, würden laut Blumenberg auch von den Wissenschaften gebraucht, um sich, wenn auch eher langsam, im Bewusstsein von Menschen durchzusetzen: »Wissenschaft kann warten oder steht unter der Konvention, es zu können«, beobachtete er, wogegen »Rhetorik den Handlungszwang des Mängelwesens« voraussetze.11 Formulierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forderungen zu laut und zu schnell, so würden sie auf die Furcht und die Abwehr vieler Menschen treffen – wie wir sie heute im ängstlichen Spott über »Zeugen Coronas« und »Klimapropheten« erfahren.

Stehen wir also vor einem schlimmen Szenario, in dem Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen ihren alten Mythen nicht mehr vertrauen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse etwa zur Klimakata­strophe nicht mehr ertragen können? Beobachten wir nicht bereits, dass sich große Teile der Weltbevölkerung einschließlich populistischer Anführer trotzig und oft aggressiv in die Schein-Wahrheit und Schein-Sicherheit von Verschwörungsmythen flüchten und geradezu Kreuzzüge gegen Wissenschaft und Wahrheit führen, statt sich der tatsächlich beängstigenden »absoluten Wirklichkeit« zu stellen? Und was bedeutet es umgekehrt für – nichtreligiöse wie religiöse – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass sich so viele Menschen ihren Erkenntnissen verweigern, auch dann noch, wenn sich die Prognosen schon sichtbar einstellen?

In diesem Buch werde ich die These vertreten, dass wir mit dem Zusammenbruch der Welt, wie wir sie kennen, auch eine grundlegende Transformation von Mythologien, Religionen und insbesondere auch der Kirchen erleben. Auch das optimistische Menschenbild der liberalen Aufklärung – der Mensch als grundsätzlich vernunftbegabt und dialoggewillt – stürzt in sich zusammen. Neben dem millionenfachen »Rückzug« aus den Religionsgemeinschaften in eine angefochtene, säkulare Individualität steht ein nicht nur in den USA starker »Kreuzzug« gegen die als bedrohlich und verschwörerisch empfundenen Erkenntnisse der Wissenschaften.

Dieses Buch schließt eine Religions-Trilogie ab. Mit »Islam in der Krise« durfte ich auf Basis von Daten und eigenen Beobachtungen im Nahen und Mittleren Osten Befunde zum Zerfall einer großen Weltreligion veröffentlichen.12 Als wissenschaftlich überprüfbare Gründe wurden dafür die Verzögerung des Buchdrucks arabischer Alphabet-Lettern vom 15. bis ins 19. Jahrhundert sowie der massive Verkauf fossiler Rohstoffe durch strukturell autoritäre Öl-Rentierstaaten wie Libyen, Saudi-Arabien, Irak, Iran und Brunei aufgezeigt. Ermutigend war dabei, dass im Gegensatz zu manchen Vorhersagen gerade auch Musliminnen und Muslime überwiegend interessiert, ja dankbar auf die Erkenntnisse reagierten. Die Frage, warum die Wissensblüte der islamischen Zivilisationen ab dem 15. und 16. Jahrhundert abgerissen war, hatten sich längst viele gestellt – und die vielfach propagierte jüdisch-westliche Weltverschwörung als zunehmend unplausibel empfunden. Und der massive Einfluss der Medien auch auf den religiösen Glauben war vielen aus dem eigenen Umfeld wie auch im Hinblick auf das »digitale Kalifat« der Terrormiliz des selbsternannten »Islamischen Staates« völlig präsent.13 Schließlich bin ich zu Lesungen und Diskussionen zu »Islam in der Krise« sogar in Moscheen eingeladen worden.

Im zweiten Band »Warum der Antisemitismus uns alle bedroht« von 2019 ging es dann um den Blick auf die Bedeutung der Alphabet-Medien und Noah-Mythen für die Herausbildung des Judentums als erste semitische und zahlreiche »Töchter« prägende Religion.14 So ist der Noah-Sohn Sem (hebräisch »Schem«) in der jüdischen Auslegung gerade nicht der Urheber einer angeblichen »Rasse« oder Sprachgruppe, sondern der Begründer einer Alphabet-Schule in Jerusalem. Bis heute besteht jede koschere Thora-Rolle im rabbinischen Judentum aus genau 304.805 handgeschriebenen Alphabet-Buchstaben. Sie erst macht die Synagoge – in der nicht zufällig auch Jesus las und betete – zum heiligen Ort.

Jedes Kind soll in Lesen und Schreiben unterrichtet und in der Bar bzw. Bat Mitzwa geprüft werden. Ja, der Begriff der »Bildung« selbst geht auf das erste Buch Mose zurück, nach dem der Mensch »im Bilde Gottes« (1. Mose 1,26–27) geschaffen sei. Dass auf nur 0,2 Prozent jüdischen Anteil an der Weltbevölkerung über 20 Prozent aller jemals verliehenen Nobelpreise entfallen, ließ sich damit also ganz ohne Pseudo-Genetik und Rassismus erklären. Damit ergab sich aber auch eine schlüssige Herleitung für die oft mörderische Mischung aus Neid, Verschwörungsmythen und Hass, die zunächst den Antijudaismus und schließlich den rassistischen Antisemitismus hervorbrachte. Damit war bereits Monate vor der Covid-19-Pandemie prognostizierbar, dass Verschwörungsgläubige hinter Pandemien und Krisen wieder und wieder vermeintlich jüdisch geführte Weltverschwörungen glauben würden. Religiös-fundamentalistische, mit Digitalkampagnen geradezu »Kreuzzüge« ­inszenierende Gruppen wie die Schweizer »Organische Christus Generation« (OCG), die deutsche Querdenker- und die US-amerikanische QAnon-Bewegung bestätigten die Befürchtungen leider kaum ein Jahr später.

Was bedeutet das nun für den dritten und abschließenden Band zur Zukunft der aus dem Judentum hervorgegangenen und bislang größten Weltreligion, des Christentums? Wird es wie der Islam zwischen Säkularisierung und Radikalisierung zerrieben oder wie das Judentum zu einer zahlenmäßig kleinen, aber geistig bedeutenden Minderheit werden?

Oder stehen die Kirchen und Religionsgemeinschaften inmitten der nun eintretenden Klimakatastrophe dabei gar nicht vor einem spezifisch religiösen Problem, sondern vor einer vergleichbaren Vertrauenskrise wie die demokratischen Parteien? In einer Forsa-Befragung Anfang August 2021 unter 2509 deutschen Erwachsenen trauten noch 17 Prozent der Befragten der Union »am ehesten zu, mit den Problemen in Deutschland am besten fertig zu werden«. Den Grünen sprachen noch zehn Prozent diese Kompetenz zu, der SPD sechs Prozent und allen »anderen« neun Prozent. Eine absolute Mehrheit von 58 Prozent traute dies jedoch »keiner« Partei mehr zu.15 Wie also wäre überhaupt zu erwarten, dass die gleichen Befragten in ihre örtliche Kirchengemeinde größere Hoffnungen setzen könnten?

Gerade »weil« die religiöse wie auch politische Vertrauenskrise nicht mehr zu leugnen ist, möchte ich Ihnen in diesem Band noch einmal Blumenberg zumuten. Dieser warnte davor, dass »Rhetorik« ein »Verhalten angesichts von Ungeduld« sei und »die Gefahr der Selbstüberredung« in sich berge. Dagegen müsse sich Philosophie als »Disziplin der Aufmerksamkeit« behaupten. In einer krassen Infragestellung des Spektakelns, das wir heute zwischen Katastrophenbildern, Tagesaufregern und Katzenvideos als »Aufmerksamkeitsökonomie« bezeichnen, galt laut Blumenberg für konstruktive Philosophie: »Niemand darf überrascht sein zu erfahren, was sie zu sagen hat.«16Wie er das meinte, lebte Blumenberg anhand eines seit 1941 über 40 Jahre lang entwickelten Systems von rund 30.000 Karteikarten vor, in dem er Zitate, Texte und Daten aus allen verfügbaren Wissensbereichen sammelte.17 Anstatt Begriffe wie »Mythos«, »Theorie« oder »Platons Höhlengleichnis« populär verständlich mit schnellen Definitionen und schneidigen Thesen zu bearbeiten, legte er zu jedem dieser Begriffe und zu vielen weiteren lange Werke vor, die diese aus den Erkenntnissen der verschiedensten Disziplinen heraus um­kreisen.18

Das wirkte und wirkt ungewohnt, ja schroff gegenüber den bei ihm Studierenden sowie den Leserinnen und Lesern, gerade aber nicht gegenüber den Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Wissenschaften und Kulturen, deren Erkenntnisse Blumenberg ernsthaft einbezog. Rechtverstandene Philosophie sollte also gerade nicht Erkenntnisse arrogant verwerfen, sondern daran arbeiten, »daß man nur gerade übersehen hat, was sich bei ein wenig größerer Intensität des Hinschauens hätte sehen lassen müssen«. Philosophie stehe zwar in der Vielfalt der Wissenschaften nicht allein im »Dienst an der Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit« – dem stimmt der Religionswissenschaftler zu –, doch müsse verstanden werden, dass Philosophie »kein anderes Verfahren hat, ihre ›Phänomene‹ zu konservieren, als sie zu beschreiben.«19

Ich erlaube mir also in diesem dritten Band, die Zukunft des Christentums nach dem Vorbild von Blumenberg zu thematisieren. Dabei bin ich mir sicher: Wenn die religiösen Traditionen die kommenden Stürme zwischen Digitalisierung und Klimakatastrophe überleben sollten, dann wird ihnen das nur gemeinsam gelingen. Wenn sie stattdessen inmitten der allgemeinen Not auch noch als Quelle von Wissenschaftsleugnung, Streit und Gewalt erscheinen, wird sich der Zusammenbruch weiter beschleunigen. Ihre Formen und Schicksale sind in Geschichte, Gegenwart und Zukunft aufs Engste verbunden. Dies bedeutet aber umgekehrt nicht, dass einfach alle Religionen und Weltanschauungen gleichzusetzen wären; vielmehr verdient jede ihre eigene, interdisziplinäre Betrachtung.

So werden wir in Kapitel 1 erkunden, woran die »Kampf der Kulturen«-These von Samuel Huntington (1927–2008) gescheitert ist und warum heute nicht Muslime gegen Chinesen, sondern Sunniten und Schiiten – mit je christlichen Verbündeten – gegeneinander kämpfen. Dies wird uns zur Frage bringen, warum ausgerechnet Karl Popper (1902–1994), der wirkmächtigste Wissenschafts- und Erkenntnistheoretiker des 20. Jahrhunderts, der Begründer des »kritischen Rationalismus« und des empirisch orientierten Liberalismus, aus dem Mensch-Sein die bestmögliche Haltung mit dem »Tragen des Kreuzes« identifizierte.

In Kapitel 2 werden wir mit Mitteln der Medienpsychologie klären, wie das Alphabet zum mächtigsten Medium der Welt wurde. Anhand der Unterscheidung der semitischen und japhetitischen Alphabete werden wir entdecken, warum das Christentum so schnell aus dem Judentum wachsen konnte und zugleich so viele und so lange »Credos« (Glaubensbekenntnisse) entwickelte wie keine andere Weltreligion.

Dies eröffnet uns die Möglichkeit, in Kapitel 3 die zu lange vernachlässigte Disziplin der Religionsgeografie von den Alpen bis nach Zion aufzurufen und zu beantworten, warum Jesus im besetzten Kleinstaat Israel und nicht etwa im schon damals viel größeren China auftrat.

Kapitel 4 wird schließlich der Betrachtung eines einzigen Jesus-Gemäldes dienen; freilich eines Werkes, das ich für die herausragendste Darstellung von Semitismus und Antisemitismus der deutschen Kunstgeschichte halte.

Aufgrund dieser Umkreisungen des Themas werde ich schließlich zu einer Prognose gelangen – dem Sieg des Kulturchristentums »zwischen« Rückzug und Kreuzzug. Mir ist dabei völlig klar, dass ich uns und Ihnen damit mehr, zudem interdisziplinäre »Aufmerksamkeit« abverlange, als die Digitalisierung erlaubt. Und ja, ich werde gern auch weiterhin versuchen, per Blog und Podcast, per Videos und Tweets Info- und Diskussionshappen anzubieten. Auch Bücher für einen Nachmittag wie das in lesefreundlich-großer Schrift gehaltene »Verschwörungsmythen« lehne ich nicht ab.20 Doch ich glaube wirklich, dass Blumenberg in einer fundamentalen Weise recht hatte, dass wir uns inmitten globaler Umwälzungen und explodierenden Wissens immer wieder die Zeit nehmen müssen, Phänomene von allen Seiten zu betrachten. Wir müssen uns erlauben, aus dem Tunnelblick des Panikmodus herauszutreten und mitten im digital-glatten »Streamland« wieder die »Intensität des Hinschauens« einzuüben.21 Und wenn wir uns darauf, ob selbst religiös oder nicht, nicht einmal bei der weltweit zahlenmäßig größten Religionsgemeinschaft der Menschheit, die sogar unsere globale Zeitrechnung geprägt hat, einlassen würden – wo dann?

Schon heute wirkt sich die Klimakrise weltweit und insbesondere in Mesoamerika sowie entlang des eurasischen Gürtels von Spanien und Marokko bis China zunehmend verheerend aus. Vertrocknende Flüsse, Dürren, Brände und Hitzerekorde verschärfen schon bestehende Konflikte. Ich habe die regional bereits unwiderruflichen Folgen dieser Katastrophe nicht nur im Irak mit eigenen Augen gesehen und als Politikwissenschaftler die sogenannte Hitzemord-These dazu vorgestellt. Die menschliche Neigung, angesichts bestürzender Erkenntnisse Unangenehmes aus der »absoluten Wirklichkeit« zu verdrängen und abzuspalten, kann ich auch aus ganzem Herzen nachvollziehen. Inwiefern es aber gerade auch Christinnen und Christen gelingt, zwischen dem Rückzug in einen Neo-Biedermeier oder der Teilnahme an digitalen Kreuzzügen den schmalen, guten Weg zu finden – davon wird für die Zukunft der Menschheit viel abhängen.

Dr. Michael Blume

Filderstadt, im September 2021

1. Das Kreuz mit der Wahrheit

»Alle diese neuen Bücher und vor allem die Diskussionen führen ins Verderben, untergraben alle Tugend und Moral, verführen zu Lässigkeit, Lizenz, Bequemlichkeit und Indifferenz gegenüber aller Religion und der natürlichen Bindung an Eltern, Souveräne und Obrigkeiten.«

Kaiserin Maria Theresia von Österreich (1717–1780)22

»Es gibt keine Rückkehr in einen harmonischen Naturzustand. Wenn wir uns zurückwenden,

dann müssen wir den ganzen Weg gehen –

wir müssen wieder zu Raubtieren werden.«

Karl Popper (1902–1994)23

Wir lernten viel zu lange, die Menschheit in streng abgegrenzte Religionen einzuteilen. Den Höhepunkt erlebte diese sich erst langsam auflösende Vorstellung nicht zufällig nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und damit durch die Sehnsucht nach neuen, identitätspolitischen Abgrenzungen. Die liberale, kapitalistische, westliche Demokratie hatte scheinbar alternativlos gesiegt und Millionen Suchender fragten sich: War Identität denn auch ohne Abgrenzung zu haben? Konnte es ein gemeinsames »wir« ohne ein abgrenzendes »die«, konnte es Freunde ohne Feinde geben? Gegen wen und was waren noch die enormen Aufwendungen für Verteidigung, aber auch das erhebende Selbstverständnis des Verteidigers zu rechtfertigen? War es Zeit für eine rückhaltlose Friedensdividende? Oder brauchte das Abendland sein Morgenland, ein schwindendes Christentum seine Bekräftigung durch einen bedrohlichen Islam?

Die Mär vom »Kampf der Kulturen«

Samuel Huntington befriedigte dieses Bedürfnis kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, indem er 1993 in einem Artikel und 1996 in einem Buch-Bestseller den globalen »Clash of Civilisations«, einen »Kampf der Kulturen«, anbot.

Die Weltkarte färbte er dabei neu in acht abgegrenzte »Kulturkreise« ein: Da gebe es die »sinische« (chinesische) »Weltzivilisation« mit 1,34 Milliarden Menschen. Auf sie folge der islamische »Block« mit 928 und die hinduistische Entsprechung mit 916 Millionen Angehörigen. Die »westliche Weltzivilisation« vor allem evangelischer, jüdischer und zunehmend säkularer Prägung komme noch auf 806 Millionen Menschen, gefolgt vom katholischen Lateinamerika mit 508 Millionen. Als religiös gemischt präsentierte Huntington dagegen den afrikanischen »Kulturkreis« mit 392 Millionen, gefolgt von den Christlich-Orthodoxen mit 261 und schließlich dem kleinsten, dem japanischen »Block« mit 125 Millionen.24

Vor allem an den »blutigen Grenzen des Islam« würden sich, so sagte Huntington voraus, »Bruchlinienkriege« entzünden.25 Menschen würden ihre »Identität« zunehmend negativ über Feindbilder definieren: »Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind.«26

Obwohl viele Menschen an diese simple Unterteilung der Welt glauben wollten und als Indiz dafür etwa die Balkankriege anführten, erfüllten sich die Huntingtonschen Vorhersagen nicht – im Gegenteil. Kurz nach dem vorhergesagten »Clash« zwischen den »Kulturkreisen« wurde mit Jitzchak Rabin (1922–1995) erstmals ein Ministerpräsident des Staates Israel ermordet. Der Mörder war jedoch kein Muslim oder Angehöriger eines nichtwestlichen »Kulturkreises«, sondern ein extremistischer Jude, der dem einstigen General und Friedensnobelpreisträger vorwarf, Israel an seine arabischen Feinde verraten zu haben. Die tödlichen Schüsse fielen nach einer Rede Rabins auf einer Friedensdemonstration.27

Vor Rabin war die indische Premierministerin Indira Gandhi (1917–1984) nach einem Konflikt im eigenen »Kulturkreis« von ihren Sikh-Leibwächtern ermordet worden. Drei Jahre vor ihr war der ägyptische Staatspräsident Anwar al-Saddat (1918–1981) von radikalen Muslimen erschossen worden. Vor ihm waren die christlichen Reformer Präsident John F. Kennedy (1917–1963) und Pastor Martin Luther King jr. (1929–1968) jeweils von Christen ermordet worden. Ihnen voran ging wiederum der ceylonesisch-buddhistische Premierminister S. W. R. D. Bandaranaike (1899–1959), der auf seiner Veranda von einem buddhistischen Mönch erschossen wurde. Der hinduistische Unabhängigkeitskämpfer Mahatma Gandhi (1869–1948) wurde von einem extremistischen Hindu ermordet. Auch der antisemitische Mord am liberalen Außenminister Walter Rathenau (1867–1922) in der Weimarer Republik fand innerhalb des gleichen »Kulturkreises« nach Huntington statt. Die Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand (1863–1914) durch einen ebenfalls christlichen Serben trug zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bei.

All diese und zahlreiche weitere politische Morde fanden jeweils innerhalb der von Huntington konstruierten »Kulturkreise« statt. Oft waren die Attentäter sogar deshalb an ihre Opfer herangekommen, weil der Hass nicht aus den »eigenen« Reihen erwartet worden war. Und die Vorwürfe der Extremisten bezogen sich regelmäßig darauf, dass die Angegriffenen sich gerade nicht in einer Logik abgeschlossener »Kulturkreise« bewegt, sondern sich auf Dialog und Frieden mit Angehörigen anderer Religionen und Ethnien eingelassen hätten.

Huntingtons »Bruchlinien« erwiesen sich nicht als politisch vorfindbare, sondern als brüchige, oft durch Extremisten gewaltsam beschworene Konstruktionen. Entsprechend schlugen auch die abgeleiteten Prognosen über einen kommenden »Krieg der Kulturen« fehl. Als eine europäisch-amerikanische Koalition endlich in die Balkankriege eingriff, tat sie das gerade nicht entlang der von Huntington konstruierten »Kulturkreise«, sondern trat auf Seiten verfolgter Muslime gegen christlich-orthodoxe Serben an. In Ruanda fielen 1994 christliche Hutu und Tutsi übereinander und über friedensbereite Akteure in den je »eigenen« Reihen her. Ebenso wurden und werden Kurdinnen und Kurden auch von ihren »Glaubensgeschwistern« in der Türkei und im Iran gewaltsam unterdrückt.

Dem von muslimischen Extremisten begangenen Terroranschlag des 11. September 2001 in New York fielen auch zahlreiche Musliminnen und Muslime an der Seite ihrer christlichen, jüdischen, anders- und nichtglaubenden Kolleginnen und Kollegen zum Opfer. Tatsächlich hatten die afghanischen Taliban erst zwei Tage zuvor den prominenten sunnitischen Mudschaheddin Ahmad Schah Massoud (1953–2001) durch einen Anschlag ermordet. Der Terrorangriff von New York richtete sich zudem gezielt auch gegen das mit den USA verbündete Königshaus von Saudi-Arabien. Doch auch dieses arabisch-amerikanische, »Kulturkreis«-überspannende Öl-Bündnis wurde unter dem damaligen Präsidenten Bush wie auch unter allen seinen Nachfolgern beibehalten. Die US-amerikanischen Truppen stützten sich bei ihren Einmärschen in Afghanistan und im Irak jeweils auch auf muslimische Verbündete und überließen diesen unter anderem die Verurteilung und Hinrichtung des irakischen Diktators Saddam Hussein (1937–2006).

Die derzeit wirklich blutigen Kriege im Nahen und Mittleren Osten finden innermuslimisch vor allem entlang der sunnitisch-schiitischen »Bruchlinien« im Irak, in Syrien und im Jemen statt, wobei sich die Kriegführenden je auch auf verschiedene »christliche« Verbündete wie die USA und Russland stützen. Die regionalen innermuslimischen Golfkriege kosteten unzählige Leben. Und allein in Syrien starben innerhalb der letzten Jahre über eine halbe Million Menschen in einem entfesselten Bürgerkrieg – fünfmal mehr als in allen arabisch-israelischen Kriegszügen seit der Staatsgründung Israels 1948 zusammen. Auch im heutigen Irak machen schiitische Milizen blutige Jagd auf überwiegend muslimische Aktivisten von Protest- und Demokratiebewegungen.28

Zudem weiß heute jeder auch nur annähernd Kundige, dass sich Terror und Raketen der islamisch-antisemitischen Hamas außer gegen jüdische auch gegen muslimische Israelis und nicht zuletzt gegen die konkurrierende palästinensische Fatah richten. Beide nominell islamische Bewegungen verzögern wirklich freie und faire Wahlen seit nun 15 Jahren – sie wissen um die eigene Korruption und wachsende Wut auch in ihrer eigenen, dominant muslimischen Bevölkerung. Dagegen wurde 2021 nicht nur erstmals eine arabisch-muslimische Partei Teil einer israelischen Regierung, sondern es steigt auch die Zahl der arabisch-muslimischen Freiwilligen in der israelischen Armee.29

Zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte sich Huntington noch einmal in einer Verteidigung seiner Bruchlinien-These gegen die Zuwanderung katholischer Christinnen und Christen aus Lateinamerika in die protestantisch geprägten USA gewandt. Schon für Europa konnte er aber auch weiterhin die Zugehörigkeit etwa der katholisch geprägten Länder Italien, Spanien und Portugal zum »Westen« nicht bestreiten. Stattdessen verschob er seine frühere Betonung von »Kulturkreisen« leise auf die von »Kulturen« hervorgebrachten »Werte«.30