Salto Fanale - Detlef Wolf - E-Book

Salto Fanale E-Book

Detlef Wolf

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Beschreibung

Wie fühlt sich jemand, der ALLES hatte und dann plötzlich nichts mehr? Einer, dem alle anderen gleichgültig waren, der nur an sich gedacht hat und der von heute auf morgen völlig allein dasteht. Vom reichen Bankierssöhnchen zum Bahnhofsstricher. Ist so einer noch zu retten?

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Seitenzahl: 344

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Detlef Wolf

Salto Fanale

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Buch

Ein Wort zuvor

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Der Autor

Impressum neobooks

Das Buch

Oswald Graf von Molzberg, Generaldirektor und Mehrheitseigner des traditionsreichen Bankhauses ‚Molzberg & Co‘ an der Hamburger Binnenalster, ist ein Schwergewicht in Finanzkreisen und unermeßlich reich und mächtig. Er ist bei niemandem beliebt, wird aber von allen gefürchtet.

Ebenso wie sein Sohn Adrian, der aus demselben Holz geschnitzt zu sein scheint, jedenfalls was Anspruchsdenken, Selbstherrlichkeit und Arroganz angehen. Mit denen aus seiner Schulklasse will er nichts zu tun haben. Das gilt natürlich auch für Tabea Lennard, die kleine, unscheinbare, graue Maus, die ihm aber doch, mehr zufällig als absichtlich, aus einer kleinen Verlegenheit hilft.

Dann geschieht das Ungeheuerliche.

Oswald von Molzberg wird verhaftet unter dem Verdacht des Betrugs, der Untreue, der Steuerhinterziehung. Er verliert alles, seine Macht, sein Vermögen, sein Haus, seine Bank, er ist vollkommen ruiniert. Und seine Familie mit ihm. Seine Frau und sein Sohn müssen Hamburg verlassen.

Sie ziehen nach Bochum, der Geburtsstadt von Charlotte Gräfin von Molzberg, Adrians Mutter. Dort trifft Adrian wieder auf Tabea, deren Vater in dieser Stadt für seine Firma eine neue Aufgabe übernommen hat.

Er ahnt nicht, daß seine alte und neue Klassenkameradin Tabea in seinem weiteren Leben eine bedeutende Rolle spielen wird.

Ein Wort zuvor

Wie immer, so ist auch diese Geschichte meiner Phantasie entsprungen. Es gibt keinen Zusammenhang mit Personen und tatsächlichen Begebenheiten, und falls jemand doch einen solchen konstruieren kann, so habe ich das nicht beabsichtigt. Das wäre dann ein Zufall.

Das gilt auch für die Namen der Personen in dieser Geschichte. Ich habe sie gewählt, weil sie mir gefallen haben oder weil ich sie für zum Charakter der Person passend hielt. Falls jemand tatsächlich so heißt, wie eine Person aus dieser Geschichte oder sich in einer solchen zu erkennen glaubt, so ist er nicht gemeint. Ganz sicher nicht.

Raesfeld-Erle, im Januar 2015

Detlef Wolf

1

Das Match endete unentschieden, wie so oft. Den Tie-Break schenkten sie sich. Denn danach mußte es einen Sieger geben. Aber auf einen so erspielten Sieg legten sie keinen Wert. Weil sie ihn als einen zufälligen ansahen. Und nur zufällig wollte keiner von ihnen gewinnen. Eine knappe Stunde hatte es gedauert, und keiner hatte sich einen entscheidenden Vorteil erspielen können. Sie waren eben beide gleich gut. Also ließen sie es einfach dabei. Schließlich war das hier kein Turnier, sondern nur ein Spaß an einem wunderschönen Sommernachmittag.

Abgekämpft und schweißnaß trafen sie sich danach am Netz, um sich, nach alter Tradition, die Hand zu reichen.

„Eigentlich sind wir ja verrückt, bei dieser Hitze Tennis zu spielen.“

Adrian Graf von Molzberg lächelte seine Freundin an. Sie war um einiges älter als er, sieben Jahre, um genau zu sein, aber das stand seiner Freundschaft zu ihr nicht im Wege. Eine Freundschaft, die nun schon siebzehn Jahre lang dauerte und begonnen hatte, als Bellinda Marquard den neugeborenen Nachbarsjungen zum erstenmal auf dem Arm gehalten hatte.

Sie hatte das Baby der Gräfin von Molzberg sofort ins Herz geschlossen, und dabei war es geblieben. Wie ein jüngerer Bruder, den sie nie hatte – sie hatte überhaupt keine Geschwister – war er anfangs gewesen, dann wie ein Bruder und Freund und schließlich wie ein Freund und Geliebter. Und da Adrian von Molzberg ebenfalls als Einzelkind aufwuchs, war es ihm genauso ergangen. Bellinda war seine Freundin und seine Geliebte. Das war einfach so. Es hatte sich so ergeben, und dabei würde es vermutlich auch bleiben.

Warum auch nicht? Bellinda war zwar um einiges älter, aber sie war eine bildhübsche Frau, der so mancher hinterhersah. Die meisten eigentlich. Sie war zwar ziemlich verwöhnt, reichlich anspruchsvoll und zuweilen nervtötend zickig, aber anspruchsvoll und verwöhnt war er auch, und ihrer Zickigkeit begegnete er mit der ihm eigenen Arroganz, die er von seinem Vater geerbt hatte und die ein hervorstechendes Merkmal seines Charakters war.

Über das seine Freundin allerdings großzügig hinwegsah. Zugunsten seiner körperlichen Vorzüge. Er war einfach ein knackiger Bengel, groß, schlank, gut gewachsen mit strohblonden Haaren und Augen, die einfach nicht wahr sein durften, so blau waren sie. Aber strahlend, strahlend waren sie nicht. Meistens blickten sie spöttisch und wenn nicht spöttisch, dann hart. Aber nur selten herzlich. Wie sie es auch jetzt nicht taten.

Aber Bellinda ging darüber hinweg. Ebenso wie über seine Bemerkung, die sich ein wenig zu sehr nach Jammern angehört hatte.

„Ach was, jetzt stell Dich nicht so an“, wies sie ihn zurecht. „Das bißchen Sonne wird Dich schon nicht umbringen. Geh unter die Dusche und nimm den Waschlappen, statt hier den Jammerlappen zu geben.“

Sie gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter und wandte sich der Damenumkleide zu.

Adrian steuerte den Bereich für die Herren an. Drinnen verstaute er den Tennisschläger in seinem Spind und zog sich aus. Seine Sachen ließ er achtlos auf dem Boden liegen. Irgendjemand würde sie aufheben, waschen und in seinem Spind deponieren. So war sichergestellt, daß er nach jedem Match frische und saubere Kleidung vorfand.

Als er wenig später die Bar des Clubhauses betrat, konnte man ihm zwar mit etwas Phantasie den Sportler ansehen, zumindest was seine Figur anging, aber ansonsten gab es keine Anzeichen dafür, daß er soeben eine schweißtreibende Stunde auf dem Tennisplatz verbracht hatte.

Er setzte sich an die Bar und bestellte sich einen Orangensaft.

Bellinda ließ auf sich warten. Wie gewöhnlich. Bei ihr war es nicht damit getan, einfach nur zu duschen und frische Sachen anzuziehen. Meke-up und Frisur kamen hinzu und nahmen für gewöhnlich geraume Zeit in Anspruch. Adrian war schon dabei, sich ein Taxi zu bestellen, als sie endlich auftauchte.

„Ich muß unbedingt wieder zum Friseur, meine Haare sind total verfilzt“, sagte sie entschuldigend.

„So, sind sie das“, antwortete Adrian und warf einen kritischen Blick auf ihre Frisur. „Kann ich nicht finden“, erwiderte er. „Jedenfalls nicht die auf Deinem Kopf.“

Sie gab ihm einen Stoß vor die Brust. „Sei nicht albern, Adrian.“

Er grinste anzüglich und gab dem Barkeeper ein Zeichen, der ihnen sofort ein Glas frisch gepreßten Orangensaft servierte.

„Kommst Du noch mit zu mir?“ fragte sie, nachdem sie den ersten Schluck genommen hatte.

„Wenn Du willst“, antwortete er und bemühte sich, seiner Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben.

„Ich will doch immer, das weißt Du doch“, gab sie zurück.

„Ja dann“, machte er gedehnt, „will ich mich dem Willen einer begehrenswerten Frau natürlich nicht widersetzen.“

Sie lachte. „Jetzt tu doch nicht so, als ob Du’s nicht auch wolltest.“

„Und wie ich es will. Ich liebe es, in Deine Wohnung zu kommen. Der phantastischen Aussicht wegen. Auf die Alster. Unter anderem.“

„Na ja, für das ‚unter anderem‘ sind die Aussichten aber auch nicht schlecht“, gurrte sie.

„Worauf warten wir dann noch?“ fragte er und leerte sein Glas in einem Zug.

Sie verließen die Bar ohne zu zahlen. So wie jedesmal. Um solche Kleinigkeiten brauchten sie sich nicht zu kümmern. Die Rechnung würde am Ende des Monats an ihre Väter geschickt werden.

Auf dem Parkplatz steuerten sie ein weißes Porsche Cabriolet an, das Bellinda zu ihrem letzten Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. Sie hatte den Schlüssel entgegengenommen, ohne sich über die Monstrosität dieses Geschenks auch nur einen Gedanken zu machen. Vielmehr war sie der Meinung, es gehöre für jemanden wie sie einfach dazu, mit einem solchen Sportwagen ausgerüstet zu sein.

Ebenso wie die Dachwohnung in Pöseldorf mit einem uneinsehbaren Balkon und einem herrlichen, unverstellten Blick über die Außenalster, den Adrian zuvor bereits angesprochen hatte.

Dorthinein kamen sie nach kurzer Fahrt, und daß Adrians Bemerkung über seine Freundin als einer begehrenswerten Frau kein leeres Gerede war, bewies er ihr, indem er ihnen nicht einmal die Zeit gab, sich ihrer Kleider vollständig zu entledigen.

Irgendwann und irgendwie mußten sie es dann aber doch geschafft haben, denn als Adrian gegen Mitternacht wach wurde, fand er sich gänzlich ohne in Bellindas Bett und in ihren Armen. Vorsichtig befreite er sich aus ihrer Umarmung.

„Ich glaub, ich sollte mal langsam nach Hause gehen“, meinte er, während sie ihm verschlafen beim Anziehen zusah.

„Wieso kannst Du nicht bleiben?“

„Morgen ist Schule, und meine Mutter will, daß ich vorher zuhause gefrühstückt habe.“

„Frühstücken kannst Du doch auch bei mir“, warf sie ein. „Und dann fahren wir bei Dir vorbei und holen Deine Schulsachen.“

„Ach, Linda, das hat doch noch nie geklappt. Das einzige, was ich bei Dir zum Frühstück kriege, bist Du, und wenn wir dann mit frühstücken fertig sind, hat in der Schule die große Pause schon angefangen. Aber sowas kann ich mir im Moment nicht leisten, so wie ich dastehe. Wenn ich dieses Jahr wieder ‘ne Ehrenrunde drehen muß, bringt der Alte mich um.“

Seufzend erhob sich nun auch Bellinda aus dem Bett. „Soll ich Dich fahren?“

Unverhohlen betrachtete er die schöne, junge Frau. Dann winkte er ab. „Nee, Du, laß mal. Ich lauf lieber. Das bringt mich auf andere Gedanken. Außerdem, bis Du angezogen bist, bin ich’s wahrscheinlich schon wieder nicht mehr.“

Er kicherte leise. Dann drückte er ihr einen Kuß auf den Mund und war verschwunden.

***

Das Haus seiner Eltern am Harvestehuder Weg lag im Dunkeln, als er das weitläufige Grundstück betrat. Was ihn nicht überraschte, denn sein Vater war, wie üblich, geschäftlich irgendwo unterwegs, und seine Mutter pflegte abends nie lange aufzubleiben. So kam er unbemerkt in sein Zimmer.

Sein Zimmer, das war eigentlich ein Appartment im Dachgeschoß der alten Gründerzeitvilla, die sein Urgroßvater einst am Ufer der Außenalster hatte bauen lassen. Heinrich Graf von Molzberg war der Gründer des ‚Bankhauses Von Molzberg und Consorten‘, das heute unter dem Namen ‚Bankhaus Molzberg & Co‘ firmierte und dem nun sein Vater in dritter Generation vorstand. Es war vorgesehen, daß Adrian es in der vierten Generation weiterführen sollte. Selbstverständlich ebenso erfolgreich wie seine Vorfahren, so wurde erwartet.

Denn daß Heinrich Graf von Molzberg ein erfolgreicher Bankier gewesen war, drückte sich nicht zuletzt in diesem Haus aus, dessen oberste Etage sein Urenkel Adrian nun zu nächtlicher Stunde betrat. Er verfügte dort über ein Wohn- und Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer und ein Badezimmer von der Größe eines stattlichen Familienappartments und ausgestattet mit allem denkbaren Komfort. Nebst dem dazugehörenden Service, denn, abgesehen von einer gewissen Unordnung auf dem Schreibtisch, befand sich das gesamte Appartment in einem makellos sauberen und ordentlichen Zustand. Darum kümmerte sich das Hauspersonal, täglich, während er in der Schule war. Das schloß selbstverständlich auch seine Garderobe mit ein, und so ließ er auch hier seine Kleidung, von der es ihm nie in den Sinn gekommen wäre, sie ein zweites Mal anzuziehen, auf dem Boden des Badezimmers zurück, nachdem er seine Abendtoilette erledigt hatte.

Das Bett war für die Nacht aufgeschlagen und ein frischer Schlafanzug bereitgelegt. Er schlüpfte hinein, legte sich hin und war sofort eingeschlafen.

Am Morgen erwachte er rechtzeitig, obwohl die Nacht kurz gewesen war.

Adrian war diese kurzen Nächte gewohnt. Es kam häufiger vor, daß er die Abende bei Bellinda verbrachte, die dann allesamt so oder ganz ähnlich verliefen wie der vergangene. Zu sagen hatten er und seine schöne Freundin sich nicht allzu viel, aber was das Körperliche anging, schwammen sie ganz auf einer Wellenlänge. Sie hatte es ihm beigebracht, sobald er als Jugendlicher dazu in der Lage war, und er war ein williger Schüler gewesen. Es bildete den Hauptpunkt ihres gemeinsamen Programms, auf dem daneben der Sport, ausgedehnte und exzessive Einkaufstouren und das Treffen mit Gleichgesinnten in den einschlägigen Szenelokalen stand. Was ebenfalls ein ums andere Mal zu kurzen Nächten führte. Nach denen er zudem oft auch unter den Nachwirkungen des Alkohols zu leiden hatte, der üblicherweise während solcher Zusammenkünfte konsumiert wurde.

Zumindest das war an diesem Tag nicht der Fall, und so hatte Adrian keine Mühe, sich rechtzeitig zum Frühstück mit seiner Mutter im Eßzimmer einzufinden.

***

Charlotte Gräfin von Molzberg war eine stille, sanfte Erscheinung von außergewöhnlicher Schönheit und herausragender Intelligenz. Niemandem wäre das aufgefallen, hätte die Tochter eines Bergmannes aus dem Ruhrgebiet nicht nach dem Abschluß der Realschule in der Essener Zweigstelle des Bankhauses ‚Molzberg & Co‘ ihre kaufmännische Ausbildung begonnen und wäre dort auch weiter tätig geblieben, so daß sie zwangsläufig dem Direktor dieses Bankhauses bei einem seiner unregelmäßigen Besuche begegnen mußte. Ihm fiel sie nämlich auf, in dem Moment, in dem er sie zum ersten Mal sah.

Bald darauf hatte er begonnen, um sie zu werben und nach geraumer Zeit damit auch Erfolg gehabt. Obwohl sie es ihm nicht leicht gemacht hatte. Zum einen war er soviel älter als sie, und zum anderen kamen sie beide aus Verhältnissen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können: hier der schwerreiche Bankier aus der prächtigen Villa an der Hamburger Außenalster und dort die Tochter eines silikosegeplagten Frührentners aus einer heruntergekommenen Bergarbeitersiedlung in Bochum-Langendreer.

Aber Oswald Graf von Molzberg hatte sie bekommen, seine Charlotte Pertzau, so wie er alles bekam, was er haben wollte, und er hatte sich gegen alle Widerstände und Einwände durchgesetzt, die ihm wegen dieser offensichtlichen Mesalliance entgegengebracht wurden.

„Ach was, wenn ein König Eduard VIII eine Wallis Simpson heiraten kann, dann kann ein Graf von Molzberg auch eine Charlotte Pertzau heiraten“, hatte er sämtliche Bedenken beiseitegewischt. „Und ich muß dabei nicht einmal auf was verzichten, während der gute Eduard gleich sein ganzes Königreich verloren hat.“

Dann hatte er seinem zukünftigen Schwiegervater auf die Schulter geklopft und verlangt: „Komm, Anton, laß uns ein Bier trinken, auf Deine wunderbare Tochter und auf ihren Vater, der das so vorzüglich hinbekommen hat.“

Daß diese Rede aufgesetzt war und ganz und gar nicht dem Befinden des Grafen entsprach, was seine Schwiegereltern betraf, hatte niemand sonst bemerkt, außer vielleicht seiner jungen Frau, die aber dazu schwieg. Er hatte es auch danach niemals deutlich werden lassen, daß er, außer mit seiner Frau, mit dem Rest der Pertzaus nichts zu tun haben wollte. Im Gegenteil. Er hatte sich vielmehr darum bemüht, ihnen das Leben so angenehm wie möglich zu machen und sich ansonsten von ihnen ferngehalten.

Obwohl sie nur wenig von dem annahmen, was er ihnen anbot. Sie entschieden sich, ihr bisheriges Leben weiterzuleben und nicht ein vermeintlich wesentlich angenehmeres und zumindest sorgenfreies Dasein in Hamburg zu genießen. Sie wollten bleiben wo und wie sie waren. Immerhin hatten sie mit Hilfe ihres Schwiegersohns ihr kleines Bergarbeiterhäuschen erworben und herrichten lassen.

Leider war es Anton Pertzau nur einige, wenige Jahre vergönnt, seinen unerwarteten Wohlstand zu genießen, dann wurde er das Opfer seiner Staublunge und der vielen Zigaretten, die er trotzdem nicht aufgehört hatte, zu rauchen. Charlottes Mutter überlebte ihren Mann um gut zehn Jahre, aber im vergangenen Jahr war auch sie gestorben.

Ihren einzigen Enkel Adrian hatte sie während dieser Zeit kaum zu Gesicht bekommen. In Bochum, im Haus seiner Großeltern, war er nie gewesen und getroffen hatte er sie lediglich bei den Geburtstagsfeiern seiner Mutter, die stets Wert darauf gelegt hatte, daß ihre Eltern und, nach dem Tod ihres Vaters, zumindest ihre Mutter dazu eingeladen wurden. Sie blieb einen oder zwei Tage in Hamburg, fuhr dann aber bald wieder zurück nach Bochum. Sie fühlte sich einfach nicht wohl in dem riesigen Haus ihres Schwiegersohns mit all dem Personal und ihrem verwöhnten, anspruchsvollen und eingebildeten Enkel, der so gar nichts von seiner Großmutter wissen wollte. Nicht einmal zur Beerdigung war er nach Bochum gekommen.

Das hatte auch sein Vater nicht getan. Angeblich hatte ihn eine unaufschiebbare Geschäftsreise daran gehindert.

So war denn Charlotte, geborene Pertzau allein ins Ruhrgebiet gereist, zur Beerdigung ihrer Mutter. Mit dem Zug diesmal und nicht mit einer chauffeurgesteuerten Limousine des Bankhauses ‚Molzberg & Co‘, die ihr normalerweise für ihre Reisen zur Verfügung stand. Gewohnt hatte sie in dem kleinen Bergarbeiterhaus, das ihr Elternhaus gewesen war und das nun ihr gehörte.

Lange hatte sie nicht gewußt, was sie damit machen sollte. Es zu verkaufen wäre ihr schäbig vorgekommen, obwohl ihr Mann sie damit bedrängte. Also hatte sie es zuerst einmal gründlich renovieren und modernisieren lassen. Jetzt war es das schönste Haus der Siedlung, die längst nicht mehr als schäbig zu bezeichnen war, denn auch die Nachbarn hatten im Laufe der Zeit ihre Häuser herrichten lassen, nachdem sie mehr oder weniger alle zu bescheidenem Wohlstand gekommen waren. Doch trotzdem es ein so schönes Haus geworden war, bewohnte es niemand. Charlotte konnte sich nicht dazu durchringen, es zu vermieten. Der Gedanke daran, daß fremde Leute in den Zimmern leben würden, die einmal die ihren und die ihrer Eltern gewesen waren, behagte ihr nicht. Zum Glück war sie nicht auf Mietzahlungen angewiesen und überdies noch in der Lage, es in einem bewohnbaren Zustand halten lassen zu können. Also ließ sie es leerstehen.

Das letzte Mal hatte sie darin gewohnt, als sie zu Allerheiligen des vergangenen Jahres die Gräber ihrer Eltern besucht hatte. Auch bei dieser Gelegenheit hatte sie alleine fahren müssen. Adrian hatte ihre Bitte, sie zu begleiten, rundweg abgelehnt und Oswald, nun ja, er zog das alljährliche Abendessen der Hamburger Bankiers dem Besuch am Grab seiner Schwiegereltern vor.

„Was soll ich da?“ hatte er gefragt. „Deine Eltern sind tot, und sie werden es bleiben, ob ich sie nun auf dem Friedhof besuche oder nicht. Aber meine Kollegen hier, die leben. Und ich will, daß sie meine Kollegen auch bleiben. Und deshalb werde ich diese Dinnerparty besuchen.“

Seine Worte hatten ihr einen ziemlichen Stich versetzt, aber in ihrer stillen Art hatte sie es hingenommen und nicht protestiert. Weder ihrem Mann noch ihrem Sohn gegenüber. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Ihr Mann hatte es schon immer verstanden, kompromißlos seinen Willen durchzusetzen, und sein Sohn verstand es zunehmend. Es gab wenige Dinge, die er sich von ihr noch sagen ließ.

***

Das gemeinsame Frühstück, zu dem er jetzt kam, war eines der wenigen. Den Begrüßungskuß, den er ihr gab, den gab er ihr allerdings freiwillig. Dazu mußte ihn niemand auffordern. Und auch das Lächeln, mit dem er ihr einen Guten Morgen wünschte, war nicht aufgesetzt. Es war ehrlich gemeint.

Adrian von Molzberg liebte seine Mutter. Aufrichtig. Und sogar mehr als Bellinda. Mit Sicherheit. Denn ob er Bellinda überhaupt liebte, dessen war er sich keineswegs sicher. Gut, sie verstanden sich prächtig im Bett, und man konnte eine Menge mit ihr unternehmen, aber ob er sie wirklich liebte? Und wenn schon nicht sie, wen liebte er überhaupt? Abgesehen von seiner Mutter. Aber sonst? Seinen Vater vielleicht? Schon allein der Gedanke daran war absurd. Wie konnte man einen Mann wie Oskar von Molzberg überhaupt lieben? Selbst wenn er der eigene Vater war. Wie hatte sich seine Mutter je in ihn verlieben können? Aber vielleicht hatte sie das ja auch gar nicht. Vielleicht hatte sie der Hochzeit einfach nur zugestimmt, damit sie endlich ihren Frieden hatte. Wer, außer ihr, konnte das schon wissen? Und sie würde diese Frage bestimmt nicht beantworten.

Und sein Vater? Liebte der seine Mutter eigentlich noch? Daß seine Eltern irgendwelche Zärtlichkeiten austauschten, hatte er noch nie gesehen. Vielleicht taten sie das, wenn sie miteinander allein waren, das konnte er natürlich nicht wissen. Obwohl, schließlich mußte er selbst ja irgendwie mal entstanden sein. Aber vorstellen konnte er sich das kaum. Es gab ja auch so gut wie keine Gelegenheit dazu. Die meiste Zeit war sein Vater nicht zu Hause, und wenn er es war, dann schliefen seine Eltern in getrennten Zimmern. Und über die Zeit gegenseitiger nächlicher Besuche zum Kuscheln in des anderen Bett oder mehr, waren sie vermutlich längst hinaus.

Aber das alles focht ihn nicht an, als er sich an diesem Morgen zu seiner Mutter an den Frühstückstisch setzte, nachdem er sich an dem umfangreichen Buffet bedient hatte, das die Köchin jeden Morgen für sie beide oder, in Ausnahmefällen und meistens an den Wochenenden, für ihn und seine Eltern im Eßzimmer aufbaute.

Adrian war ein guter Frühstücker. Mit Appetit verputzte er eine umfangreiche Portion Rührei mit Speck, Würstchen und Pilzen. Amüsiert sah ihm seine Mutter dabei zu, während sie sich mit einem Marmeladentoast begnügte.

„Du scheinst ja richtig ausgehungert zu sein“, stellte sie fest. „Hast Du gestern kein ordentliches Abendessen bekommen?“

„Ich war bei Bellinda“, antwortete er zwischen zwei Bissen. „Und Du weißt ja, wie weit es mit deren Kochkünsten her ist.“ Er sah sie an und zwinkerte ihr zu. „Aber bevor Du fragst, Mama, danke nein, ich will kein Schulbrot mitnehmen.“

Sie lachte. „Bist Du zum Mittagessen hier?“

„Sehr wahrscheinlich schon“, nickte er. „Bellinda wollte heute zur Uni.“ Er grinste „Ausnahmsweise mal wieder. Also rechne mal mit mir. Wenn nicht, ruf ich vorher an.“

***

Wiederum mit einem Kuß verabschiedete er sich von seiner Mutter. Draußen wartete ein Wagen auf ihn. Wenn sein Vater unterwegs war und auch sonst, wenn es sich gerade so ergab, benutzte er dessen Wagen, um sich zur Schule bringen zu lassen. So auch heute. Daß fast alle an seiner Schule sich darüber das Maul zerrissen, störte ihn nicht im geringsten. Er war Adrian Graf von Molzberg, Erbe des Bankhauses ‚Molzberg & Co‘, dem ein solcher Dienst zukam. Basta!

Entsprechend selbstbewußt schritt er durch die in lockeren Grüppchen auf dem Schulhof zusammenstehenden Mitschüler hinein ins Schulgebäude und in seine Klasse. Er grüßte niemanden und wurde von niemandem gegrüßt. Seine Klassenkameraden nahmen zur Kenntnis, daß er hereingekommen war, er aber ignorierte sie einfach. Stattdessen packte er seine Sachen aus, setzte sich und wartete ruhig auf den Beginn der ersten Unterrichtsstunde an diesem Tag, während die meisten der Anderen noch lauthals über die erledigten oder, aus welchen Gründen auch immer, unerledigten Hausaufgaben debattierten.

Adrian hatte seine Schularbeiten gemacht. Das Nötigste jedenfalls hatte er getan, bevor er sich mit Bellinda zum Tennisspielen getroffen hatte. Gerade soviel, daß er nicht Gefahr lief, in diesem Schuljahr das Klassenziel ein zweites Mal zu verpassen. Das war ihm im vergangenen Jahr passiert, nicht, weil er nicht in der Lage gewesen wäre, dem Unterricht zu folgen und den gelehrten Stoff zu verstehen, sondern weil er kein Interesse daran gehabt hatte. Er war nicht dumm, im Gegenteil, wenn er wollte, konnte er sein Gehirn zu außergewöhnlichen Hochleistungen aktivieren. Aber er hatte nicht gewollt. Er hatte einfach keine Lust auf Schule. Sie kam ihm altbacken vor, bieder und langweilig. Irgendwann hatte er den Zeitpunkt zum Beginn der Aufholjagd verpaßt, die ihn in den Jahren zuvor noch immer über die Versetzungshürde gebracht hatte, und folgerichtig war er sitzen geblieben.

Sein Vater hatte getobt. Natürlich hatte er gedroht und Sanktionen verhängt, deren Einhaltung er allerdings nicht kontrollieren konnte in der wenigen Zeit, die er zu Hause verbrachte. Also hatte Adrian sich nicht darum gekümmert, denn die Bemühungen seiner Mutter, den Erziehungsversuch ihres Mannes dem Sohn gegenüber durchzusetzen, hatte er einfach ignoriert. Immerhin hatte er darauf geachtet, seine schulischen Leistungen auf einem Niveau zu halten, das ihm die Versetzung in die nächst höhere Klasse ermöglichen würde. Besonders schwierig war das nicht gewesen, nur lästig eben, wenn alles andere einen so viel höheren Stellenwert hatte als ausgerechnet die Schule.

Auch an diesem Tag folgte er dem Unterricht aufmerksam, aber ohne sich zu beteiligen. Wurde er gefragt, wußte er die richtige Antwort. Einen Beitrag aus eigener Initiative leistete er hingegen nicht. Die Note in ‚Mitarbeit im Unterricht‘ war nicht versetzungsrelevant. Also beschränkte er seine Mitarbeit auf das erforderliche Minimum.

Im Deutschunterricht, der die ersten beiden Stunden dieses Schultages ausfüllte, allemal. Das Geschwafel des Lehrers zu den Werken der klassischen Literatur war ihm zutiefst zuwider. Wen interessierte schon, was sich die Dichter und Literaten vor ein paar Jahrhunderten beim Schreiben ihrer Werke gedacht hatten? Schnee von gestern und höchst langweilig.

Der Mathematiklehrer gab in der dritten Stunde die Mathematikarbeit zurück, die sie vor einigen Tagen geschrieben hatten. Die letzte von vieren, die in diesem Schulhalbjahr zu schreiben gewesen waren. Bei zweien davon hatte Adrian danebengegriffen, eine hatte er mit passablem Ergebnis geschafft. Diesmal war er recht zuversichtlich, eine ausreichende Punktzahl erreicht zu haben. Ausnahmsweise hatte er sich auf die Prüfung vorbereitet, denn ein ‚Mangelhaft‘ in Mathematik konnte er sich nicht leisten. Also sah er dem Ergebnis gelassen entgegen.

Er hatte sich nicht getäuscht.

„Sieht so aus, als ob Du’s dieses Jahr geschafft hättest, Molzberg“, sagte der Lehrer „Eine reife Leistung war das allerdings nicht gerade. Ich bin ziemlich sicher, daß Du das besser hättest machen können.“ Er hielt Adrian das Heft hin.

Der blickte ihn nicht einmal an und ignorierte die ausgestreckte Hand mit dem Heft darin.

„Willst Du mir Dein Heft nicht abnehmen?“ fragte der Lehrer verärgert.

Adrian lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah den Mann mit einem unvergleichlich arroganten Gesichtsausdruck an.

„Falls Sie mit mir reden, Herr Zabattkovski, mein Name ist Adrian Graf von Molzberg und ich wünsche, in korrekter Form angesprochen zu werden. Wenn Sie sich das bitte merken wollen, Herr Zabattkovski.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Also?“

Die anderen in der Klasse hielten den Atem an und warteten auf die Reaktion des Lehrers. Mit Zabattkovski war in der Regel nicht gut Kirschen essen. Je nachdem wie er drauf war, konnte er einen ganz fies zur Schnecke machen. Und heute war er ganz und gar nicht gut drauf, das hatten sie alle schon gemerkt, als er hereingekommen war. Die Klassenarbeit war nicht besonders gut ausgefallen, und er war entsprechend frustriert darüber, daß seine Bemühungen, den Unterrichtsstoff zu vermitteln, so wenig Erfolg gezeigt hatten. Es war also zu erwarten, daß die Antwort auf das unverschämte Auftreten ihres Mitschülers entsprechend heftig ausfallen würde.

Aber nichts dergleichen geschah. Wortlos drehte sich der Lehrer um, ging langsam zu der Ecke des Klassenzimmers, in dem der Papierkorb stand und ließ das Heft hineinfallen. Ebenso langsam ging er dann zu seinem Pult zurück, nahm das nächste Heft vom Stapel und händigte es seinem Besitzer aus. Ruhig und gelassen äußerte er sich zu dessen Leistung, bevor er mit der nächsten Arbeit fortfuhr.

Das hatte niemand erwartet. Trotzdem blieb die Anspannung bestehen. Die Stunde war ja noch nicht zu Ende, und was nicht war, konnte ja noch kommen. Aber es geschah nichts weiter. Am Ende des Unterichts verabschiedete sich der Lehrer wie gewohnt und ging hinaus.

Erleichtertes Aufatmen allenthalben. Normalerweise wäre dieser Vorfall jetzt Gegenstand eines lautstarken Palavers gewesen, aber da er mit Adrian Graf von Molzberg zu tun hatte, enthielt sich jeder in der Klasse eines Kommentars. Stattdessen schwiegen sie alle, zumindest bis Adrian den Raum verlassen hatte, um die Pause auf dem Schulhof zu verbringen.

Während die anderen ihm folgten, erhob sich leises Gemurmel.

Tabea Lennard ging als Letzte hinaus. Vorher allerdings nahm sie Adrians Arbeitsheft aus dem Papierkorb und verstaute es in ihrer Schultasche.

2

Der schrille Pfiff des Sportlehrers beendete den Unterricht für diesen Tag. Tabea ließ den Ball ein paarmal auf den Boden springen und beförderte ihn dann mit einem gezielten Wurf in den Korb zu den anderen Bällen. Sie war ausgelaugt, müde, verschwitzt aber zufrieden. Der Sportunterricht hatte gutgetan. Sie mochte es, sich zu bewegen, nach den langen Stunden in der Klasse, in denen man nur stillsitzen konnte.

Eilig lief sie mit den anderen Mädchen in den Umkleideraum, zog sich aus, duschte und kramte nach der frischen Wäsche, die sie in ihrer Schultasche mitgebracht hatte. Adrians Mathematik-Arbeitsheft fiel ihr dabei in die Hände. Sie wollte es ihm zurückgeben, am besten unbemerkt, denn wahrscheinlich würde er es ihr mit einer abfälligen Bemerkung vergelten, wie das so seine Art war. Man konnte eben nichts mit ihm anfangen. Trotzdem hatte sie das Heft aus dem Papierkorb genommen. Er hätte Schwierigkeiten bekommen, wenn das Heft mit dem Ausleeren des Papierkorbs in den Müll gewandert wäre. Und das wollte sie nicht.

Sie konnte nicht einmal sagen, warum. Es war eben so. Sie konnte einfach nicht anders. Dabei mochte sie Adrian im Grunde überhaupt nicht. Ebensowenig wie die anderen aus der Klasse. Da waren sie sich einig, er war und blieb ein arrogantes Arschloch, von dem man sich am besten fernhielt. Klar, wenn man ihn so ansah, war er der süßeste Junge der ganzen Schule. Niemand sonst sah so gut aus wie Adrian Graf von Molzberg. Trotzdem tat man als Mädchen besser daran, sich nicht in ihn zu verlieben. Das konnte nur zu einer herben Enttäuschung führen. Abgesehen davon hatte er ja auch bereits eine Freundin. Alle wußten das, weil sie ihn gelegentlich von der Schule abholte. Mit einem Porsche-Carrera Cabrio. Dagegen konnte keine anstinken.

Am allerwenigsten Tabea. Der ein solcher Versuch auch gar nicht erst in den Sinn gekommen wäre. Aber an diesem Tag paßte sie den Grafen auf dem Schulhof vor der Turnhalle ab.

Er kam als Letzter aus dem Gebäude heraus. Bei ihm dauerte es seine Zeit, bis er sich nach dem Sportunterricht wieder für präsentierfähig hielt. Tabea ging auf ihn zu und zog dabei das Heft aus der Tasche.

„Hier, ich hab Dein Matheheft eingesammelt, damit Du keinen Ärger kriegst, wenn’s im Müll landet“, sagte sie und hielt es ihm hin.

Adrian zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wieso interessiert’s Dich, ob ich Ärger kriege oder nicht?“

Anders allerdings als seinem Mathematiklehrer, nahm er ihr das Heft ab.

„Eigentlich interessiert’s mich nicht. Es war wohl eher so ein Reflex, daß ich’s mitgenommen hab.“

„Wär nicht nötig gewesen“, meinte er. „Die Putzfrau hätte sicherlich gemerkt, daß das Ding nicht in den Müll gehört und hätte es schon rausgenommen.“

„Und wenn nicht?“

Adrian zuckte die Achseln. „Dann wär’s halt im Müll gelandet. Wo ist das Problem? Meins ist es auf jeden Fall nicht. Ich hab’s ja nicht reingeworfen.“

Tabea sah in das hochmütige Gesicht ihres Klassenkameraden. Sie schüttelte den Kopf.

„Warum bist Du so?“ fragte sie.

„Warum bin ich wie?“ fragte er zurück.

„Warum bist Du so ein Arschloch. Oder, wenn Du keins bist, warum führst Du Dich dann ständig wie eins auf?“

„Tu ich das?“

Tabea sah ihn schief an. „Was glaubst Du wohl, warum die Anderen hier mit Dir nichts zu tun haben wollen?“

„Woher willst Du wissen, daß ich was mit den Anderen zu tun haben will?“

„Ach komm, jetzt tu doch nicht so. Du kannst mir doch nicht erzählen, daß Du das normal findest.“

„Will ich auch gar nicht. Weil’s Dich nichts angeht, was ich für normal oder nicht normal halte.“

Er stopfte das Heft achtlos in seine Tasche.

„Aber Du willst anscheinend mit mir was zu tun haben, oder?“ fragte er dabei.

Tabea sah ihn erstaunt an. „Wie kommst Du darauf?“

„Immerhin hattest Du die Absicht, mir Ärger zu ersparen. Hast Du gesagt.“

„Stimmt. Eigentlich weiß ich auch nicht wieso.“ Sie zuckte mit den Schultern. „War wohl irgendwie so’n Reflex.“

Mittlerweile waren sie langsam zum Schultor gegangen. Draußen, auf der Straße stand die große Limousine, mit der Adrian nach Hause gebracht werden sollte.

„Kann ich Dich irgendwohin mitnehmen?“ fragte Adrian unvermittelt.

Tabea war so überrascht, daß sie ihn nur sprachlos anstarren konnte.

Er lachte. „Nun steig schon ein“, forderte er sie auf und öffnete die Wagentür.

Sie wußte gar nicht wie ihr geschah, als sie sich plötzlich auf dem Rücksitz des luxuriösen Autos wiederfand.

„Rück mal, daß ich auch noch reinkomme“, verlangte Adrian jetzt, quetschte sich neben sie und schlug die Tür zu.

Während Tabea gehorsam zur Seite rutschte, gab Adrian dem Fahrer Tabeas Adresse an.

„Woher weißt Du denn, wo ich wohne?“ fragte sie, völlig überrascht, nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.

Wieder lachte Adrian. Aber es war kein häßliches Lachen, so wie sonst. Diesmal klang es freundlich, und es klang nett, auch als er dann sagte: „Du wirst es nicht glauben, Tabea, aber ich weiß von jedem in der Klasse, wo er wohnt. Und ich kenne auch die Namen von allen.“

Ungläubig schüttelte Tabea den Kopf. „Du bist schon ein seltsamer Typ, aber ehrlich.“

„Kann gut sein“, antwortete er und sah sie lächelnd an. „Und vielleicht bin ich ja doch nicht so das totale Arschloch, für das mich alle halten.“ Er lehnte sich zurück in die Polster und sah nach vorne. „Aber sollen sie ruhig, mich stört das nicht.“

„Tut’s ja wohl“, entgegnete sie. „Sonst würd’st Du das jetzt nicht so sagen.“

„Und wenn? Wen würde das interessieren? Dich etwa?“

„Vielleicht“, antwortete sie achselzuckend.

„Und warum?“

„Das, mein Lieber, geht Dich jetzt nichts an.“ Sie lachte. „Aber ich sag’s Dir trotzdem. Fast ein Jahr bist Du jetzt schon in meiner Klasse, und ich hab mich immer mal wieder gefragt, was Du eigentlich für einer bist. Aber eine Antwort hab ich nicht gefunden.“

„Und? Hast Du’s jetzt rausgekriegt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nee, leider nicht. Wenn Du mich eben auf dem Schulhof hättest stehen lassen, dann ja. Denn da warst Du das arrogante Arschloch, das Du immer bist. Aber dann hast Du mich eingeladen, mich nach Hause zu bringen. Und das fand ich echt nett. Und das paßt jetzt irgendwie überhaupt nicht zu dem arroganten Arschloch. Also weiß ich wieder nicht, wo ich mit Dir dran bin.“

„Blöd, oder?“ er grinste sie an. „Dein Adrian, das unbekannte Wesen.“

Er sah nach vorne, weil der Fahrer bremste und rechts an den Straßenrand fuhr.

„Wir sind da“, stellte er fest. „Also, mach’s gut. Wir seh’n uns morgen.“

Tabea nickte und stieg aus. Kopfschüttelnd sah sie dem davonfahrenden Auto nach.

„Sachen gibt’s“, murmelte sie undeutlich und kramte in ihrer Schultasche nach dem Haustürschlüssel.

***

Im Hausflur traf sie ihren Bruder.

„Na, Schwesterchen, schön fleißig gewesen?“ begrüßte er sie.

„Ja, im Gegensatz zu Dir“, gab sie zurück. „Wieso bist Du eigentlich nicht in der Uni?“

Lukas hatte im vergangenen Jahr Abitur gemacht und studierte nun an der Uni Hamburg Jura im zweiten Semester.

„Weil ich mir das aussuchen kann, ob ich hingehe oder nicht. Ganz im Gegensatz zu Dir, Schwesterchen. Und heute habe ich mir eben ausgesucht, nicht hinzugehen. Noch Fragen?“

Tabea streckte ihm die Zunge raus. Lukas konnte ein Ekel sein, aber im allgemeinen war er ganz okay.

„Sag mal, was war das eben denn für’n dicker Mercedes, aus dem Du da ausgestiegen bist?“

Hatte er es also gesehen. Das hätte jetzt nicht sein müssen, aber andererseits war ja auch nichts dabei.

„Ein Klassenkamerad hat mich mitgenommen.“

Lukas sah sie ungläubig an. „Seit wann fahren Sechzehnjährige mit solchen Wahsinns-Schlitten durch die Gegend?“

„Erstens ist der Typ schon siebzehn, weil er nämlich letztes Jahr hängen geblieben ist und deshalb in meine Klasse geht, und zweitens ist das natürlich nicht sein Auto, sondern das seines Vaters. Das er, drittens, auch nicht selber gefahren hat, sondern der Chauffeur seines Vaters. Noch Fragen?“

„Hoi-joi-joi“, machte Luckas. „Was iss’n das für einer, daß er seinen Sohn mit’m Chauffeur von der Schule abholen läßt?“

„Wie der Alte heißt, weiß ich nicht. Der Sohn ist jedenfalls Adrian Graf von Molzberg, das größte Arschloch der Schule.“

„Aha, ein Arschloch also. Und mit dem bist Du mitgefahren?“

Tabea zuckte die Schultern. „Hatte sich gerade so ergeben.“

„Na, dann kann der Kerl ja so’n Riesenarschloch gar nicht sein, wenn er Dir ‘n Lift anbietet.“

„Das hat mich allerdings auch gewundert. Weil’s gar nicht zu ihm paßt.“

Tabea erzählte ihrem Bruder die ganze, komische Geschichte.

„Und deshalb weiß ich jetzt noch immer nicht: Ist er nun eins, oder ist er keins?“

„Was?“

„Na, ein Arschloch eben.“

„Tja, die Welt ist voller Mysterien“, meinte Lukas philosophisch. „Das nächste Mysterium ist: Was gibt’s zum Mittagessen?“

„Was fragst Du mich? Du solltest das doch wissen, schließlich warst Du den ganzen Morgen zu Hause. Ich war ja in der Schule.“

„Ich hab keine Ahnung“, gab er zu und warf die Hände nach oben.

„Na, dann laß uns mal nachseh’n. Vielleicht finden wir ja was.“

Tabea ließ ihre Schultasche auf den Boden fallen und ging in die Küche. Nach einem kurzen Blick in den Kühlschrank nahm sie eine große Tupperdose heraus.

„Hier ist noch Gulasch. Wir könnten uns Nudeln dazu kochen.“

„Na, denn mach mal, Schwesterchen“, grinste er. „Du weißt ja, wenn ich Nudeln koche, wird’s immer eine einzige Pampe.“

„Ja, ja, stell Du Dich nur schön dumm an. Dann machen wenigstens die ander’n die Arbeit, wie?“

„Tja“, machte er achselzuckend, drehte sich um und ging hinaus.

***

Gulasch mit Nudeln war nicht exakt das, was an diesem Mittag im Haus des Grafen von Molzberg auf dem Speiseplan stand. Vielmehr servierte das Dienstmädchen der Gräfin und dem jungen Grafen ein Tartar von der Lachsforelle and frischen Salaten zur Vorspeise, gefolgt von einem Züricher Kalbsgeschnetzelten als Hauptgericht und einer Vanillemousse mit roter Grütze zum Nachtisch.

Adrian und seine Mutter saßen sich an dem großen Tisch im Eßzimmer gegenüber und nahmen schweigend ihre Mittagsmahlzeit ein. Was hätten sie sich auch erzählen sollen? Es war ja nichts Erwähnenswertes passiert, seitdem sie sich nach dem Frühstück voneinander verabschiedet hatten. Die Sache mit dem Mathematikarbeitsheft hielt Adrian jedenfalls nicht dafür. Und auch nicht die gemeinsame Heimfahrt mit seiner Klassenkameradin Tabea.

„Was hast Du heute Nachmittag vor?“ brach seine Mutter schließlich das Schweigen, nachdem das Dienstmädchen ihr den Mokka zum Abschluß des Mittagessens serviert hatte.

Adrian zuckte die Achseln. „Nichts Besonderes“, antwortete er. „Linda holt mich nachher ab. Wahrscheinlich gehen wir in den Club zum Schwimmen.“

Lachend schüttelte seine Mutter den Kopf. „Du und Linda, Ihr seid doch wirklich unzertrennlich. Seit Du ein Baby warst, hängt sie mit Dir zusammen.“

„Na und? Wir verstehen uns eben.“ Er legte den Kopf schief und grinste. „In jeder Beziehung“, setzte er provozierend hinzu.

Seine Mutter schüttelte noch immer den Kopf. Aber sie lächelte nicht mehr. Natürlich wußte sie, daß ihr Sohn und die Nachbarstochter zusammen ins Bett gingen. Weder Adrian noch Bellinda hatten ein Geheimnis daraus gemacht. Allerdings war sie sich nicht ganz im Klaren, ob sie das gutheißen sollte. Schließlich war Adrian erst siebzehn. In dem Alter eine Freundin zu haben, war ja normal, aber mußte es gleich eine solch intime Freundschaft sein? Zumal Bellinda noch dazu um einiges älter war als er. Was, wenn sie sich plötzlich anders orientierte und ihren Teenager-Freund zugunsten eines attraktiven, gleichaltrigen Studenten, den sie zweifellos Gelegenheit hatte, an ihrer Uni kennenzulernen, einfach fallen ließ? Adrian würde das nicht so ohne weiteres wegstecken. Nach außen mochte er zwar den Eindruck erwecken, als könne ihn nichts aus der Bahn werfen, auch nicht, von seiner langjährigen Jugendfreundin verlassen zu werden, aber sie wußte genau, daß das nicht richtig war. Sie hielt ihn für sensibler, als er sich den Anschein geben wollte.

Adrian ahnte die Bedenken seiner Mutter, aber er ging darüber hinweg. Er stand auf, nickte ihr kurz zu und verschwand nach oben in sein Appartment. Die Zeit, bis Bellinda ihn abholte, nutzte er, um seine Schularbeiten zu machen.

Seine Mutter paßte ihn in der Halle ab, bevor er ging.

„Bitte komm nicht so spät, heute Abend. Dein Vater hat sich zum Abendessen angesagt, und Du weißt, er legt Wert darauf, es mit uns zusammen einzunehmen.“

Adrian schraubte die Augen nach oben. „Na schön, ich werde pünktlich sein“, versprach er seufzend.

***

„Wie ich sehe, bist Du schon beim Packen“, stellte Lukas fest, als seine Schwester die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.

Sie hatten gemeinsam gegessen und gingen nun in ihre Zimmer.

Tabea stöhnte. „Hilft ja nix. Gut drei Wochen noch, dann sind wir hier weg. Und da hab ich gedacht, ich fang schonmal an. Du ahnst ja gar nicht, wieviel Kram sich im Lauf der Zeit so ansammelt.“

„Vielleicht solltest Du Dir bei der Gelegenheit mal überlegen, was Du alles wegschmeißen kannst“ riet er ihr. „Die ganzen Kindersachen, zum Beispiel, brauchst Du doch garantiert nicht mehr.“ Er grinste. „Oder mußt Du zum Einschlafen noch mit den Kuscheltieren schmusen?“

„Sei nicht blöde, Lukas“, raunzte sie ihn an.

Obwohl sie tatsächlich hin und wieder noch ihren Teddy mit ins Bett nahm, wenn sie mies drauf war und irgendwie Trost brauchte. Aber das mußte Lukas ja nicht unbedingt wissen.

Wegwerfen kam also überhaupt nicht in Frage. Schon gar nicht den Teddy. Aber auch die anderen Kuscheltiere nicht, von denen sie eine Menge besaß. Aber das machte nichts. Sie würde sie schon alle unterbringen können in ihrem neuen Zuhause. Schließlich war ihr Zimmer dort sogar größer als das hier. Im neuen Haus, in Bochum, bekam sie nämlich das größere Zimmer und Lukas nur ein kleines. Er würde es ja auch nicht oft brauchen. Schließlich würde er ja die meiste Zeit in Hamburg sein, denn er wollte hierbleiben, um weiterhin hier an der Uni zu studieren.

Sie würde ihn vermissen, ihren großen Bruder. Sie mochten sich zwar zoffen, von Zeit zu Zeit, aber meistens vertrugen sie sich doch einigermaßen. Und sie mußte zugeben, daß er immer für sie dagewesen war, wenn sie jemanden zum Reden gebraucht hatte oder wenn ihr irgendeiner an die Wäsche gewollt hatte. Da hatte er sie immer beschützt. Jetzt würde sie allein zusehen müssen, wie sie zurechtkam.

„Schade, daß Du nicht mitkommst“, sagte sie deshalb.

Er legte ihr freundschaftlich den Arm um die Schultern. „Ach, Tabbi, nimm’s nicht so schwer. Ich bin ja nicht aus der Welt. Ab und zu komm ich Euch besuchen, und sonst kannst Du mich ja auch anders erreichen. Es gibt Telephon und Internet und was weiß ich alles. Wenn Du also mal Kummer hast, brauchst Du Dich nur zu melden.“

„Aber das ist nicht dasselbe“, maulte sie. „Keiner ist dann da, der mich in den Arm nimmt. So wie jetzt.“

Er lachte. „Dann mußt Du Dir eben einen Freund suchen. Der dann vielleicht noch ganz andere Sachen mit Dir macht, als Dich nur in den Arm zu nehmen. So einen mit ‘nem dicken Mercedes vielleicht, so wie der, der Dich heute nach Hause gebracht hat.“

„Adrian von Molzberg ist nicht mein Freund“, protestierte sie. „Der ist niemandes Freund, nur sein eigener. Und außerdem will ich auch gar nicht, daß einer irgendwelche Sachen mit mir macht. Was Du immer denkst, Du altes Ferkel.“

„So, was denk ich denn so Schlimmes, daß Du mich ein ‚altes Ferkel‘ nennst?“ fragte er scheinbar empört. „Oder bist Du hier vielleicht das alte Ferkel, weil Du mir schmutzige Gedanken unterstellst?“