Säkulare Ethik - Karl-Heinz Brodbeck - E-Book

Säkulare Ethik E-Book

Karl-Heinz Brodbeck

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Beschreibung

Unsere Welt wird zerrissen von religiösen und weltanschaulichen Gegensätzen. Eine globale Ethik gibt es erst in zaghaften Ansätzen. Die Religionen sind ebenso eine Quelle für positive Werte wir für immer neuen Streit. Dieses Buch sucht nach einer gemeinsamen Grundlage für eine Säkulare Ethik − eine Ethik, zwar im Gespräch mit Religion und Wissenschaft, aber ohne Bindung an Glaubensvorstellungen. Sie knüpft an die westliche Philosophie an und entwickelt aus der buddhistischen Überlieferung eine Ethik ohne Dogma.

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Über den Autor:

Dr. Karl-Heinz Brodbeck war bis 2014 Professor für Volkswirtschaftslehre, Statistik und Kreativitätstechniken an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt (FH) und an der Hochschule für Politik an der Universität München. Er ist Dharma-Praktizierender seit 35 Jahren; Vorsitzender des Kuratoriums der Fairness-Stiftung, Frankfurt a.M., Mitglied des wissenschaftlichen Beirats im Tibethaus, Frankfurt a.M., Kooperationspartner der Finance & Ethics Academy, Diex (Kärnten); Autor von 22 Büchern und zahlreichen Aufsätzen in internationalen Fachzeitschriften und Sammelbänden. In der edition steinrich erschien 2011 Buddhistische Wirtschaftsethik: Eine Einführung.

www.khbrodbeck.homepage.t-online.de/

KARL-HEINZ BRODBECK

SÄKULARE ETHIK

aus westlicher und buddhistischer Perspektive

edition s

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.edition-steinrich.de

Textgrundlage dieses eBooks ist die gedruckte Version des gleichnamigen Titels.

Alle Rechte vorbehalten

Originalausgabe

Copyright eBook: © 2015 edition steinrich, Berlin

Copyright der deutschen Ausgabe: © 2015 edition steinrich, Berlin

Umschlagentwurf und Umschlaggestaltung: Ingeburg Zoschke, Berlin

Gestaltung und Satz: Traudel Reiß

Druck: Westermann Druck Zwickau

Printed in Germany

INHALT

Inhalt

Einleitung

1 Einige Begriffserklärungen

2 Systeme abendländischer Moralbegründung

2.1 Einleitung

2.2 Aristotelische Tugendethik

2.3 Theologische Moralbegründungen

2.4 Kant’sche Ethik

2.5 Utilitarismus

2.6 Existentialistische Ethik

2.7 Biologische und neurologische Begründungen der Moral?

3 Aspekte der Ethik des Buddhismus

3.1 Die Ethik im ursprünglichen Buddhismus

3.2 Die Rede an die Kālāmer als säkulares Modell

3.3 Säkulare Ethik aus dem Geist der buddhistischen Philosophie

3.3.1 Überblick

3.3.2 Die Relativität aller Phänomene

3.3.3 Mitgefühl als ethische Wahrheit

3.3.4 Widersprüche in der traditionellen Karmalehre

3.3.5 Karma als säkulare Lehre

3.3.6 Ethik und Weltveränderung

3.4 Perspektiven über die säkulare Ethik hinaus

3.4.1 Einleitung

3.4.2 Ethik und Willensfreiheit

3.4.3 Wiedergeburt von Mustern

3.4.4 Zur Natur des Bewusstseins

3.4.5 Leerheit: Jenseits von Subjekt und Objekt

3.4.6 Tod, Wiedergeburt und absolute Gerechtigkeit

EINLEITUNG

Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat mehrfach eine säkulare Ethik angeregt.{1} Nun gibt es im Abendland neben einer spezifisch religiösen Moral durchaus zahlreiche Ethikentwürfe, die sich an der Philosophie und nicht unmittelbar am Christentum orientieren. Im Buddhismus andererseits findet sich neben spirituellen Aussagen ein breiter Gedankenstrom, der rationale Argumente ins Zentrum rückt. Die rein ethischen Aussagen allerdings bleiben fast immer mit einer spezifisch religiösen Bedeutung verbunden – etwa in der Lehre von Karma, Wiedergeburt und Erleuchtung. Hier zeigen sich große Differenzen zur abendländischen Moralphilosophie einerseits, zum Christentum andererseits. Man kann aber – diese Überzeugung liegt dem nachfolgenden Text zugrunde – religiöse, philosophische und wissenschaftliche Perspektiven dennoch miteinander in ein Gespräch bringen. Das gelingt, falls man sich vor allem auf die vorgebrachten Argumente konzentriert, also darauf, wie jeweils moralische Aussagen begründet werden. Ich stimme Damien Keown zu, der den wohl bislang einflussreichsten westlichen Versuch einer buddhistischen Ethik vorgelegt hat, wenn er sagt:

»Ich glaube nicht, dass die Prinzipien der buddhistischen Ethik absolut einzigartig sind oder sui generis, noch akzeptiere ich, dass sie exklusiv in ihrer eigenen Terminologie verstanden werden können.«{2}

Die Idee einer säkularen Ethik, wie sie der Dalai Lama versteht, fordert auch eine Begründung, die sich nicht von religiösen Fundamenten abhängig macht. Er formuliert Vorschläge zur Entwicklung eines »neuen Ethiksystems«, das von der gemeinsamen Voraussetzung ausgeht, die das menschliche Leben überhaupt kennzeichnet. In diesem Horizont, so der Dalai Lama, gilt es, »eine Basis für unsere inneren Werte zu schaffen, die keiner Religion widerspricht, aber auch, und das ist von entscheidender Bedeutung, von keiner Religion abhängig ist.«{3} Für die westliche Tradition bestand die Schwierigkeit in der Moralphilosophie in jüngerer Zeit stets darin, nicht in eines der Extreme zu verfallen, die in der Moderne nahe liegen. Die Kritik der christlichen oder anderer theistischer Traditionen hat mit Friedrich Nietzsche schließlich jegliche Moral als Illusion und Projektion eher niederer Triebe zu entlarven versucht. Die theistischen Traditionen (Brahmanismus, Judentum, Christentum, Islam) sind durch das Festhalten ihrer jeweiligen Offenbarung charakterisiert. Sie reduzieren die Moral auf religiöse Gebote, die jeweils ihrer heiligen Schrift (Veda, Thora, Bibel, Koran) absolute Geltung zusprechen. Dieser Fundamentalismus findet sich in allen Traditionen, und er hat auch säkulare Nachfolger gefunden – z.B. im Historischen Materialismus oder in der neuen atheistischen Bewegung.

Es gibt aber in allen Morallehren neben direkten Vorschriften für das Handeln (= normative Ethik) auch Versuche, die jeweiligen Aussagen zu begründen. Diese Versuche bleiben oft rudimentär. Eine systematische Moralbegründung hat sich nur im säkularen Raum entwickelt, in der Philosophie Griechenlands, später in der Aufklärung, die sich von der religiösen Überlieferung emanzipierte. Als Motto für eine säkulare Ethik und ihre Begründung kann der Satz des Aristoteles aus seiner Nikomachischen Ethik gelten:

»Sittliche Einsicht hat der, welcher die Fähigkeit zu richtiger Überlegung besitzt.«{4}

Man kann mit etwas Wohlwollen auch in den theistischen Traditionen, wenn auch eher selten, die Aufforderung zur kritischen Prüfung der Glaubenswahrheiten finden. Avicenna übersetzt den letzten Satz von Sure 59.2 des Koran in diesem Sinn:

»Überlegt, o ihr, die ihr Einsicht habt.«{5}

Und Paulus sagt im Thessalonicherbrief, 5,21:

»Prüfet aber alles, und das Gute behaltet.«

Beide Aussagen lassen sich als Aufforderung zur rationalen Grundlegung der Ethik interpretieren. Eindeutig äußert sich hier der Buddha in seiner Rede an die Kālāmer, die ich im dritten Teil noch genauer darstellen werde – hier sei nur der letzte Satz zitiert:

»Wenn ihr aber, Kālāmer, selber erkennt: ›Diese Dinge sind unheilsam, sind verwerflich, werden von Verständigen getadelt, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Unheil und Leiden‹, dann o Kālāmer, möget ihr sie aufgeben.« (AN 3.66){6}

In der Kālāmer-Rede kann man nicht nur für den Buddhismus, sondern auch im allgemein philosophischen Kontext das Muster für eine rationale Moralbegründung erkennen, deren eindeutige Fragestellung erst im 18. Jahrhundert in der Aufklärungsphilosophie wieder erreicht wurde. Diese Rede des Buddha liefert mir auch die Hintergrundfolie der nachfolgenden Argumentation für eine säkulare Ethik. Sie belegt, dass es tatsächlich die buddhistische Tradition ist, die das große Potenzial zu solch einer Ethik bietet und damit ein Gesprächsangebot an andere religiöse Systeme darstellt, die der Vernunft eine zentrale Rolle einräumen. Die beiden kleinen Hinweise aus dem Koran und dem Thessalonicherbrief können hier als Zeichen für eine interreligiöse Verständigung in der Sprache der Philosophie dienen.

Vom Altertum bis in die Gegenwart haben europäische Philosophen (von Diogenes Laertius bis Martin Heidegger) immer wieder behauptet, dass es nur so etwas wie eine europäische Philosophie gebe. Definiert man »Philosophie« – damit auch die Moralphilosophie – als in Griechenland begründetes Denksystem, dann ist diese Aussage trivial »wahr«. Meint man damit aber, dass das Nachdenken über Formen der Moralbegründung außerhalb Europas nicht stattgefunden habe, dann ist man einfach unwissend. Es gibt hier nicht nur viele Berührungspunkte, sondern auch viele Gemeinsamkeiten. Diese Tatsache ist mehrfach dargestellt worden.{7} Dennoch verbleiben auch charakteristische Unterschiede gerade zur buddhistischen Philosophie – Unterschiede, die besonders für die Begründung einer säkularen Ethik bedeutsam werden. Darin liegt der besondere Beitrag einer aus dem Geist der buddhistischen Philosophie formulierten Ethik.

Ich möchte nachfolgend (ausführlich im dritten Teil) zum Vergleich an die buddhistische Philosophie und hier besonders an die Schule des Mādhyamaka (Nāgārjuna und seine Nachfolger) anknüpfen. Mit dem Begriff »buddhistische Philosophie« fasst man im Allgemeinen zahlreiche, teilweise höchst unterschiedliche Systeme zusammen.{8} Aus einer westlichen Perspektive finden sich in verschiedenen buddhistischen Traditionen: Materialismus, Idealismus, metaphysischer Pluralismus sowie ein strikter Determinismus neben der Lehre vom reinen Illusionscharakter alles Wirklichen. Bezüglich der normativen Ethik, d.h. der Regeln, die zur Erlangung des spirituellen Heilsziels (nirvāna) führen, herrscht vielfach Einigkeit. Doch man betrachtet auch dies unterschiedlich: Während im frühen Buddhismus ein völlig asketischer, von der Welt getrennter Lebenswandel (als Nonne und Mönch im Kloster oder in der »Waldeinsamkeit«, in der »Hauslosigkeit«) als oberstes Ideal und als Voraussetzung für die Erleuchtung gilt, erweitert man in späteren Systemen die Möglichkeiten einer spirituellen Praxis auch auf den Bereich außerhalb der Klöster. Im Tantrismus werden die verschiedensten menschlichen Leidenschaften als »geschickte Mittel« zum Erlangen der Erkenntnis verwendet. Tibet, China und Japan kennen jeweils in ihren Traditionen die Figur des »heiligen Narren«, der sich an keine Moralregel hält und dadurch gerade seine Schüler aus ihren körperlichen und geistigen Gewohnheiten aufzuwecken versucht. Im nun immerhin schon etwa seit einem Jahrhundert sich ausbreitenden westlichen Buddhismus ist das Ideal eines mönchischen Lebens weitgehend in den Hintergrund gerückt. Buddhistische Praktizierende führen gewöhnlich ein »normales« Alltagsleben, mitten unter allen anderen Menschen.

Auf diese Aspekte der praktischen Ethik gehe ich nachfolgend nicht näher ein, sondern bleibe bei den Prinzipien zur Begründung moralischer Aussagen. Allerdings, das werde ich im letzten Abschnitt zeigen, weist auch eine säkular orientierte Ethik schließlich über sich hinaus und bietet Anknüpfungspunkte an die Spiritualität. Die buddhistische Lehre (Sanskrit Dharma; Pali Dhamma) stellt hier eine eigenständige Grundlage bereit, die als einzigartig gelten kann – besonders die Lehre vom Bewusstsein. Ich werde hierbei auch das kritische Gespräch mit den Neurowissenschaften und den Naturwissenschaften suchen.

Es sei noch ergänzt, dass im nachfolgenden Text das Augenmerk auf die Begründung von moralischen Urteilen, also eine allgemeine, säkulare Ethik gerichtet ist. Verschiedene Fragen der Ethik für jeweils besondere Handlungsformen (Bereichsethiken) werde ich nur als Beispiele anführen. Sie gehören zur angewandten Ethik. Gerade hier gibt es auch im Buddhismus bereits zahlreiche Darstellungen.{9} Sie firmieren in jüngerer Zeit meist unter dem Stichwort »sozial engagierter Buddhismus«. Ich habe dazu ebenfalls Beiträge geschrieben und den Versuch einer buddhistischen Wirtschaftsethik vorgelegt. Die dort schon behandelten Fragen greife ich deshalb hier nicht mehr auf.{10} Das Thema dieses Buches ist die Begründung einer säkularen Ethik. Dies erfolgt im Vergleich der buddhistischen Ethik mit wichtigen, im Westen entwickelten Argumenten.

Gerade als Kritik der Ich-Illusion eröffnet sich – das werde ich im Schlusskapitel zu zeigen versuchen – eine Gesprächsmöglichkeit auch über die Themen, die in der buddhistischen Tradition zu den »Unsagbarkeiten« zählen und bei deren Erwähnung westliche Wissenschaftler bislang schon von vorneherein kopfschüttelnd den Diskurs abbrechen. Hier kann gerade im Gegenzug durch einen Blick auf die blinden Flecken in den Natur- und Neurowissenschaften eine neue Gesprächsbasis eröffnet werden, die schließlich über ethische Fragen hinausweist in das ureigene Terrain aller spirituellen Traditionen: der Frage nach dem Sinn von Geburt und Tod und der Natur des Bewusstseins. Ich hoffe, hierzu einige neue Perspektiven gerade in einem sehr genauen Blick auf das zu gewinnen, was im wissenschaftlichen Weltbild übersehen wird. Es gibt durchaus so etwas wie Tatsachen des Bewusstseins, auch als Grundlage jeder Moral. Nur findet man sie nicht mit weißem Kittel in einem Labor beim Blick auf diverse Messgeräte. Warum das so ist, auch diese Frage wird zu klären sein – sowohl aus einer westlichen (vgl. Kapitel 2.7) als auch aus der buddhistischen Perspektive (vgl. den dritten Teil).

Es ist wichtig, noch zu ergänzen, dass der durchaus kritische Geist, der im Buddhismus zuhause ist und von Nāgārjuna sehr subtil kultiviert wurde, immer nur auf Denkformen abzielt, nie auf Personen, die solchen Denkformen anhängen. Das gilt natürlich auch und besonders für meine Kritik der tradierten Karmalehre (vgl. Abschnitt 3.3.4), die einige lieb gewonnene, leider allzu einfache Vorstellungen als unhaltbar erweisen wird. Ich schlage generell vor, das Karma zunächst als Argument in der moralischen Beurteilung von Handlungen, sozialen Institutionen oder Ereignissen einfach zu streichen. In moralischen Urteilen funktioniert der Begriff »Karma« entweder als Ausrede oder als Drohung – beides ist unter einer ethischen, keineswegs nur säkular-ethischen Perspektive unhaltbar. Im Gegensatz zu moralischen Urteilen, die an ein – im Zweifel dann doch unerkennbares – Karmagesetz anknüpfen, lässt sich das Mitgefühl aus der gegenseitigen Abhängigkeit aller Phänomene in der Begründung einer säkularen Ethik durchaus rational rekonstruieren. Meine Kritik am Karmabegriff möchte nur unsinnige, daran geknüpfte Vorstellungen beseitigen, gleichwohl aber auch einen durchaus vernünftig einsehbaren und wichtigen Kern herausarbeiten (vgl. Abschnitte 3.3.5 und 3.4.3). Man kann aus dem ursprünglichen Sinn von Karma als »Handlung«, in Verbindung mit dem Gedanken an Handlungsgewohnheiten (samskāra), durchaus an die Ethik im aristotelischen Sinn anknüpfen, denn »Ethik« bedeutet nach Aristoteles ursprünglich Gewohnheit. Insofern lässt sich für die säkulare Ethik der Karmabegriff so rekonstruieren, dass er für einen Diskurs mit abendländischen Traditionen anschlussfähig wird. Das gilt auch für die im Buddhismus eher unklare Stellung des Begriffs der »Freiheit«, der andererseits doch jeder Vorstellung von Befreiung zugrunde liegt. Auch hier kann durch eine Klärung, um nicht zu sagen: Reinigung, der überlieferten buddhistischen Vorstellungen eine Position gewonnen werden, die sich problemlos an die europäische Tradition anschließt.

All dies möchte ich in einem kritischen Diskurs mit der westlichen Wissenschaftstradition darstellen. Das methodische Grundprinzip der abendländischen Wissenschaften unterstellt, dass ihre Erkenntnisse moralfrei sind. Das wird sich als Illusion erweisen: Wissenschaft ist eine Form des menschlichen Bewusstseins. Die Wissenschaft vom Bewusstsein geht also jeder anderen Wissenschaft voraus. Und es ist gerade eine Eigenart des Buddhismus in all seinen Schulen, eine Wissenschaft des Bewusstseins zusammen mit der Ethik (śīla) zu kultivieren. Dies gilt ebenso für eine theoretische Wissenschaft in der buddhistischen Philosophie des Mittleren Weges (Mādhyamaka) wie in vielfältigen Meditationssystemen als praktische Philosophie. Von hier aus ist dann, das versuche ich im letzten Kapitel, 3.4, zu zeigen, auch eine Perspektive über eine säkulare Ethik hinaus möglich. Sie greift Themen auf, die hinter dem blinden Fleck der modernen Wissenschaft unsichtbar bleiben, darin zugleich aber eine Gesprächsgrundlage für andere spirituelle Systeme bieten können. Hier gewinnt eine säkulare Ethik den Sinn, auch eine interreligiöse Basis zu bieten.

Was ich im nachfolgenden Text versuche, ist vielleicht nicht nur für mich, sondern auch für die Leserinnen und Leser ein kleines Abenteuer des Denkens. Dies stets nach dem Motto, das der Buddha und knapp zweieinhalb Jahrtausende später Kant so formuliert haben: »Sapere aude! Ihr müsst selber erkennen.« Vielleicht kann so auch ein wenig vom Glück der philosophischen Erkenntnis durchscheinen, das Aristoteles in den Morgenstunden der abendländischen Philosophie folgendermaßen formuliert hat:

»Denn selbst wenn jemand alles besäße, aber in der denkenden Seele hoffnungslos krank wäre, so wäre ihm das Leben nichts Wählenswertes, weil auch seine sonstigen Vorzüge keinen Nutzen brächten. Darum meinen alle Menschen, soweit sie mit der Philosophie in Berührung kommen und von ihr zu kosten vermögen, dass die übrigen Dinge nichts wert seien; aus diesem Grund würde es keiner von uns aushalten, bis zum Ende des Lebens im Zustand der Trunkenheit oder ein Kind zu sein.«{14}

Die Ethik kann aus dieser Trunkenheit, die im Buddhismus Verblendung heißt, aufwecken, durch ein richtiges Tun, vor allem aber durch richtiges Erkennen. Denn moralisch zu handeln ist gut. Die Gründe für moralisches Handeln zu kennen ist aber besser. Denn es offenbart dem Verständigen auch die Schönheit und das Glück eines mitfühlenden Lebens. Ethik weist immer über die eigenen Ich-Schranken hinaus. Sie ist deshalb auch ein bleibender Stachel, eine Welt mit weniger Leiden zu verwirklichen – eine Welt, die trunken

1 EINIGE BEGRIFFSERKLÄRUNGEN

Der Begriff »säkulare Ethik«

Das Wort »säkular« stammt vom Lateinischen saeculum und bezeichnet ursprünglich ein lang dauerndes Zeitalter. In der mittelalterlichen Theologie und Rechtsliteratur wurde der Begriff mehr und mehr im heutigen westlichen Wortsinn für alle Bereiche des menschlichen Lebens außerhalb der Kirche oder allgemeiner außerhalb der Religion verwendet. Besonders das bürgerliche und wirtschaftliche Leben, die bürgerliche Gesellschaft, wurde mit dem Wort »säkular« bezeichnet. Der Dalai Lama beruft sich in seinen Vorschlägen für eine säkulare Ethik auf die indische Verfassung. Hier hat »säkular« eine etwas andere Bedeutung: Das Wort bezeichnet dort das tolerante Nebeneinander verschiedener Religionen oder anderer Denksysteme. Eine säkulare Ethik ist demnach eine, die sich nicht auf eine Religion oder überhaupt auf religiöse Quellen stützt. Eine noch etwas anders begründete Idee stammt von Hans Küng in seinem »Projekt Weltethos«.{15} Er sucht in vielen Religionen nach Gemeinsamkeiten als Grundlage für eine globale Ethik. Während der abendländische Begriff einer säkularen Ethik vor der Schwierigkeit steht, aus einem nicht religiösen Bereich dennoch Moralregeln ableiten oder begründen zu wollen, steht der indische Begriff oder die Idee eines Weltethos vor dem Problem, tragfähige grundlegende Gemeinsamkeiten in sehr verschiedenen Religionen und Denksystemen finden zu müssen.

Ich schlage hier einen etwas anderen Weg zur Gewinnung einer säkularen Ethik vor, der seine Position, seinen Ort noch vor der Diskussion der oben genannten Probleme sucht. In der philosophischen Tradition und in den Religionen gibt es je eine Morallehre, die unterschiedlich begründet wird. Ich möchte also nicht auf so etwas wie gemeinsame Werte abzielen, sondern die Methoden der Begründung in der Ethik vergleichen. Wenn die Unterschiede in den Argumenten zur Begründung einer säkularen Ethik deutlich und bewusst geworden sind, kann man auch die Werte, die durch diese Begründungen fundiert werden sollen, auf eine vernünftige Weise, d.h. in einem an der Verständigung orientierten Gespräch vergleichen. Die Beschränkung auf die Begründungs- oder Argumentationsweisen erlaubt es mir auch, das Judentum, den Islam, das Christentum und indische Systeme, die auf einem Schöpfergott aufbauen, gemeinsam unter dem Stichwort »theistische Moralbegründungen« zusammenfassend zu behandeln. Unterschiede können später herausgearbeitet werden, und so kann jede Tradition im Diskurs gleichwohl ihre Eigenart bewahren.

In principio erat Sermo (= lógos), »im Anfang ist das Gespräch« – so übersetzte Erasmus von Rotterdam den Beginn des Johannes-Evangeliums neu. Tatsächlich bedeutet lógos im Griechischen auch nicht »das Wort«, sondern die sprechende Gemeinschaft der Menschen. Heraklit sagte im Fragment B 2: »Obwohl aber der lógos allen gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätte sie ein Denken für sich.« Gesprächsbereitschaft und wechselseitige Toleranz in der Begründung ethischer Systeme ergibt sich hier als angemessene Haltung, nicht das Festhalten an einem Wort oder einer Wahrheit. Nikolaus von Kues sagte 1453 hellsichtig:

»Wo keine Gemeinsamkeiten in der Form festgestellt werden können, sollen die Religionsgemeinschaften, wenn nur Glaube und friedlicher Konsens gewahrt bleiben, bei ihren frommen Bräuchen und Riten bleiben. Vielleicht wird sogar durch eine gewisse Vielfalt die fromme Hingabe gefördert, wenn jede Religionsgemeinschaft versucht, ihre Bräuche besonders sorgfältig zu pflegen.«{16}

Nikolaus von Kues sagt ganz dasselbe, was im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung der buddhistische König Asoka in seinem 12. Felsenedikt festlegte:

Das »Wachstum der inneren Werte ist auf vielfache Weise möglich. Voraussetzung aber dafür ist die Zurückhaltung im Reden, auf dass man nicht bei unpassender Gelegenheit die eigene religiöse Vereinigung herausstreiche und über andere religiöse Vereinigungen abfällig urteile. (…) So ist denn nur das Zusammengehen gut, auf dass ein jeder der Sittenlehre des anderen Gehör und Aufmerksamkeit schenke.«{17}

Ethik versus Moral

Das Wort Ethik kommt aus dem Griechischen und ist – das wird sich bei der Darstellung der Ethik des Aristoteles noch genauer zeigen – von dem Wort für »Gewohnheit« abgeleitet. Gewohnheiten unterscheiden sich von der Natur – wir würden heute sagen: Moralische Regeln unterscheiden sich von Naturgesetzen. Man kann, sagt Aristoteles, einen Stein nicht durch Hochwerfen daran gewöhnen, in der Luft zu schweben. Er gehorcht eben einem Naturgesetz (der Schwerkraft). Aber man kann menschliche (natürlich auch tierische) Verhaltensweisen durch Erziehung, durch Gewöhnung formen. Die griechische, die römische und später die mittelalterliche Tradition vertreten gemeinsam die Auffassung, dass Moralregeln nicht aus der Natur abgeleitet werden können. Sie sind keine Naturgesetze.

»Moral« ist die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes »Ethik«, die Cicero eingeführt hat. In der deutschen Philosophie hat sich wiederum als Übersetzung von Ethik das Wort »Sittenlehre« eingebürgert. »Sitte« (Tradition) ist eine kulturelle Gewohnheit. Das Wort »Sitte« übernimmt die Bedeutung des ursprünglich griechischen Begriffs ēthos. Ethik, Moral und Sitte scheinen also in drei verschiedenen Sprachen dasselbe zu bezeichnen. Dennoch hat sich im – vor allem akademischen – Sprachgebrauch die Gewohnheit eingebürgert, dass man mit »Moral« nur die praktizierte Moral, die im Alltagsleben tatsächlich verfolgten Regeln des Handelns bezeichnet. Das Wort Ethik verwendet man dagegen für die Theorie, die Wissenschaft von der Moral. Der Ausdruck »Sittenlehre«, den noch Kant oder Fichte verwendeten, ist auch in Deutschland kaum noch gebräuchlich; er meint dasselbe wie Ethik als Wissenschaft.

Ethische Regeln versus Naturgesetze

Neben Regeln für Naturgegenstände (Naturgesetze) gibt es eine Vielfalt von anderen Formen des Verhaltens bei allen Lebewesen, natürlich auch beim Menschen. Sich die Hand zur Begrüßung zu geben, bei Hunden das Wedeln mit dem Schwanz oder die Fertigkeiten des Nestbaus bei Vögeln – all das sind Verhaltensmuster. Einige davon sind offenbar im Laufe der Evolution in das Erbmaterial (Genom) eingeschrieben worden – wie das Zwinkern mit den Augen oder der Kniereflex. Man kann diese Verhaltensweisen deshalb faktisch den Naturgesetzen gleichstellen. Sich die Hand beim Grüßen zu geben – und nicht ein Küsschen auf beide Wangen –, ist dagegen eine kulturelle Gewohnheit. Sie wird erlernt und unterscheidet sich zwischen den Völkern und Zeiten. All diese Verhaltensweisen sind nicht eigentlich moralisch. Zum Sprachgebrauch hier nur so viel: Wer sich nur verhält – wie ein fallender Stein oder wie ein bloßer Reflex –, der handelt nicht. Entscheidend ist bei moralischen Regeln immer, dass man sich aus Freiheit prinzipiell gegen eine Regel entscheiden kann. Es gibt hier allerdings wichtige Übergänge zwischen Handeln und Verhalten. Wer rein aus Gewohnheit handelt, der handelt weitgehend unbewusst. Auch wenn man einer Moralregel folgt, so tut man es oft nur aus Gewohnheit oder aus Gründen der Anpassung an das Verhalten anderer. Von außen betrachtet lässt sich also nicht immer sagen, ob eine Handlungsweise bewusst oder rein gewohnheitsmäßig und opportunistisch ausgeübt wurde.

Insofern zeigt sich bereits hier ein wichtiger Hinweis bei allen Diskussionen über Moral: Das Bewusstsein im Handeln spielt eine zentrale Rolle. Selbst wenn man einige Verhaltensweisen nur unbewusst durch Erziehung und Nachahmung übernommen hat, so erhalten sie doch dadurch einen moralischen Charakter, dass man sie sich bewusst machen und dann aus Freiheit verändern kann. Insofern kann jede Handlungsweise prinzipiell einen moralischen Charakter bekommen. Ob man jemand durch einen Handschlag oder durch zwei Küsschen auf die Wangen begrüßt, das kann durchaus auch moralisch gewertet werden: Wer einen Bischof auf die französische Küsschen-Art empfängt, verstößt in der Regel gegen die christliche Moral; ein Handschlag dagegen ist erlaubt. Dem japanischen Kaiser dagegen fröhlich die Hand zu reichen, widerspricht dem Protokoll, also der dort herrschenden Moral. Es gibt also keine klare Grenze zwischen Moralregeln und kulturellen Gewohnheiten. Dieselbe Verhaltensweise wird in unterschiedlichen Kontexten moralisch höchst unterschiedlich bewertet.

Moral versus Recht

Was unterscheidet die Moral- von einer Rechtsregel? Man verwendet für die Differenz gewöhnlich das Wort »sanktionsbewehrt«. Das heißt: Ein Verstoß gegen Rechtsregeln wird durch staatliche Gesetze näher definiert (darüber entscheiden Gerichte) und entsprechend bestraft (Sanktion). Dabei kann dieselbe Verhaltensweise sehr unterschiedlich gedeutet werden: Im Iran kein Kopftuch zu tragen ist verboten; in einigen islamischen Gemeinschaften in Deutschland ist das Tragen des Kopftuchs nur eine Moralregel – und in Frankreich ist gerade das Tragen eines Kopftuchs in öffentlichen Gebäuden gesetzlich verboten. Man kann also nicht aus einer bestimmten Handlung auf eine bestimmte Moral schließen. Ein Verstoß gegen moralische Regeln wird meist nicht direkt geahndet. Allerdings kann die Folge eine soziale Achtung oder ein sozialer Nachteil sein. Es ist nicht verboten, ungewaschen und mit schmutziger Kleidung ein Theater zu besuchen. Die Reaktion der Sitznachbarn kann aber sehr wohl beschämend wirken. Jede kulturelle Gewohnheit, die allgemein angenommen wird, bekommt einen moralischen Charakter, und eine damit verbundene Ächtung durch Mitmenschen bei einem Verstoß verleiht solch einer kulturellen Gewohnheit fast den Charakter einer Rechtsregel. Historisch sind die Übergänge hier fließend.

Egoismus versus Altruismus

Dieses Begriffspaar, heute weit gebräuchlich, stammt erst aus dem 19. Jahrhundert und wurde von Auguste Comte geprägt. Zwischen beiden Begriffen wird häufig eine Art Urgegensatz innerhalb der ethischen Diskussion vermutet. Sie unterscheiden in einer ersten Bedeutung das Streben nach dem je eigenen Wohl vom Streben nach dem Wohl der anderen. Doch gerade darin liegt ursprünglich gar kein moralischer Konflikt. Wer sich zur Erreichung eines Ziels anstrengt, sich Pflichten oder Tugenden auferlegt, auch gegen die Meinungen oder Gewohnheiten anderer, der ist in seinem Handeln durchaus selbstbezogen, aber noch kein moralischer Egoist. Der Dalai Lama betont das ausdrücklich, z.B. beim Umweltschutz. Zwar gilt das Ich im Buddhismus einerseits als Illusion, als Hindernis:

»Andererseits kann ein selbstsicheres Ich auch ein sehr positives Element sein. (…) Ohne ein starkes Selbstgefühl – das heißt, ohne sich seiner Fähigkeiten, seiner Möglichkeiten und seiner Überzeugungen sicher zu sein – kann niemand solch eine Aufgabe (gemeint ist hier der Umweltschutz, KHB) angehen. Da braucht man schon Selbstvertrauen, das liegt doch auf der Hand.«{18}

Ein starkes Selbstgefühl zu haben ist noch kein ethischer Egoismus. Und für das Wohl anderer etwas zu tun ist noch kein Altruismus: Man kann sehr wohl aus reinem Eigeninteresse auch die Interessen anderer fördern. Egoismus und Altruismus werden zu moralischen Extremverhaltensweisen, wenn sie je exklusiv motiviert sind. Wer sein eigenes Wohl auf Kosten anderer durchsetzt, ist im ethischen Sinn ein reiner Egoist. Und wer sein eigenes Wohl gänzlich für andere opfert, ist ein reiner Altruist. Beide Extreme – obgleich sie vorkommen – sind eher selten. Der Buddha sagte:

»Sich selber schützend, schützt man die anderen; die anderen schützend, schützt man sich selbst.« (SN 47.19){19}

Die Begriffe Egoismus und Altruismus werden zu ethischen Extremen, wenn man diese Formel in seinem Handeln nicht berücksichtigt.

Um diesen Unterschied im ethischen Sinn besser zu verstehen, ist zu klären, ob man die Differenz zwischen »eigen« und »fremd« auf Motive, Handlungen oder Handlungsresultate bezieht. Wer aus reinem Selbstinteresse andere einbezieht, mag zwar im Resultat auch das Gemeinwohl fördern. Seine Motivation bleibt gleichwohl egoistisch. Billigt man nur dem Motiv einen ethisch relevanten Charakter zu, so wäre solch eine Handlung moralisch gleichwohl abzulehnen. Blickt man dagegen auf das Handlungsergebnis, so kann eine in diesem Sinn egoistische Handlung gleichwohl ethisch positiv bewertet werden. Es war in der europäischen Moraltheorie eine Revolution des Denkens, als die Motivation (die Tugenden) in der Beurteilung durch den Blick auf Handlungsresultate ersetzt wurde. Eingeleitet wurde dies durch Bernard Mandeville, der in seiner Schrift The Fable of The Bees: or, Private Vices Publick Benefits (1714) zu zeigen versuchte, dass sogar moralisch verwerfliches Handeln dem Gemeinwohl nützen kann: Die Verschwendungssucht der Fürsten z.B. förderte die Produktion, das Handwerk usw., brachte damit wirtschaftlichen Fortschritt hervor und machte viele Menschen reicher. Adam Smith hat diesen Gedanken Mandevilles von seinem provokativen Charakter weitgehend befreit und sich in der Beurteilung der Wirtschaft auf das Ergebnis, nicht die moralische Bewertung der Motivation konzentriert. Das Motiv kann und soll sogar rein egoistisch bleiben, meinte Smith. Berühmt ist der Satz aus seinem ökonomischen Hauptwerk The Wealth of Nations (1776):

»Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen.«{20}

In der ethischen Diskussion hat gerade der Blick auf die Wirtschaft zum einen zum Utilitarismus geführt, der jede Handlung nur nach Kosten und Ertrag moralisch bewertet, zum anderen aber auch zu Kants Begriff der Pflicht, worin man auch ohne persönlich-emotionale Überzeugung eine Handlung einfach deshalb ausführt, weil es vernünftig ist. Beide Positionen werde ich noch genauer darstellen (vgl. Kapitel 2.4 und 2.5). Dass man die Auffassung von Smith nicht mehr als Urteil über die Funktionsweise einer Geldökonomie, des Kapitalismus, naiv übernehmen kann, erwähne ich hier nur am Rande: Interessen werden durch Werbung und PR manipuliert; Märkte, die bei Smith nur dem Interessenausgleich dienen, sind vielfach von großen Banken und Konzernen im durchaus egoistischen Interesse beherrscht. Und dies – wie Wirtschafts- und Schuldenkrisen belegen – gegen die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung. Smiths dialektischer Gedanke, dass gerade der Egoismus in der Wirtschaft das Gemeinwohl fördere, hat sich empirisch als unhaltbar erwiesen: Das Wirtschaftswachstum wird zwar nachdrücklich vom ökonomischen Egoismus gefördert, zieht aber zugleich eine breite Spur des Hungers, der sozialen und ökologischen Verwüstung hinter sich her. Der Versuch wiederum, den Egoismus durch Anreize und staatliche Institutionen »einzusperren« und so zu lenken, hat sich gleichfalls als Illusion erwiesen.{21} Die Moral lässt sich nicht durch nicht-moralische Mittel verwirklichen. Der Funke des Egoismus ist schon lange auf Unternehmen, von dort auf ganze Staaten übergesprungen und führt im Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte zu politischen Gegensätzen, die nur allzu oft auch in Kriegen eskalieren.

Die von Adam Smith versuchte Auflösung des Gegensatzes von Egoismus und Gemeinwohl führte Max Weber noch zu einer anderen Differenzierung. Er hat zwischen »Verantwortungsethik« und »Tugendethik« unterschieden. Die Verantwortungsethik orientiert sich nur an den Resultaten des Handelns, die Gesinnungsethik nur an der Motivation. Weber sagt,

»es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt (…) oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.«{22}

Nun kann man jede Handlung durch drei Elemente charakterisieren: (1) Handlungsziel, (2) Handlungsdurchführung und (3) Handlungsergebnis. Viele Irrwege in der Begründung einer Ethik kommen dadurch zustande, dass man diese drei Begriffe nur abstrakt nebeneinander stellt und dabei stillschweigend voraussetzt, dass moralisches Handeln das unabhängige Tun eines Individuums ist. Die Moral kommt, so die Vorstellung, immer erst nachträglich zum individuellen Tun hinzu. Doch keines der drei genannten Elemente des Handelns ist rein individuell zurechenbar und somit auch nicht exklusiv einer moralischen Beurteilung fähig. Deshalb ist die von Max Weber eingeführte, vielfach zustimmend rezipierte Trennung von Gesinnungsethik – die rein auf individuelle Motive abzielt – und Verantwortungsethik – die Handlungskonsequenzen heranzieht – nicht haltbar. Es liegt hier gar kein Gegensatz vor. Auch der gesinnungsethische Egoist bleibt von anderen Menschen und der Natur völlig abhängig; und der gesinnungsethische Altruist muss, um seine Ziele für andere zu erreichen, erstens sich selbst erhalten und zweitens in seinem Streben für das Wohl anderer durchaus auch selbstbezogen sein und sich oft gegen Konventionen durchsetzen. Um gesinnungsethisch ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen, bedarf es der Kooperation mit anderen, damit auch einer zugehörigen, an der Gemeinschaft orientierten Motivation, die man in der Gegenwart mit den Begriffen »Fairness« oder »Teamgeist« bezeichnet.

Ich werde deshalb die Weber’sche Unterscheidung, trotz ihrer Popularität, nicht mehr benutzen. Wenn ich nachfolgend den Begriff »Egoismus« verwende, dann ist damit stets das rein selbstsüchtige Verhalten auf Kosten anderer, auf Kosten der Gemeinschaft oder der Natur gemeint. In diesem Sinn ist die Ethik immer eine Kritik des Egoismus. Eine egoistische Moral, die nur für einen einsamen Robinson gelten würde, wäre unsinnig. Der reine Egoismus richtet sich aus Selbstinteresse immer auch gegen

2 SYSTEMEABENDLÄNDISCHER MORALBEGRÜNDUNG

2.1 EINLEITUNG

Die hier zu behandelnden Fragen setzen die Antwort auf eine ganz andere Frage voraus: Ist eine säkulare Ethik überhaupt möglich? Obgleich es gerade die Philosophie der Aufklärung – nicht zuletzt der englisch-schottischen – war, die die Morallehre aus der religiösen Umklammerung zu lösen versucht hat, finden sich nach wie vor Stimmen, die das für unmöglich halten. Der US-amerikanische Philosoph William K. Frankena hat die Auffassung vertreten, dass alle moralischen Werte letztlich einen religiösen, sogar theologisch zu bezeichnenden Ursprung haben:

»Ethische Urteile können nur durch logische Ableitung aus theologischen begründet werden; das bedeutet, sie hängen logisch ab von religiösen Glaubensvorstellungen für ihre Rechtfertigung.«{23}

Auch Hans Küng steht dieser Auffassung nahe. In seiner Besprechung von Küngs Buch Projekt Weltethos sagt Robert Spaemann:

»Die Frage, ob Moralbegründung ohne Religion möglich sei, ist seit dem 18. Jahrhundert immer wieder erörtert worden. Küngs Antwort lautet: Unreligiöse Menschen sind oft hochmoralisch. Allerdings kann nur die Religion diese Moralität begründen, vor allem die Unbedingtheit sittlicher Verpflichtungen in Fällen, wo sittliches Handeln mit schweren Nachteilen für den Handelnden verbunden ist. Diese These scheint mir richtig, aber sie stellt die Frage nicht, wie wichtig Begründungen für ein Ethos sind.«{24}

Spaemanns Einwand ist wohl zutreffend: Gleichgültig, ob man die Frage nach der Möglichkeit einer säkularen Ethik ohne religiöse Wurzeln bejaht oder verneint, in jedem Fall spielt hierbei die Begründung moralischer Urteile die entscheidende Rolle.

Es wurde freilich immer wieder auch behauptet, dass die Moral eigentlich keiner Begründung bedürfe. Sie sei in der menschlichen Natur verankert. Albert Einstein formulierte diesen Gedanken: Ethische Überzeugungen, sagt er,

»sind in einer gesunden Gesellschaft da als mächtige Traditionen, die auf das Verhalten, Streben und Werten der Individuen wirken; sie sind wie ein lebendiges Wesen da, ohne dass es für seine Existenz einer Begründung bedürfte. Sie treten ins Dasein nicht durch Begründung, sondern durch Offenbarung, durch das Wirken starker Persönlichkeiten. Man soll nicht versuchen, sie zu begründen, sondern sie ihrem Wesen nach möglichst klar und rein zu erkennen.«{25}

Einstein setzt an die Stelle einer göttlichen Offenbarung von Moralregeln ihre Verkörperung in herausragenden Persönlichkeiten, die solche Werte als Vorbild demonstrieren. Zweifellos ist dies eine wichtige Quelle für die Akzeptanz von Moralregeln oder Werten. Nur sind die Vorbilder hierbei keineswegs immer nur positiv. Die in der Politik, in Büchern, TV-Sendungen, Spielfilmen, Computerspielen usw. implizit transportierten Werte, die gerade auf Jugendliche besonders stark wirken, haben keineswegs immer eine moralische Qualität, die für die menschliche Gemeinschaft heilsam ist und in einer kritischen Analyse Anerkennung finden würde. Es ist also weiter unumgänglich, für moralische Regeln oder Werte vernünftige Begründungen zu finden.

Bezüglich der Frage, ob die Ethik stets einer religiösen, gar einer theologischen Grundlage bedürfe, habe ich meine Auffassung schon skizziert: Eine säkulare Ethik ist möglich, wenn man Ansätze zu ihrer Begründung aus dem unmittelbar religiösen Kontext löst. Denn auch in den Religionen gibt es durchaus logische Strukturen, die nicht auf bloßem Glauben beruhen. Dass der Buddhismus hier eine besondere Rolle spielt, versuche ich im dritten Abschnitt zu zeigen. Der Buddhismus ist in weiten Teilen, die man als »buddhistische Philosophie« begreifen kann, von Glaubensüberzeugungen unabhängig. Der Buddha fordert geradezu jeden auf, selber zu erkennen. Hierin liegt, ich wiederhole diesen Gedanken, eine tiefe Nähe zum sapere aude, ›wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen‹, das Kant als Motto der Aufklärungsphilosophie formuliert hat. Um aber den Blick nicht zu sehr zu verengen: Dieser Gedanke findet sich gelegentlich auch in der chinesischen Philosophie, die insgesamt sonst – wie die mittelalterliche Theologie im Abendland – die tiefe Verbeugung vor der Tradition als moralischen Grundwert vertritt. Dennoch gibt es vereinzelt andere Stimmen, wie die von Mong Dsi, die für die nachfolgende Untersuchung durchaus als Motto dienen könnte:

2.2 ARISTOTELISCHE TUGENDETHIK

Die Philosophie Griechenlands, später adaptiert durch die römische Akademie und die Stoa, hat unterschiedliche Moralsysteme hervorgebracht. In der vorsokratischen Philosophie wurden menschliche Handlungen in diversen Gottheiten idealisiert. Dennoch haben Philosophen den Götterglauben nicht nur verteidigt, sondern durchaus auch kritisiert. So hat Xenophanes die griechischen Götter, wie sie bei Homer geschildert werden, als menschliche Projektionen bezeichnet. Auch Demokrit meinte, dass der Götterglaube nur aus Furcht vor Himmelserscheinungen entstanden sei. Heraklit betonte – wie bereits zitiert –, dass die Menschen im Logos (im gemeinsamen Sprechen) miteinander verbunden sind, obgleich sie glauben, ein Denken für sich allein zu haben. Diese Ansätze wurden von den Sophisten zu der Vorstellung verallgemeinert, dass jede Perspektive, also auch alle Moral, durch die Menschen gesetzt wird. Der berühmte Homo-Mensura-Satz des Protagoras lautet in seiner Kurzform: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge.« Gemeint ist der Einzelmensch, der sich jeweils in einer konkreten Situation entscheiden muss. Ein anderer Sophist – Gorgias – bestreitet die Möglichkeit einer allgemeingültigen Erkenntnis. Falls sie doch möglich sei, könne sie nicht mitgeteilt werden. Deshalb betonen die Sophisten – die in der späteren Philosophiegeschichte eher einen schlechten Ruf haben – die Wichtigkeit der Situation, in der Menschen handeln.{27} Die Situation richtig zu erkennen und dann die richtige, passende Entscheidung zu treffen wurde in dem Wort kairós (»der richtige, entscheidende Augenblick«) ausgedrückt. Aristoteles kennt gleichfalls diesen Begriff, der in den frühgriechischen Dichtungen (Hesiod, Pindar) eine wichtige Rolle spielte. Alle Handlungen haben ihre rechte Zeit. Sie zu beachten, kann man als Erbe der sophistischen Morallehre betrachten: Es gibt für Gorgias keine allgemein gültigen Regeln oder Begriffe. Richtiges Handeln bedeutet, in jeder Situation dieser gemäß den richtigen Augenblick zu erkennen. Es lässt sich hier ein ähnlicher Gedanke bei Sartre, aber auch in den Lehren des Buddha finden, der Abstraktionen als Einseitigkeit für die Beurteilung von Situationen ablehnt (vgl. AN 5.189).

Ein vergleichender Einschub kann das vielleicht illustrieren: Diese Vorstellung Platons erinnert an das Kastensystem Indiens, das der Buddha bekämpfte. Dieses System wird gerade durch die Karmalehre ideologisch stabilisiert: Eine soziale Reform ist sinnlos, weil Benachteiligte durch gehorsames Einfügen in die bestehende Ordnung als moralische Tugend in einem künftigen Leben in höhere Kasten aufsteigen und damit den Lohn für die Leiden als sozial Unterprivilegierte erhalten. Diese Vorstellung ist einer der Gründe, die Karmalehre einer gründlichen Revision zu unterwerfen (vgl. Abschnitt 3.3.4). Auch kann man im Konfuzianismus ähnliche Moralvorstellungen, dort ohne eine Wiedergeburtstheorie, finden. Moralisch handelt, wer sich in eine tradierte Ordnung widerspruchsfrei einfügt. Gleichzeitig sieht Konfuzius aber – darin liegt eine Nähe zum Buddhismus – moralisches Handeln »in der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen« verwirklicht.{28} Dieser Gedanke taucht in Platons Staat durch die am hierarchischen Lebensstil von Befehl und Gehorsam orientierten Vorstellungen vom Handeln in der Gemeinschaft nicht auf.

Platons Konstruktion eines Idealstaates unterscheidet sich allerdings in einem wichtigen Punkt von der indisch-brahmanischen und der konfuzianischen Vorstellung. Denn der Staat bei Platon soll gelenkt werden durch Intellektuelle (Philosophen). Deren Handeln wird aber philosophisch begründet; es leitet sich nicht einfach aus einer übernommenen Tradition (z.B. die Vorstellung vom »Goldenen Zeitalter« bei Konfuzius) ab. Allerdings entsteht die Moral bei Platon nicht aus dem Diskurs der Vielen auf dem Marktplatz (ágorá). Gegen Gorgias betont Platon, dass die bloße Rhetorik zur Bildung der Moral nicht ausreicht. Alle Moral gründet im sittlich Guten, das nicht durch anderes bedingt ist und als reine Idee geschaut werden müsse. Um die Ideen zu erkennen, dazu bedarf es der Philosophen. Die moralische Ordnung des Staates wird also durchaus philosophisch begründet; doch dies nur durch eine soziale Herrschaft der (männlichen) Philosophen, nicht durch die Einsicht vieler Menschen. Sklaven, Frauen und Fremde{29} bleiben von jeder Einspruchsmöglichkeit ausgeschlossen – was übrigens auch noch für Aristoteles gilt und ein bleibender dunkler Fleck in dessen Philosophie ist.

Die Ethik als Wissenschaft wird erst durch Aristoteles begründet. Seine Morallehre wird gemeinhin als klassische Form einer Tugendethik betrachtet. Das griechische Wort, das Aristoteles für Ethik verwendet, lautet ēthos (ἦθος) und bedeutet »Charakter« und »Sitte«, im Griechischen eng verwandt, dennoch unterschieden von ἜθΟς, »Gewohnheit«.{30} Beide Bedeutungen werden sich im Folgenden noch genauer in ihrer inneren Verbindung zeigen. Kurz gesagt: Man kann einmal vom ēthos als der vereinzelten Gewohnheit im menschlichen Handeln sprechen, zum anderen aber ist ēthos auch die soziale Institutionalisierung solcher Gewohnheiten (Sitten, Erziehungssysteme, Normen). Ēthos ist also eine Qualität an menschlichen Handlungen (Praxis), die sie privat und sozial formt. Aristoteles folgt Platon in dessen Kritik der Sophisten, indem er ausdrücklich die Lehrbarkeit des sittlichen Handelns betont. Es gibt, wie auch Platon sagt, mehrere »Seelenvermögen«, die den Charakter eines Menschen ausmachen. Die nicht vernünftigen Seelenvermögen sind jene, in denen der Mensch seiner Lust folgt (hēdonē).