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Erinnern Sie sich noch an die Helden und starken Frauen der alten Sagen? Sie prägten unser Gefühl für Gut und Böse und halfen uns das Unfassbare zu verstehen. Die Gestalten aus der nebulösen Vergangenheit können auch heute noch zur Aufklärung eines Verbrechens beitragen oder vor zukünftigem Unheil warnen. Hauptsache, sie geraten nicht in Vergessenheit und wir nutzen ihr Wissen. Denn was treibt die ’Weiße Frau’ auf den Bahnübergang in Wittenberg? Während ihre Kollegin in Ostfriesland auftaucht … Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie unsere 20 neuen Kriminalfälle, die zwar – wie gewohnt – böse sind, aber nicht immer tödlich enden.
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Seitenzahl: 281
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Sagenhaft böse
teilweise tödlich Band 5
Kurzgeschichten
Martina Schiller-Rall und Roland Blümel (Hrsg)
Erstausgabe im September 2019
Alle Rechte beim Verlag
Copyright © 2019
Fehnland-Verlag
26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
Coverdesign: Tom Jay
Lektorat: Roland Blümel
Vorwort der Herausgeber
Rache für Klaus Störtebeker
Roland Blümel
Der Pakt
Ulrike Braune
Wolfsmann
Theo Brohmer
Unverhofft kommt oft
Geli Grimm
Richtig gutes Zeug
Sabine Gröne
Die Weiße Frau Zwei Punkt Null
Sabine Hennig-Vogel
Der Mönch und das Mädchen
Alva Henny
Schnee auf Spiekeroog
Helga Jahnel
Luderplatz
Eckard Klages
Frau Boll verschwindet
Michael Kracht
Wie ein Schmetterling im Spinnennetz
Svetlana Negro
Der Geist der Hebamme
Sabine Petersen
Zum Henker
Martin Schörle
Kreuzritter der Wandersleut´
Martina Schiller-Rall
Des Teufels Tisch
Gabriele Steininger
Der Vampir von Brooklyn
Rubi Stephens
Im Cockpit mit Urd
Andrea Storm-Eidam
Wer ihr aber spottet
Franjo Terhart
Der wahre Kern im Laboer Berg
Katinka Weisenheimer
Engel des Todes
Stephanie Zibell
Ankündigung
Bereits zum fünften Mal findet sich die Autorengruppe Tödlich zusammen und mordet oder raubt sich durch kurzweilige Geschichten, dieses Mal zum Thema »Sagenhafte Böse«. Sagengestalten, Berggeheimnisse, mystische Wälder, Wolfsmenschen, Vampire und ein Pirat tauchen in den Geschichten der 20 Autoren und Autorinnen auf. Das bietet Raum und Material für findige Kommissare, schnapstrinkende Patientinnen, agile Wandersleut’ und natürlich interessierte Leser.
Begeben Sie sich in die Welt der Verbrechen und überlegen: Gibt es zu jeder Geschichte einen erklärbaren Hintergrund? Scheint das eine oder andere Märchen dahinter doch einen wahren Kern zu besitzen? Oder ist alles zusammen nur Fiktion. Nach Tradition sind die Geschichten natürlich wieder nur teilweise tödlich!
Viel Freude beim Lesen wünschen die Komplizen der Autorengruppe Tödlich.
Mit einem gezielten Hieb trennte er den Kopf vom Körper und steckte Rumpf und Kopf in seine große Tasche. Die Terrassentür ließ sich leicht aufhebeln. Der Mann mit der Augenklappe grinste, als er die Tür aufschob und das vollgestopfte Wohnzimmer betrat. Im Haus stank es förmlich nach Reichtum. Er hatte beobachtet, wie sie die Wohnung verlassen hatten, um irgendwohin zu fahren. Er hoffte nur, dass sie sich und ihm Zeit lassen würden.
Lautlos stieg er die Treppe hoch, wo sich nach seiner Vermutung Schlafzimmer und Arbeitszimmer des reichen Paares befanden. Richtig, da war das Schlafzimmer. Er konnte sein Glück kaum fassen. Die Dame des Hauses hatte anscheinend diverse Schmuckstücke ausprobiert, bevor sie sich entschieden hatte. Zum Wegräumen war keine Zeit mehr geblieben. Da würde er der Dame helfen.
Im Arbeitszimmer des Gatten hatte er bereits nach wenigen Sekunden die Schubladen aufgebrochen. In einer davon entdeckte er ein Bündel Geldscheine. Lächelnd steckte er es auch ein. Ohne große Eile ging er hinunter, öffnete seine Tasche und hinterließ seinen Gruß: Eine Piratenpuppe mit abgeschlagenem Kopf und einen kleinen Zettel mit der Aufschrift »Schönen Gruß, Rache für Klaus Störtebeker«.
»Unser Freund hat wieder zugeschlagen.« Kommissarin Cornelia Schubert knallte den Bericht ihrem Kollegen Hans Weller auf den Tisch.
Der Kommissar blickte von seinem Bildschirm hoch. »Unser Pirat?«
Sie nickte. »Ganz genau: der neue Klaus Störtebeker.«
»Das war jetzt seine achte Tat?«
»Seine neunte, genau genommen. Der Kerl tanzt uns auf der Nase rum. Er hinterlässt keine Spuren, nur sein geköpftes Piratenpüppchen und einen Hinweis auf Klaus Störtebeker.«
»Und man weiß nicht, woher er diese Puppen bekommt?! Dass er nicht langsam genug hat. Da ist einiges zusammengekommen. Wofür braucht er so viel Geld?«
Cornelia Schubert schüttelte erst den Kopf und nickte dann. »Nein und Ja.« Sie trank einen Schluck ihrer Apfelschorle. »Nein, woher er diese Puppen hat, haben wir noch nicht herausbekommen. Wir suchen intensiv weiter. Aber das Geld scheint er nicht alles für sich zu behalten. Gerade hat sich eine Hartz-4-Empfängerin gemeldet, dass sie in ihrem Briefkasten einen Umschlag mit 1.000 Euro gefunden hat. Und einen Gruß von K.S.«
»Klaus Störtebeker!« Er sah seine Kollegin erstaunt an. »Der beklaut reiche Leute, um es an Bedürftige zu verteilen?!«
»So sieht es aus. Und das ergibt für mich die Fragen: Woher weiß er, wer wann zuhause ist? Und viel wichtiger: Woher weiß er, wer Hartz-4-Empfänger ist?«
»Gute Frage: Der Mann muss recht gut informiert sein oder gut beobachten können. Wissen wir noch von mehr Leuten, denen er etwas hat zukommen lassen?«
»Bisher nicht. Die meisten werden sich nicht melden, wenn er ihnen etwas gibt. Und sie werden hoffen, dass wir ihn nicht so schnell schnappen.«
»Vielleicht klappern wir mal ein paar Obdachlosentreffs ab. Möglicherweise war er da ja auch schon.«
»Du kannst richtig gute Ideen haben«, sagte sie lachend. Weller boxte sie in die Seite.
»Ganz schön frech, junge Frau.« Sie nahmen sich ihre Jacken und machten sich auf den Weg.
Wie der Pirat herausgefunden hatte, gab es in der City Nord, dort wo größere Firmen ihren Sitz hatten, verödete Bereiche, in denen sich Obdachlose niedergelassen hatten. Er fuhr gegen Abend, wenn die meisten Firmenangehörigen Feierabend gemacht hatten, mit seinem Wagen dorthin. Vor Ort angekommen stieg er aus, stülpte sich seine Piratenmaske über, griff sich seine Tasche und blickte sich suchend um.
Hinter einer Art Fußgängerzone, die bereits sehr heruntergekommen war, entdeckte er einige Personen, die sich zur Nachtruhe niedergelassen hatten. Der »Pirat« näherte sich der Gruppe, schwenkte seine Tasche und rief halblaut:
»Hallo Freunde, ich habe hier etwas für euch.«
Einer der Männer, der anscheinend der Anführer der Gruppe war, zuckte zusammen und erwiderte: »Was willst du? Wir haben nichts.«
»Noch nicht, aber gleich.« Der Pirat öffnete seine Tasche, nahm ein Bündel mit Geldscheinen heraus und wedelte damit.
»Einen schönen Gruß von Klaus Störtebeker und den reichen Hamburgern.«
»Ich denke, Klaus Störtebeker ist schon lange tot.« Der Mann sah den Piraten verdutzt an.
»Ich bin der neue Störtebeker. Ich nehme es den Reichen und gebe es den Armen.«
Mit den Worten warf er dem Mann das Bündel zu. »Aber schön teilen und nicht alles versaufen, hörst du?«
Der Obdachlose konnte das Geld nicht fangen, bückte sich danach und starrte fassungslos darauf. »Das sind bestimmt …«
»Das sind genau 1.500 Euro. Ich wünsche noch einen schönen Abend.« Er drehte sich um und verschwand. Die Obdachlosen blickten ihm staunend hinterher.
»Es gibt doch noch Menschen hier in der Stadt. Männer schaut mal. Echtes Geld.«
»Was machen wir damit?«
»Erst mal feiern«, antwortete ein anderer. »Wir gehen zur Bude und kaufen richtig ein«, schlug er vor, was begeisterte Zustimmung fand.
Die Männer rappelten sich auf, um zum nahegelegenen Supermarkt zu gehen, als ihnen zwei Personen entgegenkamen, eine Frau und ein Mann.
»Wo soll es denn hingehen?«, fragte der Mann.
»Einkaufen und feiern«, antwortete der Anführer der Obdachlosen.
»Was gibt es denn zu feiern?«
»Sterntaler«, erwiderte der Mann und die anderen brüllten vor Lachen.
»Geld vom Himmel gefallen?«, fragte der Mann.
»So ungefähr.« Der Obdachlose grinste.
»War Klaus Störtebeker hier?«
»Bei dir auch?«
»Nein, aber wir suchen ihn. Kommissare Schubert und Weller. Meine Herren, dann begleiten Sie uns zur Dienststelle. Wir hätten da ein paar Fragen. Conny, rufst du mal Verstärkung«, bat er seine Kollegin, die sofort zu ihrem Telefon griff.
»Sch…, ich wusste gleich, dass das Ärger gibt«, raunte einer aus der Runde. »Die Feier können wir wohl knicken.«
»Bei uns können Sie mit Kaffee oder Tee feiern«, erwiderte Weller. »Und zumindest haben wir es bei uns warm.«
Laut murrend stiegen die Obdachlosen in die Polizeiwagen, nachdem die angeforderten Kollegen eingetroffen waren. Um zu flüchten, waren sie zu angetrunken. »Wie gewonnen so zerronnen«, stöhnte einer, als sie losgefahren waren.
Wellner grinste seine Kollegin an. Schon der dritte Treff, den sie besucht hatten, war ein Erfolg. Nur hatten sie hier den Piraten leider knapp verpasst.
»Besonders gesprächig waren die Herren ja nicht gerade«, seufzte Weller, als sie einige Zeit später mit der Befragung der Obdachlosen durch waren.
»Was hast du erwartet?«, fragte Kommissarin Schubert. »Für die ist er ein Wohltäter, der ihnen Geld zusteckt. Von daher haben sie kein Interesse, dass wir ihn fangen.«
»Ja, so eine Art Robin Hood oder eben Klaus Störtebeker. Unser Freibeuter beraubt reiche Leute und schenkt es Bedürftigen. Hat Störtebeker das eigentlich auch gemacht? Aber ob er wollte, dass die Männer seine Kohle gleich verflüssigen?«
»Keine Ahnung. Aber da sie sich mit dem Geld gerade aufmachen wollten, als wir kamen, war er wohl kurz zuvor da.«
»Das ärgert mich am meisten.« Weller schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wir müssen den Kerl ganz knapp verpasst haben.«
»Ruhig, Brauner.« Cornelia Schubert strich ihm beruhigend über den Arm. »Wir werden ihn schon noch bekommen.«
»Hoffentlich. Langsam werden die Leute hier in der Stadt unruhig, gerade die in den reichen Stadtvierteln.«
»Klar, aber was sollen wir tun? Die Stadt ist zu groß, um überall vor Ort zu sein.«
»Wir können ja auch mal Glück haben.«
»Feierabend!«, verkündete sie.
»Dein erster geistreicher Vorschlag.« Sie packten zusammen und hofften auf einen ruhigen Abend.
Das war ein befriedigendes Gefühl, die Reichen zu bestehlen und das Geld an die Bedürftigen weiterzugeben, zumindest das, was er selbst nicht brauchte. Denn er empfand sich selbst als jemand, der zu wenig davon hatte. Es war schon erniedrigend, immer wieder um Geld betteln zu müssen, seit er seine Lehrstelle verloren hatte.
Ich hole mir nur das, was mir zusteht, nehme es denen, die zu viel davon haben und gebe es denen, die wie ich nichts haben, sagte er zu sich selbst. Berauscht von seiner Selbstlosigkeit beschloss er, heute Nacht noch einmal zuzuschlagen. Die Elbchaussee war dafür eine gute Adresse. Zwar hatte er nicht wie üblich vorher ein paar Tage die Bewohner nach deren Gewohnheiten ausgespäht. Aber bisher hatte er immer Glück gehabt. Er würde schauen, in welchem Haus kein Licht brannte und dort einsteigen.
Drei unbeleuchtete Häuser lagen direkt nebeneinander. Er beschloss, das mittlere davon zu nehmen. Dabei bestand die geringste Gefahr, beobachtet zu werden. Inzwischen hatte er schon eine gewisse Routine darin, Terrassentüren aufzubrechen, und so gelang es ihm auch dieses Mal. Es kostete es ihn keine zwei Minuten und er stand im Wohnzimmer.
Bevor er das Haus durchsuchte, schlug er wie üblich seiner Piratenpuppe den Kopf ab und steckte Rumpf und Kopf in seine Tasche. Dann knipste er seine Taschenlampe an und streifte durch die Zimmer. Im Erdgeschoss schien nichts Kostbares zu sein, also stieg er lautlos die Treppe in den ersten Stock hoch.
Er öffnete eine Tür, anscheinend war dies das Arbeitszimmer. Ein großer Schreibtisch stand am Fenster. Er öffnete die Schubladen. Kein Geld! Mist, dann gab es vielleicht irgendwo im Haus einen Tresor oder sie hatten alles im Schlafzimmer. Vorsichtig schlich er durch den Flur und öffnete eine weitere Tür. Sein Blick fiel auf das Bett und vor Schreck zuckte er zusammen. Da bewegte sich etwas, es war doch jemand zuhause.
Die Person hatte ihn bemerkt und schrie auf. Der Pirat hastete auf die Frau zu, packte sie und hielt ihr den Mund zu.
»Leise«, zischte er. »Dann passiert Ihnen auch nichts. Wo ist das Geld?«
Die Frau sah ihn aus vor Schrecken geweiteten Augen an und zitterte. Er zog die Hand von ihrem Mund und wiederholte die Frage. »Wo ist das Geld?«
»Im Tresor«, stammelte sie.
»Wo ist der und wo ist der Schlüssel?«
»Der ist im Wohnzimmer hinter dem Bild und hat eine Zahlenkombination.«
»Welche?«
»Ich weiß es nicht, die kennt nur mein Mann.«
»Wo ist der?«
»Auf Dienstreise?«
»Mist. Wo sind dein Bargeld und Schmuck?«
»Bitte tun Sie mir nichts«, flehte sie.
»Wenn du keine Zicken machst, dann passiert dir nichts. Also, wo?«
»Mein Schmuck ist da im Schrank und mein Geld ist in meiner Handtasche, aber das ist nicht viel.«
»Ausziehen!«, befahl er und die Frau zögerte.
»Ich will nichts von dir, aber mit deinem Nachthemd kann ich dich schön anbinden, damit du keine Dummheiten machst.«
Die Frau zog ihr Nachthemd aus, der Pirat nahm zwei Krawatten des Mannes aus dem Schrank und fesselte sie damit. Dann ging er zum Schrank, stopfte den Schmuck in seine Tasche und legte den Piratenkörper und seinen speziellen Gruß von Klaus Störtebeker auf den Nachtschrank.
»Ich wünsche noch eine angenehme Nachtruhe«, verabschiedete er sich grinsend. Im Erdgeschoss fand der die Handtasche der Frau. »52 Euro und ein paar Cent«, knurrte er. »Das hat sich ja nicht gerade gelohnt.«
Lautlos schlüpfte er aus der Terrassentür und fluchte leise. Das wäre beinahe schiefgegangen und der Ertrag war kümmerlich. Für seinen nächsten Bruch würde er sich besser vorbereiten müssen.
Weller saß beim Abendessen mit seiner Frau Ute und der Tochter Lena. Der »Piratenfall« war auch heute wieder Gesprächsthema.
»Langsam müssen wir den Kerl schnappen, sonst machen wir uns lächerlich.« Weller schüttelte den Kopf und biss herzhaft in sein Salamibrot.
»Aber der Mann nimmt doch nur denen was weg, die sowieso zu viel haben«, protestierte Lena. »Und dann gibt er es denen, die nichts haben.«
»Lena, der Mann ist ein Dieb und ob es bei denen gut aufgehoben ist, die es dann vertrinken, wage ich zu bezweifeln.« Genervt blickte er seine Tochter an, die trotzig die Arme vor der Brust verschränkte.
»Sebastian findet auch, dass dieser Pirat etwas Gutes tut«, erwiderte sie.
»Mag ja sein, dass Ihr jungen Leute, dein Freund und du, das gut finden. Aber meine Aufgabe ist es eben, Diebe zu schnappen und dafür zu sorgen, dass sie ihre gerechte Strafe bekommen.«
»Doof!« Lenas Gesicht war ein einziger Vorwurf. Ihre Mutter versuchte zu vermitteln.
»Kind, dein Vater hat recht. Wenn jeder das so machen würde, dann…«
Sie wurde von Wellers Telefon unterbrochen. Die Freude auf einen geruhsamen Feierabend platzte in Sekunden. Eine kurze Nachricht, dass ihr Piratenfreund wieder zugeschlagen habe, beendete Wellers Hoffnung auf einen Schlag.
Als er gemeinsam mit Cornelia Schubert am Tatort eintraf, wurden sie bereits von einem Streifenbeamten und der Spurensicherung erwartet. Die Frau des Hauses saß in der Küche und zitterte immer noch, als die Kommissare an sie herantraten.
»Ich dachte, der bringt mich um«, begann sie mit belegter Stimme, nachdem die Kommissare gegrüßt und sich vorgestellt hatten. »Das war dieser Pirat, der hatte eine Augenklappe. Oh, was war das für ein Schreck.«
»Eine Augenklappe?«, fragte Weller. »Das heißt, Sie haben den Rest seines Gesichtes gesehen?«
Die Frau nickte. »Ja, der hatte nur eine Klappe über dem einen Auge.«
»Können wir dann mit Ihrer Hilfe ein Phantombild erstellen?« Aus Wellers Stimme sprach Hoffnung, dem Piraten auf die Schliche zu kommen.
»Ich denke schon.« Die Frau nickte.
»Sehr gut, dann nehmen wir Sie gleich mit aufs Präsidium, okay?«
Wieder nickte sie.
Zwei Stunden später war das Bild fertig. Die beiden Kommissare betrachteten es zufrieden.
»Das ist ja fast wie ein Foto. Erstaunlich, dass sich die Frau trotz des Schocks das Gesicht so genau eingeprägt hat.« Weller nickte anerkennend, während seine Kollegin vor ihrem Bildschirm saß und im Internet forschte.
»Was ist?«, fragte er, als er sah, dass sie die Stirn runzelte.
»Ich habe ihn«, verkündete sie.
»Echt?« Weller stand auf, blickte auf ihren Bildschirm und stutzte.
»So ein Mist«, entfuhr es ihm.
»Tja«, erwiderte Schubert und musste unwillkürlich schmunzeln. »Es gibt schon ganz schön lebensechte Piratenmasken.«
»Dann haben wir also wieder nichts.«
»Vielleicht findet die Spurensicherung ja dieses Mal etwas.«
»Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich glaube, ich will jetzt nach Hause.«
»Zweiter Versuch, aber für diese Nacht war es das wohl jetzt mit unserem Piraten.«
Die nächsten Tage blieb es ruhig, aber die Kommissare hatten nicht die Hoffnung, dass der Pirat aufgehört hatte, reiche Bewohner zu bestehlen. Und tatsächlich erhielten sie eine Woche später abends einen Anruf. In Blankenese war ein Einbruch gemeldet worden. Offenbar hatte der Täter die Alarmanlage übersehen.
Schubert und Weller fuhren zu der angegebenen Adresse, wo zwei Streifenbeamte auf sie warteten.
»Hallo Kollegen, wie sieht´s aus?«, fragte Weller im Flüsterton.
»Es kann gut sein, dass er noch drin ist. Im ersten Stock war der Schein einer Taschenlampe zu sehen, als wir gekommen sind. Wir haben nicht gesehen, dass seitdem jemand aus dem Haus gekommen wäre.«
»Das klingt gut.«
»Sollen wir reingehen oder warten, bis er rauskommt?«, fragte der Polizist.
Die beiden Kommissare wechselten einen kurzen Blick.
»Wir gehen rein«, entschied Weller und gab seiner Kollegin ein Zeichen.
»Ihr bewacht den Ausgang, damit er uns auf keinen Fall entwischt.«
Der Polizist hob den Daumen. Die beiden Kommissare schlichen um das Haus und standen vor der Terrassentür, die der Täter aufgehebelt hatte. Langsam schob Weller die Tür auf. Schubert hielt den Atem an und folgte ihm.
Auf dem Wohnzimmertisch lag eine Piratenpuppe mit abgeschlagenem Kopf. Daneben der bekannte Gruß von Klaus Störtebeker.
Jetzt haben wir dich, dachte Weller und zeigte auf die Hinterlassenschaft des Piraten. Schubert nickte. Die beiden schlichen zur Treppe und blickten nach oben. Es war still im Haus, zu still. Langsam stieg der Kommissar die Stufen nach oben und gab seiner Kollegin ein Zeichen, dass sie unten bleiben und auf die Kellertür achten sollte, falls sich der Räuber dort aufhielt.
Oben angekommen lauschte er. Nach wie vor war nichts zu hören. Sollte der Störtebeker-Verschnitt schon wieder fort sein? Der Kommissar blickte in jedes Zimmer. In einem Raum war eine Schreibtischschublade aufgebrochen. Offensichtlich hatte der Pirat gefunden, wonach er gesucht hatte, denn die Geldkassette war offen und leer.
Weller wollte sich gerade umdrehen, als er von hinten gestoßen wurde und auf den Schreibtisch fiel. Er konnte gerade noch sehen, dass eine Gestalt aus der Tür huschte und die Treppe herunterstürzte. Mühsam rappelte er sich auf und lief zur Tür, als er von unten Gepolter hörte.
Conny, ging es ihm durch den Kopf. Hoffentlich ist ihr nichts passiert!
Er stolperte die Treppe nach unten und sah zu seiner Erleichterung seine Kollegin, die sich über eine Person beugte, die auf dem Boden lag und vor Schmerzen stöhnte.
»Alles okay bei dir?«, fragte Weller.
»Klar, bei dir auch?«, erwiderte sie und sah ihn ernst an.
Weller nickte. »Was ist passiert?«
Schubert grinste triumphierend. »Eigentlich wollte ich unseren Piraten ja köpfen, wie es Tradition ist. Und danach ein Bein stellen, wie es der Sage nach dem Herrn Störtebeker passiert ist.«
Sie beugte sich über den Mann, der am Boden lag.
»Aber dann habe ich es abgewandelt, ihm erst ein Bein gestellt und, statt ihn gleich zu köpfen, ihm nur eines auf den Kopf gegeben.«
Der Räuber hielt sich den Kopf und sah Schubert hasserfüllt an. »Das tut ganz schön weh, Sie blöde Kuh.«
»Oh Beamtenbeleidigung, das gibt noch eine Strafe obendrauf. Aber nun würden wir gern mal unseren jungen Klaus Störtebeker in natura sehen.« Schubert zog ihm die Piratenmaske vom Kopf, wobei der Pirat vor Schmerzen aufschrie.
»Also ich habe mir Piraten furchterregender vorgestellt, wobei ich natürlich nicht weiß, wie der »echte« Klaus Störtebeker aussah, wenn es ihn denn gegeben hat.« Conny Schubert lächelte.
»Aber gut, dann werden wir ihn mal in den Kerker werfen, damit er dort auf seine Hinrichtung warten kann«, nahm Weller den Ball auf, bevor er einen Blick auf den Mann warf. Plötzlich stutzte er.
»Sag mal, du bist das, Sebastian? Was hast du dir dabei gedacht?«
Cornelia Schubert sah ratlos von Sebastian zu Weller. »Du kennst den jungen Mann?«
Weller sah den Piraten immer noch fassungslos an. »Allerdings, er geht bei uns ein und aus. Das ist der Freund meiner Tochter.«
»Holy Shit«, entfuhr es der Kommissarin.
»Übrigens, deine Obdachlosen wollten die Beute verflüssigen. Ich denke, deine Hilfe ging zumindest bei denen in die falsche Richtung.« Weller beugte sich über den Räuber.
»Mist«, brummte der neue Störtebeker.
»Na dann aufstehen, du Pirat.« Weller zog ihn hoch. »Jetzt wirst du dann wohl erst mal auf Staatskosten vor Anker gehen. Eine Frage noch: Wusste Lena von deinen Beutezügen?«
Sebastian schüttelte den Kopf.
Vorsichtig drückte Hans den Türhebel nach unten. Dieser knarrte verräterisch. »Pscht!«, tadelte der junge Mann das Stück Metall. »Wir müssen doch leise sein! Oder willst du etwa, dass Lisbeth uns hört?«
»Ha!«, erklang eine Stimme neben ihm und ließ ihn zusammenzucken. »Ich habe dich schon gehört, als du draußen herumgestolpert bist«, erklärte seine Frau und zündete eine Kerze an.
Er lächelte verlegen.
»Warst du schon wieder im Wirtshaus?« Die Wut in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Wie kannst du nur immerzu dein Geld versaufen? Unser Geld! Weißt du überhaupt, wie schwer es ist, mit den paar Münzen zu wirtschaften? Und was macht mein feiner Herr Gemahl? Er geht ins Wirtshaus, betrinkt sich und verspielt auch noch den kläglichen Rest!«
»Manchmal gewinne ich auch …«, versuchte sich der junge Mann zu rechtfertigen und fing dafür eine Ohrfeige.
»Nur, um das Erspielte gleich wieder einzusetzen! Ich sollte dich hinauswerfen, wie einen räudigen Hund!«
»Lisbeth, mein Liebling …«, begann er und wollte nach ihrer Hand greifen. Sie schlug seinen Arm beiseite.
»Spar dir die Säuseleien!«, zischte sie, wandte sich um und ging zurück ins Bett.
Hans seufzte. Er hatte mit Vorwürfen gerechnet, nur nicht heute Abend und nicht so heftig. Im Grunde verstand er seine Frau sogar. Doch mit den Bergmännern zusammen zu sitzen, zu lachen und zu spielen, bedeutete ihm viel. Auch, wenn er sich das nicht ansatzweise leisten konnte.
Da er es nicht wagte, sich zu Lisbeth zu legen, streckte er sich vor der Glut der Feuerstelle aus und schloss die Augen. Wenigstens war es hier warm.
Als Hans am nächsten Morgen aufstand schlief sie noch, oder sie tat so, um einem Gespräch zu entgehen. Er legte die wenigen Münzen, die er vom Lohn noch in der Tasche trug, auf den Tisch und nahm sich dafür einen Kanten trockenes Brot. Das würde ihm für den heutigen Tag reichen müssen.
Mit einem letzten Blick auf seine schlafende Frau verließ er die Hütte und ging zur Schicht im Berg.
Die Arbeit an der Haspel half ihm kaum, sich von den trüben Gedanken abzulenken. Länger als sonst schien ihm die Zeit, bis der Korb gefüllt war und er den Männern an der Oberfläche das Signal geben konnte, damit sie ihn heraufzogen. Als endlich der Feierabend herangerückt war und er zurück ans Tageslicht kam, lag die Aussicht, nach Hause zu gehen und sich erneut vor seiner Frau rechtfertigen zu müssen, schwer auf ihm.
Seinem Freund Jakob, der sich ihm auf dem Heimweg angeschlossen hatte, entging das nicht. »Was ist los mit dir?«, fragte er ihn. »Du siehst aus wie sieben Tage Regenwetter.«
»Ich hatte Streit mit Lisbeth«, gestand Hans unumwunden.
Den Grund dafür brauchte er seinem Begleiter nicht zu erklären. Er schüttelte nur den Kopf. »Ich hatte dich gewarnt, diesen letzten Einsatz zu machen.«
»Aber ich hatte die ganze Zeit so eine Glückssträhne!«, rechtfertigte sich der Bergknecht. »Hätte ich gewonnen, hätte ich sogar meine Schulden abbezahlen können.«
»Hast du aber nicht«, erinnerte ihn sein Freund.
»Nein«, musste Hans zugeben. »Es scheint, als ob das Glück einen großen Bogen um mich macht.«
Der andere klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Sieh nicht gleich alles schwarz. Ich bin sicher, irgendwann kommt das Glück auch zu dir.«
Sein Begleiter nickte, doch konnte nicht so recht daran glauben.
»Ich muss hier abbiegen«, erklärte er kurz darauf. »Ich soll für Lisbeth ihre Bestellungen abholen. So knapp das Geld bei uns auch ist, dafür kann sie anscheinend immer etwas zusammenkratzen.«
Jakob grinste schief. »Ja, so sind sie, die Frauen.«
Sie verabschiedeten sich und Hans machte sich missmutig auf den Weg in Richtung Stadt.
Seit jeher hatte ihm Lisbeth solche Botengänge aufgetragen, doch in letzter Zeit häufte es sich. Dabei sehnte er sich nach einem langen Arbeitstag nur nach einer warmen Mahlzeit und Ruhe. Aber da er seine Frau nicht weiter verärgern wollte, widersprach er ihr in der Regel nicht und erfüllte ihre Wünsche. Zumindest war die Ware, die er holte, immer schon bezahlt. Gott allein wusste, wie sie das machte.
Ein plötzlicher Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Als Hans sich umsah, rauschte in dem Moment ein Schatten über ihn hinweg. Der Bergknecht warf sich auf den Boden. Erst allmählich traute er sich aufzusehen und erblickte einen großen Raben, der sich ganz in der Nähe auf dem Ast eines abgestorbenen Baums niedergelassen hatte. Das Tier saß seltsam regungslos, fast wie eine Statue.
Langsam und ohne den Vogel aus den Augen zu lassen, rappelte sich der junge Mann auf. Noch immer starrte der Schwarze auf einen fernen Punkt und schien ihn nicht zu bemerken.
Hans ging vorsichtig auf das Gehölz zu. Vom Baum war nicht mehr viel übriggeblieben: Ein hohler Stamm und zwei große Äste, die sich nach links und rechts streckten. Die Rinde war abgeplatzt und das helle Holz darunter glich einem ausgeblichenen Skelett.
Plötzlich drehte der Rabe ruckartig den Kopf und starrte ihn an. Hans erschrak und wich einen Schritt zurück. Der Blick der schwarzen Augen schien ihn zu durchdringen, bis ins Innerste seiner Seele zu reichen.
Der Bergknecht ging in die Knie, nicht fähig, sich von dem Vogel abzuwenden. Mit einem Krächzen erhob sich dieser in die Luft, nur um gleich wieder auf dem Stamm des Baums zu landen.
Hans bemerkte eine Öffnung im Holz direkt vor ihm. Eine kleine Kerze, ein Pfenniglicht, brannte darin und daneben befand sich eine Kiste, kaum größer als ein Brennscheit. Wer mochte das hier draußen, weit außerhalb der Stadt platziert haben?
Unsicher blickte er zum Raben auf, der ihn noch immer anstarrte. »Kann ich es mir mal ansehen?«, fragte er das Tier und kam sich gleichzeitig unglaublich dumm vor. Erwartete er etwa, dass es ihm antwortete?
Er schüttelte den Kopf und griff nach der Schatulle. Sie war nicht einmal verschlossen. Vorsichtig sah er sich um, doch niemand schien in der Nähe zu sein. Mit zitternden Händen öffnete er den Deckel. Der Mund blieb ihm offen, als er die Silbermünzen sah, die sich im Inneren befanden.
Unwillkürlich suchte er den Blick des Raben. Bildete er es sich nur ein oder nickte ihm der Schwarze zu? »Das … das ist für mich?«
Aufgeregt begann das Tier zu krächzen und mit den Flügeln zu schlagen.
»Natürlich!«, dämmerte es Hans. »Du willst eine Gegenleistung.«
Augenblicklich beruhigte sich der Vogel und sah ihn abermals durchdringend an.
Er überlegte fieberhaft. Was hatte er schon zu bieten?
Hektisch sah er sich um, als ihm der Hohlraum im Inneren des Stammes ins Auge fiel. »Ich zünde ein Pfenniglicht an«, schlug er vor. »Jeden Tag, wenn ich in den Berg fahre, zünde ich ein Licht für dich an.«
Wind kam plötzlich auf, der das Haar des Mannes und das Gefieder des Raben zerzauste. Dennoch rührte sich das Tier nicht und schien auf etwas Bestimmtes zu warten.
Hans konnte seinem Blick kaum noch standhalten. Der Wind nahm ihm die Luft zum Atmen. »Ich schwöre es!«, rief er aus lauter Verzweiflung in die stärker werdenden Böen hinein. »Ich schwöre es, bei meinem Leben!«
Mit einem Schrei breitete der Schwarze seine Schwingen aus und erhob sich in den Sturm. Hans klammerte sich an die Schatulle und beobachtete den Vogel, bis er in den Wolken verschwunden war.
Langsam flaute der Wind wieder ab. Was war hier gerade geschehen?
Das Pfenniglicht im hohlen Stamm hatte sich in Luft aufgelöst. Hätte es nicht die Kiste in seinen Händen gegeben, Hans hätte an seinen Sinnen gezweifelt.
Unsicher öffnete er abermals den Deckel. Die Menge der Silbermünzen war auf den ersten Blick nicht zu erfassen. Er war ein reicher Mann.
Der Gedanke brauchte eine Weile, um in die Tiefen seines Verstands vorzudringen. Er war reich! Er würde seine Schulden abbezahlen können und müsste nie wieder welche machen. Er würde ohne schlechtes Gewissen ins Wirtshaus gehen können und seiner Frau endlich ein besseres Leben bieten.
Ein leises Lachen drang aus seiner Kehle, das schnell lauter wurde. Seine Probleme waren mit einem Schlag gelöst. Er war reich!
Noch immer singend erreichte er die kleine Hütte. »Lisbeth!«, rief er schon von weitem. »Lisbeth, komm, das musst du dir ansehen!«
Wider Erwarten kam seine Frau nicht aus der Tür, sondern tauchte hinter dem Gebäude auf. Sie schien außer Atem und ihr Haar war zerzaust.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Hans besorgt.
»Ja, natürlich«, erklärte sie. »Ich habe nur gerade versucht, die Sträucher hinter dem Haus herauszureißen. Die stören mich schon seit langem …«
»Welche Sträucher meinst du?«, wollte ihr Mann wissen und versuchte, sich an ihr vorbeizuschieben.
Sie stellte sich ihm in den Weg. »Das spielt doch jetzt keine Rolle. Sag mir lieber, wo du meine Bestellungen hast.«
»Ich war nicht in der Stadt«, gestand Hans, sprach jedoch schnell weiter, damit sie ihm nicht erneut Vorwürfe machen konnte. »Aber ich habe etwas viel Besseres!«
Er drückte ihr die Schatulle in die Hand und beobachtete voller Vorfreude, wie sie den Deckel anhob.
Lisbeth schaute ungläubig zwischen den Münzen und ihrem Mann hin und her. »Ist das …? Aber wie …? Ich meine woher …?«, stammelte sie.
»Das ist schwer zu erklären: Da war dieser Rabe und der Baum, in dem ein Licht brannte …«
»Du hast doch niemanden umgebracht?«, fiel ihm seine Frau ins Wort.
»Nein!«, widersprach er heftig. Wie konnte sie ihm nur so etwas zutrauen? Dennoch hatte er Mühe, das Erlebte in Worte zu fassen.
Ein trockener Zweig knackte in der Nähe. Hans war sich sicher, dass das Geräusch von hinter der Hütte kam. Er starrte Lisbeth an. »Ist da jemand?«, fragte er halb an seine Frau, halb in den Garten gerichtet.
»Sei doch keine misstrauische Matrone!«, neckte sie ihn, beeilte sich jedoch, ihn in Richtung Tür zu ziehen. »Komm, ich koche dir drinnen eine schöne Suppe und du erzählst mir, was passiert ist.«
Einen Moment lang war Hans versucht, sich ihrem Griff zu entwinden und seinen Zweifeln nachzugehen. Als er aber ihr Lächeln sah, das sie ihm so lange schon nicht mehr geschenkt hatte, beschloss er, den Augenblick einfach zu genießen.
In den Wochen danach war Hans wie verwandelt. Statt des üblichen Gejammers über zu wenig Geld und den Streit mit seiner Frau, sah man ihn nun scherzend und lachend im Wirtshaus sitzen. Manchmal begleitete ihn Lisbeth sogar.
Unter den Bergleuten wurde darüber getuschelt, was diese plötzliche Veränderung ausgelöst haben könnte. »Er hat einen Schatz gefunden«, hieß es bei den einen. »Seine Frau hat reich geerbt«, vermuteten die anderen. Die meisten gönnten dem Bergknecht jedoch sein neues Glück und erklärten schulterzuckend: »Der Berggeist meint es gut mit ihm.«
Dafür sprach auch die Tatsache, dass Hans nun jeden Tag ein Pfenniglicht unter Tage anzündete. Manch einer tat es ihm sogar gleich, in der Hoffnung ebenfalls belohnt zu werden.
Hans und Lisbeth wirtschafteten vorbildlich mit ihrem unverhofften Reichtum. Hans blieb auch weiterhin im Berg und arbeitete an der Haspel. Sie kauften sich etwas Land, drei Kühe und kleinere Tiere. Sie hatten sogar noch ein paar Münzen übrig, die sie sicher verwahrten, denn nun konnten sie von ihrem Einkommen bequem leben. Wie der Bergknecht zu dem Schatz gekommen war, erzählten sie jedoch niemandem, um nicht den Neid der anderen zu wecken.
»Nun bist du ein gemachter Mann!«, bemerkte Jakob, als sie zum Stollnbier, einem Bergmannsfest, zusammensaßen. Er hob seinen Bierkrug und stieß mit Hans an.
»Scheint, als ob das Glück diesmal keinen Bogen um mich gemacht hat«, erwiderte sein Freund lachend und leerte seinen Becher.
Der andere beobachtete ihn genau. »Wie bist du nur zu dem vielen Geld gekommen?«
Hans wischte sich den Schaum vom Mund. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht darüber reden will.« Er rülpste geräuschvoll.
Sein Begleiter ließ sich damit nicht abspeisen. »Es wird erzählt, dass es mit einem Vogel und einem Baum zu tun hätte.«
Das Lächeln des anderen erstarb. »Wer sagt so etwas?«
»Also ist es wahr?«
In diesem Moment tauchte eine Gruppe Bergmänner bei ihnen auf. »Hans, mein Guter, komm spiel‹ mit uns!«, forderte ihn einer auf. »Das heißt, wenn dich die lächerlichen Summen noch reizen, die wir auf den Tisch legen.«
Glücklich über die Möglichkeit, dem Verhör seines Freundes zu entkommen, stimmte der Bergknecht zu. Er holte sich ein weiteres Bier und setzte sich zu den anderen.
Jakob erhob sich ebenfalls und gesellte sich zu ihnen. Wenn Hans spielte, gab es stets etwas zu holen.
Spät in der Nacht führte Jakob seinen völlig betrunkenen Freund nach Hause. Es war wieder einmal ein lohnender Abend gewesen. So reich Hans jetzt auch sein mochte, beim Würfelspiel fiel er wie eh und je auf die alten Tricks herein. Aber das sollte Lisbeth bei ihrem jetzigen Einkommen nicht mehr stören.
»Ich könnte wetten …«, lallte Hans, »ich bin mir sicher …« Er stoppte und musste kurz verschnaufen.
Der andere zog ihn vorwärts. »Komm weiter, mein Guter. Bis nach Hause ist es noch ein Stück.«
Ungelenk setzte sich der Bergknecht in Bewegung. Erst nach einer Weile griff er seinen Gedanken wieder auf. »Weißt du … ich denke, da bescheißt mich einer.«
»Wie meinst du das?«, fragte Jakob und zog seinen Freund zurück in die Mitte des Weges.
»Beim Würfelspiel«, erklärte Hans, »irgendwie verliere ich immer.« Er musste aufstoßen und sein Begleiter ging sicherheitshalber einen Schritt zur Seite. Doch der Betrunkene schüttelte sich nur und setzte seinen Weg fort. »Wie kann es sein, dass ich nie gewinne?«, philosophierte er weiter. »Ich meine jetzt, wo das Glück auf meiner Seite ist …«
Beinahe wäre er über eine der Wurzeln gestolpert, die den Pfad zu seiner Hütte säumten. Nur Jakobs rasches Eingreifen verhinderte seinen Sturz. »Du solltest dich lieber auf den Weg konzentrieren.«
Doch der Gedanke ließ Hans nicht los. »Da bescheißt mich einer …«, wiederholte er trotzig.
Sein Freund lachte. »Sei doch keine misstrauische Matrone!«
Der Bergknecht blieb stehen wie vom Donner gerührt.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, seufzte Jakob.
»Das hat Lisbeth auch gesagt … Am Tag, als ich den Schatz gefunden habe …«