Rupert undercover - Ostfriesische Mission - Klaus-Peter Wolf - E-Book + Hörbuch

Rupert undercover - Ostfriesische Mission Hörbuch

Klaus-Peter Wolf

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  • Herausgeber: Goyalit
  • Kategorie: Krimi
  • Serie: Rupert
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Der erste Auftrag für Hauptkommissar Rupert, Ann-Kathrin Klaasens beliebtem Kollegen, von Nummer-1-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf. Schon immer wollte Rupert zum BKA. Doch die haben ihn nie genommen. Jetzt aber brauchen sie ihn, denn er sieht einem internationalen Drogenboss zum Verwechseln ähnlich. Für Rupert ist das die Chance seines Lebens: Endlich kann er beweisen, was in ihm steckt. Eine gefährliche Undercover-Mission beginnt. Ganz auf sich allein gestellt merkt er schnell, dass nichts so ist, wie es scheint und die Sache gefährlicher als gedacht. Kann er ohne seine ostfriesischen Kollegen überhaupt überleben? "Ein begnadeter Erzähler und genialer Schreiber, der seinen Figuren wunderbar Tiefe verleiht!" Rolf Kiesendahl/Sylvia Lukassen, WAZ

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Zeit:12 Std. 44 min

Sprecher:Klaus-Peter Wolf

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Klaus-Peter Wolf

Rupert undercover – Ostfriesische Mission

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

»Meine Leser lieben eine Figur ganz besonders, und das ist Rupert. Er ist Kult. Jetzt bekommt er endlich seinen ersten eigenen Fall.« Klaus-Peter Wolf

 

Schon immer wollte Rupert zum BKA. Doch die haben ihn nie genommen. Jetzt aber brauchen sie ihn, denn er sieht einem internationalen Drogenboss zum Verwechseln ähnlich. Für Rupert ist das die Chance seines Lebens: Endlich kann er beweisen, was in ihm steckt. Ganz auf sich allein gestellt merkt er schnell, dass nichts so ist, wie es scheint, und die Sache gefährlicher als gedacht. Kann er ohne seine ostfriesischen Kollegen überhaupt überleben?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über zwölf Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.

Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden einige Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

Inhalt

[Motto]

Es wäre ein Leichtes [...]

Kleebowski hatte Marcellus...

Sie fuhren gemeinsam nach Bremen...

Leseprobe

»Ostfriesland first?! Okay! Aber America second?

Eigentlich käme doch dann erst das Ammerland … dann das Wursterland. Das Rheinland will ich jetzt nicht vergessen. Das Ruhrgebiet und das schöne Frankenland … Nee, ich glaube, America second, das wird so schnell noch nix …«

Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich

Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, sie zu töten, aber das war nicht seine Aufgabe. Noch nicht.

Er sollte sie einkassieren. Doch sie war nie alleine. Dieser Typ war immer bei ihr. Beide waren bewaffnet.

Eine Polizistin zu kidnappen war sowieso immer ein Problem. Er hatte es schon zweimal gemacht. Keine hatte überlebt. Das war auch diesmal so geplant. Aber leider musste er sie zunächst lebend unter Kontrolle bekommen.

Sie war ein besonders schwieriger Fall. Ihre Nahkampfausbildung war hervorragend. Sie galt als bestens durchtrainiert. Sie wusste, dass sie gefährdet war, und sie verhielt sich klug. Es war schwierig, sich ihr ungesehen zu nähern. Aber er war Profi und wollte auf keinen Fall an dieser Aufgabe scheitern. Er hatte einen Ruf zu verlieren.

Sein VW-Transporter war innen zu einem schalldichten Raum umgestaltet worden. Handschellen, Ketten, Betäubungsspritze, alles lag bereit. Aber er musste sie erst allein erwischen. Einmal hatte sie ihm direkt ins Gesicht gesehen. Das durfte nicht noch mal passieren.

Sie war gerade mit dem Typen, der an ihr klebte wie ein Schatten, in der Polizeiwache verschwunden.

Das konnte dauern.

Er setzte sich in Norden auf den Marktplatz vor den Pavillon und bestellte sich ein Mineralwasser und einen Cappuccino. Neben der Tasse lag ein kleiner Keks. Auf den Milchschaum war ein Herzchen aus Kakao gepudert worden. Er zerstörte es mit seinem Löffel.

Viel lieber wäre er mit ihr alleine gewesen, um ihr Angst einzujagen und Schmerzen zu bereiten. Er genoss es, wenn sie jammerten und flehten. Andere gingen in die Oper. Er mochte die klagenden Töne, die aus echtem Schmerz entstanden.

Ein kleiner frecher Spatz hüpfte von einer Stuhllehne auf den Tisch und näherte sich vorsichtig dem Keks.

Von dir kann ich etwas lernen, dachte er. Du kommst so harmlos daher. Man schaut dir gerne zu und ist ohne Argwohn, dabei verfolgst du zielsicher deinen Plan. Du willst den Keks, so wie ich diese gottverdammte Polizistin will.

Er sah zur Polizeiinspektion hoch. Hinter einem dieser Fenster musste sie sitzen. Am liebsten wäre er reingegangen, hätte sie an den Haaren herausgezerrt und in seinen Transporter geworfen. Wenn es doch nur so einfach wäre …

Er musste sich mehr verhalten wie dieser Spatz, der gerade mit dem Keks floh, der eigentlich viel zu schwer für ihn war. Sollte er wirklich versuchen, sich ihr freundlich zu nähern, sich einzuschleimen und ihr Vertrauen zu gewinnen?

Der Spatz verlor den Keks. Gleich waren drei andere da, die sich darum stritten. Er sah sich um. Gern hätte er eine Möwe erlebt, die den Spatzen die Beute streitig machte. Aber hier auf diesem friedlichen Marktplatz gab es nicht einmal Möwen. Er mochte diese Raubvögel mit dem stechenden Blick und den gelben Augen. Er fütterte sie gern, indem er Fleischwurst in die Luft warf. Er mochte es, wenn sie darum kämpften. Es war leicht, ihre Killerinstinkte zu wecken.

Er hatte den Wagen clever geparkt. Wenn sie Mittagspause hatte, vielleicht einen kleinen Spaziergang durch den schattigen Park hinter der Kirche machte und dann zu ten Cate ging, um eine Kleinigkeit zu essen, war die Möglichkeit, dass sie an seinem Transporter vorbeiging, relativ hoch.

Er würde sie einfach schnappen und hinten reinwerfen. Am helllichten Tag. Er wog ab, was dafürsprach, oder gab es eine Gelegenheit, sie rauszulocken? Er scheute nicht das Risiko. Was er hasste, war diese elende Warterei.

Komm endlich raus, dachte er, komm, lass uns beginnen …

Rupert hatte sich zum Geburtstag einen Laubbläser gewünscht. Nicht irgendeinen Laubbläser, sondern einen besonders langen, mit dreifach verstellbarem Teleskop-Blasrohr.

Er wusste genau, dass Frauen von so etwas keine Ahnung hatten, deswegen ließ er für Beate demonstrativ einen Prospekt herumliegen, in dem er den richtigen Laubbläser dick angekreuzt hatte. Ja, genau den wünschte er sich!

Es kam nämlich nicht nur auf die Blaskraft an, sondern vor allen Dingen auf den satten Sound. Dieses peinliche Geknattere, das der erbärmliche Laubbläser seines Nachbarn links von ihm machte, wollte er nicht. Auch so ein heiseres Flüstern wie ein Damenhaarföhn fand Rupert total doof.

Es gab ja neuerdings elektrobetriebene, lärmgebremste Laubbläser mit Akku, also praktisch mit Schalldämpfer. Aus Ruperts Sicht wurden solche Teile für eierlose Warmduscher und Beipackzettelleser gebaut.

Rupert fand, das Röhren der Luft sollte lauter sein als das Brummen des Motors und sich deutlich davon unterscheiden. Nur ein benzinbetriebener Motor garantierte dieses Harley-Gefühl beim Laubblasen.

Aber dann bekam er von Beate doch nur eine neue Gartenharke geschenkt, mit einem rosa Schleifchen dran und den besten Wünschen, weil ihm die Gartenarbeit körperlich bestimmt guttäte.

Er versuchte sich zu freuen, aber es gelang ihm nicht wirklich. Mit dieser Harke bewaffnet, konnte er den Kampf gegen seinen Nachbarn nicht aufnehmen. Der pustete nämlich immer, wenn Rupert mit der Verbrecherjagd beschäftigt war, heimlich das Laub seiner mickrigen Birnen- und Kirschbäume samt dem Rasenschnitt unter der Hecke durch in Ruperts Garten.

Das eigentliche Geburtstagsgeschenk erhielt Rupert aber, als er zum Dienst in Aurich in der Polizeiinspektion erschien. Entgegen der Annahme der Bevölkerung hatten nämlich die ostfriesischen Kripoleute keineswegs an ihrem Geburtstag einen bezahlten Urlaubstag. Trotzdem hielt sich dieses Gerücht seit Jahren.

Im Büro wartete die Leitende Kriminaldirektorin Liane Brennecke vom BKA auf Rupert. Ihr Spitzname war »die feurige Liane«. Sie kam in heikler Mission und unterhielt sich mit Ann Kathrin Klaasen darüber, wie diese Ruperts psychische Verfassung einschätzte.

»Äußerst robust« hatte Ann Kathrin ohne Zögern geantwortet. »Sie müssen ihn sich als eine primitive Frohnatur vorstellen. Er ist nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber er ist stets loyal.«

»Ist er für kleine Geschenke anfällig?«

Ann Kathrin fixierte ihre Kollegin vom BKA. »Sie meinen, ob er bestechlich ist?«, präzisierte Ann Kathrin die Frage. »Nein, das ist er ganz sicher nicht.«

Die Antwort gefiel Liane Brennecke.

Rupert ging durch den Flur und schnüffelte. Es roch hier nach Erdbeeren. Hatte jemand frische Erdbeeren gekauft?

Als Rupert hereinkam und die Besucherin sah, erstrahlte sein Gesicht. Liane Brennecke erinnerte ihn an Sharon Stone in »Basic Instinct«. Und genauso saß sie auch da, mit diesen endlos langen Beinen und den glatten blonden Haaren, die sie offen trug und deren Spitzen bis zu ihren Ellbogen herabreichten. Er bekam gleich einen trockenen Mund.

Ann Kathrin war ihm jetzt nur noch im Weg. Er hatte sich in einem nicht ganz seriösen Dating-Portal als »Dieter Deckhengst« angemeldet, um mal wieder die eine oder andere attraktive Frau kennenzulernen.

Mit einer geheimnisvollen »Lederlady«, die zunächst kein Foto von sich preisgeben wollte, es aber geschafft hatte, mit einem heißen Flirt aus ihm seinen richtigen Namen und seinen Dienstgrad herauszukitzeln, hatte er sich verabreden wollen. Die geheimnisvolle Dame hatte ihm versprochen: »Ich mag keine Festlegungen. Aus so etwas Schönem wie einer Liebesgeschichte darf man doch keinen Termin im Kalender machen … Ich finde dich, und dann werden all deine Träume wahr. Lass dich überraschen.«

Da saß sie also nun vor ihm. Vielleicht fünfunddreißig, höchstens vierzig Jahre alt. Ein Prachtweib. Sie stellte sich als Profilerin Liane Brennecke vom BKA vor.

»Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen. Die Angelegenheit erfordert äußerste Geheimhaltung.« Sie fixierte Ann Kathrin Klaasen. »Darf ich Sie bitten, uns allein zu lassen? Dies ist ein vertrauliches Gespräch.«

Rupert grinste breit und zwinkerte Liane Brennecke zu. Sie spielte ihre Rolle gut, fand er. Trotzdem konnte er kaum glauben, wie leicht die berühmte Kommissarin sich reinlegen ließ.

Ann Kathrin fiel tatsächlich darauf herein. Pikiert stand sie auf, nahm eine Akte, klemmte sie sich unter den Arm und sagte: »Eigentlich ist dies hier mein Büro, aber bitte …«

Ann Kathrin verließ das Büro und warf ihre langen Haare schnippisch zurück. Rupert lehnte sich zu Liane Brennecke vor: »Du darfst jetzt ruhig Dieter zu mir sagen. Wir sind ja allein.«

Sie guckte ihn verständnislos an, überspielte die Situation mit einem Lächeln und schlug ihre atemberaubenden Beine übereinander.

»Ich bin zwar gern dein Deckhengst, Süße, aber heute erwischst du mich auf dem falschen Fuß«, erklärte Rupert. »Meine Frau und meine Schwiegermutter haben eine Geburtstagsparty für mich vorbereitet. Aber morgen Abend kann ich mir mühelos freinehmen … Ich kenne da ein hübsches kleines Hotel in Leer, mit Blick auf die Leda.«

»Daraus wird nichts«, sagte sie hart. »Es muss heute sein. Wenn, dann sofort oder gar nicht.«

Rupert griff sich an den Kragenknopf. Es war, als würde sein Hemd am Hals zu eng. Mein Gott, dachte er, ist das Weib heiß! Schon waren ihm Ehefrau und Schwiegermutter egal. Etwas würde ihm schon einfallen. Ein akuter Fall ließ sich doch immer vorschieben. Dann waren sie wütend auf seinen Beruf, auf die Dienststelle, aber nicht auf ihn.

»Du bist richtig notgeil, was, meine süße kleine Lederlady?«, freute er sich und leckte den Zeigefinger seiner rechten Hand an. Damit berührte er sie dann an der Schulter und machte ein zischendes Geräusch, als würde Fleisch verbrennen. »Dein Deckhengst steht Gewehr bei Fuß«, prophezeite Rupert.

Sie war den Umgang mit Spinnern gewohnt und blieb ganz ruhig. »Also zur Sache. Das BKA braucht Sie. Niemand kann Sie zwingen, den Job zu übernehmen. Es ist Ihre freie Entscheidung. Ich will ganz offen sein. Es ist gefährlich und birgt unüberschaubare Risiken. Aber eben auch eine einmalige Chance. Mir ist bewusst, dass Sie sich mehrmals bei uns beworben haben und abgelehnt wurden. Aber jetzt ist eine Situation entstanden, die uns keine andere Wahl lässt.«

In Rupert keimte der Gedanke auf, dass er möglicherweise nicht die geheimnisvolle Lederlady vor sich sitzen hatte, denn woher sollte die von seinen vergeblichen Bewerbungen beim BKA wissen? Oder hatte Ann Kathrin Klaasen ihn verpetzt?

Er räusperte sich: »Worum geht es genau?«

Sie setzte sich wieder anders hin, aber egal, was sie tat, für Rupert sah sie einfach verführerisch aus. Die lebende Sünde. Ein wollüstiges Versprechen. Bei jeder Bewegung, die sie machte, verströmte sie noch mehr Erdbeerduft. Wenn Rupert ihr näher kam, hatte er das Gefühl, in ein Erdbeerbeet zu fallen.

»Ich leite ein Undercover-Team. Wir ermitteln im Milieu internationaler Drogendealer. Nun ist uns einer ins Netz gegangen. Frederico Müller-Gonzáles.«

Sie sprach den Namen aus, als müsse ihn jeder kennen, wie Mick Jagger oder Wladimir Klitschko. Aber Rupert sagte der Name überhaupt nichts. Er bemühte sich nur, cool dreinzuschauen und sich nicht anmerken zu lassen, wie verwirrt er war.

»Der Sohn von Harm Müller, der Kiezgröße, und von Valentina Gonzáles«, fuhr sie fort. »Wir hatten bisher nicht mal ein Foto von ihm. Er soll die Geschäfte seines Vaters in Europa übernehmen, und ich rede hier nicht nur von ein paar Stripteasebars im Rotlichtmilieu. Für uns ist nur eins wichtig: Es ist eine Ladung Koks und Heroin unterwegs. Es geht um zehn, wenn nicht zwanzig Zentner.«

Rupert pfiff anerkennend, kapierte aber nicht, was er damit zu tun hatte.

Sie kämmte sich mit den Fingern durch die langen blonden Haare: »Wir versuchen seit vierundzwanzig Stunden, ihn weichzukochen. Er schweigt wie ein Grab. Er weiß, wer in dieser Branche redet, ist ein toter Mann. Über kurz oder lang werden seine Leute erfahren, dass wir ihn einkassiert haben.«

»Ach«, lachte Rupert erleichtert auf, »erst habe ich Sie verwechselt und jetzt Sie mich. Ich bin kein Verhörspezialist. Das ist Ann Kathrin Klaasen. Die haben Sie gerade rausgeschickt.«

Liane Brennecke winkte ab. »Ach, Dieter – Verhörspezialisten haben wir selbst. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich deswegen hier bin.« Sie zog einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche und malte sich die Lippen nach, während sie weitersprach. Das schätzte Rupert als Taktik ein, Männer zu manipulieren und zu verführen. In seinem Fall funktionierte es.

»Es soll ein Treffen der bedeutendsten Drogendealer des Kontinents stattfinden. Frederico Müller-Gonzáles ist deswegen aus Lateinamerika hierhergekommen. Dieses Treffen und diese Lieferung sind für uns sehr, sehr wichtig. Wir haben Monate, ach, was sage ich, Jahre, darauf hingearbeitet, diese Gang endlich auffliegen zu lassen. Und wir sind immer wieder gescheitert. Doch jetzt stehen wir vor ganz neuen Möglichkeiten.«

»Und was habe ich damit zu tun?«, fragte Rupert.

Sie steckte den Spiegel wieder ein und drehte den Lippenstift zurück. Sie fischte vorsichtig ein Foto aus ihrer Tasche und präsentierte es Rupert, als hätte sie bereits die Lottozahlen der nächsten Woche.

Rupert blieb die Spucke weg. Der Mann auf dem Bild sah aus wie er.

Das Foto war in einer Bar an einer Theke aufgenommen worden. Neben dem Typen, der ihm so ähnlich sah, dass Rupert einen Moment brauchte, um es zu verdauen, saßen zwei schmalhüftige, aufreizend leicht gekleidete Damen, die Rupert sofort als Stripteasetänzerinnen identifizierte.

Rupert zeigte auf das Foto: »Das … das bin ich nicht!« Beinahe hätte er »leider« gesagt.

»Nein«, bestätigte Liane Brennecke, »das ist Frederico Müller-Gonzáles. Und mit Ihrer Hilfe, Dieter, bringen wir die ganze Sache jetzt zu Ende.«

Rupert schluckte. Er kämpfte gegen ein Schwindelgefühl an. Einerseits war das ein triumphaler Moment für ihn. Andererseits hatte er das Gefühl, nackt in die kalte Nordsee geworfen zu werden. Oder in ein Erdbeerbeet.

»Wenn Sie mitmachen, werden wir gemeinsam gehen, und niemand wird erfahren, wo Sie sind. Weder Ihre reizende Kollegin Klaasen noch Ihre Ehefrau oder sonst irgendwer.« Sie hob den Zeigefinger. »Äußerste Geheimhaltung. Aber in drei, vier Tagen kehren Sie als Held zurück.« Sie machte eine kurze Pause und sah ihm tief in die Augen: »Oder als Leiche im Zinksarg.«

»Zinksarg? Wieso denn Zinksarg?«, entfuhr es Rupert, und er ärgerte sich sofort darüber, dass er eine so dämliche Frage gestellt hatte. Es gab doch so viel wichtigere Dinge zu besprechen. Aber sein Kopf kam ihm merkwürdig leer vor.

»Wir wissen nicht, wohin die Reise geht. Möglicherweise nach Rio, Bogotá oder Caracas«, antwortete sie sachlich. »Für den Transport von Verstorbenen über Staatsgrenzen hinweg werden besondere Anforderungen an den Sarg gestellt. Üblicherweise verwendet man Zinksärge. Aus ästhetischen Gründen ummantelt man das Ganze noch mit einem Holzsarg. Es gibt klare Regeln dafür, sogar der Abstand der Verschraubungen ist vorgeschrieben. Es gibt allerdings auch Sanitätssärge, die man bei schwerverletzten Leichen einsetzt, damit das Blut nicht durchsuppt. Die sind aus blauem, pulverbeschichtetem Aluminium.«

»Hören Sie auf«, forderte Rupert.

Sie lächelte ihn an. »Wir würden Sie auf jeden Fall zurückbringen, so dass Sie in heimischer Erde bestattet werden können …«

»Na, da bin ich aber beruhigt …«

Sie stand auf, ging zum Fenster und öffnete es. Der Wind hob die Blätter auf dem Schreibtisch an.

Rupert war ihr dankbar für die Luftzufuhr. Er hatte Probleme, zu atmen. »Sie machen so etwas nicht zum ersten Mal«, schlussfolgerte er.

»Nein«, sagte sie, »heikle Missionen sind mein Job.«

Rupert schluckte trocken. »Aber ich … ich bin ein ganz normaler Bulle aus Ostfriesland …«

Sie zeigte ihre weißen Zähne. »Sie nennen sich selbst Bulle?« Sie lachte. »Auf mich wirken Sie eher wie ein scheues, verängstigtes Reh.«

Es gefiel Rupert überhaupt nicht, dass eine Frau so über ihn dachte. Er versuchte, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, wieder zu dem harten Kerl zu werden, für den er sich hielt. Sie hatte ihn echt verunsichert.

Er stampfte auf und umfasste mit der linken Hand seinen Hosengürtel, während er mit der rechten versuchte, die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. »Ich fühle mich hier wie bei ›Kobra, übernehmen Sie‹ oder ›Mission Impossible‹, wie das heute heißt.« Rupert sprach den Anfang nach, wie er ihn in Erinnerung hatte. »Sollten Sie oder jemand aus Ihrer Spezialeinheit gefangen genommen oder getötet werden, werden wir jegliche Kenntnis von dieser Operation leugnen. Sie sind vollst auf sich allein gestellt. Dieses Band wird sich in fünf Sekunden selbständig vernichten. Viel Glück.« Er machte eine Handbewegung, als würde etwas explodieren und dann verbrennen.

Während er die Flammen in die Luft malte, seufzte Liane Brennecke: »Ich sehe schon, Sie sind nicht der richtige Mann für uns.«

Sie stand auf und ging mit schwingenden Hüften zur Tür. Rupert sah ihr auf den Hintern. »Wie kommen Sie denn dadrauf?«

Sie drehte sich um. »Sehen Sie, das ist kein Job für Weicheier. Im Grunde auch nichts für Leute mit Familie. Dafür bräuchte man einen Junggesellen, der nichts zu verlieren hat.«

»Ich habe keine Kinder«, triumphierte Rupert. »Und meine Ehe … na ja … Gott, das ist so eine Sache … Nichts gegen Beate, aber …«

»Sie wollen es also machen?«

»Können Sie mir das Foto noch mal zeigen?«

Sie tat es. Rupert stellte sich vor, dass er an der Theke zwischen diesen beiden hübschen Frauen sitzen würde. Etwas an dieser Vorstellung gefiel ihm. Wie würde er dastehen, wenn er diesen Auftrag erfolgreich durchführte? Dann wäre nicht mehr Ann Kathrin Klaasen der leuchtende Stern dieser Dienststelle, sondern er bekäme endlich die Aufmerksamkeit, die ihm schon so lange zustand. Er fühlte sich jetzt schon fast wie Tom Cruise.

»Viele, die so aussehen wie ich, gibt es ja wohl nicht«, grinste er. »Also, ich bin dabei.«

Sie strahlte ihn an, und er versuchte sofort, seine Chancen bei ihr auszutesten. »Haben Sie heute Abend schon was vor, Liane?«

»Nein, habe ich nicht«, flötete sie zurück. Ruperts Herz klopfte schneller.

Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Aber Sie, mein Lieber. Sie haben was vor. Und zu Ihrem Termin kann ich Sie leider nicht begleiten.«

Am Ende, dachte Rupert voller Vorfreude, wirst du nicht meinen Zinksarg nach Hause bringen, sondern am Ende werde ich dich vernaschen, du süße kleine Sahneschnitte. Eine kleine Belohnung muss ja schließlich drin sein.

Sie bat ihn, noch einmal über alles nachzudenken. Es sei eine folgenschwere Entscheidung.

Mit einer majestätischen Geste entließ sie ihn aus Ann Kathrins Büro.

Er lief wie in Trance durch den Flur. Büschers Büro war leer. Dort atmete Rupert kurz durch. Er stellte sich vor den Spiegel und versuchte, sich hineinzufühlen, wie das war als verdeckter Ermittler.

Wie steht so ein Frederico Müller-Gonzáles da?

Ich als Unterwelt-Boss, dachte Rupert, ist das nicht geil?

Wenn er an die beiden scharfen Schnitten auf dem Foto dachte, zwischen denen Frederico so lässig an die Theke gelehnt dastand, dann wusste er, dass dies genau sein Job war.

Er schloss für einen Moment die Augen und war in einer Stripteasebar, und zwar in einer, in der alles nach seinem Gusto lief und jeder nach seiner Pfeife tanzte. Hier war er kein Kunde, der um die Gunst der Stripteasetänzerinnen buhlte, indem er eine Flasche Champagner ausgab und so tat, als würde er nicht bemerken, dass es in Wirklichkeit billiger Sekt aus dem Aldi war. Nein, hier machte er Kasse. Die Mädels an der Stange gaben sich Mühe, ihn zu beeindrucken, denn er konnte ihre Karrieren beeinflussen. Jede wollte gerne seine Geliebte werden und buhlte um seine Anerkennung.

Er nahm sich vor, ein guter Boss zu sein. Oh ja, er wäre keiner dieser bösen Rotlichttypen, die Mädels auspressten, ja gar Menschenhandel betrieben und Frauen mit Drogen oder Prügeln gefügig machten. Widerlich fand er solche Gestalten, und einige davon hatte er die Treppe zur Polizeiinspektion runterfallen sehen.

Nein, er hatte sie nicht richtig geschubst, sondern sie waren wohl auf irgendetwas ausgerutscht, und es war ihm nicht mehr gelungen, sie festzuhalten. So stand es zumindest im Protokoll.

Er wäre ganz anders als diese schlimmen Finger. Es sollte den Mädels Spaß machen, in seinen Bars zu arbeiten und für ihn anschaffen zu gehen. Er würde für gute Arbeitsbedingungen sorgen!

Er sah sich jetzt an der Theke stehen, zwischen diesen beiden Dessous-Models, und er sagte zur Wasserstoffblondine, während er mit einer lässigen Geste einen neuen Scotch bestellte: »Ich weiß zwar nicht, was du bisher verdient hast, aber du bist gut. Wirklich gut. Und deshalb bekommst du ab morgen das Doppelte.«

Sie sah ihn ungläubig an, kreischte vor Freude, küsste ihn, konnte aber noch nicht glauben, dass das Ganze wirklich sein Ernst war. Jetzt klebte Lippenstift an seiner Wange. Er konnte es im Spiegel der Bar gut erkennen. Es gefiel ihm.

Die andere versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, da sie nicht ahnte, wie sehr sie die bereits genoss. Sie reckte ihm zwei Argumente entgegen, wie sie formschöner nicht hätten sein können.

Der Barkeeper, der wohl mehr Augen für die asiatische Schönheit hatte, die gerade an der Stange tanzte, als für die Drinks, die er ausgab, reichte Rupert ein Glas Whiskey. Das Erste, was Rupert sauer machte, waren die Eiswürfel. Er würde den jämmerlichen Barkeeper mit einem missbilligenden Blick mustern, der den Kerl gefrieren lassen würde. Ja! Er sollte spüren, dass er den großen Mafiaboss gerade mächtig gegen sich aufbrachte. So wie er guckte, hatte er keine Ahnung, warum.

Rupert würde das Glas ganz langsam zum Mund führen und vorsichtig probieren. Während er in der Polizeiinspektion vor dem Spiegel stand, schluckte er, als hätte er tatsächlich Whiskey im Mund. Mit dem Handrücken würde er sich über die Lippen streichen und den Versager von Barkeeper mit dem Satz belehren: »Das ist kein Scotch, sondern Bourbon. Richtige Männer trinken keinen Bourbon. Und wer Eiswürfel in den guten Scotch wirft, hat in meiner Bar nichts zu suchen.«

Einen Moment lang würde er sich an der Angst dieses Trottels weiden, der den Bourbon in den Ausguss kippen wollte, aber er, Rupert, oh, Verzeihung, Frederico, würde ihm jetzt eine Lektion erteilen. Ja, dabei sollten die Mädels ruhig zugucken.

»Kipp es nicht weg. Probiere es. Ich will, dass meine Angestellten den Unterschied kennen.«

Der Barkeeper würde daran nippen und den Bourbon vermutlich runterschlucken.

»So. Und jetzt gießt du mir einen richtigen Scotch ein. Mindestens zwölf Jahre alt. Natürlich ohne Eis. Und dir selber auch. Und dann wirst du den Unterschied bemerken.«

Schnell würde der Barkeeper feststellen, dass sie mehrere Sorten Scotch hatten, und unterwürfig würde er ihn fragen, welchen er eingießen dürfe. Mit einer knappen Geste würde Frederico ihn belehren: »Das kommt erst im Lehrgang für Fortgeschrittene. Den Unterschied schmeckst du doch jetzt sowieso noch nicht. Wir sind hier bei den grundsätzlichen Regeln.«

Die beiden Schönheiten an seiner Seite wären bestimmt beeindruckt, aber sie könnten sich auch ein bisschen vernachlässigt fühlen. Deshalb, so stellte sich Rupert vor, würden sie ihre zauberhaften Körper gegen sein seidenes Hemd drücken. Er wog ab, welche von beiden er mit nach oben nehmen sollte. Oder doch gleich beide?

Frederico alias Rupert fand das eine tolle Idee. Rupert selbst überkamen aber auch Versagensängste. Er beruhigte sich mit der Vorstellung, dass ein Drogendealer ja wohl auch genügend potenzsteigernde Mittel zur Verfügung haben müsste. Also klar. Er würde beide mit in sein Appartement nehmen.

Hier in der Bar wehte jetzt ein anderer Wind, das würde sich schnell rumsprechen.

Rupert freute sich schon auf die nächsten Tage. Er war mit Leidenschaft Polizist und bereit, alles zu geben.

Er kehrte zurück zu seinem Traum. Noch einmal sah er sich im Spiegel an und drehte sich. Er reckte die Brust vor und zog den Bauch ein. Ja, das bist jetzt du: Frederico! Was für ein Name!

Er strich sich über die Stoppelhaare, als sei es seine Minipli von früher, aber das jetzt sah viel männlicher und brutaler aus. Oder standen die Mädels mehr auf Locken?

Aber jetzt musste er Härte vermitteln. Darin war er nicht mehr ganz so geübt, seit Beate seine weiche Seite mehr entwickeln wollte. Aber er kannte zum Glück alle Bruce-Willis-Filme. Konnte sich jemand Bruce Willis mit Minipli vorstellen? Nein! Richtige Kerle brauchten einen kurzgeschorenen Kopf.

Schon war er wieder in der Bar. Der Sprung fiel ihm leicht. Er legte um jedes Model einen Arm: »Das mit dem doppelten Lohn gilt natürlich auch für dich«, versprach er der anderen, deren Namen er immer noch nicht wusste, aber die er trotzdem nie vergessen würde.

In seinen Heldenträumen spielte der Whiskey dann gar keine Rolle mehr, sondern ein Mann stakste herein, und Rupert spürte, dass die Frauen sich vor ihm fürchteten. Eine merkwürdige Geschäftigkeit begann.

»Wer ist der Clown?«, fragte Rupert.

Die Blonde fuhr sich durchs Haar und legte die Hand scheinbar zufällig so an ihre Lippen, dass sie sie gegen Beobachtung schützte, als hätte sie Angst, dass jemand von ihren Lippen lesen konnte. Sie raunte: »Der von dir eingesetzte Geschäftsführer. Bruno. Man nennt ihn auch Das Messer, weil er gerne schlitzt. Kennst du ihn etwa nicht?«

»Habt ihr Angst vor ihm?«, fragte Rupert.

Beide nickten. »Er regiert mit harter Hand«, flüsterte die Blonde. »Wenn er wütend wird, ist man besser nicht in seiner Nähe.«

»Ein Choleriker, der auch schon mal gerne zuschlägt«, bestätigte ihre Kollegin.

Selbst die sehr gelenkige Frau an der Tanzstange, deren akrobatische Leistung Rupert fast noch mehr bewunderte als ihre Körperformen, machte jetzt Fehler. Auch sie wurde nervös.

Rupert hatte genug gesehen. Als Frederico bewegte er sich zwei Schritte von der Theke weg, entschied sich dann aber anders. Nicht er würde auf den Typen zugehen, sondern der musste zu ihm kommen. Mit einer Handbewegung zitierte Rupert ihn heran. Der Typ guckte, als könne er nicht glauben, was gerade geschah. Frederico wiederholte die Handbewegung, diesmal aber etwas abgehackter und schärfer.

Eine Frauenstimme flüsterte Frederico von hinten zu: »Sei vorsichtig! Er ist gefährlich.«

Das schmeichelte Rupert. Sie hatten Angst um ihn. Das war schon fast so viel, wie verliebt zu sein, oder? Nun, er war halt ein Frauentyp, ein echter Womanizer.

Bruno sah sich in der Bar um, rückte den Gürtel seiner Hose zurecht und bewegte sich auf Frederico zu. Noch sah er kampfbereit aus. Hatte er nicht kapiert, wer hier vor ihm stand?

Rupert mantelte sich groß auf. Alle sollten es hören. Er war zurückgekehrt, und ab jetzt wehte hier ein anderer Wind: »Mein Name ist Marius Müller-Westernhagen, äh, ich meine, Frederico Müller-Gonzáles.«

Verdammt, das muss ich noch üben, dachte er. In echt durfte ihm so etwas nicht passieren. Er würde dann seinen Zeigefinger wie eine Waffe auf sein Gegenüber richten und die Worte wie Kugeln abschießen: »Deine hässliche Fresse ist der größtmögliche Kontrast zu diesen schönen Frauen hier um uns herum. Du bist gefeuert! Pack deine Klamotten zusammen und verzieh dich!«

Nein, überlegte Rupert, ganz so einfach würde er es dem Kerl dann doch nicht machen. Er musste ihm erst Respekt beibringen.

»Auf die Knie mit dir! Und jetzt entschuldigst du dich bei den Mädels, die du so mies behandelt hast, und zwar bei jeder einzelnen.«

Ja, genauso würde er es machen.

Ann Kathrin Klaasen und Liane Brennecke saßen am großen, runden Tisch, an dem sonst Dienstbesprechungen stattfanden, und tranken Tee. Ann Kathrin fragte sich, wie die Leitende Kriminaldirektorin es schaffte, so schlank zu bleiben. Sie nahm zwei große Kandisstücke und auch eine gute Portion Sahne. Vermutlich trainierte sie hart und stand jeden Morgen vor Dienstbeginn schon eine Stunde auf dem Stepper.

Zwischen den beiden Frauen war eine merkwürdige Konkurrenzsituation entstanden, und Ann Kathrin machte ihrem Unmut Luft: »Warum haben Sie mich rausgeschickt? Was sollte das?«

»Hat Ihnen das etwas ausgemacht?«, fragte Liane Brennecke zurück.

Ann Kathrin blies in ihren Tee, nahm aber keinen Schluck und bestätigte dann widerwillig: »Ja. Ich frage mich, ob Sie meine Position hier schwächen wollen. Man hat es als Frau in einer Führungsposition sowieso nicht leicht.«

Liane Brennecke gab lächelnd, mit einer großzügigen Handbewegung, eine Erklärung, als würde sie Ann Kathrin ein Geschenk machen: »Nun, ich wollte sehen, wie er sich verhält, wenn er mit mir alleine ist.«

»Und wie hat er sich verhalten?«

»Genau wie erwartet.«

Mit der Antwort gab Ann Kathrin sich nicht zufrieden. Ihr Blick blieb fragend.

Da die Leitende Kriminaldirektorin nicht weiterredete, riet Ann Kathrin: »Er hat Sie angegraben.«

Liane Brennecke schmunzelte in sich hinein. Sie sah aus, als hätte sie alles andere als Beleidigung empfunden.

»Wie lange«, fragte Ann Kathrin, »muss ich ihn entbehren?«

»Ist es nicht eher so, dass Sie froh sind, ihn für eine Weile los zu sein?«

Darauf antwortete Ann Kathrin nicht. Also fuhr Liane Brennecke fort: »Wir brauchen ihn wirklich. Er ist unsere ganz große Chance. Aber ich hätte mir keine schlechtere Besetzung für diesen Job vorstellen können. Frederico Müller-Gonzáles ist ein hochintelligenter und gebildeter Mann. Und wissen Sie, Frau Klaasen, das Problem ist, es fällt klugen Menschen nicht schwer, sich dumm zu stellen. Aber wir haben es mit dem umgekehrten Fall zu tun. Es ist ungleich schwieriger für einen dummen Menschen, so zu tun, als sei er schlau. Wenn unsere Informationen stimmen, und ich gehe davon aus, dass sie sehr akribisch zusammengestellt wurden, dann hat Frederico unter verschiedenen Namen Kunstgeschichte und Literatur studiert, in Paris und Berlin. Außerdem Französisch und Anglistik, unter anderem in London.«

Ann Kathrin hakte nach: »Ist das die Legende, die man über ihn verbreitet, oder ist er wirklich der ewige Student gewesen?«

»Ich gehe davon aus, dass er das Studieren zu seinem Hobby gemacht hat.«

»Gehen Sie davon aus, oder wissen Sie es?«, insistierte Ann Kathrin. »Kann es nicht sein, dass er seine Mordaufträge erfüllt hat …« Sie brauste richtig auf: »Die überschwemmen die Welt mit Drogen, lassen überall Leichen herumliegen, und mir wollen Sie erzählen, der hätte die ganze Zeit studiert?«

Liane Brennecke blätterte in ihren Papieren. »Vierundzwanzig Semester sind bei mir registriert. Er spricht angeblich fünf Sprachen. Spanisch, Italienisch, Englisch, Französisch und Deutsch – und der«, stöhnte sie, »soll durch diese ostfriesische Frohnatur ersetzt werden.«

Liane sprach über Rupert so abfällig, als sei er der letzte Depp für sie. Ann Kathrin erwischte sich jetzt dabei, Ruperts Fähigkeiten zu loben. Bis vor kurzem hätte sie so eine Situation noch für undenkbar gehalten.

»Es tut mir leid. Ich habe zwar gesagt, er ist nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber unterschätzen Sie ihn nicht.«

Liane Brennecke goss sich noch einen Tee ein und leierte gelangweilt die ihr bekannten Fakten runter: »Ja, ja, ich weiß. Er hat sich irgendwie durchs Abitur geschummelt – bei uns sagt man, er habe das Ostfriesen-Abitur bestanden –, und durch alle Aufnahmeprüfungen bei der Polizei hat er sich so …«, sie machte eine Schlängelbewegung mit der Hand und erklärte: »Wir haben damals wirklich unter großem Personalmangel gelitten. Er wollte ständig zum BKA, aber dafür reichte es natürlich nicht. Und jetzt setzen wir ihn an so einer Stelle als verdeckten Ermittler ein. Da steht viel auf dem Spiel. Für uns alle.«

Ann Kathrin versuchte, Rupert das Ganze zu ersparen: »Vielleicht gibt es ja auch andere Lösungen. Rupert ist es gewohnt, mit uns im Team zu arbeiten. Er in fremder Umgebung, ganz auf sich allein gestellt, das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen.«

»Entweder er wächst mit seinen Aufgaben, oder er wird sterben«, sagte die Kriminaldirektorin. Es klang nicht mal kalt, sondern einfach nur sachlich. Klar. »Wenn er auffliegt, wenn er auch nur den Hauch eines Verdachts erregt, ist er tot.«

Empört klatschte Ann Kathrin mit der flachen rechten Hand auf die Tischplatte. Die Teetassen sprangen hoch und klirrten wieder auf die Unterteller zurück. Neben Ann Kathrins Tasse breitete sich eine kleine hellbraune Pfütze aus. »Wir können doch den Kollegen nicht geradewegs in sein Unglück laufen lassen!«

»Nun, wir müssen ihn vorher trainieren. Er muss auf die Rolle vorbereitet werden.«

Erleichtert atmete Ann Kathrin auf. »Wie viel Zeit haben wir?«

Frau Brennecke sah auf ihre Armbanduhr: »Zwei Stunden. Höchstens. Und ein bisschen stylen müssen wir ihn auch noch. Frederico sieht nicht mehr ganz so aus wie auf dem Foto.«

Ann Kathrin blickte zur Decke. Sie hatte das Gefühl, Rupert beschützen zu müssen, wusste aber nicht, wie.

»So, und jetzt zu Ihnen«, sagte Liane Brennecke und rückte ihren Stuhl zurecht. »Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich, dass alle Bilder von ihm aus den öffentlichen Netzwerken verschwinden. Auf keinen Fall darf irgendwo in einer Zeitung etwas veröffentlicht werden, auf Facebook oder sonst wo. Alles muss gelöscht werden! Wenn die spitzkriegen, dass Kollege Rupert Frederico Müller-Gonzáles ähnlich sieht, reicht das schon aus …«

Ann Kathrin hob die Hände hoch über ihren Kopf: »Wie soll ich das denn machen? Alle Fotos von ihm verschwinden lassen …«

»Das ist Ihr Problem, Frau Klaasen, beziehungsweise das Ihrer Dienststelle. Sie haben ihn sogar auf Ihrer Homepage.«

»Auf meiner Homepage?«

»Auf der der Polizei Aurich-Wittmund. Als Vertrauensmann für die Polizeianwärterinnen. Die haben ihn wohl gewählt, was auch ein interessantes Licht auf diese Dienststelle wirft …«

Ann Kathrin rang um Worte. »Er ist, wie viele von uns, auch in der Prävention tätig. Wir gehen in Schulen und …« Sie zitierte ihren alten Polizeichef Ubbo Heide: »Das beste Verbrechen ist immer noch das, das wir verhindern, bevor es geschehen ist … Natürlich gibt es Fotos von Schulklassen mit Rupert. Die waren auch in der Zeitung, aber …«

Liane Brennecke saß jetzt kerzengerade, nahm mit spitzen Fingern die Tasse und leerte sie. Sie sah Ann Kathrin dabei nicht an, sondern betrachtete den Rest Kandis in der Tasse, als sei es ein wertvoller Rohdiamant. »Tun Sie Ihre Arbeit, Frau Klassen, und seien Sie sich bewusst: Es geht um viel. Wenn irgendwo Fotos von ihm auftauchen, wenn die herausfinden, wer er ist, dann ist nicht nur er tot, sondern auch seine Familie … Zum Glück hat er keine Kinder.«

Ann Kathrin lehnte sich zurück und blies so heftig Luft aus, dass sich die kleine Teepfütze auf dem Tisch neben ihrer Tasse kräuselte.

Liane Brennecke studierte immer noch die Zuckertrümmer in ihrer Tasse. Sie nahm den kleinen Löffel, hob die Kandisreste heraus, hielt den Löffel auf Augenhöhe hoch und betrachtete das Ganze, als sei dafür eigentlich ein Hochleistungsmikroskop notwendig und sie versuchte es trotzdem mit bloßem Auge.

Was hat sie, dachte Ann Kathrin, zählt sie Kalorien, oder glaubt sie, dass wir sie vergiften wollen?

Frau Brennecke schloss die Augen, schob den Löffel zwischen ihre Lippen und zerkrachte dann mit den Zähnen genüsslich das Kluntje. Als sie die Augen öffnete, sah sie Ann Kathrin an und hatte wohl das Bedürfnis, sich erklären zu müssen: »Eigentlich«, sagte sie, »esse ich ja so gut wie gar keinen Zucker, aber das musste jetzt einfach mal sein.«

Sie musterte Ann Kathrin, als würde sie plötzlich nicht mehr die Polizistin, sondern die Frau sehen, und fragte spitz: »Und – wie halten Sie sich fit? Sport?«

Ann Kathrin ärgerte sich, dass es so bärbeißig rüberkam. Sie wollte gar nicht so sein. Doch es platzte aus ihr heraus: »Beim Nachdenken verbraucht man auch viele Kalorien.«

Rupert, noch ganz in seinen Heldenträumen, erhielt bereits die dritte WhatsApp-Nachricht seiner Frau Beate, die ihn aufforderte, sich zu beeilen und heute bloß keine Überstunden zu machen. Dabei ein Foto von seiner Geburtstagstorte. Buttercreme.

Seine Schwiegermutter machte ihm jedes Jahr eine Buttercremetorte, vermutlich, weil sie wusste, dass er Buttercremetorte hasste. Trotzdem aß er jedes Mal zwei Stücke davon, bis ihm schlecht war. Das tat er nicht für seine Schwiegermutter, sondern nur für seine Frau Beate, die ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Und wenn es so einfach war, Beate glücklich zu machen, dann würgte er sich eben auch schon mal zwei Stückchen Buttercremetorte rein.

Zum Siebzigsten hatte er seiner Schwiegermutter aus Rache einen zwölf Jahre alten Scotch geschenkt, den sie mit dem Satz quittierte: »Aber ich mag doch gar keinen Whiskey«, womit sie ihm die Gelegenheit gab, zu antworten: »Macht nichts, ich mag ja auch keine Buttercremetorte.«

Wenn er jetzt diesen Auftrag annahm, dann bliebe ihm die Buttercremetorte erspart. Stattdessen warteten die Stripperinnen auf ihn. Wenn das keine Alternative war! Das eigentliche Geburtstagsgeschenk war ein Dienstauftrag.

Er rieb sich vor Freude die Hände. Er brauchte eine gute Ausrede, aber es wäre ihm leichter gefallen, die per schriftlicher Nachricht abzusetzen.

Er wollte den Frauen jetzt nicht so gerne begegnen, zumal, wenn er Beate richtig verstanden hatte, war seine Schwiegermutter mit ihrer Freundin gekommen, die sich brennend für die Arbeit der Kriminalpolizei interessierte.

Aber wenn es um mehrere Tage ging, dann musste er noch einen Koffer packen, ein paar Sachen zusammensuchen.

Unschlüssig stand Rupert in Ann Kathrins Büro. Er ahnte nicht, dass diese Probleme für ihn gelöst, aber durch ganz andere ersetzt werden würden.

Ann Kathrin persönlich bat ihn, in den großen Besprechungsraum zu kommen. Es müssten da noch einige Details geklärt werden. So, wie sie Details sagte, ging es nicht um Kuchenkrümel, sondern eher um ein Bergmassiv.

Rupert wunderte sich, denn einerseits sollte das Ganze geheim sein, aber jetzt war Ann Kathrin mit dabei. Auf dem Flur begegnete ihnen Weller, der seinen alten Kumpel mit der Ghettofaust begrüßte und ungefragt mitkam. Da gab es etwas, das wollte Frank Weller sich nicht entgehen lassen.

Rupert beschloss, noch bevor die Tür zum Besprechungsraum sich öffnete, energisch dagegen zu protestieren. Sollte er etwa verladen werden? War das alles nur ein Witz? Hatten sie in Ostfriesland den 1. April auf den 15. Mai verschoben?

Aber dann sah er dort jemanden sitzen, den er überhaupt nicht leiden konnte, und verglichen mit dessen Anwesenheit war ihm die von Weller und Ann Kathrin ein Vergnügen.

Breit und bräsig, die Beine von sich gestreckt, die Daumen hinter die Gürtelschnalle geklemmt, flegelte sich Dirk Klatt vom BKA auf einem Stuhl herum, der für seinen Körperumfang nicht gemacht war.

Pfeifen wie dieser Klatt hatten immer wieder dafür gesorgt, dass Ruperts Weg zum BKA versperrt worden war. Offensichtlich hatte Klatt seit dem letzten Treffen noch mal zugenommen. Gut zehn, fünfzehn Kilo. Seine rosigen Wangen hingen herunter, seine Schultern ebenfalls.

Der Bürojob macht jeden mürbe, dachte Rupert, und vielleicht spielten auch noch ein bisschen Pasta und Pizza eine Rolle. Neben Klatt wirkte Liane Brennecke noch attraktiver. Ja, selbst Ann Kathrin rückte in Klatts Anwesenheit für Rupert in die Nähe eines Playboy-Covergirls.

Klatt stand nicht auf, um Rupert die Hand zu geben. Er wischte sich stattdessen Speicheltropfen von der Unterlippe: »Wir haben nicht viel Zeit. Beginnen wir.«

Ann Kathrin setzte sich so, dass sie Rupert sehen konnte. Weller stand zunächst hinter ihr, dann nahm er neben ihr Platz.

Rupert guckte Liane fragend an, doch sie schickte die beiden nicht weg. Stattdessen sagte sie: »Die zwei werden Ihnen helfen, Ihre Legende aufrechtzuerhalten. Niemand darf wissen, wo Sie sind. Der Kontakt zu Ihrer Frau, zu Ihren Freunden wird über die beiden laufen.« Liane Brennecke sah Ruperts fragenden Blick und deutete auf Frank Weller und Ann Kathrin Klaasen.

»Im Ernst?«, fragte Rupert.

Liane Brennecke nickte.

»Heißt das«, fragte Rupert, »dass ich nicht mit meiner Frau telefonieren muss?«

Weller zeigte auf wie in der Schule und sagte brav: »Das übernehme ich.«

Dirk Klatt brummte etwas Unverständliches und zupfte an seiner Zunge herum. Irgendetwas im Mund störte ihn und nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Wahrscheinlich hatte er von den Sanddornkeksen probiert, die auf dem Tisch standen, und die waren schon ein paar Wochen alt.

Klatt bog sich durch, als würde ihm etwas weh tun, entweder die Knie oder der Rücken. Vielleicht sogar beides.

Ann Kathrin registrierte, dass seine schwarzen Lederschuhe lange nicht geputzt worden waren. Sie waren nicht schmutzig, aber rissig und matt. Die Spitzen abgeschrammt.

Sie hatte ihn als einen Menschen kennengelernt, der auf seine Kleidung achtete und um ein korrektes Aussehen bemüht war. Etwas war hier aus der Spur geraten. Entweder er lebte seit Wochen aus dem Koffer, oder, was sie eher glaubte, er befand sich in einer Lebenskrise. Möglicherweise die Trennung von seiner Frau.

War sie bisher immer fürs Schuheputzen zuständig gewesen?, fragte Ann Kathrin sich. Jedenfalls hatte seine schlechte Laune nicht nur mit dem Fall zu tun.

Liane stellte klar »Sie telefonieren mit niemandem. Wir legen Ihr Handy still, damit Sie nicht geortet werden können. Sie erhalten ein Handy von uns.« Sie hielt ihre offene Hand hin, als sei Rupert ihr etwas schuldig.

Er gab ihr sein Handy.

Weller versuchte, seinem alten Kumpel Mut zu machen: »Mach dir keine Sorgen, Alter. Ich klär das. Ich kann ja allen erzählen, dass du …«

Klatt unterbrach Weller: »Was Sie erzählen und was nicht, sagen wir Ihnen. Hier wird eine Legende festgelegt. Schon mal was davon gehört? Sie beide«, er bohrte mit dem Finger vor Weller und Ann Kathrin Löcher in die Luft, »sind mir dafür zuständig, alle Verbindungen zwischen Ihrem Kollegen und der Außenwelt völlig zu kappen. Rupert existiert ab jetzt praktisch nicht mehr. Ist das klar?«

Weller zuckte zusammen, nickte aber. In Ann Kathrin regte sich noch heftiger Widerstand: »Wie soll das denn überhaupt gehen?«, fragte sie.

Rupert verspürte Hoffnung: »Vielleicht«, bat er Frank Weller, »kannst du ja als Erstes meine Schwiegermutter anrufen und ihr sagen, dass ich heute nicht zu meinem Geburtstag kommen kann. Oder besser noch, geh du für mich hin. Es gibt Buttercremetorte. Du magst doch Buttercreme, oder?«

Klatt spuckte in ein Papiertaschentuch und wischte mit seiner Zunge über den Handrücken. Er verzog angewidert das Gesicht.

Mit einer schneidenden Handbewegung brach Liane Brennecke das Gespräch ab. »Wie das alles zu geschehen hat, das klären wir später.« Sie streckte ihren linken Arm aus und tippte auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Die Zeit läuft.«

Klatt stöhnte. Sie erteilte ihm gestisch das Wort. Doch er hätte ihr die Sache am liebsten überlassen. Er hatte viel zu viel mit den Krümeln im Mund zu tun, und überhaupt war ihm heute sein ganzer Körper noch mehr im Weg als sonst.

Er schob die Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen, zu Liane rüber. Es passte ihr nicht, wie er mit ihr umging. Die beiden standen offensichtlich in scharfer Konkurrenz zueinander.

Sie nahm die Gelegenheit wahr, zu beweisen, dass sie nicht nur besser aussah als er, sondern auch noch mehr draufhatte. Sie brauchte die Papiere nicht, sie wusste die Fragen auch so.

Rupert kam sich vor, als müsse er seine Abiturprüfung wiederholen. Sie fragte: »Was fällt Ihnen zum Thema Wein ein?«

»Wein?«

Liane nickte.

Wie immer, wenn Rupert an seine verstorbene Mutter aus dem Ruhrgebiet und ihre Lebensweisheiten dachte, verfiel er in ihren Ruhrpott-Slang: »Dat schönste am Glas Wein ist dat Pilsken danach«, lachte er in der Hoffnung, die anderen mit dem mütterlichen Humor anstecken zu können. Doch dem war nicht so.

Klatt versaute ihm die Stimmung sofort: »Sie stehen hier nicht auf der Kleinkunstbühne im Talentwettbewerb für Nachwuchs-Comedians.« Jetzt sprach er jedes Wort ganz langsam aus: »Was wissen Sie über Weine?«

Weller, der ein wirklicher Weinkenner war und für diese Leidenschaft mehr Geld ausgab, als Ann Kathrin lieb war, sah Rupert herumeiern. Er hätte ihm nur zu gern geholfen, doch er wusste nicht, wie.

»Nun, es gibt Rotwein und Weißwein, das weiß doch jedes Kind. Und wenn man die beiden zusammenschüttet, entsteht Rosé«, behauptete Rupert.

Klatt stöhnte und sagte es freiheraus: »Sie werden ihn am ersten Abend erschießen.«

»Wen? Mich?«, entfuhr es Rupert.

Liane versuchte, die Situation zu retten. Zunächst stellte sie klar: »Frederico Müller-Gonzáles ist ein Weinliebhaber. Er besitzt mehrere Weinberge, unter anderem in …«

»Das ist doch jetzt völlig egal«, polterte Klatt.

Ann Kathrin versuchte zu helfen: »Mit einer guten Geschichte lässt sich alles erklären. Vielleicht könnte er behaupten, aus gesundheitlichen Gründen für eine Weile abstinent zu sein, und in der Zeit will er auch nicht über Wein reden, weil …«

Klatt schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und polterte: »Sicher! Vielleicht ist er ja auch Moslem geworden. Das alles glaubt uns doch kein Mensch!«

Weller versuchte zu schlichten: »Wir können Rupert nicht auf die Schnelle zum Weinkenner machen, aber ich könnte ihm ein paar Grundbegriffe …«

Klatt beugte sich weit über den Tisch vor: »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns, und in zwei Stunden wird er hier abgeholt.«

»In neunzig Minuten«, korrigierte Liane Brennecke.

Ruperts Handy spielte in Lianes Tasche Born to be wild. Liane Brennecke sah auf das Display: »Schwiemu steht hier.«

Rupert stöhnte: »Das ist meine Schwiegermutter.«

Liane schaltete das Handy einfach aus.

»Sie wird stinksauer sein«, protestierte Rupert.

Weller versuchte, ihn zu beruhigen: »Ich klär das. Verlass dich drauf, ich klär das.«

Liane machte Rupert Mut: »Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Sie müssen sich einfach bewusst sein, dass Sie der Boss sind, Frederico. Niemand wird Ihre Befehle in Frage stellen. Wenn Sie über ein Thema nicht reden wollen, traut sich keiner, es ein zweites Mal anzusprechen.«

Rupert fühlte sich sofort besser. Er zog den Bauch ein, drückte die Brust raus und hätte sich beinahe in den Schritt gegriffen, beherrschte sich aber im letzten Moment. Er reckte sein Kinn männlich nach vorn.

Ann Kathrin registrierte, wie schnell man aus Rupert die Luft rauslassen konnte, aber wie leicht er auch wieder aufzublasen war.

»Letztlich«, erklärte Liane der ganzen Runde, »hat er die Handlungsführung. Das dürfen wir nicht vergessen. Mir gefallen seine Sprüche. Alle werden darüber lachen und es für einen Scherz halten. Sie finden das cool. Sie finden das locker. Und selbst wenn nicht, wird es niemand wagen, ihm zu sagen, was für einen Mist er da erzählt. Interpol rechnet seiner Organisation vierundfünfzig Morde zu.«

»Sein Vater«, ergänzte Klatt und machte dabei eine Geste, als würde er seinen Hals in der Höhe des Kehlkopfs durchschneiden, »hat Konkurrenten, Kritiker oder Verräter gern köpfen lassen. Zur Abschreckung.« Klatt machte ein erstaunlich unschuldiges Gesicht: »Im Grunde hat er uns viel Arbeit abgenommen. Keiner hat in den internationalen Drogenkartellen so sehr aufgeräumt wie er. Die meisten Morde sind nicht auf unserem Kontinent geschehen. Hier verhalten sie sich wie brave Geschäftsleute. Aber mit Ihrer Hilfe«, er zeigte auf Rupert, »dringen wir in die Spitze der Organisation vor. Erfahren alles. Können den Staatsanwälten schließlich Beweismaterial liefern, und dann – bouw – lassen wir die ganze Bande hochgehen und bis ans Lebensende im Knast schmoren. Das wird der größte Schlag gegen Drogenkartelle in der Geschichte unseres Landes, ja, Europas!«, versprach Klatt mit leuchtenden Augen.

Ann Kathrin machte ihrem Unbehagen Luft: »Und wenn das alles funktioniert, dann werden Sie«, sie deutete auf Klatt und Liane Brennecke, »die Karriereleiter bis ganz nach oben erklimmen. Wenn es aber schiefgeht, wird Rupert dran glauben müssen.«

Rupert fasste sich an den Magen. Er hatte das Gefühl, Durchfall zu bekommen. Er wusste nicht so recht, ob er sich wie ein Held vorkam oder wie ein Versager. Brauchten die hier nur einen nützlichen Idioten?

»Machen wir weiter«, forderte Liane mit einer Andeutung auf die Uhr. Sie griff unter den Tisch und zog einen großen Reisekoffer hervor. Er war durch ein Zahlenschloss gesichert. Sie öffnete ihn. Zuoberst lagen mehrere große Fotos. Sie zeigte sie herum.

»Ein bisschen müssen wir noch an seinem Outfit arbeiten. Das Foto von Frederico in der Bar ist zwei Jahre alt. Er hat inzwischen ein bisschen zugelegt. Ich schätze, acht bis zehn Kilo. Und außerdem hat er nun einen Schnauzbart.«

Rupert guckte auf das Bild und schüttelte den Kopf: »Nee! Ich bin doch kein Seehund!«

»Unter Latinos ist das gerade der Knaller«, betonte Liane. »Wir haben hier mal was vorbereitet. Ich habe verschiedene …« Sie sprach nicht weiter, sondern breitete eine Palette von Schnurrbärten hinter Folie vor Rupert aus. Er fand, dass einer schrecklicher aussah als der andere. Aber er kapierte, dass das Ganze seiner Sicherheit diente.

»Er ist sechs Jahre jünger als Sie«, warf Klatt ein.

»Sieben«, korrigierte Liane Brennecke mit einem geradezu triumphalen Lächeln und schrieb sich innerlich einen Punkt gut.

»Das sieht man nicht«, sagte Ann Kathrin anerkennend. »Entweder hat Rupert sich gut gehalten, oder dieser Frederico betreibt Raubbau mit seinem Körper.«

»Das süße Leben«, flötete Rupert, »hat eben auch seinen Preis«, und er war nur zu gern bereit, den zu bezahlen.

»Eigentlich«, gestand Liane, »bräuchten wir eine Maskenbildnerin, um ihn umzugestalten. Aber es geht auch so.«

Rupert durfte sich keineswegs einen Bart aussuchen, sondern sie zog den heraus, der ihrer Meinung nach dem des echten Müller-Gonzáles am nächsten kam. Hinten war ein Klebstoff drauf, ähnlich wie bei einem Pflaster. Schon war sie bei Rupert und fuhr mit dem Zeigefinger mehrfach unter seiner Nase lang, als müsse sie dort erst saubermachen.

Rupert durchlief ein Schauer. Jetzt war sie so nah bei ihm, dass er vollständig in Erdbeerduft eingehüllt war. Meinte seine Beate das, wenn sie davon sprach, dass jemand eine Aura habe? War Erdbeerduft eine Aura oder ein Aroma?

Während Liane den Schnurrbart unter seiner Nase festklebte und anschließend ihr Werk kritisch betrachtete, präsentierte Klatt weitere Schauergeschichten über Frederico Müller-Gonzáles und seine Familie. »Jetzt denkt ihr natürlich, Fredericos Vater sei der große Killer, aber das ist Quatsch. Er hat lediglich ein paar Bars betrieben, im Grunde ein kleines Licht unter den Rotlichtgrößen. Aber als er Valentina Gonzáles kennenlernte, heiratete er in ein Verbrechersyndikat ein, das sich in Lateinamerika bereits wie ein Krake ausgebreitet hatte. Seine Frau, so sagt man, führte die Geschäfte. Sie hat ihn zum König gekürt, ist aber im Hintergrund die planende Kraft. Jetzt möchte sie ihren Sohn an die Spitze bringen. Wenn ihm der Deal in Deutschland gelingt, dürfte der Kronprinz zum König werden. Es läuft immer nach dem gleichen Prinzip ab: Sie kommen in ein Land und übernehmen da die Geschäfte der örtlichen Drogendealer. Wer sich nicht freiwillig unterwirft, hat nur noch kurze Zeit zu leben. In Teilen von Brasilien, Mexiko und Kolumbien hatten sie eine Weile fast vollständig die Oberhand, doch da weht ihnen jetzt ein scharfer Wind ins Gesicht. Sie geraten zunehmend unter Druck arabischer und russischer Clans. Die Tschetschenen mischen jetzt auch überall mit. Vielleicht weichen sie deshalb nach Europa aus. Keine Ahnung. Aber all das wird er herausfinden – wenn sie ihn«, er zeigte auf Rupert, »nicht vorher umlegen.«

Der musste dringend zur Toilette. Außerdem begann der Schnauzbart unter seiner Nase zu jucken. »Ich … dieser Bart, das ist so ungewohnt …«

Ann Kathrin wollte hilfreich eingreifen: »Können wir nicht einfach behaupten, er habe sich den Bart abrasiert?«

»Klar«, donnerte Klatt, »er ist plötzlich Antialkoholiker geworden, hat zehn Kilo abgenommen und sich den Bart rasiert. Tolle Geschichte!«

Weller wandte ein: »Er kann ja schlecht in neunzig Minuten zehn Kilo zunehmen.«

»Wir könnten ja«, schlug Rupert vor, »zu Gittis Grill fahren. Ein Manta-Teller ist mir sowieso lieber als die Buttercremetorte meiner Schwiegermutter.«

Weller erklärte den anderen: »Gittis Grill ist ein Imbiss, gegenüber vom Amtsgericht in Norden. Ein Manta-Teller ist eine Riesencurrywurst mit doppelt Pommes und Mayonnaise.«

Fast nebenbei erwähnte Liane Brennecke: »Frederico ist übrigens Vegetarier.«

Ann Kathrin sackte in sich zusammen. Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht, um den anderen nicht ihre nackte Emotion zu zeigen. Rupert als vegetarischer Weinkenner, das war mehr als komisch, das ging in Richtung Tragikomödie.

Jetzt war der Punkt erreicht, an dem Rupert aussteigen wollte: »Also hört mal zu: Das alles ist ja ganz prima, und ich wäre auch fast drauf reingefallen. Da habt ihr mir zu meinem Geburtstag wirklich eine Supershow geliefert. Aber nichts für ungut, Leute, ich muss jetzt los, sonst kriege ich ’ne Menge Stress mit meiner Schwiegermutter und mit meiner Frau. Das versteht ihr doch bestimmt. War ein Supergag. Selten so gelacht. Ich hoffe, das hat keiner von euch aufgenommen, und wir sehen es gleich auf YouTube oder so …«

»Ich muss Sie enttäuschen, junger Freund«, spottete Klatt. »Das hier ist kein Scherz. Sie haben sich oft beim BKA beworben. Dies hier ist Ihre Eintrittskarte. Sie kommen als verdeckter Ermittler, helfen uns, diesen gordischen Knoten zu zerschlagen, und dann stehen Ihnen bei uns alle Türen offen.«

Rupert schluckte.

Liane strich mit der Hand über Ruperts Hemd und lächelte: »So geht das natürlich nicht. Er braucht andere Klamotten. Frederico trägt maßgeschneiderte Anzüge.«

»Ja, soll ich erst noch zum Schneider?«, fragte Rupert genervt.

»Nein«, sagte sie. »Als wir ihn verhaftet haben, ist uns auch sein gesamtes Gepäck in die Hände gefallen. Das hier sind seine Originalklamotten.« Sie zog ein Hemd aus dem Koffer und hielt es vor Ruperts Oberkörper. Das Hemd war rosa, mit weißem Kragen und weißen Manschetten.

»Ich trage keine rosa Hemden«, protestierte Rupert.

Liane lächelte seinen Einwand weg: »Das glauben wir Ihnen gerne, werter Kollege, aber Sie sind jetzt nicht mehr Rupert, sondern Frederico Müller-Gonzáles. Und er liebt nun mal helle Farben. Champagnerfarbene Anzüge, rosa Hemden und dazu als Kontrast eine dunkle Krawatte. Sie können doch einen doppelten Windsorknoten binden, oder?«

»Rupert war auf der Polizeiakademie, nicht auf der Schauspielschule«, gab Ann Kathrin zu bedenken. »Das Ganze hier gefällt mir nicht. Ich finde, wir sollten das abblasen. Rupert, lass dich nicht darauf ein!«

Klatt fixierte Ann Kathrin wütend. Er ballte die Faust: »Was erlauben Sie sich?«

Ann Kathrin hatte das Gefühl, sich schützend vor ihren Mitarbeiter stellen zu müssen. Sie schielte zu Weller rüber. Er nickte ihr zu. Es tat ihr gut, Unterstützung von ihrem Ehemann zu spüren, aber sie hätte es sowieso getan.

»Das hier ist Wahnsinn«, mahnte sie. »Jeder sieht doch, dass das schiefgehen muss.«

Rupert fühlte sich nicht beschützt von ihr, sondern in seiner Ehre gekränkt. Vielleicht war ihr Protest ausschlaggebend dafür, dass er nun doch einwilligte: »Also los, dann lasst mich mal die maßgeschneiderten Anzüge anprobieren. Champagnerfarben klingt doch schon mal ganz gut. Obwohl, cognacfarben fände ich besser.«

Als er den hellen Anzug sah, wusste er sofort, was Beate dazu sagen würde: Wenn da Flecken drankommen, kriegst du die nie wieder raus.

Der richtige Frederico Müller-Gonzáles, sozusagen das Original, saß derweil in Lingen in seiner Zelle und fühlte sich falsch. Er kaute auf seinen Fingernägeln herum. Er schämte sich. Er hatte auf ganzer Linie versagt. Seine Leute durften nie erfahren, was mit ihm geschehen war. Lieber würde er sich umbringen. Aber das hatte nicht mal geklappt, als er noch sämtliche Möglichkeiten hatte, sich zu vergiften, sich einen goldenen Schuss zu setzen oder in die Luft zu sprengen.

Hier hatten sie ihm alles abgenommen, womit er in der Lage gewesen wäre, sich ins Jenseits zu befördern. Nicht mal Schnürsenkel hatte er in den Schuhen. Sein Vater oder seine Mutter durften ihn niemals so sehen.

In Winsen an der Luhe hatten sie ihn erwischt. Ausgerechnet! Und jetzt saß er, der Erbe eines Imperiums, in Lingen im Knast. Vermutlich hatten sie ihn hierhingebracht, weil hier das einzige Gefängniskrankenhaus in Niedersachsen war, und er brauchte wahrlich ärztliche Hilfe.

Sie hielten ihn von den anderen Gefangenen getrennt. Ihm war es recht. Er wollte jetzt keine Gesellschaft. Vermutlich hatten sie Angst, er könne hier von Mitgefangenen umgebracht werden. Er stand auf der Abschussliste zweier Clans ganz oben. Und innerhalb der eigenen Organisation gab es auch ein paar Gestalten, die sich loyal gaben, aber zu gern an seiner Stelle die Thronfolge übernommen hätten.

Meine einzige Möglichkeit, hier im Knast zu sterben, ist die, dass mich einer von ihnen erwischt. Der Gedanke hatte etwas Verlockendes an sich. Er musste es nicht einmal mehr selbst tun. Es reichte, wenn er im richtigen Moment den falschen Leuten beim Hofgang den Rücken zudrehte.

Alles hatte in Moskau begonnen, in der Tretjakow-Galerie. Dort hatte er das ›Schwarze Quadrat‹ von Kasimir Malewitsch gesehen, und seitdem war sein Leben anders verlaufen. Malewitschs Versuch, die Kunst vom Ballast des Gegenständlichen zu befreien, hatte ihn wie eine Erkenntnis getroffen, die sein ganzes Leben erschütterte, ja, zu einem Paradigmenwechsel geführt hatte.

Vorher hatte er Malewitsch gar nicht gekannt. Das Bild war schon 1915 entstanden, galt heute als Ikone der Malerei. Malewitsch war deswegen mit Spott überzogen und mit Verachtung gestraft worden. Und auch damit konnte Frederico etwas anfangen. Wartete nicht auch etwas Vergleichbares auf ihn, wenn er endlich zeigte, wer er wirklich war?

Alles, was wir geliebt haben, ist verlorengegangen: Wir sind in einer Wüste … Vor uns steht ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund.

Diese Worte von Malewitsch hatten sich ihm tief eingeprägt. Jetzt, im Gefängnis, sah er dieses Bild vor sich. Das weiße Feld ist das Nichts, dachte er.

In der Eremitage in St. Petersburg, dem wahrscheinlich schönsten und größten Museum der Welt, für ihn bedeutender als der Louvre in Paris, den er natürlich auch mehrfach besucht hatte, hing ein weiteres schwarzes Quadrat von Malewitsch. Er war auch dorthin gefahren und hatte es sich angesehen.

Wie großartig diese Wirkung zwischen den Leonardos, Picassos, Rembrandts und Matisses, zwischen all der Farbe war dieses schwarze Quadrat die eigentliche Erkenntnis, die Verdichtung der Farbe zu einer undurchdringlichen Masse.

Es gab noch ein drittes Bild, 30×35 Zentimeter. Es galt als verschwunden. Er hätte alles gegeben, um dieses Kunstwerk aufzutreiben. Er wollte es besitzen. Nichts war wichtiger für ihn.

Er hatte Kunsthistoriker befragt, Detektive in Russland und in Europa beschäftigt. Einmal gab es einen Hinweis, den er vielversprechend fand. Auf der Flucht einer jüdischen Familie sollte das Bild bis nach Israel gelangt sein. Die Spur verlor sich in Haifa.

So deprimierend diese ganze Recherche war, so viel Mut hatte sie ihm auch gemacht, denn es bedeutete doch eins: Das Bild existierte noch. Es wurde als bildhafte Masse in zwei Dimensionen in einem Zustand der Ruhe bezeichnet. Nicht einfach als Schwarzes Quadrat auf Weiß, aber genau das war es.

Geld spielte für ihn keine Rolle. Ob das Bild fünf Millionen oder zehn kosten würde, was machte das schon aus, ging es doch um eine malerische Großtat. Den Versuch, von der rein gegenständlichen zur abstrakten Kunst zu kommen.

Seine Eltern akzeptierten, dass er Kunst sammelte. Für sie war das eine reine Kapitalanlage. Leicht zu transportieren, mit großen Wertsteigerungschancen. Eine gute Möglichkeit, schwarzes Geld in weißes zu verwandeln. Sie selbst setzten mehr auf Diamanten und Goldmünzen.

Sein Vater verstand überhaupt nichts von Kunst, hatte im Wohnzimmer einen röhrenden Hirsch über der Couch und daneben eine vollbusige Zigeunerin. Er kannte die Namen der Maler nicht, behauptete aber, das seien noch richtige Künstler gewesen, die auch malen konnten. Abstrakte Malerei, für die Frederico ihn gerne begeistert hätte, war für ihn Betrug, weil sich da Leute als Maler ausgaben, die offensichtlich gar nicht malen konnten. In diesem Sinne hatte er schon wieder Respekt vor ihnen. Jemand, der mit seinen Hochstapeleien so viel Geld verdiente, beeindruckte ihn durchaus.

Er hatte seinem Vater ein Foto von Malewitschs ›Schwarzem Quadrat‹ gezeigt. Darüber hatte sein Vater laut gelacht und es für einen Witz gehalten.

Wenn sein Vater versuchte, etwas zu erklären, wählte er gern Vergleiche aus dem Rotlichtmilieu, denn darin kannte er sich nun wirklich aus: »Wir hatten mal eine Marlene in unserem Strip-Club, die konnte weder tanzen, noch war sie eine richtige Frau. Aber an manchen Abenden hat die mehr Euros gemacht als die meisten ihrer Kolleginnen. Sie wusste nämlich, was sie nicht kann und nicht ist, und deswegen gab sie sich besonders viel Mühe im Blenden. Die hat die Kerle angegraben mit ihren Augen und mit ihren Lippen, die hat sie völlig verrückt gemacht und ihnen das Gefühl gegeben, etwas ganz Besonderes zu sein. Einmal ist einer durchgedreht, als er auf dem Zimmer feststellte, dass sie eine Transe war. Vier Messerstiche hat er ihr verpasst. Sie ist nie wieder aufgetreten, unsere Marlene … Ich habe ihr einen Job hinterm Tresen angeboten, aber das wollte sie nicht. Sie hat das psychisch irgendwie nicht hingekriegt, wollte überhaupt keine Bar mehr von innen sehen. Sie hat jetzt einen Käsestand, mit dem sie über die Märkte zieht. Immer schön an der frischen Luft, und ich wette, die verkauft den Käse mit der gleichen Leidenschaft wie damals sich selbst. Wahrscheinlich kann die dir ein Stück Fleischwurst als Schweizer Käse verkaufen, wenn sie möchte. Sie ist wirklich überzeugend. Leider ein sehr unglücklicher Mensch …«

»Ich fürchte, das war Kasimir Malewitsch auch«, hatte Frederico geantwortet. Aber sein Vater wusste schon nicht mehr, wer dieser Kasimir sein sollte. Den Zusammenhang zu dem Bild hatte er vergessen. Er merkte sich nur Sachen, die wirklich wichtig für ihn waren.