Russlandcup - Edi Graf - E-Book

Russlandcup E-Book

Edi Graf

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

»Kommissar« Rainer Zufall, der in Wirklichkeit »nur« Privatdetektiv ist, findet die Leiche von Gutwart Pfost, Keeper im Kader der Deutschen Fußball-Elf. Über das Gesicht des Toten wölbt sich der aufgeschlitzte offizielle Spielball der Fußball-WM 2018! Bei seinen Ermittlungen stößt Kommissar Zufall auf einen Dopingskandal, der die WM bedroht. Gemeinsam mit dem skurrilen Bestatter Dr. James Smrt und dessen tierischen Gefährten, dem Leichenspürgeier Wallander und der Hyäne Kurt, begibt er sich auf die Suche nach dem Mörder.

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Edi Graf

Russlandcup

Krimi zur WM 2018

Zum Buch

Kick im Dopingsumpf Kommissar Rainer Zufall, der in Wirklichkeit »nur« Privatdetektiv ist, findet auf dem idyllischen Bolzplatz eines ländlichen Fußballclubs die Leiche von Gutwart Pfost, Keeper im Kader der Deutschen Fußball-Elf. Über Gutwart Pfosts Gesicht wölbt sich der aufgeschlitzte offizielle Spielball der Fußball-WM 2018! Der schräge Kommissar stößt bei seinen Ermittlungen auf eine weitere Leiche und auf einen Dopingskandal, der die WM bedroht. Auch Kommissar Zufalls russischer Zwillingsbruder Jakob Machbalrin, der in der Russischen »Sbornaja« kickt, scheint darin verwickelt zu sein. Gemeinsam mit dem skurrilen Bestatter und Pathologen Dr. James Smrt sowie dessen tierischen Gefährten, dem Leichenspürgeier Wallander und der Hyäne Kurt, begibt sich Kommissar Zufall während des Confed-Cups in Russland auf die Suche nach dem Mörder. Während die Fußball-WM immer näher rückt, kommt es in der Arena von Kasan zu einem dramatischen Endspiel …

Edi Graf ist freiberuflicher Journalist und arbeitet als Redakteur in einem Hörfunkprogramm der ARD. Nach Hörspielen und Kurzgeschichten verfasste er bisher sieben Afrikakrimis um die Tübinger Journalistin Linda Roloff. Die schräge Figur des »Kommissar Zufall« schickt er, nach dem Musikerkrimi »Kriminalpolka« jetzt in der Fußballszene auf Mörderjagd beim »Russlandcup«. Als Herausgeber veröffentlichte Edi Graf zwei Mundartbände und eine Krimianthologie, schrieb Reise- und Ausflugsführer sowie zahlreiche Kurzkrimis. Edi Graf ist Mitglied in der Krimiautorenvereinigung Syndikat und lebt mit seiner Familie in Rottenburg am Neckar.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Der Schwarzwald (2016)

Bombenlauf (2016)

Kriminalpolka (2013)

Verschleppt (2012)

Bombenspiel (2010)

Leopardenjagd (2008)

Elefantengold (2006)

Löwenriss (2005)

Nashornfieber (2005)

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

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© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © matze_ott/photocase.de

ISBN 978-3-8392-5574-2

Haftungsausschluss

Namen und Spielergebnisse sind nur zum Teil, Handlung und Tathergänge hingegen ganz frei erfunden. Die Einbindung realer Personen in die Krimihandlung ist Fiktion. Jenseits des Spielfeldes erkennbare Ähnlichkeit mit kickenden, köpfenden, foulenden, flankenden, schießenden, stürmenden, verteidigenden, haltenden und pfeifenden Personen entspringt allein der Fantasie des Lesers.

Zitat

»Fußball ist unser Leben, den König Fußball regiert das Geld …«

Variation aus »Fußball ist unser Leben«, Weltmeisterschafts-Lied der deutschen Fußball-Nationalmannschaft 1974.

Anpfiff

Tot.

Toter.

Am totesten.

Ich dachte es nur. Zunächst. Doch dann sagte ich es leise:

»Tot. Toter. Am totesten.«

Der Tote sagte nichts.

»Das sagt man nicht«, sagte der Pathologe schroff.

»Was?«, fragte ich, da sein Anpfiff mir galt.

»Tot. Toter. Am totesten!«

»Aber Sie sagen es doch auch!«

»Ja. Weil Sie es sagten. Aber tot gibt es nicht als Komparativ und Superlativ. Nur als Positiv.«

»Positiv? Tot ist positiv?«

»Für mich schon. Ich lebe davon«, sagte der Pathologe.

»Ich auch«, antwortete ich, der Privatdetektiv.

»Und dieser Tote lebt nicht mehr«, stellte er fest.

Nun, um das zu sehen, musste man kein Pathologe sein:

Wer mit einem über den Kopf gestülpten Fußball seit Stunden auf dem Rücken eines Bolzplatzes lag und sich nicht rührte, nicht atmete und nicht pulste, war tot.

Toter als der toteste Hund …

Doch vielleicht beginne ich die Geschichte von vorne. An jenem Spätfrühlingstag auf jenem Bolzplatz, wo der Anpfiff des Spiels der Regionalligaclubs Letzter FCKW gegen Zwietracht FKK noch auf sich warten ließ.

Weil sie dort lag …

Tot.

Toter.

Am totesten.

Ballleiche

Sie lag auf dem Rücken, hatte muskulöse, behaarte Beine, die merkwürdig gekrümmt aus den schwarzen Shorts mit drei weißen Streifen ragten und in weißen Stutzen und grünen Stollenschuhen mündeten. Ihr Rumpf trug ein weißes Trikot mit drei schwarzen Streifen, das die kräftigen, gebräunten Arme noch dunkler aussehen ließ.

Sie war eindeutig die Leiche eines Fußballers, und der Kopf ruhte minutiös auf dem Elfmeterpunkt des gegnerischen Tors. Das Merkwürdige aber war, dass sie gar keinen Kopf hatte. Das heißt, sie hatte sicher einen, doch der steckte in der Tatwaffe. Oder besser gesagt: Die Tatwaffe steckte dort, wo sich bei der noch lebenden Leiche der Kopf befunden hatte, nämlich auf deren Hals! Rund und bunt ragte der offizielle Spielball der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland anstatt des Kopfes zwischen den Schultern der Leiche empor.

Selbst für mich als versiertem Privatdetektiv mit Arbeitsschwerpunkt »ungeklärte Todesfälle« ist eine Leiche, deren Kopf durch einen Fußball ersetzt wird, ein mehr als kurioser Anblick. Und es stellten sich für mich zwei Fragen: 1. Wo war der richtige Kopf der Leiche, und 2. Wo gab es auf diesem kleinen, dörflichen Kickplatz etwas zu trinken?

Die Antwort auf die zweite Frage war für mich von existenzieller Wichtigkeit und sie hing unmittelbar mit der Tatsache zusammen, dass ich als einer der Ersten am Tatort war, sogar noch vor Polizei und Spurensicherung! Dies hatte ich meinem unschätzbar wertvollen Informanten zu verdanken, der wiederum sein Honorar »in Weiß« zu kassieren pflegte: Weißbier oder Weißweinschorle.

Nun ja, um es kurz zu machen, man muss sich umtun, gerade in meinem Metier, im Zeitalter von Fatzebuck und Twitter, wenn sich Nachrichten über einen Mord schon verbreiten, während der Täter die Tat noch plant. Es reicht bei Weitem nicht mehr, nur ein erfolgreicher Ermittler zu sein!

Fast alle wirklich Großen, und vor allem die Legenden, haben im Doppelpack gearbeitet. Keiner spricht von Sherlock Holmes, ohne Doktor Watson zu nennen, keiner denkt an Derrick ohne Harry, und Oliver Hardy wäre ohne Stan Laurel nur halb so erfolgreich dick und doof geworden. So war es auch für mich logisch, mich nach einem Assistenten oder Partner umzusehen, der mir vor allem bei der Beschaffung aktueller Fälle behilflich war.

Konstellationen wie bei Detektiv Rockford, der mit seinem Vater zusammenarbeitete, oder Matula, der sich an den Rockzipfel eines Rechtsanwalts hängte, wollte ich nicht imitieren. Zum einen kannte ich meinen Vater nicht, und zu Anwälten habe ich ein eher gespaltenes Verhältnis, seit mein Scheidungsanwalt Horst-Udo, einen Monat nach meiner Trennung von Charlotte, meine Ex geheiratet hat.

So kam es, dass ich mich an den Mann wandte, der mir bei der glücklichen Lösung meines ersten Falles die entscheidenden Hinweise gegeben hatte und mir bei der Überführung der Täterin (oder des Täters – für alle, die das Buch noch nicht gelesen haben) eine unschätzbare Hilfe gewesen war. Doktor James Smrt war als Notarzt auch pathologisch tätig, half gelegentlich in der Tübinger Gerichtsmedizin aus und leitete gleichzeitig ein modernes Bestattungsunternehmen am Bodensee, »Leichen-Smrt & Co«, bei dem er als selbstständiger Totengräber arbeitete. Synergieeffekte nützen, lautete seine Devise, nach dem Motto: »Heute gestorben, begraben schon morgen!«

Seine diversen Berufszweige brachten es mit sich, dass Dr. Smrt immer als einer der beiden Ersten am Tatort war, solange der zwischen Wurmlingen bei Tübingen und Schnetzenhausen am Bodensee lag. Noch von unterwegs ließ er mir den vermeintlichen Tatort per SMS zukommen, und der »Zweiterste« war – nach unserer mündlichen Absprache und gegen ein Honorar in Form oben erwähnter flüssiger Kaltschalen – ich!

So war ich auch an jenem Samstagnachmittag gleich nach Dr. Smrt am Tatort, dem Sportplatz des »Fußballclubs kickender Wengerter« (schwäbischer Ausdruck für Weingärtner), genannt Letzter FCKW, in ländlicher Idylle am Fuß des Spitzbergs, der das berühmte Schloss Hohentübingen mit der noch wesentlich berühmteren Wurmlinger Kapelle verband, und hoffte inständig, dass ein neuer Fall auf mich wartete. Unsereins ermittelt ja leider nicht – wie der gewöhnliche Hauptkommissar der Mordkommission – einfach so, weil irgendwo eine Leiche auftaucht, sondern benötigt einen möglichst zahlungskräftigen Auftraggeber. Und um an den zu gelangen, benötigt es wiederum ungewöhnliche Werbemaßnahmen.

»Nun, mein geschätzter junger Freund«, hatte mich Dr. Smrt bei meinem Eintreffen jovial begrüßt, »wie ist das werte Befinden?«

»Geht so«, antwortete ich, »›Leichen pflastern seinen Weg‹ ist leider derzeit nicht mein Motto. Ich lebe von Kleinaufträgen. Entlaufene Meerschweinchen, kleinliche Klärung unklarer Loyalitätsfragen bei scheidungswilligen Ehepaaren, Besoldungsfortzahlungsbetrug bei Finanzbeamten und vermisste Schwiegermütter.«

»Und was macht die Kunst des Schreibens? Ich habe wohl verfolgt, dass Sie unseren ersten gemeinsamen Fall in ein lustiges Büchlein verwandelt haben. Sicher ein nettes Zubrot, was?«

»Damit ist kein Geld zu verdienen«, wehrte ich ab. »Das ist nur zusätzliche Arbeit, die nichts bringt – nur dem Verlag!«

»Ein lustiges Völkchen, diese Musikanten. Außer, wenn Posaunisten beim Polkaziehen tot aufs Pult sinken. Sie haben das anschaulich und spannend beschrieben.«

Er spielte auf »Kriminalpolka« an, meinen ersten Krimi, in dem es um Morde in einer Blaskapelle ging. Der Fall lag jetzt fünf Jahre zurück.

»Fast so spannend, wie wenn Fußballspieler beim Kicken tot auf dem Platz liegen. Wird das auch ein Krimi?«

»Mal sehen. Ich habe ja noch nicht mal unseren letzten Fall niedergeschrieben.«

»Sie meinen den Skifahrer, der beim Skifahren tot auf der Piste lag?«

»Genau.«

»War ein makabrer Anblick. Fast wie hier …«

»Mit dem Bolzenschussgerät ins Genick geschossen.«

»Da könnte der Krimi ja ›Genickschuss‹ heißen«, schlug er vor.

»In der Tat habe ich außer dem Titel noch nichts geschrieben.«

»Und wie soll er heißen?«

»›Kriminalslalom‹. Ich hatte das auch schon so angekündigt. Aber dann kamen laufend entlaufene Meerschweinchen und vermisste Schwiegermütter dazwischen.«

Und kein Bock, jeden Tag am Computer zu sitzen und einen alten Fall aufzurollen, wollte ich noch sagen, doch ich biss mir auf die Zunge.

»Ja. Uns geht die Arbeit nicht aus«, hatte er gesagt und sich wieder der Fußballleiche zugewandt.

Während Dr. Smrt neben der Leiche kniete und erste pathologische Untersuchungen anstellte, nützte ich die Zeit vor Eintreffen der echten Polizei, um gegenüber den Anwesenden auf dem dörflichen Kickplatz mein Inkognito zu lüften und meine Visitenkarten zu verteilen.

Zuschauer gab es schon zur Genüge, denn das Spiel gegen die Zwietracht FKK – Fußball-Kicker Kapellenberg –, wäre in knapp einer Stunde angepfiffen worden, hätten die Kicker des Fußballclubs Letzter FCKW nicht beim Warmlaufen auf dem Spielfeld den offiziellen Spielball der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland vor dem gegnerischen Tor liegen sehen, so erfuhr ich später. Marzipan Steinschweiger, der gefeierte Stürmer des Letzten FCKW hatte nichts als den Ball gesehen, an den Spruch »das Runde muss ins Eckige« gedacht, nur einen kurzen Anlauf berechnet und den offiziellen Spielball der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland mit einem gezielten Schuss Richtung Tor befördert.

Dies war jedenfalls – wie bei jedem Elfmeterschützen – seine gute Absicht gewesen. Doch war in diesem Fall sowohl die Sache an sich als auch der Ball im Besonderen anders gelagert gewesen. Letzterer hatte sich nicht vom Fleck gerührt, sondern war mit einer Abweichung von nur wenigen Zentimetern dort verblieben, wo er gelegen hatte, Marzipan Steinschweiger hingegen, dessen rechter Fuß den Ball nicht verfehlt hatte, war mit einem Schrei über den offiziellen Spielball der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland hinweg gestürzt, hatte sich überschlagen und war stöhnend und mit gerissenem Außenband im Elfmeterraum liegen geblieben.

Seine Kameraden waren herbeigeeilt, hatten sich jedoch nicht über ihn, sondern über den zweiten auf dem Spielfeld liegenden Körper gebeugt, der offensichtlich mit dem aufgeschlitzten offiziellen Spielball der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland eine Symbiose eingegangen war.

Diskret, erfolgreich, undercover

Jetzt standen sie gestikulierend mit einer Handvoll anderer Zuschauer und den Spielern der gegnerischen Mannschaft am Spielfeldrand und betrachteten abwechselnd meine Visitenkarten und mich.

Schließlich trat einer aus der Gruppe auf mich zu. Er war mindestens zehn Zentimeter kleiner als ich, trug ein Trikot wie die Leiche und las wieder und wieder die Worte auf meiner Visitenkarte.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Kleine leise, fast flüsternd, »sind Sie das« – er deutete auf die Karte – »wirklich?«

Ich nickte feierlich und stumm und genoss die Aura, die mich umgab.

Immerhin bin ich so einigermaßen der berühmteste Kommissar der Welt. Keine Zeitung, die noch nicht über mich berichtet, kein Radioprogramm, das mich noch nicht gesendet und kein Fernsehsender, der mich noch nicht erwähnt hätte. »Kommissar Zufall hilft«, oder »Die Polizei wurde wieder einmal von Kommissar Zufall unterstützt«, so lesen, hören oder sehen wir es doch immer wieder.

»Echt? Der Echte?«, fragte der kleine Kicker immer noch ungläubig.

»Ja«, antwortete ich, »Sie lesen richtig. Sie haben es mit dem legendären Kommissar Zufall zu tun!«

Was nun folgte, war ein eingespieltes Ritual, das ich aus dem Effeff beherrschte, und auch heute mein Publikum wieder sichtbar beeindruckte. Ich gab meiner sonst eher weichlich klingenden Stimme den sonoren Klang des Synchronsprechers von Columbo, und mein zerknittertes Gesicht verstärkte sicher diesen Eindruck. Schade, dass ich meinen Trenchcoat auf dem Sportplatz nicht dabei hatte. Ohne Megafon dröhnten meine Worte über den Platz und ich spürte, dass ich noch vor Eintreffen der Kriminalpolizei meinen Auftrag in der Tasche hatte:

»Achtung, hier spricht die Polizei! Kommissar Zufall, mein Name. Bitte bewahren Sie Ruhe, bis meine Kollegen da sind, und halten Sie Ihren Personalausweis oder den Führerschein bereit!«

Und wer bislang glaubte, Kommissar Zufall sei nur ein Phantom oder ein Synonym für erfolgreiche Polizeiarbeit, der wurde durch diese Worte eines Besseren belehrt: Ich bin ich, und in voller Lebensgröße Kommissar. Na ja, eigentlich nur Privatdetektiv, aber das ging ja keinen etwas an. Kommissar macht sich in meinem Metier besser.

Ich verwende den Titel »Kommissar« ja nicht als Berufsbezeichnung, sondern quasi als Pseudonym, und das ist durchaus gestattet.

Mein richtiger Name ist Tsuval. Rainer Tsuval. Für den Nachnamen kann ich nichts. Altes Erbstück der belgischen Vorfahren meiner Mutter. Mein Vater, oder besser gesagt, unser Vater hingegen – mein Bruder wird später seinen Auftritt haben – war Russe. Doch nachdem meine Mutter ihn nur wegen dieser einen Nacht nicht geheiratet hat, behielt ich ihren Namen. Wer weiß, vielleicht würde ich sonst Rebroff oder Bierhoff oder Bölkstoff heißen.

Meinen Vornamen hat meine Mutter ebenfalls ohne die Hilfe meines russischen Vaters ausgesucht, und ihr außergewöhnlicher – um nicht zu sagen ausgefallener – Geschmack in solchen Dingen wollte es, dass die Konstellation aus Vor- und Zunamen geradezu meinen beruflichen Werdegang vorgab, meine Polizeilaufbahn also sozusagen schon vor unserer Geburt feststand.

Nein, das ist kein Druckfehler, die kommen später: Ich spreche in voller Absicht von unserer Geburt, also in der Mehrzahl, wie ich oben auch schon von unserem Vater gesprochen habe. Doch mein um wenige Minuten jüngerer Zwillingsbruder mit dem schönen Namen Jakob überlebte seine Geburt leider nicht. Ohne es zu wollen, hatte ich ihn, so wurde es mir von meiner Mutter überliefert, mit meiner Nabelschnur stranguliert. Eine Base meiner Mutter allerdings bestand auf der Version, dass man ihn mit der Nachgeburt verwechselt und ohne mein Zutun entsorgt habe.

Was immer auch der Wahrheit entspricht, mein Leben begann mit dem Tod. Doch zum Glück war ich zum Zeitpunkt unserer Geburt noch nicht strafmündig und konnte weder wegen fahrlässiger Tötung noch wegen Totschlag im Affekt zur Rechenschaft gezogen werden. Zudem stand die Aussage meiner Mutter gegen die ihrer Base. Und die Hebamme war gleich nach unserer Geburt spurlos verschwunden.

Ich erwähne dies übrigens nur, weil das rätselhafte pränatale Ableben meines Zwillingsbruders im Verlauf des Falles, den ich Ihnen hier schildern will, fatale Folgen für mich haben sollte. Bruder Jakob war nämlich weder von mir mit der Nabelschnur stranguliert noch mit der Nachgeburt entsorgt worden, sondern erfreute sich bester Gesundheit.

Nun, die eben geschilderte Tat hatte am 25. Oktober 1962 im Kreißsaal des Zentralhospitals von Sankt Agath-Christi am Stein stattgefunden, und ich wurde als einziger männlicher Überlebender auf den germanischen Namen Rainer getauft. Bewusst mit ai, erklärte mir Mutter später, »damit nie jemand den Witz mit dem großen R und dem kleinen Ei machen kann!«

Als ich Jahre später – ich erinnere mich genau – in der Fernsehsendung »XY-ungelöst« mit Ganoven-Ede Zimmermann erstmals vom genialen Kommissar Zufall hörte, der schon wieder eine ganze Bande Verbrecher zur Strecke gebracht hatte, stand mein Ziel fest: Ich wollte zur Polizei.

Allerdings stellte ich mir die Sache einfacher vor, als sie war, und so war mein Dienst als Polizist nur von kurzer Dauer. Die Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei quittierte ich nach drei Tagen, kopierte heimlich den Dienstausweis des leitenden Hauptkommissars der Mordkommission und kreierte aus meinem Traumberuf Kommissar und meinem Nachnamen ein Pseudonym. Und so steht es bis heute – in Anführungszeichen – auf meiner Visitenkarte:

»Kommissar Zufall«

Ihr Spezialist für ungelöste Todesfälle aller Art.

Ermittlungen nach Maß und Auftrag.

Diskret, erfolgreich, undercover.

Fußballbeine

Das Tuscheln in den Reihen der Zuschauer ebbte sofort ab, als ich mit Columbostimme nach Zeugen fragte. Jeden Moment konnten die echten Kriminalbeamten eintreffen, und dann hatte ich keine Chance mehr. Daher fragte ich laut:

»Gibt es Zeugen? Wer hat irgendetwas gesehen?«

Keine Reaktion.

»Wer von Ihnen hat die Leiche entdeckt?«

Der Kleine, der noch immer als Einziger vorgetreten war, deutete auf den Krankenwagen, der auf dem Zufahrtsweg zum geschotterten Parkplatz neben dem Vereinsheim des Letzten FCKW stand, und erzählte mir die Geschichte, wie der gefeierte Stürmer des Letzten FCKW am Elfmeterpunkt über die Ballleiche gestolpert war.

»Er hat danach nur noch gestöhnt, und ich habe über die Notrufnummer einen Krankenwagen angefordert«, er deutete auf den Weg. »Das Außenband ist wahrscheinlich ab«, ergänzte er noch, und das schien die größte Sorge des Kleinen zu sein.

»Und der Tote?«, hakte ich nach, »wer hat sich um ihn gekümmert?«

»Wir sind alle hingelaufen, aber da war nichts mehr zu machen. Und Mund-zu-Mund ging nicht, da war der Ball im Weg. Außerdem war der ja schon richtig kalt und steif. Sonst wäre unser Marzipan Steinschweiger ja nicht über ihn drüber gefallen, wenn der nicht wie ein Polder dagelegen hätte!«

»Und wer hat den Notarzt verständigt?«

Ich zeigte auf den Mann im eleganten schwarzen Anzug, der noch immer bei der Ballleiche kniete.

»Der Typ da drüben? Der war sogar noch vor dem Krankenwagen da!«, antwortete der Kleine.

Ich grinste in mich hinein. Das sah dem guten Doc wieder ähnlich. Der alte Leichenfledderer schien einen guten Riecher für sein Geschäft zu haben. Ich würde später alles, was ich wissen musste, von ihm erfahren.

»Und die Polizei?«, fragte ich, doch keiner antwortete. Ich schüttelte den Kopf. Da standen drei Dutzend Leute, überwiegend Männer in Fußballtrikots und eine Handvoll Frauen und Kinder und schwiegen verlegen.

»Wer von Ihnen hat die Polizei gerufen?«, fragte ich laut.

Niemand regte sich.

»Wir haben gedacht, wenn der Sani erst da ist, passiert das andere von allein«, stammelte der kleine Kicker. Ich holte Luft, unterließ aber eine Antwort.

»Wie heißen Sie denn, und in welcher Funktion sind Sie hier?«

»Ich bin Hausmeister. Hier im Vereinsheim. Und ich kicke.«

»Name?«

»Thor Wärtle.«

»Haben Sie eine Ahnung, um wen es sich bei dem Toten handeln könnte?«

Wärtle zuckte die Schultern. »Wir sind komplett, das ist keiner von uns«, meinte er gleichgültig.

»Aber er trägt doch Ihr Trikot?«

»Nein«, widersprach er, »das sieht nur von Weitem so aus. Das ist ein Trikot der Nationalmannschaft.«

Ich glaubte, mich verhört zu haben.

»Der Nationalmannschaft?«, fragte ich daher nach. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Na, sehen Sie mal, hier seitlich am Oberschenkel sieht man ein Stück vom DFB-Logo. Die vier Sterne sind grade noch zu erkennen. Für die vier Weltmeisterschafts-Titel, klar! Sie haben ja wohl keine Ahnung von Fußball, was?«, entgegnete er frech, wobei er den Ball voll ins Tor getroffen hatte, um mal beim Thema zu bleiben.

Ich bin tatsächlich fußballtechnisch ziemlich unbedarft, und zwar sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Schon in der Schule war ich beim Fußball spielen immer der Letzte, der in eine Mannschaft gewählt wurde, und ich musste dann ins Tor, weil ich beim Kicken eine Niete war und die Gegner auf dem Feld mit mir leichtes Spiel hatten.

Beim Anblick des offiziellen Spielballs der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland zwischen den Schultern einer Leiche, war allerdings die Verbindung zur Nationalmannschaft vielleicht gar nicht so falsch, schoss es mir durch den Kopf, und ich versuchte jetzt, die Situation zu retten, indem ich mit einer Gegenfrage aus dem Regelfragenkatalog der Kriminalpolizei reagierte. Sie erschien mir allerdings in der gegebenen Situation ziemlich skurril, da vom Gesicht der Ballleiche ja nichts zu erkennen war.

»Kennt jemand von Ihnen den Toten?«, fragte ich so laut, dass es auch noch ein bulliger Riese verstand, der sich in die letzte Reihe der kleinen Menschenmenge zurückgezogen hatte. Der Hüne war gut 1,95 Meter groß und überragte die Umstehenden mindestens um Kopfes Länge. Er war offensichtlich kein Fußballer, denn er trug Ripped Jeans, eine Hose mit diesen neumodischen Zierrissen, die mir meine Mutter um die Ohren geschlagen hätte, wenn ich damit in die Schule gegangen wäre. »So zerlumpt läufst du mir nicht rum, Junge!«, hätte sie gesagt und das Ding erst mal geflickt. Ich muss mir noch heute immer auf die Zunge beißen, wenn mir Leute in solchen Jeans begegnen, damit mir keine Kommentare rausrutschen wie: »Deine Hose hat ’n Loch!«

Bei dem hünenhaften Typen, der sich jetzt nach vorne schob, sah es allerdings eher danach aus, als wären seine Jeans so eng, dass die Hosenbeine platzten. Seine Unterschenkel hatten die Form von Fünflitereimern, und seine Füße steckten in Sandalen, aus deren Öffnungen die fleischigen Zehen ins Freie drängten. Sein T-Shirt spannte auffällig über seiner Wampe, sodass der Unterbauch nabelabwärts wie ein aufgeblasener Sitzball ins Freie ragte.

Der Mann sah aus wie eine Kreuzung aus Sumo Ringer und Bodybuilder. Sein im Verhältnis zum Körper viel zu kleiner Kopf steckte ohne Hals zwischen den Schultern, aus denen sich muskulöse Oberarme wölbten, die die Ärmelchen des armen T-Shirts zu sprengen drohten. Seine fleischigen Hände waren wahre Pranken, deren Behaarung Kong alle Ehre gemacht hätte. Mit diesen schob der Gorilla die anderen Leute beiseite, drängte sich nach vorne und kam mit behäbigen Schritten auf mich zu.

Er war unrasiert, und es schien mir so, als habe er im Gesicht dieselbe Frisur wie auf seinem kurz geschorenen Schädel. Die kleinen Äuglein blinzelten listig aus schmalen Schlitzen, und sein sympathisches Lächeln wollte so gar nicht zum ungehobelten Rest seiner Erscheinung passen.

»Lass mal sehen, den Jungen«, meinte er, als ob es darum ging, auf dem Rossfest in Sankt Märgen ein Schwarzwälder Fuchsfohlen zu begutachten.

»Stopp! Sie dürfen ihn nicht berühren!«, warnte ich und stellte mich ihm in den Weg. Jetzt sah ich wirklich aus wie Brie Larson vor Kong auf Skull Island oder wie der kleine Mowgli vor Colonel Hathi im »Dschungelbuch«. Der Gorilla blieb stehen und musterte mich von oben bis unten.

»Sie sind also Bulle?«, fragte er grunzend, und ich schluckte trocken. Wenn er jetzt meinen Dienstausweis verlangte, hatte ich die Arschkarte. Ich sah mich Hilfe suchend um, doch die anderen Anwesenden hatten ihre Unterhaltungen wieder aufgenommen und interessierten sich einen Scheiß für mich.

Ich kam mir vor wie beim »Stare Down« vor einem Boxkampf und bohrte meinen Blick dem Gorilla in die Augen. Plötzlich wurde mir bewusst, dass dieser Mann ohne Weiteres die Kraft hätte, mir den aufgeschlitzten offiziellen Spielball der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland über den Kopf zu stülpen, um mich darunter zu ersticken!

Ich beschloss, alles auf eine Karte zu setzen, und griff in meine Jackentasche. Ich ertastete eine Karte, zog sie heraus und wusste, dass ich die eingerissene Eintrittskarte zu »Ernst Hutter & die Egerländer Musikanten – das Original« aus der Stadthalle Reutlingen in den Händen hielt. Ich hielt sie dem Gorilla dicht vors Gesicht und sagte, ohne meinen stechenden Blick von ihm abzuwenden, mit der erfolgreichen Synchronstimme von Columbo:

»Kriminalhauptkommissar Zufall, LKA. Und wo waren Sie zur Tatzeit?«

Er starrte auf das Ticket, das fast seine Nase zu berühren schien, und ich ließ es wieder in meiner Jackentasche verschwinden. Ich sah ihm an, dass mir mit dieser Taktik ein »Lucky Punch« geglückt war. Der Unterlegene hatte mit einem glücklichen Treffer seinen Gegner k.o. geschlagen und den Kampf für sich entschieden.

»Woher soll ich denn wissen, wann die Tatzeit war, Herr Kommissar?«, stammelte er verlegen.

»Herr Kriminalhauptkommissar!«, herrschte ich ihn an, um ihm vorsichtshalber gleich noch ein zweites K.o. zu versetzen.

»Ich weiß nicht, wo ich da war, Herr Kriminalhauptkommissar …«, klang es jetzt fast weinerlich, und mir schien es, als sinke der Gorilla in sich zusammen. Seine Schultern wurden weich, die Oberarme hingen lasch nach unten, sein Kopf sank auf die Brust und seine Unterlippe zog sich verlegen über die Oberlippe wie bei einem Kind, das seine Tränen unterdrückt.

»Okay«, sagte ich versöhnlich. »Sie glauben also, den Toten zu kennen?«

Er nickte.

»Und das, obwohl sein Kopf in diesem Ball steckt?«

Er nickte heftiger.

»Zuerst mal brauche ich Ihre Personalien. Name, Vorname, Alter, Wohnort, Nationalität.«

»Ich heiße Alberich Zwuggel, bin 55 und wohne in Tübingen. Meine Freunde nennen mich ›Shorty‹.«

»Shorty«, wiederholte ich und sah ihn von oben bis unten an. »Na, dann kommen Sie mal mit, Herr Zwuggel. Aber mit vorsichtigen Schritten. Wir wollen doch keine Spuren verwischen!«

Ich ging mit ihm auf Zehenspitzen Richtung Ballleiche, wo noch immer der mir wohlbekannte Doc seiner Arbeit nachging.

»Der Mann hier will den Toten kennen«, erklärte ich dem Notarzt, Pathologen und Bestattungsunternehmer Dr. James Smrt, der daraufhin aufstand, um uns von allen Seiten einen Blick auf den Toten im Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft zu ermöglichen.

»Ohne das Gesicht zu sehen?«, fragte er skeptisch.

»Ich brauche das Gesicht nicht«, sagte Alberich Zwuggel. »Mir reichen die Beine.«

»Die Beine?«, fragten Dr. Smrt und ich wie aus einem Mund.

Der, den seine Freunde »Shorty« nannten, nickte.

»März 2001, ›Wetten, dass …?‹ aus Dornbirn, erinnern Sie sich?«

Ich schüttelte den Kopf. Smrt nickte. »Das war die Jubiläumssendung mit Gottschalk, Elstner und Lippert, stimmt’s?«

»Genau die!«, bejahte Shorty und klopfte dem klapperdürren Smrt mit solcher Wucht anerkennend auf die Schulter, dass ich mir ernsthaft Sorgen um die Knochen des hageren Mediziners machte.

»Sie waren dabei, eine Fußballwette, ich erinnere mich genau!«, rief Smrt jetzt und gab dem Gorilla einen freundschaftlichen Klaps auf die Wampe, den dieser überhaupt nicht zu bemerken schien. Da hatten sich offensichtlich zwei »Wetten, dass …?«-Fans gefunden.

»Und was für eine Wette war das?«, ging ich dazwischen, um die Sache abzukürzen. Ich hatte aus der Ferne die Sirene der Polizeifahrzeuge gehört und wusste, dass meine Zeit, um zu ermitteln, bald ablaufen würde. Sollte mein alter Freund Sepp Donner, Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter der Kriminalinspektion 1, auftauchen, hatte ich, das wusste ich aus Erfahrung, hier nichts mehr zu sagen.

»Eine fantastische Wette, aus medizinischer Sicht«, schwärmte Dr. Smrt. »Ich habe Sie damals sehr bewundert, junger Freund. Ihre detaillierten Kenntnisse der Anatomie des menschlichen Waden- und Schienbeins – umwerfend!«

Ich stand immer noch fragend da, während auf dem kleinen Parkplatz die blau blinkende Armada der Polizei anrollte.

»Worum ging’s?«, bohrte ich weiter.

Shorty holte schon Luft, um zu antworten, doch Smrt kam ihm zuvor:

»Dieser junge Freund hat damals gewettet, alle Fußballspieler aus der deutschen Bundesliga an ihren Beinen zu erkennen. 50 Spieler standen zur Auswahl, glaube ich.«

»55«, korrigierte Shorty. »Fünf Mannschaften. Bayern München, Schalke, VfB Stuttgart, Hamburger SV und Borussia Dortmund waren da. Zehn von elf Spielern musste ich erkennen. Alexander Zickler, Krassimir Balakow, Sergej Barbarez, Stefan Effenberg, Giovane Élber, Oliver Kahn …«

»Jaja, ist ja schon gut«, unterbrach ich abermals. »Das können Sie mir gerne später erzählen.«

»Wir können uns auch das Video anschauen. Geht nur neun Minuten.«

»Gerne! Vielleicht in meiner Praxis?«, schlug Dr. Smrt erfreut vor und klatschte lachend in die Hände. »Ich habe ein nettes Heimkino für anatomisch bedeutsame Spielfilme wie ›Jack the Ripper‹ und ›Frankenstein‹!«

Ich hob entnervt den Arm, um Ruhe zu gebieten. Zwei Streifenwagen der Polizei, Mercedes-Benz E 220 CDI-T-Modelle in silber-blauer Kontrastfarbe mit neuer gelb fluoreszierender Klebefolie hatten angehalten, und die Beamten waren ausgestiegen. Dahinter parkte der kantige schwarze VAN von Kriminalhauptkommissar Sepp Donner.

»Ich möchte jetzt nur eines von Ihnen wissen, Freund Shorty«, sagte ich und fixierte ihn erneut mit meinem Stare-Down-Blick:

»Wer ist dieser Tote?«

Alberich Zwuggel beugte sich über die Waden der Ballleiche und taxierte sie.

»Nun ja«, begann er, »die typischen O-Beine von Fußballspielern. Das könnte jeder sein und hilft uns nicht weiter. Auch die Form. Durchtrainiert und muskulös. Nullachtfünfzehn. Ich schau mir daher zunächst die Beschaffenheit von Muskeln und Sehnen an.«

Vom Parkplatz her ertönte die Stimme Donners. Ich konnte seinen Sprachfehler noch nicht heraushören, erkannte aber den unwirschen Kommandoton und das Bellen seiner Vokale.

Alberich »Shorty« Zwuggel fuhr in seinen Ausführungen fort: »Die Ausprägung des vorderen Schienbeinmuskels deutet nicht gerade auf einen Stürmer hin.«

Donners Befehle hallten über den Platz, und eine Handvoll Streifenbeamte kam Richtung Sportplatz gelaufen.

»Leider kann ich die Muskeln auf der Wadenseite nicht erkennen«, murmelte Zwuggel jetzt. »Die Streckersehnen hingegen ragen über den Schuhschaft hinaus, das weist auf eine häufige Sprungtätigkeit hin.«

»Und was heißt das?«, fragte ich.

»Das ist ein Keeper!«, kam es im Brustton der Überzeugung. »Der Mann hat im Tor gestanden!«

Ich schwieg verblüfft. Der Mann verstand sein Geschäft! Die Streifenbeamten teilten sich in zwei Doppelstreifen. Die eine Hälfte näherte sich den Zuschauern, die immer noch in der Gruppe beisammenstanden, die andere Hälfte hielt auf uns zu. Zwuggel dachte weiter laut:

»Im erweiterten Kader der deutschen Nationalmannschaft stehen drei Keeper. Die Beine der drei unterscheiden sich durch Hautfarbe, Form, Stellung, Hautbeschaffung und Behaarung.«

Die beiden Streifenbeamten, die sich uns näherten, waren auf Rufweite herangekommen. Inzwischen parkte auch das Fahrzeug der Spurensicherung auf dem geschotterten Platz.

»Hallo, was machen Sie da?«, hörte ich einen der Polizisten rufen. Dr. Smrt ging den Beamten entgegen, und ich beeilte mich, noch die letzte Auskunft von Zwuggel zu bekommen.

»Hm«, machte er und schüttelte den Kopf, »die behaarten Knie und die Formen der Kniescheiben. Ich wette, der trägt weder die Rückennummer 1 noch 22!«

»Mann, Zwuggel, mach’s nicht so spannend!«, stöhnte ich und beobachtete, wie Dr. Smrt besänftigend auf die Polizisten einredete, um mir noch ein paar Minuten Zeit zu verschaffen. Doch unten am Parkplatz hatten sich die Kriminaltechniker ihre Einmal-Overalls mit Kapuze und dem schwarzen Aufdruck »Polizei« bereits übergezogen und machten sich mit Spurensicherungskoffer, rot-weißem Absperrwarnband und Kreidemarkierspray auf den Weg zum Tatort, sprich: zu uns. Gefolgt vom Ersten Kriminalhauptkommissar und Leiter der Kriminalinspektion 1, Sepp Donner.

»Entweder ›Shorty‹ oder Herr Zwuggel!«, monierte der Gorilla, der Fußballspieler an ihren Beinen erkannte.

»Jetzt spielen Sie nicht die beleidigte Leberwurst«, flehte ich und senkte meine Stimme zu einem Flüstern. »Sie sagen mir jetzt sofort, wer der Tote ist, und danach behalten Sie diese Information bitte für sich. Kein Wort, zu niemandem, verstanden?«

Er nickte eingeschüchtert.

»Auch, wenn Sie andere Polizisten danach fragen!«, mahnte ich im Anblick des Donners, der in Kürze hier grollen würde. »Sie schweigen wie ein Grab!«

»Und warum?«, fragte er kleinlaut.

»Aus ermittlungstaktischen Gründen«, raunte ich mit der flüsternden Columbostimme, die keinen Widerspruch duldet. »Es gibt überall Schwarze Schafe, auch bei uns«, sagte ich und deutete auf die Gruppe von Streifenpolizei, Spurensicherung und Donner, die jetzt mit Dr. Smrt zu uns herüber kam.

»Also, rasch!«, zischte ich.

»Es ist der Neue im Kader. Erst kürzlich nominiert. Toller Keeper. Hat noch keinen reingelassen.«

»Sein Name!«

Smrt und Donner waren jetzt so nah, dass ich ihre Stimmen unterscheiden konnte. Donners hohe, krächzende Stimme quietschte wie ein halbfeuchter Putzlappen, der über eine trockene Glasscheibe wischt. Genau die Frequenz, die bei mir unmittelbar Zahnweh erzeugt, weil sie exakt den sirenenartigen Ton des Zahnarztbohrers trifft. Die Kriminaltechniker hatten inzwischen angefangen, den Sportplatz abzusperren. Donner winkte uns zu, den Tatort zu verlassen.

Alberich Zwuggel richtete sich zu seiner vollständigen Größe auf und holte tief Luft.

»Ich wette, das ist die Leiche von Gutwart Pfost.«

»Gutwart Pfost?«

»Ja. Der neue Keeper im erweiterten DFB-Kader. Wetten, dass …?

Smrt & Sepp

Nachdem Sie die Ballleiche ja nun kennengelernt haben, möchte ich meinen geneigten Leser zunächst mit zwei weiteren Protagonisten dieser Geschichte näher bekannt machen: meinem Freund und Förderer und meinem schlimmsten Konkurrenten. Schon bei meinem ersten Fall waren sie als Doppelpack von unschätzbarem Wert für meine lückenlose Aufdeckung des Falles, und so hoffte ich voll Zuversicht auch jetzt wieder auf ihre tatkräftige Unterstützung.

Die Rede ist von Doktor James Smrt, Notarzt, Pathologe und Bestattungsunternehmer in Personalunion, den ich immer noch ehrfurchtsvoll sieze, und dem ebenso gefürchteten wie geachteten Leiter der Kriminalinspektion 1, nämlich deren Erster Kriminalhauptkommissar (da es keinen zweiten gibt), Sepp Donner, der mir bei unserem ersten gemeinsamen Fall in einem Augenblick der Unachtsamkeit leichtsinnigerweise das Du angeboten hatte.

Dabei verlief unsere erste Begegnung, verbunden mit unserem Kennenlernen, damals auf dem Männerklo des Tatorts nicht zu meinen Gunsten. Der in mehreren Ehen ergraute Bulle – ich erfuhr später, dass er kurz vor der dritten Scheidung stand – hatte offensichtlich schlechte Laune gehabt und von Amtsanmaßung, Ämtermissbrauch und Freiheitsberaubung gesprochen, nur weil ich, der ich auch damals als Erster am Tatort war, veranlasst hatte, dass der Saal, auf dessen Konzertbühne sich ein Mord ereignet hatte, abgeschlossen worden war und niemand die Halle verlassen konnte.

Doch sein »S«-Fehler, der klang, als ob seine Oberkiefervorderzähne sich über die Unterlippe stülpten, hatten ihn mir schon damals richtig sympathisch gemacht. Statt »Z« brachte er nur ein »Tf« heraus, und jedes »S« klang wie ein »F«.

Sein trockenes »Fo, fo!«, mit dem er so oft meine ermittlungstechnischen Erfolge kommentierte, klang mir noch heute in den Ohren.

»Soso, der Zufall, sieh mal an!«, hörte ich ihn sagen, als er jetzt neben Dr Smrt auf mich und Alberich Zwuggel zuschritt.

Hatte ich mich verhört? Hätte er nicht »fo fo«, »Tfufall« und »fieh mal an!«, sagen müssen?