SAHILA. Sein letzter Törn - Hawe Preters - E-Book

SAHILA. Sein letzter Törn E-Book

Hawe Preters

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Beschreibung

Bangladesch und Lüneburg. Der 28jährige Soziologe Christian lernt die angehende Juristin Sahila in Dhaka im Rahmen eines siebenmonatigen Projektaufenthalts kennen und lieben. Sie führt ihn in "Land und Leute" ein. Am Strand bei Chittagong sehen beide, wie ausrangierte Frachter verschrottet werden. Auch der Hamburger Reeder Dr. Oldsen, dem die Schifffahrtskrise zugesetzt hat, entsorgt dort einige seiner Schiffe. Wieder zurück in Deutschland treffen Christian und Dr. Oldsen zufällig in Lüneburg aufeinander.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 123

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Hawe Preters

SAHILA. Sein letzter Törn

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Titel

Handelnde Personen:

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Erklärungen

Impressum neobooks

Titel

Hawe Preters

SAHILA

Sein letzter Törn

Roman

Handelnde Personen:

Handelnde Personen:

Christian Friedrichs (Soziologe)

Sahila Zaman (Junge Juristin aus Bangladesch)

Klaus Fangohr (Schulfreund von Christian)

Dr. Heinrich Oldsen (Reeder)

Hans-Uwe Jensen (Reeder)

Manu(ela) Friedrichs (Christians Mutter)

Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Dhaka

Elisabeth Schachtmüller (Reeder-Witwe)

Eine Unfallzeugin

Konstanze Oldsen (Tochter)

Jutta Schneider (Nachbarin)

Herr Schwanewilms (Architekt)

Peter Wilhelms (Mitarbeiter von Dr. Oldsen)

Ein Malermeister

Eltern von Sahila Zaman

Ein Tourist

Schwester Ursel (DRK-Altenpflegerin)

Kapitel I

Kapitel I

Am 12. April machten sich zwei Männer auf den Weg von Hamburg nach Lüneburg in die dortige Straße ‚Auf dem Meere‘.

Christian Friedrichs hatte die Gepäcktasche für sein Fahrrad schon am Vorabend gepackt. Er brauchte ja nicht viel, im Lüneburger Elternhaus wartete die Mutter mit Essen und Neugier. Einige seiner Sachen waren noch dort, oben unterm Dach. Es sollte ein wunderbarer Frühlingstag werden.

Gegen halb acht radelte er von zuhause aus der Lübecker Straße los. Seit fast elf Monaten wohnte er dort, in der dritten Etage, inzwischen ganz allein in dieser Drei-Zimmer-Wohnung. Der Mitbewohner der kleinen Wohngemeinschaft war im Streit ausgezogen, der sich an der Frage entzündete, ob es nicht mehr Anstrengung und Engagement bedürfte, um aus Christians aktueller Arbeitslosigkeit rauszukommen. Seine bisherigen wenigen Stellen-Bewerbungen nach der Rückkehr aus Bangladesch waren abschlägig oder gar nicht beantwortet worden. Mit jeder enttäuschten Hoffnung war ein Stück Entschlossenheit und Wille versunken. Das morgendliche Aufstehen verschob sich in den Vormitttag, die verabredeten Aufgaben im gemeinsamen Wohngemeinschafts-Haushalt wurden vernachlässigt. Der Mitbewohner hatte irgendwann die Schnauze voll und warf Christian vor, gegen sich und andere gleichgültig zu sein. Christian versuchte in diesen Momenten zu beschönigen: Er sei „halt locker drauf“ und nehme sein „Schicksal eben gelassen hin“.

Aber immerhin verspürte Christian die eigene Lustlosigkeit und Unzufriedenheit und er suchte im fanatisierten Fahrradfahren einen körperlichen Ausgleich. Mit seinem alten Rennrad war er schon mehrfach hechelnd durch die Vier- und Marschlande gerast. Mit der Gepäcktasche hinterm Sattel ging es jetzt etwas gemütlicher zu, deshalb konnte der Blick auf die Landschaft länger verweilen. Die häufig zum Zopf gebundenen längeren blonden Haare trug er heute offen, so dass der leichte Fahrtwind und der sanfte, noch morgendlich etwas frische östliche Frühlingshauch die Haarsträhnen verwirbeln konnten.

In aufrechter Sitzposition radelte der große und hagere Christian gemächlich dahin, schaute immer mal wieder nach rechts oder links durch die stark getönte Sonnenbrille in die Gegend, indem er den Oberkörper auf fast neunzig Grad zur Seite drehte und dabei mal die eine Hand, dann die andere Hand vom Lenker nahm, wobei sich ein Hemdsärmel jeweils über einen der beiden knochigen Unterarme schob. Hin und wieder bauschte sich das weite, im Wind flatternde Hemd ein wenig auf, wodurch der Eindruck eines verkrümmten Rückens entstand.

Die männlichen Graugänse auf der Dove-Elbe prügelten sich noch immer um die adretteste Frau, obwohl die ersten Eier schon gelegt waren.

Über die Wiese auf der anderen Flussseite stolzierte ein einsamer Storch auf der Suche nach Nahrung. Gestern noch hatte sich Christian die aktuellen Bilder der NABU-Webcam angesehen, die das Storchenpaar auf einem Horst in Curslack rund um die Uhr beobachtet. Das Storchenpaar stand gemeinsam auf dem Nest. Beide klapperten sich an. Der Storch Fiete war dort schon am 8. März eingetroffen und seine Störchin Erna war ihm am 20. März gefolgt. „Immer wieder beeindruckend“, dachte Christian, „ein lebenslanges Liebespaar, das sich nach Monaten der Trennung immer wieder neu entdeckt!“

Der Weg führte Christian an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme vorbei und er musste und wollte einen Moment an damalige Gräuel und an heutige verbrannte Asylbewerber und Geflüchtete denken.

Die Zollenspieker Fähre erwartete ihn schon, musste vor der Überfahrt aber zunächst einen schwer mit Kohle beladenen Schüttgutfrachter aus Tschechien in Richtung Hamburger Hafen passieren lassen. Die sechs angehäuften Kohleberge drückten die Bordkante des Binnenschiffes bis fast zur Wasserkante und schienen den Blick von der Brücke bis vor den Bug zu versperren.

Südlich der Elbe wollte er den Weg über Winsen und Bardowick finden. In Bardowick, so stand es in der Zeitung, sollte es einen verrückten Storch geben, der häufig auf Autos einhackt und sie beschädigt. Deshalb sollte er ausgebürgert und vertrieben werden, indem über den alten Horst ein kleines Ziegeldach errichtet wurde, von dem neues Nistmaterial immer wieder runterrutscht. Wie viele Versuche würde man ihm wohl erlauben, fragte sich Christian.

Der optimale Sandboden vor Bardowick war bestens für den Spargelanbau geeignet, und obwohl die Spargelsaison schon eröffnet war, schienen die Spargelfelder menschenleer. Vielleicht war mit der Arbeit bereits frühmorgens begonnen worden, bevor die Sonne die Spargelköpfe ins Violette verfärben konnte.

Tatsächlich hatten sich auf einem Hofgelände mehr als ein Dutzend Männer und Frauen zu einem gemeinsamen Frühstück an einem langen Tisch versammelt. Christian fragte sich, ob es sich dabei um rumänische oder bulgarische SaisonarbeiterInnen handelte, die fürs Spargelstechen beschäftigt wurden. In den hölzernen Schuppen hinter der Umzäunung werden sie ihre vorübergehende Behausung gefunden haben, mutmaßte er. „Ob sie für die Unterkunftsmiete einen großen Teil ihres Mindestlohns berappen müssen?“

Kurz darauf erschien links die große Windmühle und etwas entfernt der mächtige Dom ‚St. Peter und Paul zu Bardowick‘. „Mein Gott, wie lange ist das her?“, fragte sich Christian, leise vor sich hin murmelnd. In der Grundschule in Lüneburg, vielleicht war er gerade acht Jahre alt geworden, also vor fast genau zwanzig Jahren, hatte die Lehrerin im Rahmen von Heimatkunde-Unterricht einen Klassenausflug nach Bardowick organisiert, zum Dom.

Dieser Klassenausflug hatte Christian stark beeindruckt, auch wenn er sich kaum an Einzelheiten erinnerte. Der Ausflug wurde ‚Wandertag‘ genannt, obwohl die Schulleitung in Absprache mit den Eltern eine Tour mit Fahrrädern wagte. Christians Mutter hatte fotografiert, wie sie alle neben ihren Rädern auf dem Schulhof standen. Erst vor wenigen Wochen hatte er das Foto im Album wieder neu entdeckt. Vierzehn achtjährige Mädchen und Jungen, kleine Kinder mit kleinen Rucksäcken neben kleinen Fahrrädern vor der großen Lehrerin. Christian hatte auf dem Foto nur Klaus wiedererkannt, Klaus Fangohr. Die Freundschaft, die damals begann, hielt bis heute an.

Die Klasse war von einem Polizisten durch die Stadt bis zur Ilmenau begleitet worden, dann ging es ohne Geleitschutz etwa sechs Kilometer auf dem von den Touristenverbänden so genannten ‚Ilmenau-Radweg‘ am Fluss mit dem historischen Treidelpfad hinunter bis nach Bardowick. Bei einer hölzernen Bank auf halber Strecke sollte die Gruppe eine Rast einlegen. Vor allem alle Mädchen suchten den Platz auf der Bank neben der Lehrerin, was zu einem mächtigen Gedränge führte, bis die Aufmerksamkeit auf ein größeres Kanu gezogen wurde, das von einem Außenbordmotor angetrieben flussaufwärts Richtung Lüneburg fuhr und mit mehreren lärmenden, Shantys grölenden Menschen besetzt war.

Christian hatte diesen Augenblick genutzt und sich recht eng neben die Lehrerin auf die jetzt ansonsten freie Bank gesetzt, doch die Lehrerin stand abrupt auf und bekräftigte das drängelnde Nörgeln von Klaus Fangohr – der schon zu Beginn der Rast mit „Is langweilig, wann geht’s endlich weiter?" nervte – mit lautem Ausruf: „Kinder, auf, wir wollen los!“

„Mal sehen, ob ich was wiedererkenne“, dachte Christian, „ist ja noch Zeit bis zum Treffen mit Klaus um 11 Uhr“. Er verließ die gewählte Route in Höhe der Windmühle, einem Galerieholländer von 1813, die nach umfangreicher Sanierung wieder im alten Glanz erschien und zur Besichtigung einlud. Kaum später radelte er am Dom vorbei, der sich trutzig neben ihm erhob. Sicherlich waren sie damals beim Wandertag auch innerhalb des Doms gewesen, aber Christian erinnerte sich nur an die Szene, als Klaus einen etwas größeren fremden Jungen, der ihnen aus Übermut oder aus Boshaftigkeit den Weg Richtung Chor mit dem aus Eiche geschnitztem Flügelaltar breitbeinig und mit den Worten „Frösche haben hier keinen Zutritt“ versperrte, mir nichts dir nichts ohrfeigte. Der Junge heulte auf und verdrückte sich wortlos in eine Bankreihe. Die Lehrerin hatte nichts gesehen.

Christian schien der einzige Zeuge dieses Vorfalls gewesen zu sein, jedenfalls erinnerte er sich nicht an Reaktionen anderer. Immer mal wieder, Jahre später und auch heute ploppte dieses Ereignis hoch. Und schon damals schwankte Christians Haltung dazu zwischen wortlosem Erstaunen, fragendem Erschrecken mit Unverständnis und schweigender Bewunderung. Diese Ambivalenz prägte seine Beziehung zu Klaus bis heute. Klaus – der Freund, der Macher und der Macker, während er sich als schüchternes Kind nicht einmal traute, alleine die Brötchen beim Bäcker zu bestellen.

Langsam radelte Christian an der Informationstafel vor dem Dom vorbei, so langsam, dass er einige Zeilen lesen konnte, in denen über Gipsquader vom Lüneburger Kalkberg im westlichen Unterbau der Türme informiert wurde und dass Heinrich der Löwe im Jahre 1189 den Ort zerstört hatte, wobei die Kirche stark beschädigt worden war. „So so“, grinste Christian, „Heinrich der Löwe zerstört den Ort, er so ganz allein“.

Wenig später, schon an der Ilmenau auf dem dortigen Radweg und nahe einer Schleuse wies eine weitere Informationstafel auf die Bardowicker Schifffahrts-Tradition hin. „Interessant“. Christian hielt kurz an. Er träumte sich von dort die Ilmenau hinunter bis zur Elbe und weit raus aufs Meer! Damals jedenfalls wurden Bardowicker Marktfrauen mit einem Boot bis zum Gemüse-Großmarkt nach Hamburg gebracht. Zur Dokumentation war ein vielleicht vor einhundert Jahren aufgenommenes schwarz-weiß Foto abgebildet, auf dem allerlei sicherlich buntes Gemüse in geflochtenen Körben von zwei großen aufrechten Frauen in dunkler, eng geschnürter Tracht mit breitrandigen, merkwürdig Zylinderähnlichen Hüten über den lächelnden Gesichtern angeboten wird.

Gegen den sanft fließenden Fluss radelte Christian die letzten Kilometer auf dem Treidelpfad dahin. Seine Gedanken schweiften zu Sahila, die er in Bangladesch kennengelernt hatte. Am Vorabend seines Rückflugs nach Deutschland waren beide noch einmal auf dem ruhigen Wanderweg am Banani-See in Dhaka entlang spaziert, für einen Moment weg von der lärmenden Hektik der Großstadt in diesen kleinen Park. Weder die hässlichen Hochhäuser auf der gegenüberliegenden Seeseite noch die wenigen Jogger hatten damals Christians warmes Gefühl vertrauter Gemeinsamkeit gestört. Das gleiche Gefühl spürte er jetzt. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Bald würde Sahila kommen, nur noch wenige Tage.

Sieben Monate, von Anfang November vor eineinhalb Jahren bis Ende Mai letzten Jahres war Christian im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bangladesch gewesen. Als Soziologe sollte er ein Projekt betreuen, das Fragen von Nachhaltigkeit beim wirtschaftlichen Wachstum beantworten sollte. Die Rate der Neuinfektionen mit Covid 19 in Bangladesch war seit Anfang August wieder rapide gesunken, so dass an dem sowieso schon intensiv vorbereiteten Projekt ab November festgehalten worden war. Dabei blieb es auch, obwohl es ab Ende Januar eine erneute Pandemie-Zuspitzung gab.

Bereits wenige Stunden nach der Ankunft auf dem Flughafen von Dhaka war er nicht mehr sicher, ob die Neugier auf das Land sieben Monate anhalten würde oder ob er vorzeitig abreisen müsste, wenn das Chaos und die Hektik dieser Stadt für ihn unerträglich werden würden. Schon der Weg mit dem Taxi vom Flughafen zur Büro-Adresse war beeindruckend für ihn, negativ beeindruckend.

Kaum eine Straße in dieser riesigen Stadt hatte einen Namen. Stattdessen waren die meisten Straßen ohne zunächst erkennbares System nummeriert. Erst die Nennung des Stadtbezirks „Banani“ gab dem Taxifahrer eine erste grobe Orientierung. Dennoch musste er durch teils recht schmale Straßen gegen kreuz und quer ratternde Mopeds oder am Straßenrand haltende Rikschas oder halb auf der Straße stehende Männergruppen oder Wege versperrende Baufahrzeuge mit Hupen und Winken kämpfen, hin und wieder von Polizisten gebremst, die aus Trillerpfeifen eine schmerzhafte Tonfrequenz herausbliesen, um damit zu versuchen, den Verkehr zu lenken.

Der Ausdruck ‚Kuddelmuddel‘ schien für Christian viel zu verniedlichend zu sein.

Die Taxifahrt gab Christian die Zeit, sich aus dem sicheren Fahrzeug heraus die Gegend zu betrachten. Überall lag Unrat herum, vor allem Plastikbecher, die achtlos weggeworfen oder schlichtweg fallengelassen wurden. Vor manchem Gebäude hätte man regelrecht durch Müll waten müssen. „Stört das hier keinen?“, fragte sich Christian. „Ist den Leuten der Dreck egal?“ Er dachte an die Müllhalden im Hamburger Stadtpark nach warmen Sommerwochenenden. „Solch gleichgültiges Verhalten scheint hier Alltag zu sein?“

Telefon- oder Stromkabel hingen gebündelt oder locker an den Fassaden der Häuser, ganze Straßen entlang und über Kreuzungen hinweg. An wohl jeder Straßenecke und an vielen Fassaden waren grelle Werbetafeln angebracht, unter denen sich manch ein hockender oder fast liegender Mann befand, der apathisch ins Nichts guckte, doch von den vielen Passanten überhaupt nicht beachtet wurde.

Die massive Bautätigkeit von mehrstöckigen Gebäuden, die allerdings wie unfertige Ruinen aussahen, lärmte ins Taxi hinein. Unmittelbar neben Hütten, deren rostige Wellblechdächer mit Steinen gegen Sturm gesichert waren, standen moderne mehrstöckige Hochhäuser. „Welch krasse Unterschiede!“, sagte Christian laut. Der Taxifahrer verstand ihn nicht.

Und die endlich erreichte Straße, in der sich das Büro befand, hatte zwar ein paar kleine Bäume und ein wenig sonstiges Grün zu bieten, machte aber dennoch einen unwirtlichen Eindruck auf Christian. Auch hier sah er kaum eine Frau auf der Straße, aber viele in Gruppen stehende Männer, die überwiegend europäisch bekleidet waren. Nur an der einen Straßenecke, an der sich ein ungeordneter Markt von offenbar fliegenden Händlern befand, die in geflochtenen Körben buntes Gemüse anboten, trugen die ausschließlich männlichen Verkäufer einen knöchellangen Kaftan und eine Kappe oder Kufi-Mütze.

Die wenigen Frauen auf der Straße waren dagegen allesamt traditionell oder islamisch geprägt bekleidet.

Auffällig waren die etlichen und vielfach zweisprachig in Bengali und in Englisch geschriebenen Hinweise auf medizinische Zentren unterschiedlichster Art und auf Fortbildungseinrichtungen bis hin zu universitären Abteilungen, die an Gebäudeeingängen oder Fassaden plakativ warben.

Und auffällig war, dass jedes Gebäude dieser Straße – egal ob wellblechgedeckter Schuppen oder modern scheinendes Hochhaus – mit hohen Zäunen oder Mauern geschützt war und zusätzlich neben und hinter einigen eisernen Toren uniformierte Wachmänner sich die Zeit vertrieben. Irritiert mutmaßte Christian sofort, dass es offensichtlich notwendig war, das Eigentum in besonderer Weise zu schützen. „Aber gegen wen?“, fragte er sich. „Ist die ganze Gegend hier unsicher?“

In den Informationen, die Christian in Vorbereitung auf das siebenmonatige Projekt erhalten hatte, war nicht mit einer Zeile auf das Elend und den Lärm und das Chaos hingewiesen worden, die sich ihm schon jetzt in der ersten Stunde seines Aufenthaltes aufdrängten. Oder er hatte diese Information in Vorfreude überlesen. Aufgrund der islamisch geprägten Kultur wären die Menschen sehr tolerant, so wurde in den Broschüren behauptet.

„An welcher Schwelle schlägt Toleranz in Gleichgültigkeit um?“, fragte er sich. „Toleranz gegen Schmutz und gegen menschliches Leiden kann doch nirgendwo ein positiver Wert sein? Oder hat die Armut dieser Gesellschaft einen starken Fatalismus hervorgebracht?“

Im Büro angekommen begrüßte ihn der Büroleiter mit den freundlich gemeinten Worten „Christian, schön, da bist du. Und: Erster Eindruck? Sicher beeindruckend?“

„Geschockt“, rutschte es Christian heraus, „geschockt von der Hektik der Straßen, vom Lärm, vom Gestank, vom Elend, vom Dreck.“