Samhain - Schatten der Vergangenheit - Phylicia C. Key - E-Book

Samhain - Schatten der Vergangenheit E-Book

Phylicia C. Key

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Beschreibung

Das Türchen sprang einen Spalt auf und ich einen Satz zurück. Warum so schreckhaft? Kopfschüttelnd trat ich wieder näher und öffnete die kleine, überraschend stabile Tür. Voll Erstaunen, gekoppelt mit kompletter Erstarrung, entdeckte ich einen einzelnen weißen Umschlag darin. Der erste Brief von Mam in der neuen Stadt ... Cleos magische Reise geht weiter. Sie hat den Schritt gewagt in ein neues Land. In eine neue Stadt. In ein ganz neues Leben, in dem die Schwierigkeiten kein Ende zu nehmen scheinen. Die Meisterin misstraut ihr und bringt ihr nur das Nötigste über ihre Gabe bei. Sie lernt die Familie ihrer Mutter kennen, von der sie abgelehnt und missverstanden wird. Hinzukommen der Schulwechsel, eine Gabe, die sich immer weiter entwickelt und Träume, die ihr immer mehr Kopfzerbrechen bereiten. Das alles macht das Leben der jungen Hexe nicht einfacher. Doch aufgeben kommt nicht in Frage! Cleos Freunde und ihr Vater versuchen, sie aus der Ferne so gut wie möglich zu unterstützen ... und die Briefe ihrer verstorbenen Mutter finden sogar den Weg nach London!

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Seitenzahl: 638

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Für meine Eltern! Danke für Eure Liebe und uneingeschränkte Unterstützung …

Herbst

Prophezeiung aus dem 3.Buch der 2. Generation

Träume sind Zwischenwelten Träume können ans Licht führen. Träume können uns den Weg weisen. Träume können Zukunft und Vergangenheit vereinen.

TD

Inhaltsverzeichnis

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Eins

Der Test

Der Raum wird vom Kerzenschein erhellt.

Schatten tanzen an den Wänden. Mannshohe Kerzenleuchter, sechs an der Zahl, reihen sich an den Seiten und verleihen ihm etwas Geheimnisvolles. Das Portrait eines Paars ziert die linke Seite. Die Farben verschmelzen mit der Dunkelheit, um mit dem nächsten Flackern der Lichter wieder deutlicher hervorzutreten. Die Freunde der Nacht dringen durch hohe Fenster, tragen aber nur wenig bei, um Einzelheiten erkennen zu lassen.

Der Holzboden ist blank poliert. Die zarten Flammen spiegeln sich schemenhaft darin. – Achtung Rutschgefahr! In der Mitte steht eine lange Tafel, umringt von Stühlen. Grob geschätzt zwanzig an der Zahl. Dennoch ist nur für zwei gedeckt.

Der saalartige Raum wirkt verlassen.

Zwei massive Türen führen hinaus.

Eine steht offen. Stimmen. Sie kommen aus einem kleinen Nebenzimmer, das nur durch das Licht des Mondes erhellt wird.

Zwei Gestalten.

Der Mann ist in purpurfarbene, knielange Hosen gekleidet. Er trägt weiße Strümpfe, schwarze Lederschuhe mit Absatz, jeweils mit einer großen goldenen Schnalle bestückt. Ein weißes, mit Spitzen verziertes Hemd umhüllt seinen Oberkörper, verdeckt von einem passendem, mit goldenen Blumen verzierten Überrock.

In der linken Hand bewegt er aufgeregt gestikulierend einen Gehstock. Auf dem Kopf trägt er eine Perücke aus braunem Haar, das bis auf seine Schultern reicht und eindeutig zu viele Lockenwickler, kombiniert mit Haarspray ertragen musste. Korrektur – kein Haarspray und keine Wickler! Falsches Jahrhundert.

Hartnäckig und unbarmherzig redet er auf die Frau ein.

Mit gebeugtem Rücken, die Hände auf einer Kommode abgestützt, wirkt sie wie ein gerügter Welpe. Aber sie ist nicht jung …

Ihr Kleid, ein Traum aus glänzenden, grünen Stoffen. Eng schmiegt es sich an ihre zarte Gestalt. Sie ist nicht mager, aber ihre Haltung lässt sie verletzlich wirken. Die schweren, weiten Wellen des Rocks legen sich um das Fischbeingerüst, das ihm seine Form verleiht. Doch nicht ihr rotes, hochgestecktes Haar lenkt die Aufmerksamkeit auf sie, sondern das Amulett, welches das Licht der Sterne reflektiert. Wie passend: Die Juwelen des Mondes – deutlich durch die sechs Steine zu erkennen, die den silbernen Rand zieren und die Mondphasen symbolisieren. In der Mitte fügt sich die keltische Dreiheit perfekt zusammen.

„Ich bin dein Sohn!“, donnert es durch den Raum.

„Natürlich bist du das, Stephano.“ Die Frau klingt erschöpft, als wäre dies nicht die erste Diskussion.

„Warum vertraust du mir dann nicht?!“ Wild funkeln seine Augen.

„Ich habe dir bereits erklärt, es ist nicht so, wie du denkst.“ Abrupt hebt die Frau den Kopf und sieht sich um.

„Was ist es dann? Dass ich Maria einen Antrag machen werde? Mutter, wenn es das ist, dann …“

„Sie ist eine Salini!“ Mit neuer Kraft und erhobener Stimme tritt sie ihrem Sohn entgegen. „Du weißt über deren Schande. Über deren Verrat. Deren Morde.“ Überrascht weicht der Mann einen Schritt zurück. „Du weißt, wie sehr du mich damit enttäuscht! Uns damit in Gefahr bringst. Deine Familie.“

„Sind das deine Argumente?“ Er wartet ihre Antwort nicht ab. „Sie ist nicht wie die anderen. Eine derartige Konstellation hatten wir schon einmal, und es ist geglückt!“ Müde senkt er den Kopf, nur um von neuen zu beginnen. „Mutter, ich bitte dich, ich bin dein Erstgeborener! Wenn nicht ich, wer sonst hat dieses Recht?“

Von Neuem durchwandert der suchende Blick der Frau den Raum. Bis sie zu ihrem Sohn zurückkehrt. Dieser Streit zehrt unnötig an ihren bereits belasteten Nerven. „Hier geht es nicht um Recht oder Unrecht! Schon gar nicht um dein Geburtsrecht.“ Wehmütig schüttelt sie den Kopf. „Und auch das weißt du.“

Entmutigt lässt der Mann die Schultern sinken. „Ich will es doch nur sehen und nicht stehlen!“ Bei seinen Worten kriecht etwas Kaltes, Ekliges durch den Raum.

Erschöpft hebt sie den Blick vom Holzboden und richtet ihn auf einen Punkt in der Nähe der Tür. Nach angespannten Sekunden wandern ihre Augen nachdenklich weiter und enden im Gesicht ihres Sohnes. „Ich werde darüber nachdenken.“ Um Verständnis bittend, berührt sie ihn am Arm. Die Anspannung ist ihm anzusehen, doch er entzieht ihr nicht seine Liebe – noch nicht!

„Und du bist dir ganz sicher, dass es Tara war?“ Ilvy notierte sich wie gewohnt jede Silbe, die ich von mir gab. Tara war eine meiner Vorfahrinnen. Ich wusste noch nicht viel über sie, aber dass sie zu den Genträgerinnen gehörte und ihre Gabe die Hellsicht war, hatte mich bereits im Sommer in Staunen versetzt.

„Ja. Eindeutig! Ich ahnte es bereits … Da war so ein Gefühl, ich kann es nicht beschreiben, aber als ich dann das Amulett sah und … und, Ilvy, es war, als hätte sie mir direkt in die Augen gesehen. Ich weiß, dass es unmöglich ist und sich auch beknackt anhört …“ Mit dem Zeigefinger vollführte ich eine kreisende Bewegung an der rechten Schläfe. „Zwischen uns liegen knapp dreihundert Jahre, aber es hat sich wirklich so angefühlt.“ Verunsichert atmete ich tief durch. „Vielleicht hat sie auf mögliche Lauschangriffe geachtet, was weiß denn ich …“

„Beides möglich.“ Schulterzuckend und nachdenklich, mit einem Bleistift gegen die Lippen tippend, sah mir meine beste Freundin durch den Bildschirm entgegen. Dieses unersetzliche Detektiv-Gehirn hockte seit geschlagenen vier Monaten in Schweden fest – Halbzeit, Ilvy! Bald kannst du wieder zurück in die Schweiz. Du Glückliche! Aber damit haben wir zu leben gelernt oder mussten es. Wäre sie zu Hause in der Schweiz, würde mich die Entfernung dieses Mal auf eine andere Art nerven. Denn ich hab‘ es durchgezogen – ich befand mich in London! So konnte sie die Zeit dort absitzen und ich meine hier. Wie sich doch immer wieder alles zusammenfügte. Unheimlich!

„Wie meinst du das – beides möglich?“ Genervt äffte ich ihre Worte nach. „Bitte, hör auf, in Rätseln zu sprechen, ich hab‘ keine Zeit für Spielchen.“ Ungeduldig wanderte mein Blick zu der Uhr an der stoffverkleideten Wand.

„Deine Ausflüge in die Erinnerungen anderer Personen häufen sich. Es wird immer deutlicher, dass Tara eine wichtige Position innerhalb deiner Familie innehat. Ihre Gabe ist der Blick in die Zukunft – das meine ich damit!“

Bei ihrer schroffen Stimme hob ich kapitulierend die Hände. „Schon gut! Timeout. Daran habe ich nicht gedacht. Verdammt, du hast recht.“ Das hatte sie auch – wirklich. Innerlich rollte ich mit den Augen. Wie immer blockierten andere Gedanken meine Synapsenautobahn und verhinderten so, das Ziel zu erreichen. Trotzdem, das war einfach nur unmöglich! Unlogisch! Total irrational! Hey, Tara, wie geht’s? Gehen wir zu dir ins 18. Jahrhundert oder möchtest du heute einen Abstecher zu mir ins 21. machen? Hm, was meinst du? Wir könnten hier gemeinsam ein Tässchen Kaffee schlürfen, deiner ist sicher nicht so lecker wie bei uns – obwohl? Vielleicht gemütlich über das Wetter plauschen und eventuell die eigenartigen Familienverhältnisse etwas durchsichtiger gestalten? Was sagst du dazu? Stopp! Ich war nur Gast in ihren Erinnerungen, also streichen wir die Kommunikation und ich verharre in der Rolle des Zusehers.

Mein inneres Ich hatte sich, passend zu meinem Traumland-Zeitreise-Ausflug, in Rokoko-Schale geworfen. Das Kleid schwang wie eine lahme Glocke hin und her. Mit intensivem Blick teilte es mir mit, dass ich mir weitere Kommentare sonst wohin stecken konnte. Deutlich stand fest, dass es auf allen Ebenen auf die neue Garderobe abfuhr. Schon gut, ich gebe keinen Mucks von mir. Kannst deinen drohenden Vernichtungsblick für kritischere Zeiten aufheben.

„Belassen wir diese Generationen-Jahrhundert-Zusammenführung. Erzähl mir lieber, wie es dir geht.“ Bedeutungsvoll klappte Ilvy ihren Notizblock zu und wandte ihr Smile-Face in die Kamera. „Was meintest du vorhin damit, die Möchtegern-Schickimicki-Tussen sind hier noch schlimmer als zu Hause?“ Dieses Mal äffte sie meine Worte nach – klang ich tatsächlich so? Es gestaltete sich als ein schwieriges Unterfangen, dieses unheilbringende Lachen, das sich zu einem Tornado zusammenbraute, auf Brusthöhe zu halten. Meine Regenbogenfreundin würde es mir nie verzeihen, wenn ich sie wegen ihrer Grimassen, die sie in letzter Zeit liebend gern in die Kamera schnitt, negativ anquatschte. Was ich viel zu oft tat, was aber gar nicht meine Art war. Wie so vieles in den vergangenen Wochen … Monaten … seit dem Erwachen dieser Mutation. Manchmal fühlte es sich an, als würde ein kleiner Engel auf der rechten und der Teufel auf der linken Schulter sitzen. Da es sich dabei um Lucifer persönlich handelte, hatte dieser einen höheren und viel besseren Einfluss auf mich als der Mitarbeiter der lichten Seite. Ich versuchte es, schaffte es aber nur selten, meiner Einstellung mehr Positives zu verleihen. Auch wenn sich Schwedengirl dazu berufen fühlte, mich auf Biegen und Brechen in bessere Laune versetzen zu müssen, erlitt sie doch Schiffbruch an der linken Schulter. Ihr aufgesetzter Enthusiasmus scheiterte an den eigenen schwarzen Haarspitzen, die ihr Seelenheil widerspiegelten. Gefühlt hatte sie die Farbpalette bereits zum zweiten Mal durchgearbeitet. Seit einigen Wochen zierte diese triste Farbe ihr Haupt. Schwester, kehr vor deiner eigenen Haustür und ich verspreche dir, die Rolle der Unbeteiligten weiterzuspielen. Das Bedürfnis, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen, versteckte ich hinter einer dicken Steinmauer.

Seit dem Startschuss der Gruftiverwandlung versuchte ich, die Auslöser zu lokalisieren, aber Ilvy verwies immer wieder auf: „Alles ist gut, mach dir keine Sorgen.“

Hm, mein Engelchen schlug mit seinen strahlenden Fäusten gegen die Mauer und drängte darauf nachzufragen: „Hinter der abweisenden Fassade verbirgt sich etwas.“

Lucifer hingegen meinte locker und teilnahmslos: „Eine neuerliche Debatte darüber würde die Situation in Schweden nicht verbessern.“

Ich unterdrückte den Impuls einmal nach rechts und einmal nach links zu schauen. Der Preis der besten-Freundin-des-Monats rückte in immer weitere Entfernung

Lucifer: „Pass bloß auf, irgendwann wird sie die einfache Frage nach deinem Befinden schamlos ausnutzen. Den Spieß gekonnt umdrehen und dich nach ihrer persönlichen Katastrophenskala mit ihren Mutterproblemchen zwangsbeglücken. Das ist doch immer das gleiche Gezeter. Die Erklärungen werden, und darauf verwette ich meinen schwarzroten Hintern, den ganzen Abend andauern. Darum danke dem beheizten Underground, dass sie ihren Mutter-Tochter-Frust an der Farbe ihrer Haarspitzen entlädt.“ Die Worte des Teufels klangen nicht gemein, hinterlistig. Mehr als wollte er mich schützen, da ich selbst genug Mist an mir kleben hatte. Trotzdem quälte mich bei seiner Einschätzung der Situation das schlechte Gewissen. Es tat mir leid, aus tiefstem Herzen … Stopp! Moment. Bedacht kreiste ich mit den Schultern. Kurzer Check der Sachlage: Ja, ich besitze ein verrücktes Unterbewusstsein, aber das war schon immer ein Teil von mir. Aber ich beherberge sicher keine weiteren Mitbewohner. Keinen auf der rechten und auch keinen auf der linken Schulter. Verzieht euch! Ich brauche niemanden, der mir zuflüstert, was ich zu tun und zu sagen habe, besonders nicht nach einem weiteren dieser beschissenen Schultage. Heute hab‘ ich keinen Nerv für die ewig wiederholenden Diskussionsthemen zwischen ihr und ihrer Erzeugerin. Trotzdem hatte das meine Beste nicht verdient! Schließlich gab sie sich alle Mühe, mich, eine verkorkst misstrauisch, wissenschaftlich angehauchte Genmutation, bei Laune zu halten. Ja, sie hatte etwas Besseres verdient!

Schule – dieses Wort löste einen unbewussten Würgereflex oder eine andere Art psychische und physische Ablehnung aus. Diese ungewohnte Reaktion auf einen Bereich in meinem Leben, mit dem ich bislang gut klargekommen war, brachte mich zusätzlich aus dem Gleichgewicht. Die neue Schule war nicht übel. Natürlich nichts im Vergleich mit der Ehemaligen in Zürich … Oh bitte, nicht auch noch nostalgische Gefühlsanwandlungen!

Ich meinte immer das Gebäude, mitwirkende LehrerInnen eingeschlossen – SchülerInnen nicht! Bemerkung am Rande, allgemein trugen hier alle, nicht unerwartet, ihre Nasen ein übertriebenes Stück zu hoch. Ebenfalls nicht unerwartet bildeten Jungs die Ausnahmen. Im Verhalten, in Äußerungen und anderen Kleinigkeiten waren sie noch gut von ihren Gegenstücken zu unterscheiden – meistens jedenfalls! Dennoch tickte das männliche Pendant zu unserer Spezies auch hier etwas anders. Etwas selbstkritischer, leider nicht Hochnäsigkeit und andere unnötige Eigenschaften betreffend. Ausgerüstet mit Hautcreme, übertriebenem Haarstyling und anderen aufbrezelnden Produkten, die nicht mehr ausschließlich im Girlie-Beautypalace zu erhalten waren. Nein, mittlerweile hatten sie ihre eigenen Abteilungen in den Märkten erobert. Bei all den Ähnlichkeiten, die sich zwischen unseren Geschlechtern gebildet hatten, stellten sie immer noch um eine ganze Planetenumrundung die besseren Klassenkollegen dar. Es fehlte ihnen an Boshaftigkeit und einem übertriebenen Maß an Zickenhormon. Mir war sehr wohl klar, dass es diese Girlies, die es sich zu ihrer pubertären Lebensaufgabe auserkoren hatten, einem das Leben zur Hölle zu machen, auf jeder Schule dieser Welt gab. Vollkommen unabhängig von Stand und Lebensart, aber diese Ladys beförderten die Messlatte an Gehässigkeit und Hänseleien in die Weiten der Stratosphäre.

Als „die Neue“ stellte ich noch zusätzlich das perfekte Fressen für diese Kategorie dar. Trotzdem, dass diese Weiber so was von gar kein Mitgefühl, geschweige denn irgendein positives Gen in sich trugen, ließ mich Tag für Tag immer wieder perplex zurück. Wie lange galt jemand als „neu“? Bis die nächste kam? Seit Schulstart waren fast zwei Monate vergangen. An meiner alten Schule gab es so etwas nicht oder kaum, zumindest selten. Ein Schulwechsel, auch während des Semesters, weil die Eltern aus beruflichen Gründen oft umziehen mussten, war keine Seltenheit. Neue Gesichter gab es fast jeden Monat, wenn nicht jede Woche. Ein weiteres Detail, das ich nicht verstand: Hier befand ich mich ebenfalls auf einer internationalen Schule, nicht weit meiner Behausung entfernt und mit dem Bus leicht erreichbar. Es handelte sich um eine moderne Schule, im Baustil und den Unterricht betreffend – dem Universum sei gedankt! Noch mehr Traditionen und ich hätte mich im eigenen Gedankenirrgarten verirrt. Ich musste bereits mehrfach meine Meinung über dieses Land, diese Stadt und über die hier lebenden Menschen revidieren. Kein leichtes Unterfangen, und dabei wage ich von mir zu behaupten, eine flexible Persönlichkeit zu sein.

Aber zurück zur Schule: Großteils fühlte ich mich wohl – abgesehen von den bereits erwähnten Zicken. Die LehrerInnen waren okay, einige hatten sogar den Einzug in die Cool-und-Akzeptiert-Schublade geschafft. Trotzdem hielt sich eine Ungereimtheit hartnäckig in diesem Auslandsjahr: Ich schien die Menschen in diesem Land sehr schwer zu verstehen. Damit meinte ich nicht die Sprache – denn die glitt einwandfrei in meine Gehörgänge, flüssig weiter zu den Gehirnzellen, meist mit passender Entladung über die Lippen. Englisch stellte nicht das Problem dar. Abgesehen von ein paar verfahrenen Wörtern, die vom Englischen ins Deutsche falsch übernommen worden waren. Hm, anders ausgedrückt: in englischsprachigen Ländern eine andere Bedeutung hatten. Sagt bloß nicht „Oldtimer“ zu einem veralteten Auto, damit würdet ihr einen alten Mann bezeichnen. Was nicht unbedingt Anlass zur Sorge gibt. Oder „beamen“ – das existiert in dieser Form nicht. Eine reine Science-Fiction-Erfindung. Wirklich blöd könnte es aber enden, wenn das herkömmliche Handy als solches bezeichnet wird. Nein, nein, sagt nie in der Öffentlichkeit „Handy“ zu eurer … schnurlosen, tragbaren Verbindung zur Außenwelt! Dieses besitzt den klangvollen Namen „Mobile“ – schreibt euch das hinter die Ohren! Nicht unbekannt, aber nicht gängig im deutschen Sprachwortschatz. Also hier benutze ich kein Handy, sondern ein Mobile oder Smartphone, die etwas anerkanntere Variante auch in unseren Breitengraden. Verwirrende Kleinigkeiten, die einem Nichtengländer leicht passieren und zum Lacher der ganzen Schule machen können. Nur der Richtigkeit halber, ein Oldtimer wird als Vintage Car bezeichnet. Naja, wie Sie wünschen, Sir. Und Handy wäre einfach nur handlich, eine erkennbare Ableitung – aber alles nebensächlich.

Zurück zu den Zicken, wenn auch mehr genötigt als freiwillig. Der bloße Gedanke an diese „reizenden“ Schöpfungen der Menschheit, reichte aus, um mein inneres Gemüt zu erhitzen. Hey! Vielleicht betrat ich die Schulbühne nicht nach ihren Stylingvorlagen und machte mich dadurch lächerlich … Was interessierten mich ihre persönlichen Erwartungen an die Menschheit? Gab ihnen dies das Recht, gemeine Scherze mit Hänseleien zu verbinden? Eventuell waren Hänseleien der falsche Ausdruck. Sie gafften dort, tuschelten hier, grinsten blöd um die nächste Ecke, hoben bedeutungsvoll ihre perfekt getrimmten Augenbrauen, fuchtelten mit ihren viel zu langen, dürren Fingern in der ohnehin stickigen Luft herum, und verscheuchten mich in der Pause von ihren sogenannten Stammplätzen. Das alles in einem Maß, dass ich mir nicht nur einmal in Gedanken dachte: Scotty, beam me home!

Es war mehr als deutlich, dass sie mich meinten. Finger zeigten auf mich. Blicke verfolgten meinen Hinterkopf oder nisteten sich auf dem Rücken ein – wenn möglich beides gekoppelt. Nicht einmal die Schulglocke konnte dem ein Ende setzen. Ihrer Begleitung entkam ich erst, wenn ich in den Bus stieg – dann hätten wir’s für heute überstanden.

Waren unsere Unterschiede so gravierend? War ich so andersartig? Wie gewohnt überragte ich auch hier den Großteil der Girlies um eine gute Kopflänge. Mein wirres, abstehendes, verdrehtes Haar sorgte überall für Getuschel und Gelächter, warum also auch nicht hier? Und dann diese Schuluniform – innerlich verdrehte ich die Augen. Die Vorstellung tagtäglich diese einheitlichen Klamotten tragen zu müssen, hatte mir bereits Wochen vor der Abreise sauer aufgestoßen. Zum Glück wurde das nicht so streng genommen und nur bei besonderen Anlässen musste der farblich abgestimmte Fünfteiler aus dem Schrank geholt werden.

„Willst du damit andeuten, dass ich eine Tussi bin?“ Erneut versuchte ich herauszufinden, ob in dieser Frage ausreichend Ernsthaftigkeit mitschwang. Lag die Relevanz so hoch, um ihr mehr Bedeutung beizumessen? Um ehrlich zu sein, ich hatte keine Ahnung. Die Frustration tief in mir erhielt neuen Aufwind. Nicht genau zu wissen, was in Ilvy vorging, stachelte die negativen Gefühle in mir weiter an. Das stellte kein Alltagsproblem dar. Meine Gabe, die Gefühle anderer Mitmenschen zu lesen, verschaffte mir viele kleine Zugaben und Möglichkeiten, nach denen sich so mancher heimlich sehnte. Bei elektronischen Geräten blendete sich die Mutation aber komplett aus. Verständlich, aber dennoch blöd. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, da dies meistens genau die Menschen betraf, die mir am Herzen lagen. Vielleicht sollte ich mich wieder vermehrt auf Instinkt, Bauchgefühl und meine Menschenkenntnis berufen. Und vielleicht sollte ich ihr langsam antworten.

„Wie kommst du auf diesen Mist? Nein, du bist keine Tussi, oder bist du seit neuesten meine Schwester?“ Was faselte ich? „Was nicht bedeutet, dass ich dich nicht lieber als Schwester hätte als das Original, aber … du weißt schon, was ich meine.“ In diesem Moment hatte ich beschlossen, ihre Frage in die Kategorie „Ernstzunehmend“ einzustufen. Am Ende traf der Gedanke Ilvy frontal und würde sich in etwas verwandeln … so in der Art: Du nimmst mich nie für ganz voll! Das Echo dieser Worte hallte in meinen Gehörgängen wider. Ne, ne, das passierte mir nicht noch einmal.

„Gut.“ Puh, ich hatte mich richtig entschieden. Verdammt, ich verließ mich eindeutig zu sehr auf diese Gabe! Bei einer direkten Gegenüberstellung hätte sich diese Frage nie gestellt. Ja, Ilvys Regenbogen … Er spiegelte meine beste Freundin perfekt wider. Dieses leuchtende Farbenspiel verkörperte ihr Innerstes. Ich vermisste es. Natürlich auch sie, aber er beruhigte mich und darum fühlte ich mich in ihrer Umgebung noch wohler und entspannter – abgesehen davon, wenn sie meine Nerven unnötig strapazierte. Mit Kleinigkeiten. Belanglosem. Sinnlosen Fragen, wie in diesem Augenblick.

In London waren mir bislang nur vereinzelt Menschen begegnet, die von diesem Farbenmeer umgeben waren. Kleine Kinder im Park; ein Erwachsener fütterte ein Eichkätzchen; ein anderer schlenderte entspannt einen Gehweg entlang. Sie zählten zu den Raritäten und wirkten mehr einer aussterbenden Spezies zugehörig. Doch das erschreckende war unsere Schule – vergiss es! Diese Snobs waren derartig auf sich bezogen, mit sich beschäftigt, dass es mir in den ersten Tagen vor Verblüffung beinahe die Schuhe ausgezogen hätte. Diese überflutende Ach-ich-bin-so-toll-Pubertät-Time machte mich fertig! Diese neuen Klassenkollegen schwebten, umgeben von ihrer Hormonwolke, durch die Gänge der Schule, füllten die Räume mit ihrem Smog, der mich zu Beginn nahe in den Erstickungstod getrieben hätte. Ich spielte mit dem Gedanken eine Allergie vorzutäuschen, um die LehrerInnen davon zu überzeugen, die Fenster während des gesamten Unterrichts auf Durchzug zu stellen. Da schon alles egal war, konnte ich auch die kränkliche Neue spielen. Mein Image war sowieso schon hinüber.

Die ersten Wochen hatte ich eindeutig unterschätzt, aber das begriff ich schnell, und noch schneller hüllte ich mich täglich in einen Kokon, bevor ich am Morgen das Zimmer verließ. Ich lernte in Hochgeschwindigkeit, nichts, rein gar nichts aus Versehen durch meinen Schutzschild dringen zu lassen. „Safe-Modus“ – so nannte ich das komplette Verschließen und Abschotten meiner Gabe, meiner Sinne, meines Körpers. Da kam nichts durch. Gar nichts! Leider funktionierte das auch in die Gegenrichtung Ich konnte nichts empfangen – keine Aura, keine versteckten Hinweise, nichts, nada. Um ehrlich zu sein, war mir das mehr als recht! Das Interesse zu erfahren, was in meinen Mitschülern und Mitschülerinnen vorging, lag weit entfernt vom Minimum.

„Wie geht es dir mit deiner Großmutter?“ Ilvys Stimme hatte sich schlagartig verändert. Sie wusste, was für ein heikles Thema sie damit anschnitt, dagegen waren die Zicken in der Schule nicht erwähnenswert. Es war eindeutig: Mams Erzeugerin misstraute mir – genauso wie ich ihr!

„Unverändert.“ Mein Tonfall hielt sich im gleichgültigen Bereich.

Etwas fröhlicher erhielt ich die nächste Standardfrage. „Hast du was von deinem Dad oder Ally gehört?“ Regenbogen und ich videotelefonierten jeden Abend. Meine beste Rückendeckung musste auf dem aktuellen Stand bleiben. Im akuten Fall, wie er bislang nur ein oder zwei Mal vorgekommen war, schickte ich ihr eine SMS, und wir trafen uns auf schnellstem Weg im Netz oder griffen sofort zur Direktleitung übers Handy – Verzeihung, Mobile.

„Dad geht es soweit gut. Auch die geheime Quelle bestätigte mir das bei unserem letzten Telefonat.“ Verschwörerisch zwinkerte ich Ilvy zu. Herta wurde zum Schweizer Spion ernannt. Mit vielen Bauchschmerzen hatte ich Dad, der endlich zu neuem Leben erwacht war, zuhause zurückgelassen. Meine Ersatz-Oma berichtete mir heimlich von seinen Aktivitäten, Launen und auffallenden Veränderungen – egal, ob positiv oder negativ! Ich würde hier keine Ruhe finden, wenn ich nicht wüsste, dass bei ihm alles in Ordnung war. In das nächste Flugzeug würde ich springen. Eine Maschine chartern. Piloten bestechen, sollte Herta das kleinste negative Fitzelchen von einem Rückfall in alte Muster äußern. Ich hab‘ nur noch ihn. Mam war vor mehr als zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und meine Schwester … das war eine Geschichte, deren Ursprung ich noch nicht ergründen konnte. Wollte ich das überhaupt? Nach all den vergeudeten Jahren? Wollte ich tatsächlich in ihre verdrehten Zicken-Tussi-ich-bin-besser-als-du-Sphären vordringen? Ich kam zu dem Schluss, dass dies nicht mehr auf meiner 10-Punkte-to-Do-Liste stand. Früher, vor vielen Jahren, als ich mich noch nach einer wirklich großen Schwester gesehnt hatte, ja, da war es mir eine Herzensangelegenheit gewesen, aber heute, nein. Ally studierte hier. Seit unserem eigenartigen Eintreffen am Bahnhof hatten wir uns nicht mehr gesehen. Wir lebten an entgegengesetzten Punkten in dieser Stadt.

Keine Ahnung, was Dad sich dabei gedacht hatte, aber er steckte uns am selben Tag in denselben Zug und das auch noch ins gleiche Abteil – einzig für uns beide reserviert. Möglich, dass ich das zum Teil selbst verschuldet hatte. Er wollte uns mit einem Direktflug auf die Insel schicken, aber ich musste natürlich für ein umweltfreundlicheres Verkehrsmittel plädieren. Seine Absichten waren sicher positiver Natur, in die Richtung: Gemeinsam stark oder so in der Art, aber das war die längste Reise meines Lebens. Die Dauer von zehn Stunden hatte sich gefühlsmäßig verdoppelt.

*

Ja, gemeinsam hatten wie unsere Füße auf britischen Boden gestellt.

Es war die Hölle!

Nicht im Zug.

Nicht das Personal.

Nicht England.

Nicht London – zumindest nicht auf den ersten Blick!

Auch nicht der mit Menschen überfüllte Bahnhof.

Eindeutig zu viel Zeit auf zu engem Raum, ohne Fluchtmöglichkeit – die kurzen Verschnaufpausen, wenn wir den Zug wechselten, brachten keine Erleichterung – und das alles in Kombination mit meiner Schwester. Ich wusste, die Reise, das Land, einfach das Gesamtpaket würde mir mit einer anderen Begleitperson viel mehr Spaß bereiten – sogar allein wäre noch besser gewesen.

Nachdem jeder sein Territorium abgesteckt hatte – was nicht bedeutete, dass sich Ally daran hielt – und sich der Zug langsam in Bewegung setzte, kämpfte ich mit den Tränen. Dad stand auf der anderen Seite der Scheibe. Auch ohne aktivierte Mutation hätte ich die Last auf seinem Herzen erkannt. Sie spiegelte sich in seinen Augen wider. Er winkte bis zum letzten Moment. Allys unterdrückte Kommentare rissen mich aus meiner Abschiedslethargie. Vermutlich das erste Mal in meinem Leben, dass ich ihr für dieses Geschnatter dankbar war. Leider war diese Welle die nächsten Stunden nicht mehr aufzuhalten. Wie ein Tsunami war sie über Dads Entscheidungen hergezogen. Hatte geflucht. Ihn verwünscht. Mädl, wir befinden uns nicht in einem deiner Märchen! Wir würden immer wie Tag und Nacht sein. Sie zog sich den neuesten Tratsch der Promis rein. Kleidete sich wie sie und eignete sich deren Verhalten an. Wahrscheinlich wollte sie auch so leben – sorry, die Realität ist eine andere, Baby! Sie vergötterte ihre Freiheit nach Mams Tod, die die Einzige gewesen war, von der sie eine Gegenwehr zu erwarten hatte. Somit wurde es zu ihrem Freifahrtschein in eine Welt ohne Grenzen und Rücksicht. Natürlich lag ihr eine Mädchenclique ohne bedeutenden IQ zu Füßen. Diese hohlen Glühbirnen sahen zu ihr auf, als wäre Ally ihre leibhaftige, persönlich auserkorene Göttin.

Seit dem Startschuss ihrer Pubertätsphase bis zum Aufbruch nach London war meine Schwester in einen speziellen Typ verknallt. Meiner Meinung nach der wahre Grund für ihre Entscheidung, in England zu studieren. Nur dumm, dass Tristan nichts von ihr wissen wollte – zumindest nicht auf die Art und Weise, wie sie es gerne gehabt hätte. Und wie es das Schicksal wollte, war er auch noch einer meiner engsten Freunde. Diese Tatsache lieferte ihr weitere Gründe, mich nicht als Schwester anzusehen, sondern als Erzfeindin, Gegnerin oder auch Rivalin.

Vor unserer Abreise hatte sie mir noch als Zuckerguss unserer verdrehten Geschwisterliebe unterstellt, ihr zwei Jungs ausgespannt zu haben. Jungs, mit denen sie nicht mal zusammen gewesen war. Ausgerechnet ich, die bislang null Interesse am anderen Geschlecht verspürt hatte. Natürlich meinte sie Tristan, der immer eine Art großer Bruder für mich darstellen würde, und dann war da noch Tobias. Er war der Zweite auf ihrer Liste. Erst nach diesem sinnlosen Streit, von dem es im Nachhinein viele Ableger gab, entwickelte sich etwas zwischen ihm und mir – wenn man das so nennen konnte.

Zurück zum Thema: In den Sommerferien eröffnete Ally unserem Vater, dass sie einen Studienplatz am LONDON COLLEGE OF CONTEMPORARY ART erhalten habe und im kommenden Herbst bereits dort beginnen könne. Naiv wie mein liebes Schwesterlein war, hatte sie aber unseren Erzeuger unterschätzt. Mittlerweile hatte dieser es geschafft, aus seinem Trauer-und-Arbeits-Kokon zu schlüpfen, um seiner Rolle als Familienoberhaupt endlich wieder gerecht zu werden.

Meiner Meinung nach hatte Ally den Platz an dieser Uni nur aus zwei Gründen ergattert: Erstens hatte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, die Namen unserer Eltern ins Spiel gebracht. Mein Vater war Komponist. Hauptsächlich Filme und Musicals. Er arbeitete bereits mit vielen kreativen Köpfen zusammen. Mit den Jahren wuchs auch sein Bekanntheitsgrad. Mit Mams Tod durchlebte auch seine Musik eine massive Veränderung, einen Wandel. Sein erstes Stück stand an der Zürcher Oper in den Startlöchern. Gemeinsam mit einem Kollegen ausgefertigt und finanziert. Ein gewagter Schritt, aber die Veränderung schien sich zu lohnen.

Zweiter Punkt auf der Uni-Manipulationsliste: Ich war davon überzeugt, dass jemand abgesprungen war. Ich traute ihr zu, dabei ihre Finger im Spiel gehabt zu haben. Somit ergab das einen Freifahrtschein nach London. In die Stadt ihrer Träume.

Wie mir Ally bei einem unfreiwilligen Aufeinandertreffen erklärte, erwartete sie von Dad, dass er ihr hier eine kleine schnuckelige Wohnung organisierte. Die könnte sie dann mit ihren ganzen Staubfängern vollstopfen, plus einer monatlichen dicken Überweisung auf ihr Konto – schließlich musste sie in dieser Metropole von irgendetwas leben.

Tja, da hatte sie sich geschnitten. An unserem Abreisetag eröffnete Dad meiner werten Sister ihre Optionen. Wenn sie in dieser Stadt studieren wollte, musste sie sich auf ihre eigenen Füße stellen. Das, was sie von ihm bekam, war ein Zimmer in einem Studentenheim, das er bereits organisiert hatte, nicht weit entfernt von ihrem College. Plus die Hälfte ihrer Lebenserhaltungskosten – die er, nur er, festlegte. Darin waren die Kosten für ihr Studium und die Hälfte der Miete eingeschlossen. Im ersten Monat übernahm er noch den gesamten Betrag plus ein kleines Taschengeld, damit Ally die Möglichkeit erhielt, sich einen Job zu organisieren, und nicht am Hungertod nagen musste.

Also, ich für meinen Teil fand das als ein überaus großzügiges Angebot, aber mich fragte keiner!

Das Gesicht meiner Schwester war in diesem Moment mit Gold nicht aufzuwiegen und würde ich mein restliches Leben nicht vergessen – leider fehlte mir für einen Schnappschuss die Zeit und Reaktion. Zu verblüfft war ich von seiner Ansage.

Ally entgleiste alles: Tasche, Kinnlade samt Sprache, in Kombination mit den restlichen funktionierenden Gehirnzellen, die sie erst wieder im Zugabteil fand – zu meinem Leidwesen.

Um mir die Zunge wegen eines unterdrückten Lachkrampfs nicht abzubeißen, begann ich, mich von Dad zu verabschieden. Tränen krochen über mein Gesicht. Ich vermisste ihn und alle anderen zu diesem Zeitpunkt bereits schmerzlich. Ähnlich wie bei Ilvy gab ich das Versprechen, mich regelmäßig zu melden und trotz der Entfernung meine Sorgen auch weiterhin bei ihm abzuladen. „Solltest du Probleme mit deinen Großeltern haben, die du nicht bewältigst … Du weißt, ein Ticket ist schnell gekauft.“ Ein letztes Mal versank ich tief in seiner schützenden Umarmung. Ich liebte meinen Vater! Er war der Beste der Welt.

Natürlich stieg Ally ein – wenn auch blass! Erst die mechanische Armbewegung zum Abschied, schien ihre Lebensgeister wieder zu wecken …

„Wie kann er das tun?“ Wenn ihr denkt, sie hätte mich dabei angesehen oder mir irgendeine andere Aufmerksamkeit geschenkt, so täuscht ihr euch. „Mich vor vollendete Tatsachen stellen! Wie soll das gehen? Mir einen Job besorgen? Was soll das überhaupt mit diesem Arbeiten? Ist er als Vater denn nicht verpflichtet, für meine Ausbildung aufzukommen?“ Fest fixierte sie etwas auf der anderen Seite der Scheibe. Die Tür des Abteils stand noch offen. Ein vorbei huschender Passagier zuckte bei der Kälte in ihrer Stimme zusammen und warf ihr einen nachdenklichen Bick zu. Dann mir. Nein, ähm sorry, sie ist immer so – sprachen meine zuckenden Schultern. „Ich begebe mich dorthin, um zu studieren und mich in dieser Stadt einzuleben und nicht um zu arbeiten …“ Ein gefährlicher Einwand machte sich auf den Weg. Fest presste ich die Lippen aufeinander. Ich verschluckte mich, entschied, ihrem Gemecker nicht länger Aufmerksamkeit zu schenken und verstopfte die Ohren mit Musik. Schnell pennte ich ein und wachte erst kurz vor Paris wieder auf. In Lyon stand ein Zugwechsel an und somit auch das Gemecker, wie viel Gepäck sie zu schleppen hatte. Dabei hatte Dad bereits einige ihrer Sache vorausschicken lassen. Befand sich überhaupt noch irgendetwas in ihrem Zimmer, außer die Flöten?

Was aber auf dem letzten Abschnitt unserer Reise folgte, war nicht vorhersehbar, absolut nicht geplant, und es hatte nichts, rein gar nichts mit Ally zu tun.

Bis heute konnte ich mir nicht erklären was diese … Blockade gelöst hatte. War es der Wasserdruck? Der Luftdruck? Der Tunnel, der uns unter dem Meeresboden auf die Insel führte? Im Endeffekt war es mir egal, denn ich musste wieder eingedöst sein und hatte eine unverständliche Erfahrung gemacht.

Die blanke Erinnerung an die Minuten vor dem Besuch an Mams Grab ein paar Wochen zuvor, fand ihren Weg in meine schlummernden Gehirnwindungen. Gut, mit Erinnerungen konnte ich mittlerweile umgehen – irgendwie. Wenn sich aber die Betrachtungsweise verschob, wusste ich, dass etwas anderes seine Finger im Spiel hatte. Im Zug war mir diese Erkenntnis noch nicht so klar gewesen und diese Szenarien bereiteten mir immer noch Unbehagen.

Ich sitze in meinem Zimmer am Boden. In der einen Hand den schwarzen Fetzen von Kleid, den ich aus der untersten Ecke des Kleiderschrankes gezerrt habe. Wütend reibe ich mir mit der anderen den Hinterkopf, den ich mir an der Bettkante gestoßen habe.

In diesem Moment erblicke ich das verweinte Abbild im Spiegel. Soweit so gut, doch nun verliere ich den Halt in meinem Körper. In meinem Bauch braut sich etwas Nervöses, Unheilvolles zusammen.

Das Blickfeld verlagert sich.

Ich werde aus meinem vergangenen Ich gedrängt.

Zur Außenstehenden dieser Szene.

Mein Geist wird in eine störungsfreie Zone in Richtung der Zimmerdecke verwiesen. Mit perfektem Blick auf das Geschehen.

Angst beschleicht mich – was ist hier los? Was soll das?

Die angespannten Nerven beruhigen sich.

Das Neue, Unbekannte verbindet sich mit mir.

Legt sich mir ins Blut – was werde ich heute erfahren?

Ich beobachte, wie mein wahres Ich zum Kleiderschrank stürzt und den Kontakt im Spiegel verliert, doch ich, an der obersten Zimmerecke schwebend, kann beide immer noch sehen.

Die Sicht auf das imaginäre Spiegelbild ist immer noch klar, wenn auch verwirrend. Es kniet hinter mir – also meinem körperlichen Ich –, streicht mir übers Haar. Legt seine Hände auf meinen Schultern ab. Immer wieder wiederholt mein Double diese Geste. Es wirkt bittend, fast flehend. Tränen rollen immer weiter über das Gesicht. Ich versuche, mich an die Situation zu erinnern. An irgendwelche Gefühle, an Berührungen – nein, da war nichts.

Warum weinst du? Was würde ich darum geben, zu meinem Spiegelbild hinunter zu gleiten und es zu fragen.

Als Dad anklopft, reißt er uns aus den brütenden Gedanken.

Ich, also mein vergangenes Ich, rappelt sich auf und beginnt, mit diesem Kleid zu kämpfen.

Was ich danach getan habe, weiß ich nur zu gut. Somit gilt meine volle Aufmerksamkeit dem Spiegelzwilling. Bei all den Aktivitäten entfernt er sich nie mehr als ein paar Meter von mir. Auch als ich den Raum verlasse und mein Geist ihnen, an die Decke gedrückt, folgt, ist es immer an meiner Seite.

Hoffentlich gehen wir nicht raus, denke ich, als schlagartig der Ort des Geschehens wechselt. Angsterfüllt starre ich nach oben. Blauer Himmel … Zum Glück verweilt mein Geist gleichbleibend schwebend wie im Haus. Ich sah mich bereits mit hektischen Schwimmbewegungen in der Luft herum hampeln.

Neue Szene: Friedhof. Dad spricht gerade zu Mam.

Schade, ich hätte gerne gesehen, wo sich das Spiegelbild während der Autofahrt versteckt hat. Ist es auf Allys Schoß oder auf Hertas gesessen?

Der Moment steht kurz bevor, an dem ich das Pentagramm entdecke. Suchend schwebe ich über uns. Es dauert, bis ich mein Spiegelebenbild entdecke – es hockelt neben dem Grabstein, hinter den Rosen. Konzentriert beobachtet es mich – mein körperliches Ich. Erst als mir Mams Hinweis, das Pentagramm an ihrem Grabstein, auffällt, weicht die Sorge aus seinem Gesicht. Das Double will, dass ich es entdecke …

Wieder wechselt der Ort – Dads Büro!

Mir wird schwindlig von diesen Sprüngen.

Wieder klebe ich an der Decke.

Das Mädchen steht hinter ihm, als ich mit ihm über Mams letzten Willen spreche. Sein Gesicht wirkt traurig, kurz vor einem Tränenausbruch. Als er mir das Buch überreicht und wieder hinter seinem Schreibtisch Platz nimmt, stockt mir mein geistiger Atem – das Spiegelbild umarmt ihn und schmiegt das Gesicht an seine Schulter. Und dann kommen sie doch, die Tränen, die ich zuvor schon gesehen habe.

Wir springen zurück in der Zeit.

Im ersten Moment verstehe ich gar nichts. Eindeutig mein Zimmer. Ich schlafe. Die Vorhänge sind halb geschlossen. Ich schwebe immer noch über mir.

Plötzlich eine Bewegung, ein Schatten.

Am Vorhang.

Langsam wandert er an den Rand des Fensters.

Die Sonneneinstrahlung wird stärker.

Etwas löst sich aus den Falten des Stoffs. Formt sich. Mein Spiegelbild beugt sich über mein Ich, das im Bett liegt. Sein Schatten ruht auf mir. Leider kann ich sein Gesicht nicht sehen …

Mit einem Ruck erwacht mein körperliches Ich und sieht sich verunsichert um.

Dann springen wir erneut und mir dreht sich die Magenschleimhaut nach außen …

Ein bekanntes Bild – ich sitze vor dem Laptop und diskutiere mit Ilvy. Sie befindet sich noch zuhause, in der Schweiz. Das muss kurz nach dem Erwachen der Gabe gewesen sein. Der Stein – das Amulett –, das Notizbuch … die Sachen, die ich in Mams Koffer gefunden habe, liegen auf dem Schreibtisch verstreut. Der Turmalin. Die damaligen Gefühle toben wieder in mir. Von Beginn an hegte ich ein gesundes Mistrauen gegen diesen Schutz, auch wenn mir Mam damit helfen wollte – etwas stimmt nicht damit. Nach all den Monaten weiß ich immer noch zu wenig über den Anhänger. Er hat etwas an mir verändert … ich weiß nicht, was es ist, aber ich weiß, dass ich nicht mehr wirklich ich selbst bin. Dennoch vertraue ich auf ihre Worte, und er ist mir nützlich geworden – ja sogar unerlässlich. Ohne ihn hätte ich den Sommer nicht überstanden. Mich unter mehr als drei Menschen frei zu bewegen, wäre nicht möglich gewesen.

Ich weiß, wie die Szene unter mir verlaufen wird: Im nächsten Moment wird mir schwindlig werden. Ich werde das Gleichgewicht und kurz darauf ohne ersichtlichen Grund das Bewusstsein verlieren. Entsetzt, ohne eingreifen zu können, muss ich von der Zimmerdecke zusehen, wie ich umkippe.

Wie Ilvy weiter spricht …

Wie sich meine Augen nach oben drehen.

Gleich folgt der Aufprall …

Der dunkle Traum von damals kriecht rücksichtslos hervor. Diese Verlustangst bereitet mir immer noch Unbehagen, obwohl ich es mittlerweile besser weiß.

Der Boden kommt näher, und ich kann immer noch nur zusehen …

Plötzlich löst sich ein Schimmer aus den Falten des Vorhangs. Kaum erkennbar. Durchsichtig.

Ein Flirren verändert die Luft. Es wird schneller. Im nächsten Moment befindet sich der Schatten auf gleicher Höhe mit meinem Oberkörper.

Müde, erschöpft schließe ich die Augen.

Die Veränderung schwebt genau unter mir. Wird deutlicher.

Wie erwartet und doch unfassbar …

Das Spiegelbild fängt mich auf. Nimmt Gestalt an.

Bewahrt mich davor, mit der Bettkante zu kollidieren.

Lässt mich sachte zu Boden gleiten. Setzt sich neben meinen bewusstlosen Körper. Streicht mir das zerwühlte Haar aus dem Gesicht.

Ilvys Schreie reißen mich aus der Geisterstarre.

Was bedeutet das alles???

Desorientiert war ich erwacht, als wir kurz vor Dover den Tunnel wieder verlassen hatten. Mein Puls jagte das Blut in hektischen Interwallen durch meinen Körper. Schnell atmend sah ich mich um.

Ally flirtete, wie nicht anders erwartet, mit einem Zugbegleiter – diesbezüglich war sie noch nie ein Kind von Traurigkeit. Ihre übertriebene Fröhlichkeit ließ mich mutmaßen, dass sie sich während der langen Fahrzeit einen Plan zu ihrer finanziellen Rettung zurecht geschmiedet hatte. Wie oft wird sie Dad in den nächsten Stunden mit Anrufen und Betteleien belagern? Wird er schwach werden? Nachgeben? Wird meine Schwester wieder mal ihren Willen bekommen? Zum ersten Mal, seit langem, hegte ich den Verdacht, dass Dad stärker war als sie.

Doch lange lenkten mich diese Gedanken nicht ab, und ich kehrte zurück zu diesem Zug-Traum-Erinnerungs-Erlebnis. War das Spiegelbild immer bei mir? War es das immer schon? Mein ganzes Leben lang? Wollte das Double mir das damit zeigen? War es eine Art Schutzgeist? Ein anderer Ausdruck meines Unterbewusstseins?

Auch diese Fragen mussten warten. Der Bahnhof St. Pancras lag direkt vor uns – Endstation. Gepäck zusammenschaufeln. Aussteigen. Gemecker ausblenden …

Hier würden sich Allys und meine Wege trennen. Wie würde es ohne ihr Gemecker und ohne ihre schrille Stimme am Frühstückstisch sein? Wie Urlaub. Ich verbiss mir ein böses Grinsen und kramte im Rucksack nach dem Briefumschlag, auf dem die Adresse meiner Großeltern stand. Ich plante, mir eines dieser kultigen, typisch englischen Taxis zu schnappen und überraschend dort aufzukreuzen. Juhuu! Ich bin da.

Natürlich nicht bevor ich mir noch ein für die Allgemeinheit erheiterndes Missgeschick leistete. Besonders meine Schwester versetzte dieser Ausrutscher kurzzeitig in ihre gewohnte Freudenlaune. Ich dachte an die bissigen Gedanken, wenige Sekunden vorher – Karma? Ja, klar. Irgend so ein Idiot hatte seine Koffer breit verteilt neben dem Ausstieg aufgetürmt und natürlich musste ich Cleo-Tollpatsch-Nummer-Eins darüber stolpern, während ich mit Ally diskutierte. Diese unnötige Meinungsverschiedenheit und dieser bescheuerte Sturz hätten mich nicht gejuckt – schließlich kannte mich hier keine Menschenseele –-, wenn mich dieser Typ, dem dieses Falschparker-Gepäck gehörte, nicht so blöd angemacht hätte.

„Können Sie nicht aufpassen, wo Sie hinlaufen? So leicht sind meine Taschen nicht zu übersehen!“

Genervt und verärgert warf ich ihm einen Nebenbeiblick zu. Mr. Klugscheißer trug einen Hut und war locker-leger gekleidet – das Outfit passte nicht zu dem Tonfall. Dass er einem Musiker ähnelte, dem ich in ruhesuchenden Momenten sehr zugetan gewesen war, hätte mich fast dazu veranlasst, ihm derartige Ungepflogenheiten zu verzeihen. Doch ein weiterer flüchtiger Blick in sein hochnäsiges Gesicht und die genervte Körperhaltung ließen die augenblickliche Antipathie von neuem ansteigen. Mit einem letzten Blick wartete er mit in den Hüften abgestemmten Händen auf eine gestotterte Entschuldigung. Doch diese wurde sogleich von Allys Geschnatter übertönt. Meine Reisebegleitung fühlte sich verpflichtet, sich überschwänglich bei Mister Ach-so-toll für ihre tollpatschige Schwester zu entschuldigen. Ich versuchte, sie wirklich zu verstehen, ihr Leben, unser Leben, auch das Drama, dass sie immer um Tristan machte, aber hey, wenn ich diese beiden Bahnsteigturteltauben so beobachtete, fehlte mir jegliches Verständnis.

Ich gab es auf, konzentrierte mich auf die Entwirrung der zu langen Beine mit dem Gepäck und ignorierte ihre Worte. Leider musste ich den Schutzstein tragen, aber auf diesem überfüllten Bahnhof würden mich die Gefühle der Reisenden sofort ausknocken: Willkommensgrüße, Trennungsschmerz – ne, lieber nicht. Innigst hoffte ich, dieses Teil so schnell wie möglich los zu werden. Ein Leben zu führen, in dem ich meiner Umgebung vertrauen konnte, das war der Beweggrund, warum ich diese Reise angetreten hatte. Liebend gern würde ich einen Blick auf das Farbenspiel dieses dermaßen arroganten Kerls werfen Vielleicht waren die Auren aller Machos und Angeber gleich? Vielleicht konnte ich irgendwann darüber eine Studie verfassen: Selbstherrlichkeit und die Beeinflussung der Aura – oder irgendetwas in der Art. Überall gab es Algorithmen, unsere Welt wurde beherrscht davon, auch hier. Ich schulterte meinen Rucksack und beobachtete Ally.

Was war das für ein Typ? Super hinreißend oder gar ein Filmstar, weil sie sich so an ihn ran machte? Litt sie wieder unter ihrer persönlichen Selbstvertrauens-Defizit-Paranoia? Ohne ein weiteres Wort ging ich an Mr. London und Miss Ex-Zürich vorbei. Dabei entging mir nicht, wie dieses männliche Wesen ihren Smalltalk erwiderte. Als er bemerkte, dass sein Gepäck nicht mehr von meinen Beinen umwickelt war, türmte er es wieder zur Pyramide auf. Höflich bat er Ally, in Ruhe seine restlichen Sachen aus dem Wagon nehmen zu dürfen, der in wenigen Minuten plante weiterzureisen. Immer höflich diese Briten. War das eine Abfuhr? Ja, und das wusste Ally. Und sie wusste, dass ich es bemerkt hatte. Halt die Gedanken still, Cleo – Karma! Sie gab sich redlich Mühe, diese Kränkung nicht nach außen dringen zu lassen, aber ich kannte sie bereits mein Leben lang: Na, Schwesterchen, kaum in London und schon eine Niederlage? Scheiß auf Karma!

Damit heimste er sich ein paar unbeabsichtigte Sympathiepunkte von meiner Seite ein – verdammt! Von da an hegte ich den starken Verdacht, doch vermehrt Schwierigkeiten im Umgang und auch mit dem Verständnis der Engländer zu bekommen. Damals hatte ich keinen blassen Schimmer, wie groß dieses Verständigungsproblem werden könnte – und ich meine dabei nicht die Sprache.

Gemeinsam betraten wir eine große Halle, in die alle Bahnsteige führten. Wir orientierten uns Richtung Ausgang. Die Menschenmasse wurde auf einen Schlag mehr. Verdreifachte sich. Der Lärmpegel stieg. Beide hatten wir mit unserem Gepäck zu kämpfen. Ally griff nach einem Rollwagen und drapierte ihre Koffer darauf. Gereizt suchte ich nach dem Schild EXIT. Musste sie all diesen Schnickschnack mitnehmen? Kopfschüttelnd sah ich mich weiter um. Am Ausgang bildete sich eine Traube. Die Reisenden drängten nur auf einer Seite nach draußen. Wem oder was wichen sie aus? Neugierig bahnte ich mir einen Weg nach vorn. Ally rollerte mit ihrem Wagen hinter mir her. Versteinert blieb ich stehen. Ohne Bremsung und ohne Führerschein für diesen Gepäckwagen, donnerte sie mir hinten rein und brachte mich fast zu Fall. Die Verwünschungen blieben mir im Hals stecken. Meine Aufmerksamkeit versuchte das Bild zu verstehen, das sich vor mir auftat. Die Kinnlade entgleiste mir, und die Augäpfel drohten aus ihrer Behausung zu kullern. Schimpfend kam Gepäckgirl neben mir an: „Du bist selber schuld. Musst du denn so rennen? Du kannst mir doch …“ Ihrem abrupten Verstummen und dem blassen Gesichtsausdruck zu urteilen, schubste dieser Anblick die nette englische Flirtabfuhr des jungen Mannes vom Highlight-des-Tages-Thron. Mein inneres Ich kämpfte zu diesem Zeitpunkt mit der Angst, dass ich mir die böse Zunge abbeißen könnte und es seine Künste als Chirurgin unter Beweis stellen musste.

Neben der Tür stand ein Typ.

Schon wieder …

Im schwarzen Anzug.

In den Händen ein Schild.

Auf dem mein Name prangerte. Verdammt! Peinlicher ging‘s nicht mehr. Bei dieser Erinnerung schüttle ich immer noch den Kopf – wie in einem schlechten Film. Eine derartige Situation zählte zu Allys Lieblingsträumereien und das Endergebnis? Ich wurde chauffiert, und sie musste sich ein Taxi nehmen.

Als ich meine Schwester mit all ihrem Gepäck, unterstützt durch den freundlichen englischen Taxifahrer, in einem dieser schwarzen Kästen verschwinden sah, ging es bei mir erst richtig los. Meine Sachen durfte ich nicht selbst einladen. Hinten sollte ich sitzen – ich saß seit meinem zwölften Lebensjahr nicht mehr in der hinteren Reihe, außer aus Höflichkeit. Durch die höflichste Vorstellungsrunde meines Lebens erfuhr ich, dass der Butler meiner Großeltern – Gott! Die haben ein „Mädchen für alles“ – mit „Geoffrey“ angesprochen wurde. Mein persönliches i-Tüpfelchen bei dieser schrägen Bahnhofsituation war, dass dieser Herr, geschätzte Anfang Fünfzig, mich immer Miss nannte. Dieses Gesamtpaket reichte aus, um eine Art pubertäre Gegenwähr in mir heraufzubeschwören. Da es aber unser erstes Zusammentreffen war, ich mich von meiner höflichsten Seite geben wollte – besaß ich derartige überhaupt? – und es mir nicht gleich am ersten Tag mit dem Butler verscherzen wollte, verschob ich die Diskussion auf später. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, ihm klar zu machen, dass ich keinesfalls die hintere Reihe mit meinem Allerwertesten beglücken würde. Vorne, links, nichts anderes kam in Frage. Wie cool war das denn?! Links – verdammt! Was lief hier in England noch alles in die falsche Richtung? Ich freute mich darauf, diese Stadt zu erkunden. Vielleicht würde sich eines meiner neuen Familienmitglieder so freundlich erweisen und den Fremdenführer mimen.

Aus irgendeinem Grund war mir Geoffrey trotz seines Miss-Ticks auf Anhieb sympathisch. Etwas in seinen Augen ließ mich erkennen, dass er an unserer kleinen Debatte Spaß hatte. Hey, Mann! Ich doch auch! Aber lass mich beim nächsten Mal mein Gepäck selbst schleppen. Dafür erhielt ich ein Daumen-nachoben von meinem verkleideten inneren Ich – sie schien sich besser über die gängige Mode der Royals informiert zu haben. Lady, ein sehr mächtiger Hut, den du da trägst.

Ally sah ich nur ein einziges Mal wieder. Meine Cousine Victoria und ich traten nach der Schule – ich war vor einer Woche in London eingeschult worden –, durch die Pforten des Luxuskastens, der mein momentanes Zuhause darstellte. Ich hatte mich immer noch nicht an die Gegend und das pompöse Drumherum gewöhnt. Unentschlossen, welches das richtige war, musterte ich die Häuser, als meine Schwester mit hochrotem Gesicht an mir vorbei rauschte. Wie versteinert sah ich ihr hinterher. Außer einem erstickten Schniefen erhielt ich nichts von ihr. Das „wer war denn das?“ kam von Vicy. Von keinem erhielt ich eine klärende Auskunft

Tage später saß ich mit Grandpa im Wohnzimmer. Im TV lief eine Doku über die gesetzeswidrige, abscheuliche Walabschlachtung der Asiaten, als ich von ihm den Grund für Allys Besuch erfuhr. Taschengeld. Sie wollte sich etwas schnorren – naja, das waren nicht unbedingt seine Worte, aber sinngemäß das Gleiche. Hatte ich damit gerechnet? Ja, aber nicht so schnell. Damit war das Thema Sister bis zum nächsten Familienfest erledigt – Weihnachten? Und wir hatten erst Herbst …

Die Gedanken an mein Spiegelbild kehrten erst ein paar Tage nach meiner Ankunft zurück. Die allgemeine Lage schien sich nicht zu beruhigen. Ich bemühte mich um Nervenstabilität, aber dann träumte ich von meinem Double – und aus war es mit der auferlegten Ruhe. Leider legte sich die anfängliche Freude über sein Erscheinen sehr rasch. Es war der gleiche Traum wie bei unserer Reise nach England durch den Eurotunnel. Ich kam zu dem Schluss, irgendetwas falsch interpretiert zu haben. Seitdem hatte ich nie wieder eine Nachricht von meinem Spiegelbild erhalten. Das war doch früher nicht der Fall gewesen, als es regelmäßig in meinen Träumen auftauchte! Meine Sorge darüber stieg fast wöchentlich. Vielleicht sogar täglich, wenn ich ausreichend Zeit gehabt hätte, um darüber nachzugrübeln.

*

„Was steht in dem Brief?“ Ilvy tippselte auf der Tastatur herum.

Ja, der Brief. Verdammt, wo hab ich den hingelegt? Als ich plante aufzustehen, stieß ich mir das Knie an dem antiken Museumsschreibtisch aus dem Jahre siebzehnhundert was weiß ich. Autsch! Unbewusst rieb ich mit der Hand über die betroffene Stelle. Ein Wunder, dass meine Jeans dort noch kein neues Loch aufwiesen.

Das ganze Zimmer war mit diesem stilistischen, altertümlichen und verschnörkelten Mobiliar ausgestattet. In diesen vier Wänden fühlte ich mich realitätsverloren. Es ähnelte mehr einem gecoverten Zimmer König Ludwigs.

Als ich das Kuvert auf dem Bett entdeckte, vergaß ich den pochenden Schmerz.

Ilvy verfolgte meine Bewegungen gespannt mit ihren blauen Augen.

Ich hatte keine Lust, das Papierstück einzuscannen, geschweige denn, dass es den Aufwand wert gewesen wäre. Mam hatte mich mit wenigen Zeilen beglückt. So las ich ihn einfach vor: „Mein Krümelchen, wie geht es dir? Ich hoffe, die Lage beruhigt sich langsam. Kannst du wieder schlafen, oder findest du dich immer noch außerhalb deines Körpers wieder? Ich kann dir versprechen, es wird sich alles legen, und dann wirst du bald wieder klarer sehen. Erkennen, worum es sich dabei handelt. Die Situation besser verstehen … Vertraue auf dich und deine Fähigkeiten …“

„Bist du verrückt? Warum liest du mir das vor?“ Ilvys aufgeregtes Gesicht hatte sich binnen weniger Sekunden in eine Mischung aus Wut und Entsetzen verwandelt. Warum? Was hab‘ ich getan? Verständnislos sah ich sie über den Brief hinweg an.

„Du kannst doch nicht einfach so drauflos lesen!“ Sie räusperte sich und zügelte ihre Stimme. „Deine Mam hat doch mehr als nur einmal ausdrücklich betont, du sollst vorsichtig sein. Was ist, wenn jemand vor deiner Tür steht und lauscht?“ Ihre Stimme war immer leiser geworden. Wozu die Aufregung?

„Wer sollte mich belauschen?“ Überzeugt nichts Falsches getan zu haben, hob ich Schultern und Augenbrauen.

„Was ist mit dir? Haben sie dir in der Schulküche irgendetwas Betäubendes eingeflößt? Oder verträgst du die Luft auf der Insel nicht?“

„Doppeltes Nein.“

„In diesem Haus befindet sich mehr als nur eine Person, die nicht nur neidisch auf dich ist, sondern auch einen Groll gegen dich und deine Mutter hegt. Also, Hexe, halt die Klappe und schick mir die verdammte Kopie!“ Die Arme vor der Brust überkreuzt, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und wartete.

Kurz erwog ich Einwände zu erheben. Meiner Meinung nach reagierte sie über. Wer bestätigte uns, dass mein Laptop nicht überwacht, gehackt oder die Telefongespräche abgehört wurden? Diese Vermutung sollte ich noch für mich behalten, wer weiß, auf welche neandertalerische Kommunikation wir umsteigen müssten – aber ich sollte ein Sicherheitsupdate durchführen. Ihre Haltung zeigte deutlich, dass sie eher die Verbindung abbrechen würde, als mich noch ein einziges Wort von diesem Blatt ablesen zu lassen. Mit einem Schulterzucken fotografierte ich die halbe Seite, speicherte sie auf dem Laptop und schickte ihr die Datei.

Hoffentlich war Schweden-Girl nun zufrieden, denn ich hatte es eilig. Die Sekunden verstrichen, mein Hintern wippte von einer Seite zur anderen, abwartend auf ihre Reaktion. Was konnte ich schon in diesen wenigen Zeilen übersehen haben? Nervös schielte ich auf die Anzeige auf dem Laptop: Ich durfte nicht schon wieder zu spät zum Abendessen kommen. Nur wegen dieser Zickereien wieder unter diesen hochgezogenen Augenbrauen den Speiseraum betreten zu müssen, würde mich veranlassen das Datenübertragungspensum in den Norden stark zu minimieren. Kurz überdachte ich diesen egoistischen Gedanken und kam zu dem Schluss, dass ich mir damit nur selbst ins blaue Knie schießen würde. Ilvy war, auch wenn sie weit entfernt in Stockholm festsaß, die beste Schnüffelnase, die ich kannte. Wenn meine Synapsen wieder eine Blockade aufwiesen, war sie der Mensch, dem ich in Bezug auf mein Leben, kombiniert mit dieser Mutation, absolut vertraute. Sie schaffte es immer wieder, meine Gedanken auf Kurs zu bringen und etwas Klarheit zu verleihen.

Dass ich die Aura meiner Mitmenschen sehen konnte, kam von einem Tag auf den anderen. Genauso wie alle anderen Facetten dieses Gendefekts. Moment, nicht schimpfen! Ich verpasste dem kleinen Teufel auf meiner linken Schulter eine Kopfnuss, bevor mich mein innerer Oberlehrer namens „Unterbewusstsein“ zurechtweisen konnte. Mit viel Mühe und gutem Zureden schaffte ich es, diese Veränderungen meines Geistes und Körpers nicht nur negativ zu sehen. So wie dies zu Beginn der Fall gewesen war. Natürlich ärgerte ich mich immer noch darüber. Ab und zu. Warum musste es ausgerechnet mich treffen? Warum nicht eine meiner hochbegabten Cousinen – Caroline und Vicy? Gemeinsam bewohnten sie mit ihrer Mutter, den zweiten Stock im Haus meiner Großeltern. Caroline hatte eindeutig damit gerechnet, die Auserwählte zu sein. Ihre jüngere Schwester eher nicht. Vicy ging es ähnlich wie mir, nur dass sie eben normale Gene mit sich herumschleppte und ich nicht.

Tja, die Loser-Karte gehörte mir ganz allein.

Kurze Zusammenfassung: An meinem sechzehnten Geburtstag, wie ich mittlerweile zu würdigen gelernt habe, ein nicht ganz unbedeutender Tag – die Sommersonnenwende, der längste Tag und die kürzeste Nacht im Jahr – legte sich bei mir ein Schalter um. Also, an diesem Tag aktivierte sich in mir diese kleine Genverstümmelung. Ich wusste nichts davon und hatte im ersten Moment auch niemanden, der mich darüber aufklärte. Bis zum Eintreffen des ersten mysteriösen Briefs meiner verstorbenen Mutter. Jap, Briefe von der eigenen Mutter waren toll, aber wenn die Mutter doch eigentlich tot sein sollte, bekam das Ganze einen doch etwas schrägen Touch. Ich liebte meine Mam. Wenn ich daran dachte, wie es ihr beim Verfassen dieser Briefe und beim Organisieren meines zukünftigen wankelmütigen Lebens ergangen sein musste, wurde mir ganz anders. Mein Herz floss über vor Dankbarkeit – sie hatte alles, ihr denkbar Möglichstes getan. Oft ergaben Situationen aus meiner Kindheit erst jetzt Sinn. Bereits da versuchte sie mich auf diesen Weg vorzubereiten. Ihr Gewissen, ihre Unsicherheit, die eigene Lebenseinstellung und die Vorsehung meiner Zukunft in Einklang zu bringen, das konnte nicht einfach gewesen sein. Bis heute erhielt ich ihre Briefe. Hinweise, mit denen ich mehr über die Gendefektler vor mir erfuhr. Mehr über mich und die Gabe lernte und mit Mut, Hoffnung, Durchhaltevermögen und Liebe beschenkt wurde.

In Windeseile hatte sich die Mutation weiterentwickelt. In knapp einer Woche war ich körperlich und psychisch am Ende meiner Kräfte. Am ersten Tag hatte ich die Wut und Abneigung meiner ach so netten Schwester als körperliche Schmerzen zu spüren bekommen. Mir war nie klar gewesen, wie tief die Kluft zwischen uns wirklich war. Wir haben uns nie besonders gut verstanden, aber genauso wenig kannte ich den Grund dafür.

Am Tag nach meinem Geburtstag zeigte sich zum ersten Mal der Blick in die Seele eines anderen Menschen: Mein zweites Gesicht. Bislang konnte ich diesen Algorithmus noch nicht entschlüsseln, aber ich war nahe dran, wie auch bei so manch anderem. Es war nur eine Frage der Zeit. Leider musste ich jedes Mal darauf warten, bis es sich offenbarte. Das zweite Gesicht bewusst zu rufen, war mir noch nicht gelungen, deshalb erschwerte das eine genauere Erforschung. Interessant, dass es sich zum ersten Mal genau bei Dad offenbart hatte. Ohne Vorwarnung bekam ich den Schmerz und den Verlust, den er durch Mams Tod erlitten hatte, ungefiltert präsentiert. Zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich mit der Trauer um sie von meiner Familie im Stich gelassen. Die Gabe zeigte mir das Gegenteil. Dad und ich fanden einen neuen Weg zueinander, sprachen uns aus. Danach fiel uns vieles leichter.

Das Schrägste waren diese Vergangenheitsträume, die ich immer wieder erlebte und bis heute nicht kontrollieren konnte. Auch hier musste ich mich mit ihrer Erforschung auf den Zufall verlassen und kam nur schleppend voran. Zu Beginn waren es Erinnerungen aus der Kindheit, die ich verdrängt oder schlichtweg vergessen hatte, aber nicht unbedeutend waren. Am anstrengendsten und verworrensten war es, wenn ich in die Vergangenheit anderer Menschen fiel und keinen blassen Schimmer von dem Zusammenhang oder einem möglichen Sinn dahinter hatte. Zum Glück fand ich bislang immer irgendwie den roten Faden oder, besser gesagt, Ilvy, wenn ich ihr davon erzählte. Darüber reden tat gut. Die Bilder, in Worte zu fassen, führte zu manchen Zusammenhängen.

Durch Mams Briefe hatte sich eine Hetzjagd zwischen Ally und mir entwickelt. Die Post anderer zu durchstöbern gehörte zu ihren Hobbys. Einmal wäre es beinahe danebengegangen, aber das Glück war mir hold – oder sollte ich sagen, Allys Egoismus?

Unser Postbote offenbarte mir als Erster eine weitere Eigenschaft des Defekts. Während sich die Mutation ohne Zwischenstopp weiterentwickelte, hüllte sich dieser tägliche Männerbesuch in eigenartigen grauen Smog. Erst später, als ich auch Herta, umgeben von einem kräftigen Orange, wahrnahm, erkannte ich, dass dies eine weitere Macke dieser Veränderung war. Dass es sich dabei um die Aura meiner Mitmenschen handelte, zu diesem Schluss gelangte ich wieder einmal durch Ilvys Hilfe – kurzum, ohne sie wäre ich in den ersten Wochen kläglich vor die Hunde gegangen. Mittlerweile war ich imstande, jedes farbliche Flirren in unmittelbarer Nähe wahrzunehmen, aber erklären konnte ich die Formationen immer noch nicht. Eingehende Studien standen noch auf der To-do-Liste – und dennoch wünschte ich mir oft, ich könnte diese Farbenpracht einfach abschalten. Was ich zum Glück hier, in London, mit Großmutters Hilfe indirekt geschafft hatte.

Am Start der großen Generweckungsaktion im Sommer schwankte die Gabe immer wieder. An einem Tag trat sie verstärkt auf. An einem anderen konfrontierte sie mich beinhart mit meinen Konzentrationsschwächen und welche Auswirkungen diese auf mich hatten. Eine kurze Ablenkung – und meine mentale Stabilität wackelte. Dadurch wurde sie unberechenbar, und ich konnte sie nicht mehr kontrollieren.

Wenn ich Großmutters Worten Glauben schenken durfte, handelte es sich dabei um eine Art Lehrmodus, eine natürliche Einschulung: Lerne aus deinen Fehlern und gehe gestärkt aus ihnen hervor. Das war mir dann doch zu heftig!

Zum Glück griff mir Mam wieder einmal unterstützend unter die Arme und sorgte dafür, dass ich ein Amulett fand, dass mir etwas Zeit zum Durchatmen verschaffte. Es zeigte mein Krafttier, einen Hengst, und einen schwarzen runden Stein, ein Turmalin, der den Vollmond oder die Sonne darstellte. Diese Kombination sollte mich vor der Außenwelt schützen, bis ich es endlich auf die Reihe bekam, meinen Schutzkreis zu aktivieren und zu festigen. Tja, leichter gesagt als getan. Viele schlaflose Nächte und Kopfschmerzen gingen voraus, bis ich diesen verdammten Schutzkreis halbwegs so steuern konnte, dass er das tat, was ich von ihm erwartete oder erhoffte. Den Alltag ohne größere Zwischenfälle, wie einem Knock-out oder einen Verkehrsunfall zu überstehen, schaffte ich dennoch nicht. Eine Gefühlsschwankung, eine falsche Ablenkung, ein nervöses Zucken – und dieses Feld verpuffte. Ich brauchte Inputs, die mir zeigten, wie ich mich endlich besser auf mich verlassen konnte, die mich stärkten. Es war klar, ich benötigte höhere, erfahrenere, direkte Unterstützung. Eine Entscheidung musste her. Dieser Stein, Mams Amulett – irgendetwas Unheimliches umgab ihn. Ich verstand die Notwendigkeit, aber durch seinen Schutz legte sich auch etwas anderes um mich. Als wäre ich nicht mehr ich selbst. Als würde er mir etwas aufzwingen. Mich von etwas abkapseln. Ich konnte dieses dumpfe Gefühl nicht erklären, aber ich wusste, dass ich ihn so schnell wie möglich wieder los werden wollte. Ich war Mam unendlich dankbar für ihr unterstützendes Geschenk – ohne den Anhänger hätte ich nie am normalen Leben teilnehmen können – , aber irgendetwas umgab das Amulett …

So hatte ich mich für ein anderes Land entschieden.

Und nun befand ich mich hier.

Hier in London.

Zwei

Nachdem ich Ilvy Mams spärliche Worte zugesandt hatte, verstummte meine beste Freundin.

Mein Krümelchen, 30. Oktober …

wie geht es Dir?

Ich hoffe, die Lage beruhigt sich langsam.

Kannst Du wieder schlafen oder findest Du Dich immer noch außerhalb Deines Körpers wieder? Ich kann Dir versprechen, es wird sich alles legen, und dann wirst Du bald wieder klarer sehen. Erkennen, worum es sich dabei handelt. Die Situation verstehen …

Vertraue auf Dich und Deine Fähigkeiten.

Du bist nicht alleine, und dieses Mal spreche ich nicht von meiner kleinen Unterstützung, sondern von etwas Größerem.

Die Zeit wird kommen.

Die Träume werden Dich stärken, und sie werden Dir einen neuen Weg zeigen.

Hab Geduld! Es wird nicht mehr lange dauern.

Ich liebe Dich,

Deine Mami

C.

Aus.

Mehr gab‘s nicht …

Beinahe auf den Tag genau vor zehn Jahren hatte sie diesen Brief verfasst.

„Was denkst du, auf was spielt sie an?“ Ilvys Blick lag immer noch suchend auf dem Bildschirm.