Ruhe sanft - Chinz - E-Book

Ruhe sanft E-Book

Chinz

4,9

Beschreibung

Eine Aktion der Tierschutzorganisation PETA endet noch medienwirksamer als beabsichtigt: Zwischen den hundert fast nackten Menschen auf der Domplatte, die ermordete Tiere nachstellen, liegt wirklich ein Toter. Kittys Privatleben wird völlig umgekrempelt, als er bei der Versorgung seines dementen Vaters helfen muss.

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Buch

Eine Aktion der Tierschutzorganisation PETA endet noch medienwirksamer als beabsichtigt: Zwischen den hundert fast nackten Menschen auf der Domplatte, die ermordete Tiere nachstellen, liegt wirklich ein Toter.

Kittys Privatleben wird völlig umgekrempelt, als er bei der Versorgung seines dementen Vaters helfen muss.

Autor

Chinz, 1968 in Köln geboren, wohnt heute in Varel.

Er arbeitet als Krankenpfleger, lebt als Musiker und Schriftsteller und bezeichnet sich selbst als gut gelaunten Melancholiker.

Bisher erschienen:

„Alzagra“, Roman

„Die Brücke“ (Kommissar Kittys erster Fall), Krimi

„Fast zu spät“ (Das Schweigen der Glascontainer), Roman

für Günni

Wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst.

Theodor W. Adorno

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Prolog:

Frau Röber warf Annika einen dankbaren Blick zu, drückte noch einmal schwach ihre Hand und sah dann erwartungsvoll Richtung Decke. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und blieb dort, auch nachdem sie aufgehört hatte zu atmen.

Annika betrachtete eine Weile das friedliche Bild. Welch ein Lärm und helles Licht, wenn man auf die Welt kommt, in ein lautes und hektisches Leben. Da sollte doch wenigstens der Abschied still und entspannt sein. Der Übergang in die große, zufriedene Ruhe nach dem Tod.

Es müsste sein wie bei der Geburt: Wer eine natürliche Geburt will, wer die Kraft und den Körperbau dafür hat, gerne. Aber die, die ein zu kleines Becken haben, deren Kind falsch liegt... - Welch ein Fortschritt war der Kaiserschnitt! Wann würde ein geplanter Schnitt, ein geplantes Ende endlich auch für den Tod möglich sein? Ein Kaisertod.

Annika wusste, dass sie richtig gehandelt hatte, aber sie wusste auch, als sie die Tür hinter sich aufgehen hörte, dass die Personen, die gerade herein kamen, das nicht so sehen würden... Hoffentlich war Frau Röber schon ganz im Jenseits angekommen, gleich würde es wieder laut werden.

Was jetzt? Schnell die Insulinspritze verschwinden lassen? Nein. Es gab nur noch eins zu tun:

Mit einer sanften Bewegung der ganzen Hand schloss Annika Frau Röbers Augen, strich ihr noch einmal über das Haar, drehte sich um und sah, wie Frau Röbers Sohn und Schwiegertochter sie entsetzt anstarrten...

- 1 -

Kitty lag auf seinem Sofa und hatte immer noch ein wohliges Gefühl in allen Gliedern, besonderes in einem. Nadine saß am Tisch und sortierte ihre selbstgeschnitzten Figuren auf dem Schachbrett. Das Lächeln auf ihrem Gesicht entflammte zum Strahlen, wenn sie zwischendurch zu Kitty schaute. Auch wieder dieses Funkeln in den Augen. Hatte sie immer noch nicht genug?

Nicht, dass Kitty keine Lust mehr hatte, aber er machte sich doch langsam ernstlich Sorgen. Er war noch zwei Tage krankgeschrieben, weil er sich einen Ermüdungsbruch im linken Fuß zugezogen hatte, als er sieben Kilometer gejoggt war, obwohl er vorher jahrelang fast gar keinen Sport getrieben hatte. Nun schien sich da gerade die vierte Runde Sex innerhalb von 18 Stunden anzubahnen, nachdem er vorher jahrelang keinen ernsthaften Verkehr gehabt hatte... Gab es auch einen Ermüdungsbruch im Penis? Kitty würde heute Abend Nico fragen, der zu außergewöhnlichen Fragen eigentlich immer eine Antwort wusste.

„So, Herr Kommissar! Was hältst du davon?“

Kitty hatte Mühe, auf den zwar wohlig warmen, aber etwas geschwächten Beinen, bis zum Tisch zu gehen. Nadine sah ihn mit ihren grünen Augen unter der kupferroten Haarmähne gespannt an.

Die weißen Figuren kannte Kitty zum Teil schon. Die rothaarige Dame hatte Hut, Kleid und Top wieder angezogen, auf den Pferden saßen Nadines Kinder. Der König war neu und sah sehr nach Nadines Lieblingskomponisten Beethoven aus. Die Läufer als Briefträger und Pizzabote, und die Türme sahen Kittys Canton-Lautsprechern dermaßen ähnlich, dass er für einen Moment lang glaubte, Musik aus ihnen zu hören. Die Bauern waren Gartenzwerge mit langen roten Zipfelmützen und verschiedenen Gegenständen in den Händen, von der Gießkanne bis zur Harke.

Die schwarzen Figuren waren komplett neu: Der König war eindeutig Sherlock Holmes mit Schirmmütze und Pfeife; als „Dame“ stand neben ihm Dr. Watson; die Läufer musste sich Kitty etwas näher ansehen, dann erkannte er seine beiden Arbeitskollegen Nico und Britta; die Pferde sahen verdächtig nach Kittys Hund Teddy aus und die Türme waren die beiden Türme des Towers. Als Bauern acht englische Polizisten mit Helm und Schlagstock.

„Es ist perfekt! Du bist genial! Danke!“

„Du hast zwar die schwarzen Figuren, aber weil du beim letzten Mal verloren hast, darfst du diesmal anfangen.“

Kitty setzte einen Polizisten zwei Felder vor und umarmte Nadine, die sich zum Glück überhaupt nicht nach hartem Holz anfühlte. Fest schon, aber gleichzeitig weich, geschmeidig und warm. Möglicher Ermüdungsbruch hin oder her, da regte sich wieder was.

„Oh, ist der kleine Sherlock schon wieder aufgestanden?“

Nadines Augen funkelten.

„Ich weiß gar nicht, wofür ich mich dauernd wieder anziehe...“

„Ich hatte nicht darum gebeten...“

- 2 -

Kitty war froh, dass die Straßenbahn direkt vor dem Café Krümel hielt. Die Muskeln in seinen Beinen waren durch Pudding ersetzt worden. Er war sich bloß nicht sicher welche Geschmacksrichtung.

Nico saß hinten links an einem der vielen großen Fenster zur Zülpicher Straße und unterhielt sich mit einer hübschen blonden Bedienung, die ihr Tablett auf dem Tisch abgestellt hatte. Auch der Rest des Cafés sehr hübsch. Viel Grün durch Pflanzen und Bäumchen, viel Holz durch Tische und Theke, viel leckerer Alk auf dem großen Holzbrett hinter der Theke.

Nico winkte und strahlte Kitty an:

„Hallo Kitty! Machst du uns zwei Bier?“

Die Blonde bei ihm lachte, nahm das Tablett mit den leeren Gläsern und stand auf.

„Ne, Nico, das lass mich mal lieber machen.“

Sie nickte Kitty freundlich zu, als sie auf ihn zukam.

„Für mich bitte erst mal einen Tee!“, sagte Kitty, ebenfalls freundlich nickend.

„Gerne. Schwarz?“

„Habt ihr Pfefferminz?“

„Ja.“

„Dann bitte Pfefferminz, einen Kandis und etwas Milch.“

„Mach ich. Für dich vielleicht auch einen Tee, Nico?“

„Hast du Hängema-Tee?“

„Du bekommst gleich Sperrstun-Tee!“

Nico schaute Kitty skeptisch an, während er aufstand und ihm die Hand schüttelte.

„Hallo, Herr Kommissar. Einen Tee also? Und pünktlich bist du auch noch. Muss ich mir Sorgen machen?“

Sie setzten sich.

„Ja, Nico. Alles ist aus! Das unstete Leben ist vorbei. Ich werde solide, fahre nicht mehr betrunken und will noch morgen einen Bausparvertrag abschließen. Ich bin wirklich verliebt.“

„Das freut mich für euch beide! Was macht dein Fuß?“

„Danke. Dem geht es gut. Ich mach mir momentan mehr Sorgen um ein anderes Körperteil... Kann man so einen Ermüdungsbruch eigentlich auch im..., also im...“

„Im Begattungsorgan vielleicht?“

„Im was?“

„Man kann auch männliches Glied sagen. Außerdem sind in Deutschland noch gebräuchlich: Freudenspender, Gemächt, Johannes, Lümmel, Pillermann, Pimmel, Rammelstecken..., übrigens mein Favorit...“

„Jaja, schon gut. Den meinte ich... Du sagst nicht wirklich Rammelstecken zu deinem..., äh...“

„Zu meinem Schnidelwutz, Schnipi, Schwanz, Zauberstab, Zipfel? Nein. So hab ich ihn noch nie genannt. Ich habe bisher keine wirklich schöne deutsche Bezeichnung gefunden. Schnippeltrillerich ist ganz lustig, aber nicht wirklich passend. Jedenfalls nicht bei mir...“

„Wie nennst du denn deinen?“

„Den kleinen Nick.“

„Nein!“

„Manchmal schon. Ich spreche ja selten mit oder über ihn. Am besten gefallen hat mir, als eine junge Italienerin ihn mal ‚tronchetto della felicità‘ genannt hat. Francoise sagte immer ‚baguette magique‘. Fand ich auch nett. Nicht so begeistert war ich, als eine Schwedin ihn ‚gurka‘... Langweil ich dich?“

„Nein.“

„Ach ja, zu deiner Frage: Du glaubst gar nicht, was deinem Snikkel..., äh, das ist Holländisch, aber nur beim Geschlechtsverkehr..., für Geschlechtsverkehr gibt es übrigens auch eine tolle Bezeichnung im Schwedischen...“

„Nico!“

„Sorry. Nein, einen Ermüdungsbruch gibt es im Köttsticka nicht, übrigens auch keinen Penisbruch. Der wird zwar manchmal so genannt, ist aber eigentlich eine Ruptur. Sehr unangenehm das. Ich könnte dir Fotos zeigen, danach willst du erst mal nie wieder knullen...“

„Deswegen hast du dich in die virtuelle Welt zurückgezogen?“

„Herr Kommissar! Ich nutze meinen Joystick deutlich mehr als du deinen! Werde also lieber nicht übermütig, nur weil du in einer Nacht mal ein bisschen aufgeholt hast und dein Rompeculitos etwas erschöpft in den Baumwollseilen hängt... Wie willst du eigentlich wieder zu Kräften kommen, wenn du nur Pfefferminztee trinkst?“

„Und diese Ruptur...?“

„Das hättest du gemerkt. Das gibt einen Knall und dann ist der Blutkörper gerissen und es gibt eine riesige Schwellung und Blaufärbung... Also, wenn du dir nicht sicher bist, kannst du mal eben die Hose runterlassen..."

Und mit einem Blick zu Pascale, die gerade Tee und Bier brachte:

„...falls es dir nicht recht ist, dass ich gucke, kann ja Pascale...“

„Nico!“

„Meine Güte. Seit der Tee trinkt, ist er eine richtige Spaßbremse! Aber passt auch. Ich wollte eigentlich etwas Ernsthaftes mit dir besprechen. Deine Intuition funktioniert doch hoffentlich immer noch, auch wenn du in einigen Bereichen ein neuer Mensch zu sein scheinst?“

Kitty zuckte mit den Schultern.

„Ich nehme es an.“

„Ich wollte dich nämlich bitten, mal kurz mit ins Krankenhaus zu kommen. Eine sehr gute Freundin von mir, ein älteres Ömchen, liegt dort, und ich mache mir ein bisschen Sorgen um sie. Ich will gar nicht mehr verraten, damit du nicht voreingenommen bist, würde nur gerne wissen, was du von ihrer Tochter hältst und ich weiß zufällig, dass die gleich zu Besuch kommen wird... Würdest du?“

„Klar.“

„Danke.“

Die beiden saßen eine Weile schweigend da und tranken. Nico schaute Kitty mehrmals an, als erwarte er eine Frage von ihm, aber Kitty starrte nur versonnen lächelnd in seinen Tee und wärmte sich die Hände an der Tasse.

„Also gut, wenn du mich so direkt fragst... Du wolltest ja wissen, woher ich dieses gute Gedächtnis habe.“

Kitty schrak aus seinen angenehmen Träumen hoch.

„Ja? Oh. Ja. Das hatte ich ganz vergessen.“

Nico grinste. „Ja, genau darum geht es. Ich nehme an, du hast immer noch nichts von Alzagra gehört?“

„Nein.“

„Das ist ein Medikament gegen Demenz, das gerade in der Erprobung ist. Ein Freund von mir hat an der Studie teilgenommen und es hatte erstaunliche Wirkung bei ihm. Er hat jetzt ein besseres Gedächtnis als jemals zuvor.“

„Und das Medikament nimmst du jetzt auch?“

„Nein. Es wirkt nur bei Dementen und da auch nur bei einer bestimmten Variante, aber ich experimentiere ja öfter mal mit Chemikalien, Drogen und halt auch Medikamenten, wie du wahrscheinlich weißt.“

„Nein. Das wusste ich nicht.“

„Du hast nichts davon mitbekommen?“ Nico schüttelte ungläubig den Kopf.

„Du meinst, die Salbe, die ich dir neulich, nach der Prügelei mit Prinke, aufs Gesicht geschmiert habe und die, mit Verlaub und aller eigentlich nicht gebotenen Bescheidenheit gesagt, ein Wunder bewirkt hat, gäbe es so in der Apotheke zu kaufen?“

„Tja. Ich hab da ehrlich gesagt nicht drüber nachgedacht.“

„O weh! Der Herr Kommissar... So eine Begabung, aber nie bei der Sache. Erst war er zu glücklich mit Marie, dann zu depressiv, um etwas mitzubekommen und jetzt schlimmer verliebt als jemals zuvor. Gibt es bei dir eigentlich auch einen Normalzustand?“

„Keine Ahnung.“

„Also. Ich habe ja mal ein paar Semester Pharmakologie studiert, weil... Ich glaube, das führt zu weit. Jedenfalls hat mein Freund eine Bekannte, die auch beeindruckende Erfolge mit Alzagra hatte, aber das Medikament nicht gut vertrug. Da habe ich ein bisschen mit dem Wirkstoff experimentiert und ihn etwas verträglicher optimiert und nach einem Selbstversuch merkte ich ein paar Tage später, dass das... Das ist ja nicht wahr! Beate!“

Nico war aufgestanden und ging fröhlich lächelnd auf eine kleine, dunkelhaarige Frau zu, die gerade das Café betreten hatte. Sie lächelte auch, als sie ihn sah und die beiden umarmten sich herzlich. Nico führte sie zum Tisch, stellte sie einander vor und dann setzte sich Beate zu ihnen. Die beiden erzählten über frühere Zeiten und Beate war sehr beeindruckt, was Nico noch alles von ihren Treffen wusste.

Kitty hatte keine Ahnung, wie lange er angenehm geträumt hatte, als Beate aufstand und sich verabschiedete. Nico half ihr in die Jacke und begleitete sie bis vor die Tür.

Als er sich wieder zu Kitty setzte, sagte er schuldbewusst:

„Sorry! Aber Beate wohnt jetzt in England und ich habe sie seit drei Jahren nicht gesehen.“

„Ist sie eine von deinen Rumpelkuli-Bekanntschaften?“

„Rompeculitos! Ich verbitte mir solche despektierlichen Namen für einen meiner besten Mitarbeiter, Herr Kittel! Da könnte ich Sie ja gleich Kitty nennen! Aber ansonsten: Ja. Und eine ganz Besondere. Aber ich fürchte für die Geschichte haben wir jetzt keine Zeit mehr. Über mein Gedächtnis unterhalten wir uns dann später.“

„Aber nicht vergessen.“

„Das dürfte kein Problem sein! Pascale, können wir bitte zahlen?“

- 3 -

Kitty stieg zu Nico in dessen blauen Mazda MX5.

Sie waren kaum einen Kilometer weit gefahren, als ein schwarzer Audi TT hinter ihnen erst hell und dann laut hupte...

„Der muss ja Druck auf der Blase haben. Ich fahr doch schon 55.“

Nico schüttelte den Kopf. Der Audi scherte auf den Bürgersteig aus und überholte rechts.

„Den sollten wir... Ach du Scheiße!“

Der Audi war inzwischen wieder auf der Straße, hatte aber ein so hohes Tempo, dass er nicht mehr rechtzeitig vor dem Zebrastreifen zum Stehen kam, auf dem ein kleiner Junge schreckensstarr stehen geblieben war. Er bremste mit quietschenden Reifen, versuchte noch auszuweichen, traf aber mit dem Heck den Jungen, der zwei Meter durch die Luft flog und dann regungslos liegen blieb. Mit der vorderen Stoßstange traf er einen Opel Astra auf der Gegenfahrbahn und drückte diesen auf den Bürgersteig gegenüber, wo der Opel wiederum eine betagte Mitbürgerin auf den benachbarten Rasenstreifen schob, sehr zum Schaden der linken Hüftendoprothese der 83-jährigen AOK-Versicherten. (Was ein allwissender Erzähler halt so alles weiß...)

„Guck du nach der Oma, ich schau nach dem Jungen.“

Nico parkte quer vor dem Kind, stieg aus und holte seine große Tasche aus dem Kofferraum. Die Opelfahrerin, offensichtlich nicht ernsthaft verletzt, war ausgestiegen und lief zu dem am Boden liegenden Jungen. Der Fahrer des Audis saß immer noch in seinem TT, trug immer noch seine Sonnenbrille und blickte hektisch um sich. Den Motor hatte er beim Unfall abgewürgt, aber als er Kitty auf sich zukommen sah, ließ er ihn wieder an und setzte schnell zurück. Hätte die Opelfahrerin den Jungen nicht schnell zur Seite gerissen, hätte er ihn jetzt endgültig überfahren. Auch Kitty musste zur Seite springen, als der Audi nun wieder im Vorwärtsgang davonbrauste.

Nico warf Kitty die Schlüssel für den Mazda zu: „Hier, schnapp ihn dir! Ich kümmer mich um die Verletzten.“

Kitty hasste Kölns enge und verstopfte Straßen, aber heute waren sie mal nützlich. Vier Straßen weiter sah er den Audi schon, der hinter einer Straßenbahn festhing, die wiederum wegen eines suboptimal geparkten Lieferwagens nicht weiter konnte. Auch Rückwärtsfahren war ihm nicht mehr möglich und ein kurzer Fluchtversuch zu Fuß endete nach wenigen Metern, da er auf einem Hundehaufen ausrutschte und unsanft mit dem Steiß auf dem Scheiß landete. Kitty gab sich bei der Festnahme alle Mühe, den Bürgersteig mit Hilfe der Jacke des Audifahrers komplett vom Hundehaufen zu befreien...

Nachdem die herbeigerufenen Streifenkollegen den leicht nach Alkohol riechenden Unfallflüchtigen abgeführt hatten, fuhr Kitty zu Nico zurück.

Der Junge war bereits zum Krankenhaus abtransportiert worden, der Opel wurde auf einen Abschleppwagen gehievt und die Seniorin wurde in einen Krankentransportwagen gehoben.

„Können Sie mich vielleicht mitnehmen?“

Der Sanitäter sah die Opelfahrerin mit müden Augen an: „Sind Sie mit der Person hier verwandt?“

„Nein, aber mein Auto ist nicht mehr fahrtüchtig, und ich wollte auch gerade ins Krankenhaus, um...“

„Wir sind kein Taxi.“

„Aber, wäre es denn nicht möglich...“

Der Sanitäter war schon eingestiegen. Nico schaute Kitty an; der nickte.

„Können wir Sie vielleicht mitnehmen?“

Die junge Frau drehte sich überrascht um, sah sie dankbar an, nickte und stellte sich vor. Sie hieß Antje Flieder und war Rechtsanwältin.

Als sie vor dem Mazda standen, fiel ihnen auf, dass es nur ein Zweisitzer war.

„Ups. Das tut mir leid. Ich lade öfter mal Damen zum Mitfahren ein, habe dann aber nicht diesen störenden Polizisten dabei. Kitty, deiner Linie schadet es bestimmt nichts, wenn du eben zu Fuß...“

„Ich habe einen Ermüdungsbruch.“

„Ach ja. Vielleicht im Kofferraum?“

Antje schüttelte lachend den Kopf.

„Lasst man gut sein! Danke für den guten Willen. Ich fahr dann wohl doch Taxi...“

„Nix! Versprochen ist versprochen. Wenn wir das Dach aufmachen, passe ich bequem zwischen die Sitze.“

„Das ist verboten.“

„Mir kann nichts passieren: Ich sitze zwischen einem Polizisten und einer Rechtsanwältin.“

Die Autofahrt war für alle Beteiligten sehr angenehm. Antje und Nico unterhielten sich angeregt und Kitty genoss es, sein heimliches Lieblingsauto zu steuern und davon zu träumen, mit Nadine über den Highway zu fahren.

- 4 -

Auch Antje musste auf die große Innere Station in der zweiten Etage. Als die drei den Flur betraten, sahen sie ein Paar aufgeregt aus einem Zimmer stürzen.

„Hilfe! Schnell, ein Arzt! Und die Polizei! Hilfe!“

„Hallo! Ich bin Arzt. Er ist Polizist. Was ist denn los?“

Nico wartete die Antwort nicht ab, sondern ging an ihnen vorbei ins Zimmer. Er brauchte nicht nach Puls oder Atmung zu schauen. Die Frau im Bett hatte dieses völlig entspannte und zufriedene Gesicht, das nur Tote haben konnten.

Die Frau, die neben der Leiche saß, sah durchaus auch zufrieden aus. Eigentlich ein schönes, friedliches Bild, doch der Friede dauerte nicht lange, denn nun kamen ein Arzt und eine Schwester ins Zimmer gestürzt.

„Schnell, holen sie den Notfallwagen und lassen sie ein Team anrufen! Und Dr. Bonnart soll auch kommen! Los!“

Die Schwester lief wieder aus dem Zimmer und Nico wandte sich an den Arzt:

„Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische. Aber ist das wirklich nötig? Diese Frau ist deutlich über achtzig Jahre alt, offensichtlich sehr krank gewesen und jetzt friedlich entschlafen. Wissen Sie, ob sie eine Patientenverfügung hatte?“

Der Arzt schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen:

„Alle raus hier! Wir müssen reanimieren. Sofort raus hier!“

Die Reaktion der im Zimmer Anwesenden war für Dr. Verheugen in keiner Weise zufriedenstellend. Die Frau neben dem Bett blieb mit einem verärgerten Ausdruck im Gesicht sitzen, streichelte der Toten über die Haare und sprach beruhigend auf sie ein:

„Es ist alles gut. Ich werde das nicht zulassen. Du darfst dort bleiben. Hör nicht auf ihn.“

Auch Nico ging nicht raus, sondern zu der Frau am Bett:

„Entschuldigen Sie. Mein Name ist Nico Tessler, ich bin Arzt. Wissen Sie, ob ihre Freundin eine Patientenverfügung hatte?“

Die Frau schüttelte den Kopf:

„Hallo Nico! Ich heiße Annika. Nein, das weiß ich nicht; aber ich weiß ganz sicher, dass sie weder von Apparaten am Leben erhalten, noch jemals wiederbelebt werden wollte. Sie war lebenssatt und zufrieden und wollte nur endlich von ihren Schmerzen befreit werden und da habe ich ihr mit dieser Spritze...“

„Ich befehle Ihnen, sofort das Zimmer zu verlassen!!!“

Dr. Verheugen versuchte vergeblich, etwas Ähnliches wie Autorität auszustrahlen. Statt leerer wurde das Zimmer immer voller. Die Schwester war jetzt mit dem Notfallwagen angekommen und auch Kitty und die Kinder der Toten standen inzwischen im Raum. Diese redeten wild auf Kitty ein:

„Sie sind doch Polizist. Diese Person hier, Frau Plettenberg, hat unsere Mutter ermordet!“

Dr. Verheugen hatte hektische rote Flecken im Gesicht: „Ich werde Sie alle anzeigen, wenn sie nicht sofort das Zimmer verlassen!“

Nico fragte die Schwester: „Wissen Sie, ob hier eine Patientenverfügung vorliegt?“

Die Schwester sah nur ratlos zu Dr. Verheugen, aber von der Tür her rief der Sohn:

„Ja. Es liegt eine Patientenverfügung vor. Die müsste doch in der Mappe sein!“

Kitty war froh, dass ihn keiner etwas fragte, er verstand nur wenig von dem, was hier vor sich ging, spürte aber eine ähnliche Anspannung in der Luft, wie kurz vor einer Schießerei.

„Es ist mir völlig egal, ob sie eine...“

„Das sollte Ihnen aber nicht egal sein, junger Mann!“

Jetzt kam auch noch Antje in das Zimmer.

„Wenn hier wirklich eine Patientenverfügung vorliegt, die Wiederbelebungsmaßnahmen ausschließt, dann würden Sie sich mit einer trotzdem durchgeführten Reanimation strafbar machen und zwar nach Paragraph...“

Dr. Verheugen starrte sie mit offenem Mund ratlos an, inhaltlich konnte er nicht widersprechen, er versuchte es mit Lautstärke:

„Wer sind Sie überhaupt und was erlauben Sie sich?!? Ich bin hier der Stationsarzt und fordere Sie alle noch ein letztes Mal auf...“

„RUHE!!!" Mit einer durchdringend lauten Stimme, die man dieser kleinen zarten Person nicht zugetraut hätte, hatte Frau Plettenberg den Raum tatsächlich zur Ruhe gebracht..., aber nur für einen kurzen Augenblick, dann redeten oder schrien wieder alle durcheinander.

Kitty hätte am liebsten mit der Pistole einen Warnschuss in die Luft abgegeben. Dann herrschte meistens Ruhe. Aber das ging natürlich nicht in einem geschlossenen Raum und er hatte ja auch weder Pistole noch einen Dienstausweis dabei. Der half sonst auch manchmal. Aber er war heute nur Privatperson und hatte, so musste er sich eingestehen, keine wirkliche Ahnung davon, was hier ablief. Da er Nico für fast unfehlbar hielt und Dr. Verheugen ihm schon beim ersten Kennenlernen, vor ein paar Tagen, unfähig erschienen war, war ihm klar, wer wahrscheinlich Recht hatte, aber nicht warum. Da half auch keine Paragraphenangabe.

Auch seine Intuition schien etwas überfordert zu sein. Er hatte sonst immer ein Gefühl dafür, wer schuldig war und wer nicht. Die Kinder der Toten hatten behauptet, dass die Frau, die neben dem Bett saß, ihre Mutter umgebracht hätte und tatsächlich hatte sie doch eben schon fast ein vollständiges Geständnis abgelegt, aber wenn Kitty das Zimmer auf sich wirken ließ, dann sagte ihm sein Gefühl, dass diese Frau, Nico und Antje die einzigen im Raum waren, die nicht am Tod der Frau schuld waren. Stattdessen der Arzt, die Schwester und die Kinder... Alle auf einmal?

Kitty schüttelte den Kopf. Nun ja, er war nicht im Dienst. Vielleicht funktionierte seine Intuition deswegen nicht... Was Kitty spürte war, wer hier am meisten seiner Hilfe bedurfte. Er setzte sich neben Frau Plettenberg auf die Bettkante und nahm auch eine Hand der Verstorbenen.

Wenn Kitty geglaubt hatte, das Chaos könne nicht mehr schlimmer werden, hatte er sich getäuscht. Noch drei Personen betraten das Zimmer; nach den Kitteln zu urteilen noch ein Arzt und zwei Pfleger.

„Ah, Dr. Bonnart, gut dass sie kommen. Können sie bitte dafür sorgen, dass diese Personen sofort den Raum verlassen, damit wir endlich anfangen können...“

„Hier ist die Patientenverfügung!“

Kitty war froh, dass er schon saß. Das war jetzt wirklich zu viel. Es war zwar der Sohn von Frau Röber, so hieß die Verstorbene laut Schild am Bett, der die Dokumentationsmappe mit der Patientenverfügung zu Nico reichte, aber Kitty hatte genau gesehen, wer sie ihm vom Flur her in die Hand gedrückt hatte: Herr Moning. - Ein eigentlich, aber dann vielleicht doch nicht, völlig dementer alter Mann, der... Kitty gab es auf. Von dieser Szene würde er ganz sicher noch oft träumen, noch oft über sie nachdenken, sie aber nie ganz verstehen...

Gut, dass jetzt nicht mehr Nachdenken und Verstehen gefragt waren, sondern Handeln, denn inzwischen war es zu einer handfesten Schlägerei zwischen Nico auf der einen Seite und Dr. Verheugen, Dr. Bonnart und den beiden Pflegern auf der anderen Seite gekommen. Kitty eilte Nico zu Hilfe und fand überraschend Unterstützung durch Antje.

- 5 -

Hans-Peter Pauer fuhr sich noch einmal mit den Fingern durch die Haare. Ja, die Frisur saß perfekt. Hoffentlich würde das auch der jungen Schwester auffallen, die ihm auf dem Flur entgegen gelaufen kam.

„Schnell, kommen Sie!“

Pauer war etwas irritiert, dass die Schwester nicht ihn ansprach, sondern seine Kollegin Britta am Arm nahm und zu einem Zimmer auf der linken Seite zog, aus dem lautes Geschrei zu hören war.

Leicht gekränkt ging Pauer betont langsam und souverän die letzten Schritte bis zur Tür, durch die Britta mit der Schwester schon verschwunden war und blieb dann überrascht stehen. Nicht, dass er genau gewusst hätte, womit er gerechnet hatte, aber sicher nicht mit diesem Anblick. Er wusste gar nicht, wo er zuerst hingucken sollte...

Britta eilte gerade Nico zu Hilfe, der lachend auf dem Boden lag und von zwei Männern in weißen Kitteln angegriffen wurde, die mit einem Stethoskop und einer Dokumentationsmappe auf ihn einschlugen. Britta schlug einen von ihnen mit einer Bettpfanne nieder und Nico hatte nun die Dokumentation zu fassen bekommen und begann, auf dem Boden liegend, laut aus dem Pflegebericht vorzulesen und die Medikation zu kritisieren.

Kitty und eine Pauer unbekannte Frau redeten gleichzeitig sehr energisch auf drei weitere, laut schreiende, Personen ein und hielten sie mit ausgebreiteten Armen davon ab, sich in den Kampf einzumischen oder auf eine auf einem Patientenbett sitzende Dame zu stürzen.

Die Schwester stand bei einem Wagen voller medizinischer Geräte mitten im Raum, hielt die Elektroden des Defibrillators in den Händen und schien zu überlegen, wem sie zuerst einen Stromstoß verpassen sollte.

Pauer schüttelte ungläubig den Kopf. Also, eigentlich war er doch gerufen worden, weil ein Mord geschehen sei. Irgendwie schien dieser aber noch mitten im Gange.

Räuspern half nichts, auch der Ruf „Polizei!“ verhallte ungehört; so entschloss sich Pauer, einen Warnschuss abzugeben. Der herabfallende Putz tat seiner Frisur überhaupt nicht gut.

Er kam jedoch nicht gleich dazu, die Haare wieder zu richten, da nun mehrere Leute auf ihn einstürmten und alle eine Anzeige aufgeben wollten. Mit kaum zu verbergender Genugtuung nahm Pauer zur Kenntnis, dass die zwei Ärzte Anzeigen gegen Nico, Britta und Kitty erstatten wollten, aber das würde er nachher ganz in Ruhe aufnehmen. Hier sollte doch ein Mord passiert sein?

„Herr Kommissar. Diese Person hier, Annika Plettenberg, hat unsere Mutter mit dieser Insulin-Spritze umgebracht.“

Pauer schaute die Person streng und fragend an. Sie lächelte ganz entspannt:

„Ja, in der Tat. Sie hatte große Schmerzen und wollte sterben und da habe ich ihr geholfen, sich von ihrem kaputten Körper zu befreien.“

Pauer hatte mit mehr Gegenwehr gerechnet.

„Sie geben also zu...“

Zu Pauers Verärgerung wurde er von der jungen Frau neben Kitty unterbrochen, die sich zwischen ihn und Frau Plettenberg stellte und diese ernst ansah:

„Sie sollten besser nichts mehr sagen. Jedenfalls nicht ohne Anwalt. Noch haben Sie nichts wirklich Schlimmes gesagt.“

„Erlauben Sie mal!“

Pauer versuchte immer noch den Staub aus seinen Haaren zu bekommen und wirkte dadurch nicht so souverän, wie er es sich gewünscht hätte.

„Sie hat eben gestanden, dass...“

„...dass sie Frau Röber im Sterbeprozess geholfen hat. Das könnte auch das Halten ihrer Hand gewesen sein.“

Frau Plettenberg schaute Antje interessiert an.

„Sie sind Anwältin?“

„Ja.“

„Mögen Sie mich vertreten?“

„Ja, eigentlich gerne. Ich muss Ihnen aber sagen, dass ich gerade erst...“

„Ich habe ein gutes Gefühl bei Ihnen. Sie sind engagiert.“

„Als Ihre Anwältin muss ich Ihnen umso mehr raten, nichts mehr zu sagen!“

„...“

Annika nickte mit fest verschlossenen Lippen.

Die Schlägerei hatte sich inzwischen aufgelöst. Nico lag immer noch auf dem Boden und blätterte kopfschüttelnd in der Dokumentationsmappe; Britta, Kitty und ein Pfleger kümmerten sich um Frau Plettenberg, die sich bei ihrem erfolgreichen Bemühen, niemand an Frau Röber ranzulassen, leicht verletzt hatte; die Ärzte forderten Pauer wild gestikulierend auf, endlich diese unverschämten Personen in Handschellen zu legen und der Sohn von Frau Röber versuchte, ihn zum Nachtschrank zu zerren:

„Da liegt die Tatwaffe! Da sind bestimmt ihre Fingerabdrücke drauf. Sie müssen die Beweise sichern!“

Pauer merkte, dass jetzt der Zeitpunkt zum Handeln gekommen war: Entschlossen ging er zum Waschbecken in der Ecke des Zimmers und entfernte endlich den Staub aus seinen Haaren.

Nachdem für Nico keine Gefahr mehr bestand, war Britta wieder ganz Polizistin, drängte alle aus dem Zimmer, schloss ab und rief die Spurensicherung.

Nach einer Minute klopfte es von Innen an die Zimmertür und für einen skurrilen Moment lang glaubte Britta, dass die Tote auferstanden sei...; dann fiel ihr auf, dass Pauer fehlte, ohne dass er wirklich fehlte... und tatsächlich, als sie aufschloss, kam er mit würdevollem Schritt und perfekt gerichteten, staubfreien Haaren auf den Flur.

Als Britta Stunden später ins Bett ging, wusste sie, welches ihre größte Leistung an diesem sehr arbeitsreichen Tag gewesen war: In diesem Moment nicht laut loszulachen...

Pauer ließ es sich nicht nehmen, Frau Plettenberg zu verhaften. Nico nickte ihm so überzeugend anerkennend zu, dass er den sarkastischen Unterton in seinem Lob überhörte:

„Das dürfte für deine Statistik ein richtig guter Fall sein. Vom Mord bis zur Aufklärung und Verhaftung der Tatverdächtigen nur dreißig Minuten... Vielleicht bekommst du dafür eine eigene Farbe im Kuchendiagramm...“

- 6 -

Während die Spurensicherung mit ihrer Arbeit begann und Britta und Pauer noch Personalien aufnahmen, gingen Kitty und Nico ans andere Ende des Flures, um nach Frau Kochem, Nicos alter Freundin, und deren Tochter zu schauen.

„Was hältst du eigentlich von Sterbehilfe?“, fragte Kitty, während er versuchte Hemd und Hose wieder zu richten.

„Oha! Das ist eine Frage, die ich dir nicht eben mal auf zehn Metern Fußweg beantworten kann. Irgendein bestimmter Aspekt?“

„Nein. Eigentlich mehr so... Keine Ahnung. Es war nur seltsam eben. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Frau Plettenberg etwas Unrechtes getan hatte. Bisher hatte ich aktive Sterbehilfe eher in der Nähe von Mord gesehen und jetzt...“

„...weißt du nicht mal mehr, ob sie überhaupt ein Verbrechen ist. Keine einfach Frage. Zu Mord gehört Sterbehilfe sicherlich nicht. Falls dich das Thema wirklich interessiert, sollten wir uns die nächsten Tage noch mal treffen.“

„Sehr gerne. Ich habe schließlich noch ein paar Fragen zu deinem Gedächtnis.“

Gerade als sie am Ende des Flures angelangt waren, kam dort ein Pfleger aus dem Zimmer. Nico verwickelte ihn in ein Gespräch, so dass Kitty durch die offen stehende Tür Frau Kochem und ihre Tochter beobachten konnte.

Sie sprachen nur wenig miteinander und so belanglos, dass keine Unwahrheiten möglich waren und doch reichte der kurze Eindruck, um in Kitty ein deutliches Gefühl für die Beziehung der beiden entstehen zu lassen. Er nickte Nico zu, der die ebenfalls belanglose Konversation mit dem Pfleger beendete.

„Und, was hältst du von ihr?“

„Hm... Alles Nette ist deutlich aufgesetzt. Das ist allerdings nicht gerade selten in familiären Beziehungen. Du ahnst nicht, was ich auf Familienfeiern mitmache! Aber trotzdem: Hier scheint es mir deutlich mehr. Angst, auch Hass, vielleicht irgendeine Schuld. Jedenfalls ein Vulkan, der deutlich am brodeln ist. Alle Angaben ohne Gewähr, war ja nur ein kurzer Eindruck, aber mein erstes Gefühl war, sie wünschte, ihre Mutter wäre tot.“

„Tja, jetzt habe ich wohl ein ähnliches Problem, wie du mit Prinke hattest.“

„Meinst du wirklich, sie will ihre Mutter umbringen?“

„Ich habe zumindest Anhaltspunkte, dass dem so sein könnte.“

„Das hört sich sehr vage an. Also nichts Verwertbares, um Ermittlungen aufzunehmen oder sie festzunehmen?“

„Leider gar nichts, nur ein paar Beobachtungen. Nicht der Hauch eines Beweises, kein verwertbares Indiz, nicht mal ein klares Motiv. Nur das Gefühl, es bahnt sich was an.“

„Das ist wenig. Vielleicht irgendwie observieren?“

„Ja. Momentan geht das. Zufällig ist ein Freund von mir hier stationär und kümmert sich ein bisschen um sie, aber sie wird bald entlassen. Zuhause werden die meisten Pflegebedürftigen ermordet und da kann man ja nicht in der Wohnung aufpassen. Irgendwas muss ich mir einfallen lassen.“

„Falls mir was einfällt, sag ich dir Bescheid. Und wenn du Hilfe brauchst...“

„Danke. Ich möchte allerdings auch nicht zu viel von deiner Zeit beanspruchen. Du hast momentan ja nun wirklich angenehmere Aufgaben.“

„Och..., jo.“

Die beiden gingen am Dienstzimmer vorbei, in dem Pauer mit Dr. Verheugen fachsimpelte. Britta winkte ihnen mit gequältem Gesichtsausdruck zu. Nico steckte seinen Kopf durch die Tür.

„Pauer, ich nehme an, du hast hier alles unter Kontrolle?“

„Selbstverständlich!“

„Ich habe nichts anderes erwartet. Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn wir Britta schon mal mitnehmen?“

Britta strahlte Nico dankbar an.

„Äh, also...“

„Du kommst mit irgendwas nicht alleine zurecht?“

„Natürlich komme ich alleine zurecht!“

„Cool. Du bist echt fähig! Wahnsinn! Komm Britta!“

Pauer schaute ihnen völlig überrumpelt hinterher und versuchte vergeblich herauszufinden, was da eben schiefgelaufen war und ob er das irgendwie hätte verhindern können...

Wieder durfte Kitty fahren. Nico saß diesmal auf dem Beifahrersitz und Britta auf seinem Schoß.

Als die drei, nach einigen von allen Beteiligten als angenehm empfundenen Umwegen, bei Kittys Haus ankamen, verabredeten sich Nico und Kitty für den übernächsten Abend im Café Rheinblick.

„Café Rheinblick?“, fragte Britta. „Das neben dem Hyatt?“

Kitty nickte.

„Da wollte ich schon immer mal hin. Würde es euch sehr stören, wenn ich auch dazu komme?“

Nico schüttelte mit begeistertem Gesicht den Kopf. Kitty wusste nicht ganz so spontan, was er davon hielt. Britta beruhigte ihn lachend:

„Ich komme erst nach zehn Uhr dazu. Ich muss noch bei meiner Mutter vorbei. Ihr habt also genug Zeit, um über eure Männerdinge zu reden und dann komme ich dazu und zeige euch, wie Frauen trinken...“

Die beiden Blondinen fuhren ab; jetzt wieder brav nebeneinander. Kitty ging Teddy begrüßen, gab ihm Abendfutter und ging dann mit ihm zusammen über den Hausflur zur Tür gegenüber. Nadine öffnete und schaute ihn erst fröhlich und dann streng an:

„Also mit Nico lass ich dich nicht wieder ausgehen! Du siehst ja furchtbar aus! Wer hat die Prügelei denn gewonnen?“

Kitty waren die Schrammen am linken Arm und an der Wange gar nicht aufgefallen.

„Wir haben unser Bestes gegeben, aber gegen das zehnjährige Mädchen hatten wir einfach keine Chance.“

„Na wunderbar! Ich bin mit einem Siegertyp zusammen. Was möchtest du zur Feier der Niederlage trinken?“

„Also, jetzt könnte ich wirklich ein Bier gebrauchen.“

Kitty erzählte Nadine von seinem nicht gerade ereignisarmen Abend.

„Übermorgen wollen wir uns übrigens schon wieder auf ein Bierchen treffen.“

„Ich glaub, da komme ich besser mit, damit ihr euch nicht wieder prügelt, oder wenn doch..., damit ihr wenigstens gewinnt!“

„Ja, passt schon. Britta wird auch da sein. Sie kommt allerdings erst nach zehn Uhr.“

„Na, dann komme ich auch um die Zeit dazu. Dann könnt ihr vorher über Frauen lästern und wenn wir dann da sind, Komplimente machen...“

Nach einem kurzen Spaziergang mit Teddy gingen Nadine und Kitty ins Bett. Sie beließen es an diesem Abend beim Kuscheln. Sie hatten die Kinder, als die in ihrem Zimmer nebenan lachten, gut hören können und die Wahrscheinlichkeit, dass die Wand in der anderen Richtung besser schalldämmend war, erschien ihnen eher gering.

Kittys Rompeculitos war erleichtert.

Kurz vor Mitternacht fiel Kitty ein, dass Britta etwas von einem Meteorschauer erzählt hatte. Da beide keine Lust hatten, sich wieder komplett anzuziehen, beschlossen sie, den Sternenhimmel von Nadines Balkon aus zu beobachten.

„Schade, dass ich keinen Balkon habe.“

„Ich nutze ihn eigentlich nur sehr selten, wie man ihm wohl ansieht.“

Kitty trat durch die Tür hinaus. Der Balkon war tatsächlich komplett ohne Möbel, lediglich ein Schirmständer ohne Schirm stand auf dem Boden und zwei Blumenkästen hingen am Geländer, die beide so aussahen, als würden sie jeden Moment auseinanderfallen. Von den Kräutern, die dort wuchsen, konnte Kitty Schnittlauch und Petersilie identifizieren. Das andere war wahrscheinlich einfach Unkraut.

Kitty ließ seinen Blick mehrmals hin und her schweifen.

„Was ist?“, fragte Nadine.

„Nichts. Wieso?“

„Du hast dir bisher keinen Teil meiner Wohnung so genau angeguckt wie meinen Balkon, dabei gab es drinnen deutlich mehr zu sehen. Suchst du etwas?“

„Oh. Entschuldige. Ist nur eine Ahnung. Ich habe manchmal so ein Gefühl, dass an einem Ort womöglich ein Verbrechen verübt wurde oder er sonst ein Geheimnis birgt. Hier ist es nur schwach, war wohl nichts Schlimmes, aber irgendwas hat sich hier früher mal abgespielt, was keiner mitbekommen sollte.“

„Das ist ja unheimlich. Irgendwas Genaueres?“

„Nein. Kein Kapitalverbrechen würde ich sagen. Eher so ein kleines Geheimnis vor den Nachbarn. Vielleicht führst du hier Telefongespräche mit einem verheirateten Mann oder wirfst Unrat auf den Balkon über dir oder die Kinder gehen heimlich zum Rauchen hier raus...“

„Ich finde gut, dass sie das nicht in ihren Zimmern machen. Oh, da war eine Sternschnuppe!“

„Toll. Ich hab sie verpasst. Wo ich angeblich der mit der Intuition bin...“

Nadine lächelte: „Könnte durchaus sein, dass du von meinem Wunsch mit profitierst...“

- 7 -

Kitty war enttäuscht gewesen, dass er keine Sternschnuppe gesehen hatte, bemerkte aber am nächsten Morgen, als er neben Nadine erwachte, dass er sowieso wunschlos glücklich war.

Kitty machte Kaffee, holte ein paar Kekse aus seiner Wohnung, pflückte eine Rosenblüte vom Strauch vor dem Haus und brachte alles zu Nadine ans Bett. Sie strahlte ihn an und schaute dann kurz Richtung Balkon, als wollte sie sich dort bei einer ihrer vier Sternschnuppen für die Erfüllung des Wunsches bedanken.

Als sie mit dem Frühstück fertig waren, fragte Nadine:

„Ist dein Fuß eigentlich wieder ganz in Ordnung?“

„Gute Frage. Die Beschwerden kommen ja immer erst nach längerem Gehen und außer, um mit Teddy auszugehen, sind wir kaum aus dem Bett gekommen...“

Teddy kam sofort wedelnd angelaufen. Nach einer halben Stunde Ausgang hatte Kitty keine Schmerzen im Fuß.

Es war zwar kalt und windig, aber nach einer kurzen Pause zum Anwärmen gingen Nadine und Kitty noch einmal ohne Hund spazieren. Kitty hatte die stille Hoffnung, dass er doch wieder Beschwerden bekommen würde und weiter krank feiern könnte.

Als sie auf ihrem Weg zum Rhein an der Domplatte vorbeikamen, herrschte dort noch mehr Gedränge als sonst. Viele Menschen waren stehen geblieben und schauten zur Mitte des Platzes. Dort lag ein großer Menschenhaufen, überwiegend junge Frauen, nur mit Bikini oder Unterwäsche bekleidet, kreuz und quer übereinander. Die meisten hatten sich mit Ketchup oder Kunstblut eingeschmiert. Kitty schätzte, dass es knapp hundert Leute sein mussten. Zwei hielten Plakate hoch, auf denen zu lesen war:

„Mord? Gut, dass ich nicht im Dienst bin. Vielleicht sollte ich Pauer anrufen?“

„So, wie die bei dem Wetter angezogen sind, würde ich ja eher von Selbstmord sprechen.“

Nadine fröstelte es trotz zweier Pullover.