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Sarah kommt aus dem Urlaub zurück. Ihre neue Liebe Wolf hat sich für sie entschieden. Seine langjährige Ehe, die nach außen den Anschein einer gut funktionierenden Beziehung erweckte, brach auseinander und Sarah gerät zwischen die Fronten. Die Anfeindungen seiner Tochter machen ihr sehr zu schaffen. Aber noch mehr setzten ihr die hinterhältigen Machenschaften der uneinsichtigen, zu tiefst in ihrem Stolz verletzten Ehefrau zu, die an ihrem bisherigen Familienleben mit aller Macht festhalten und die neue Beziehung ihres Mannes zerstören will. Dabei überschreitet sie die Grenzen jeglicher Vernunft. Gestärkt durch Liebe und Freundschaften steht Sarah das durch. Mit viel Herz kümmert sie sich um Jugendliche und die Verbesserung der Quartiersarbeit. Sie lässt sich auch nicht unterkriegen, als sie vor einer beruflichen Veränderung steht und um ihr Zuhause bangen muss.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Ein beklemmendes Gefühl presste Sarah den Brustkorb zusammen, je näher sie ihrer Wohnung kam. Sie wusste nicht, wo es so plötzlich herkam. Vor einer Stunde noch hatte sie in Erinnerungen geschwelgt, Erinnerungen ihres Zusammenseins mit dem Mann, den sie über alles liebte, mit dem sie ein neues Leben beginnen wollte. Und er wollte das auch. Schwierig würde es werden, das war ihnen klar. Tagelang hatten sie über Gott und die Welt gesprochen, über ihre Arbeit, die Betreuung der Jugendlichen und sie hatten sich geliebt, wo und wann sie immer Lust hatten. Noch beim Einsteigen in das Taxi freute sie sich auf zuhause, auf den „stillen Ort“. Und jetzt bekam sie keine Luft mehr.
Fast widerwillig drehte sie ihren Wohnungsschlüssel und stutzte, er war nur einmal herumgedreht. Sie lauschte an der offenen Tür. Im Haus war es totenstill und zaghaft ging sie ein paar Schritte weiter. Sie öffnete die Türen zum Arbeitszimmer und zum Bad, schlich auf Socken ins Wohnzimmer und ein fremder Geruch stieg ihr in die Nase. Etwas panisch riss sie die Balkontür weit auf, die Wohnungstür fiel mit lautem Knall zu und erschrocken zuckte sie zusammen. Da fing sie an zu lachen, ein unbeherrschtes, hysterisches Lachen. ‚Wo ist denn die mutige, kampfbereite Sarah geblieben, haben wir die im Urlaub vielleicht zurückgelassen‘, schimpfte sie mit sich selbst und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Aber das Gefühl, dass kürzlich jemand fremdes in ihrer Wohnung war, fraß sich tief ein. Wer zum Teufel hatte hier herumgeschnüffelt, wie war er ins Haus und in die Wohnung gelangt. Nachdenklich ging sie ins Schlafzimmer und erstarrte. Auf dem Bett lag das smaragdgrüne Kleid. Bei ihrem fluchtartigen Aufbruch hatte sie es einfach liegengelassen. Und so lag es auch noch, aber es war leicht zerknüllt. Sie musste raus hier.
Eine halbe Stunde später saß sie mit Joseph am kleinen Tisch vor seiner Werkstatt. Sie war tief berührt von seiner herzlichen Begrüßung und hatte es nicht fertiggebracht, ihm von den merkwürdigen Dingen, die sie bei ihrer Rückkehr wahrgenommen hatte, zu erzählen. Er tischte alles auf was sein Kühlschrank hergab und sie tranken Bier dazu. Um seinen forschenden Blick auszuweichen, erzählte sie einige kleine erheiternde Urlaubsepisoden. So mussten sie zum Beispiel einmal stundenlang in einer kleinen Bucht aushalten, da das Hochwasser sie überrascht hatte, und sie nicht mehr an den Strand zurückkamen. Joseph amüsierte sich köstlich, aber Sarah hatte keine Lust, allzu viel von ihrem Liebesurlaub mit Wolf preiszugeben. Der große, gütige Mann verstand das und das freute sie.
„Jetzt bist du dran, Joseph“, endete sie abrupt und nahm einen großen Schluck, „jetzt erzähle mal, was sich in der Stadt und vor allem im Jugendquartier so ereignet hat in der Zeit. Ist mit meinen Jungs alles in Ordnung? Haben sie nach mir gefragt und was wird in der Stadt so getratscht?“
„Was im Viertel so getratscht wird, interessiert mich nicht. Aber die Jungs waren ganz schön sauer, dass du einfach so abgehauen bist ohne Vorankündigung, und sind es heute noch. Ich habe mich da rausgehalten, dass musst du schon selbst wieder geradebiegen“, brummelte Joseph vor sich hin und grinste sie an.
Mit zunehmender Dunkelheit wurde es still zwischen ihnen. Joseph ließ das Werkstatttor herunter, brachte sich eine Flasche Bier mit und stellte ihr Gin, eisgekühlt, und Tonic vor die Nase. Schmunzelnd mischte sie sich ein Getränk und im flackernden Kerzenschein kreuzten sich ihre Blicke. Natürlich hatte er es gemerkt, dass da was war. Sie schüttelte leicht mit dem Kopf und rief etwas später Memet an. Morgen erzähle ich es dir, mein Freund, sagte sie und schlürfte mit geschlossenen Augen ihren Lieblingsdrink. Er drängte sie nicht und sie war dankbar dafür.
Als sie zurückkam von Joseph, war das mulmige Gefühl wieder da. Kurzentschlossen packte sie ihre Urlaubswäsche aus, schmiss die Waschmaschine an und fegte bei voller Beleuchtung durch ihre Bude. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen, oder von irgendjemandem einschüchtern lassen. Und trotzdem konnte sie nicht schlafen, dabei war sie todmüde, fas 20 Stunden auf den Beinen. Die Duftkerze auf dem Couchtisch wabbelte vor sich hin und zauberte kleine fantasievolle Bildchen an die Wand, die sich ständig veränderten. Dabei fielen ihr dann doch die Augen zu und sie schlief in ihrem Fernsehsessel ein.
Gegen neun erwachte Sarah, und abgesehen von einer heftigen Verspannung im Nacken, fühlte sie sich besser. In ihrem Sessel hatte sie wohl zu steil mit dem Kopf gelegen. Aber ins Bett zu gehen, war ihr unmöglich gewesen, und gerade holte das ausgebreitete Kleid auf der Bettdecke einen Teil besorgniserregender Gedanken zurück. Sie ließ es einfach liegen, konnte es nicht in den Schrank hängen, warum auch immer. Vorsichtig nahm sie den goldenen Herzanhänger an sich. Die Kette war in eine Stofffalte gerutscht, das hatte sie gestern in den Schrecksekunden nicht bemerkt. ‚Auf Beute war der Eindringling jedenfalls nicht aus, wie beruhigend‘, rief sie laut und ein tiefer Schluchzer schüttelte sie kurz durch.
Hurtig schlüpfte sie unter die Dusche und ließ den kräftigen Wasserstrahl einige Minuten im Wechsel heiß und kalt auf ihren Körper prasseln. Das hatte bisher immer geholfen, wenn ihre innere Balance in Gefahr war. Sie beschloss in der Bäckerei Bertholt zu frühstücken, danach ein wenig einzukaufen und dann Joseph zu besuchen. Und bei der Vorstellung, dass der treue Freund jetzt schon groß und breit unter seinem Tor stand und Ausschau hielt, musste sie grinsen.
Das frische Schinkenbrötchen und der Kaffee hatten gemundet. Sarah stellte zufrieden das Tablett in die Geschirrrückgabe und stieß beim Umdrehen leicht eine Kundin an. Sorry, murmelte sie und erkannte Wolfs Tochter, die gerade Geld auf den Tresen legte. Kati starrte sie an, zuckte zusammen, und stürmte zur Tür raus. ‚Junge Frau‘ rief die Verkäuferin noch hinterher, legte die Tüte und das Geld kopfschüttelnd zur Seite.
Langsam verließ Sarah das Geschäft und wurde etwas nachdenklich. Hatte da vielleicht jemand ein schlechtes Gewissen? Das ging ihr sofort durch den Kopf. Sie rief sich aber gleich zur Ordnung, so ein Quatsch! Sie wollte doch nicht mehr an die mysteriösen Begleiterscheinungen ihrer Rückkehr denken, sie vergessen und schon gar nicht darüber reden. Das wiederum war nicht so einfach. Joseph hatte es gestern sofort gespürt, dass da irgendwas war, und sie wollte es ihm heute erzählen.
Im Gemüseladen an der Ecke packte Sarah noch Salat und etwas Obst zu den Einkäufen. Herr Bekroll bediente sie überfreundlich wie immer, seit der Sprayaktion an der Hauswand. Sarah lächelte, auch wie immer, und bedankte sich noch einmal für seine Spende, die er zum Sommerfest im Jugendquartier beigesteuert hatte. Sie wollte endlich nach Hause, der volle Korb zerrte an ihrem Arm.
Daraus wurde wohl nichts. Eskil, ihr alter türkischer Freund, Inhaber vom „Yemek“, stand vor dem Dönerladen und strahlte ihr entgegen. Da kam sie nicht dran vorbei. Sie hatte ihm bei einem nächtlichen Überfall auf seinen Laden vor längerer Zeit mal beigestanden und seine Dankbarkeit war grenzenlos. Vierzig Jahre lebte er schon hier, hatte die deutsche Sprache nie richtig gelernt und doch verstand sie es immer, sein drolliges, brockenhafte deutsch.
„Tanriya sükür, du wieder da“, rief er aufgeregt und schob sie sanft zur Tür.
„Eskil, warum sollte ich nicht da sein? Ich war ein paar Tage im Urlaub.“ Sarah schüttelte lachend den Kopf, als er die Flasche Raki hochhielt. Aber er drückte ihr ein Glas in die Hand, Gruß für Willkommen, sagte er fröhlich und rückte dann mit geheimnisvollem Gesichtsausdruck etwas näher heran.
„Leute munkeln, du weg“.
„Wie weg, Eskil?“
„Na weg eben, wie bei euch sagen? … durchge …eh, ich meine, durchgebrannt und das mit Wolf.“ Seine flinken, schwarzen Augen flitzten hin und her, und die letzten Worte flüsterte er.
Das verschlug Sarah erstmal die Sprache. Jetzt brauchte sie doch einen Schnaps. ‚Serefe‘, sie prostete ihm zu und stellte hart das Glas auf den Tresen.
„Wer erzählt denn so etwas, Eskil. Ich bin doch keine 17 mehr, war ein paar Tage an der Nordsee und jetzt bin ich wieder da“. Sie packte ihren Einkaufskorb und er begleitete sie zur Tür. Seinen Blick spürte sie lange noch im Rücken und die Grübelei fing wieder an. Nicht zu fassen, in der Gerüchteküche brodelte es mächtig, und das gefiel ihr gar nicht.
Aber was anderes erregte plötzlich ihre Aufmerksamkeit. Vor ihrem Haus stand ein schwarzer Wagen, es war nicht Wolfs Auto. In dem Moment kam ein großer, grauhaariger Mann heraus, gefolgt von Juana, dem guten Geist des Hauses. Und da erkannte Sarah auch Herrn Meskhi, ihren Vermieter, der als Historiker in der Welt herumreiste. Sie hatte erst einmal Kontakt mit ihm, als sie den Mietvertrag unterschreiben musste. Das Vorgeplänkel hatte Fred geregelt, denn dieses Haus hatte er für Doktor Meskhi damals entworfen, als dessen Frau unheilbar erkrankte und nicht mehr mit ihm unterwegs sein konnte. Vor vier Jahren erlag Frau Meskhi ihrem Leiden. Das war kurz nach ihrer Trennung von Fred und er besorgte ihr, wie auch immer, diese sehr schöne, barrierefreie Wohnung.
„Ah, Frau Winter, schön dass wir uns noch treffen. Ich habe wenig Zeit, muss zum Flughafen.“ Mit drei langen Schritten stand er vor ihr und setzte trocken hinterher. „Aber ich kann Sie wenigstens noch informieren, dass ich gewillt bin mein Haus zum Ende des Jahres zu verkaufen.“
Diese Mitteilung traf Sarah so unverhofft, dass ihr vor Schreck der Korb auf den Boden plumpste und sie kein Wort der Erwiderung herausbrachte. Doch sie spürte genau, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Ihr Gegenüber hatte es wohl auch bemerkt und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Frau Winter, Sie sind ja ganz blass geworden, ich wollte Sie nicht erschrecken, aber ich muss… An Ihrem Mietverhältnis wird sich dadurch nichts ändern, dafür sorge ich. Machen Sie sich bitte keine Gedanken, in zwei Wochen bin ich wieder hier, dann sprechen wir über alles.“ Aus dem Auto heraus hob er noch einmal die Hand und weg war er.
Sarah brauchte etwas, ehe die Erstarrung sich löste. Sie atmete dreimal tief ein und aus und schaute sich nach Juana um und sah gerade noch das Rücklicht ihres Fahrrades in der Linkskurve verschwinden. Es hätte wohl auch nicht viel gebracht. Juana kam aus Polen, sprach kaum Deutsch. Als Ganztagspflegerin war die stille, sehr fleißige Frau seit über 10 Jahren bei den Meskhis angestellt, schlief auch im Haus, bis zu Sarahs Einzug. Danach hatte Dr. Meskhi sie behalten, ihr eine kleine Wohnung in der Siedlung besorgt und sie kam einmal in der Woche, schaute nach der Wohnung, kümmerte sich vom Keller bis zum Boden, um die Müllabfuhr und die Sauberkeit um das Haus herum.
Dafür, dass es erst Mittag war, rumorten schon eine Menge Hiobsbotschaften in ihr herum: Katis seltsames Verhalten, Eskils versteckten Andeutungen und jetzt vielleicht noch die Kündigung ihrer Wohnung, wenn der Käufer Eigenbedarf anmelden würde. Sie brauchte heute wohl doch jemandem zum Reden. Und damit nicht genug! Zwischen den Reklameblättern aus ihrem Briefkasten flatterte ein Papierfetzten zu Boden, mit großen krakligen Druckbuchstaben stand drauf: verschwinde endlich du Bitch.
Stumm saß Sarah Joseph gegenüber, wusste nicht wie sie beginnen sollte. Der Briefkastenfund hatte sie mehr aus dem Gleichgewicht gebracht, als sie sich eingestehen wollte. Sie klammerte sich an die Kaffeetasse, starrte vor sich hin und war froh, als Aky, Sem und Toni über den Hof gefegt kamen. Aber Freude sah anders aus. Sie stoppten neben ihr, belauernden sie misstrauisch und plötzlich fielen sie gleichzeitig über sie her mit Fragen und Vorwürfen, wie: warum sie einfach abgehauen sei, nichts gesagt hatte, sich noch nicht hat sehen lassen im „ask“, und, und…
„Jungs, seit gestern bin ich zurück und komme auch wieder ins Quartier, okay?“ Es sollte fröhlich klingen, ging voll daneben und das merkten sogar ihre Schützlinge. Mit schiefen Grimassen schauten sie zu Joseph, der stand auf, sprach leise auf sie ein und sie zogen ab. Er stampfte in die Werkstatt, kam mit einer Flasche Bier zurück, stellte Gin und Tonic, sogar Eiswürfel und Zitronenscheiben vor ihr ab und ließ sich ächzend am Tisch nieder.
„Vielleicht lockert das deine Zunge“, knurrte er sie an, „nun rede endlich! Das ist ja nicht zum Aushalten, wem soll ich mir vornehmen?“
Sarah schreckte hoch vom barschen Tonfall ihres Freundes und fing an zu lachen, lachte, bis ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Allmählich ging es in ein leises Schluchzen über und sie legte ihren Kopf auf den Armen ab. Plötzlich fühlte sie warme Hände auf den Schultern, die ihr die Haare aus dem Nacken strichen, und weiche Lippen, die ihren Hals liebkosten. Sie drehte sich um, schlang die Arme um Wolfs Hals und der ganze aufgestaute Frust löste sich in nichts auf.
„Sarah, was ist hier los?“ Seine dunkle warme Stimme klang besorgt und als keine Antwort kam, drehte er Joseph große Augen zu.
Ehe sich Sarah wieder gefangen hatte, brummte Joseph laut und deutlich, dass sie es gerade erzählen wollte. Wolf schob sie sanft von sich und drückte sie wieder auf den Stuhl. Beide Männer starrten sie unbarmherzig an und sie musste Farbe bekennen. Sie blickte an ihnen vorbei, verschränkte fest ihre Finger ineinander und berichtete mit monotoner Stimme alles, was ihr seit der Rückkehr widerfahren war. Mit dem Fetzten Papier in der Hand schaute Sarah den Wolken zu, die sich gerade auftürmten, und am Tisch war es totenstill.
„Du brauchst neue Schlösser, wahrscheinlich hat jemand deine Schlüssel nachgemacht.“ Joseph richtete sich kerzengerade auf und das Knacken seiner Fingergelenke hing in der Luft.
„Das glaube ich nicht. Es sind spezielle Schlösser, mit einem Code versehen. Kein Schlosser macht die nach, ohne Nachweis des Eigentümers. Und außerdem kann ich Dr. Meskhi schlecht aussperren, er ist gerade heute wieder irgendwohin geflogen und kommt irgendwann zurück.“ Sarah zerknüllte das Blatt Papier und Joseph nahm es ihr aus der Hand, glättete es wieder und musterte Wolf, der mit regloser Miene von einem zum anderen kuckte. Er hatte noch kein Wort gesprochen. Ruckartig sprang er auf, sein Stuhl kippte dabei um. Langsam hob er ihn wieder auf, ich muss kurz weg, sagte er mit tonloser Stimme und lief los. Nach drei Schritten kam er zurück, zog Sarah zu sich hoch und nahm sie fest in die Arme.
„Es wird alles gut, Liebes“, flüsterte er, küsste sie unendlich zärtlich auf den Mund und setzte mit Blick auf Joseph lauter hinzu, du wartest hier auf mich.“
Grinsend schaute der rotblonde Hüne Wolf hinterher, klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch. So Kleines, rief er ausgelassen, jetzt machen wir es uns gemütlich, und stürmte in die Werkstatt. Nach ein paar Minuten schleppte er ein Tablett heran, stellte einen großen, dampfenden Topf in die Mitte, legte Brot, Butter und Schinken daneben und zwei Schüsseln. Nudelsuppe mit Ochsenschwanz, selbst gekocht, erklärte er stolz und langte zu. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Sarah wie sie vorsichtig die Nudeln kostete. Aber als sie ihren Teller auffüllte, sich ein dickes Butterbrot schmierte, schmunzelte er zufrieden vor sich hin.
„Ach Joseph, wenn ich dich nicht hätte. Was kannst du eigentlich nicht? Es hat mir vorzüglich geschmeckt, und das meine ich ehrlich.“ Sarah wischte sich den Mund ab, strich sich lachend über ihren Bauch und mixte sich ein Getränk. Die Eiswürfel waren inzwischen geschmolzen, aber Zitrone tat es auch. Gemeinsam räumten sie den Tisch ab und plötzlich war es wieder sehr still.
„Du hast es tatsächlich geschafft, dir das Rauchen abzugewöhnen?“ Halb fragend, halb feststellend kam es rüber und Sarah lächelte nur dazu. „Dann schaffst du auch alles andere, Kleines. Und jetzt lass uns darüber reden.“ Joseph lehnte sich zurück und nahm einen großen Schluck Bier. Sarah wagte nicht zu widersprechen, und in ihrem Kopf spukten schon Gedanken herum, wie man der Sache auf den Grund kommen könnte.
„Ich denke“, begann sie vorsichtig und forschte in Josephs Gesicht. Als keine Reaktion kam, sprach sie weiter. „Also ich denke, wir ahnen beide, wer dahinterstecken könnte. Aber der oder diejenigen würden es im Leben nicht zugeben, das steht mal fest. Doch jede Kette hat ein schwaches Glied, und da muss man ansetzten.“ Sarah schaute sich nach allen Seiten um, rückte ein Stück näher an ihn heran und breitete ihre Gedanken vor ihm aus.
Wolf war immer noch fassungslos, viel zu schnell legte er den Weg zu seinem Haus im Villenviertel, in der Nähe des Gewerbeparks, zurück. Hellens Auto stand in der Doppelgarage und er blieb in seinem Wagen sitzen, mitten in der Einfahrt. Er war klug genug zu wissen, dass er sich erst beruhigen musste, ehe er auf Hellen traf. Ihm war auch klar, dass sie gar nichts zugeben würde, doch sein Verdacht war so ungeheuerlich, dass er nicht anders konnte. Bei Sarahs Schilderung schoss es ihm in den Kopf. Der Wohnungsschlüssel mit dem Kleeblatt befand sich von Donnerstagfrüh bis heute früh in seiner Jacke, die er an der Garderobe hängengelassen hatte. Einmal hatte er nicht darauf aufgepasst, doch als er es bemerkt hatte, war es zu spät. Aber der Verdacht, dass seine Frau ihm nachspionierte, in seinen Sachen herumwühlte und ihn kontrollierte, machten ihn richtig wütend. An das Weitere wollte er gar nicht denken. Es klopfte an der Scheibe und er schaute seiner Frau ins Gesicht. Hochaufgerichtet schritt sie vor ihm ins Haus direkt ins Wohnzimmer und mit einem honigsüßen Lächeln zeigte sie auf die Sitzecke. Auf dem Tisch standen Gläser und ein Sektkühler.
„Wolfram, wir müssen reden. Ich nehme an, du hattest einen schönen Urlaub, Dienstreise, oder wie du es nennen willst. Ich habe es dir gegönnt, die Auszeit, aber irgendwann muss Schluss sein. Wir haben uns immer etwas Freiraum gelassen, doch immer wieder zurückgefunden und die Familie zusammengehalten. Meinst du das nicht auch?“
„So siehst du das also, Hellen. Und ich frage dich das jetzt nur einmal, hast du ein Schlüsselbund aus meiner Jacke genommen und bist damit in Sarahs Wohnung gewesen?“
Wolf entging nicht das leichte Zittern ihrer Hand, als sie in einem Zuge das Glas leerte und es so heftig abstellte, dass es in tausend Stücke zerbarst. Wutentbrannt sprang sie hoch, ließ ihre Maske fallen und schrie ihn an. Ob er jetzt ganz verrückt geworden wäre, ob das Flittchen ihm völlig den Kopf verdreht hätte, und noch andere Beleidigungen schleuderte sie ihm entgegen. Wolf blieb ruhig und verließ das Zimmer. Nichts anderes hatte er erwartet, aber jetzt wurde es Zeit, sie zu stoppen.
Auf dem kleinen Tisch flackerten die Teelichter, ein leichter Ostwind war aufgekommen und die ersten bunten Laubblätter segelten zu Boden. Der Herbst kündigte sich an. Obwohl dem August noch ein paar Tage blieben, fing es schon deutlich früher an zu dämmern. Sarah fröstelte etwas bei dem Gedanken, dass bald die dunkle Jahreszeit begann. Aber vielleicht lag es auch daran, dass sie mit Joseph geschlagene zwei Stunden erörtert hatte, wie man sich gegen hinterhältige Angriffe schützen könnte. Und was ihr eigenes Dilemma betraf, hatte sie sehr genaue Vorstellungen. Joseph war etwas skeptisch ihren Theorien gefolgt. Nicht ganz überzeugt davon schüttelte er ab und zu den Kopf und knurrte einige Gegenargumente. Gerade schaute ihr der große Mann ratlos in die Augen und seine Hilflosigkeit brachte Sarah zum Lachen.
„Nun schau nicht so miesepetrig, du Brummbär, wir schaffen das schon“, versuchte sie ihn aufzumuntern, und ihre Augen strahlten plötzlich. Wolf kam zurück. Und er kam nicht allein, Frank eilte auf sie zu und begrüßte sie herzlich. Dann hockten sie zu viert am Tisch und er kam gleich zur Sache.
„Ich habe nicht viel Zeit, also, was machen wir jetzt, Sarah? Du kannst das nicht mehr abtun, Vater hat mir alles erzählt und ich kann kaum glauben, dass unsere Mutter dahinterstecken könnte. Soll ich vielleicht meine Schwester mal in die Mangel nehmen?“
„Ich meine auch, da muss mal Druck gemacht werden“, knurrte Joseph laut, „aber sie…?“ Er zuckte mit den Schultern und sah zu Wolf, der sich noch nicht geäußerte hatte. Gedankenversunken schaute er Sarah in die Augen, fasste nach ihrer Hand und sie lächelten sich an. Frank stieß ihn an, ja was nun Vater, sagte er ungeduldig und Wolf riss sich von Sarah los. Er schilderte kurz Hellens Auftritt, als er sie direkt auf den Schlüssel angesprochen hatte. Und er ahnte, was in Sarah vorging und wie sie die Sache sah.
„Leute, mit Druck machen, erreichen wir gar nichts, es würde alles noch verschlimmern.“ Sie hatte leise gesprochen und ihr Blick blieb an Wolf hängen. „Mit unserem gemeinsamen Urlaub haben wir Fakten geschaffen, es wird darüber geredet, Eskil hat es erwähnt. Wenn dein Auto vor meinem Haus steht, bleibt das nicht unbemerkt. Und irgendwelche Gemeinheiten mir gegenüber, wird keiner zugeben. Aber ich werde es nicht ewig hinnehmen. Frank, du kannst mir tatsächlich helfen, es ist ja nicht die ganze Stadt gegen uns, oder?“ Dann erläuterte sie auch den beiden, wie sie die Sache angehen würde, fragte Wolf, ob Kati im Haus gewesen sei. Er nickte. Dann wird es klappen, sagte Sarah, sie wird bei dir auftauchen, Frank, um dich auszuhorchen, also trage ruhig etwas dick auf, aber eben so ganz nebenbei.
„Gut, das habe ich verstanden.“ Frank grinste und drehte sich zu Wolf. „Fährst du mich zurück ins Studio?“
„Na klar mein Sohn“, reagierte Wolf und stand auf. Er schaute auf Sarah herab und schmunzelte. „Na was ist, Liebes, willst du nicht mit? Ich muss noch bei Raul reinschauen, er hat mir Schinken und Oliven aus der Heimat mitgebracht. Und dann fahren wir nach Hause, oder willst du bei deinem Freund Joseph übernachten?“
Sarah musterte argwöhnisch die Männer und versuchte das aufsteigende Glücksgefühl zu unterdrücken. Na, dann mal los, trällerte sie, verabschiedete sich von Joseph und lief zum Auto.
Raul freute sich, sie zu sehen. Ehe er nach hinten ging, wollte er wissen, ob er ihnen gleich hier eine Kostprobe servieren könne. Wolf zögerte etwas und schaute Sarah an, aber die nickte heftig mit dem Kopf und strahlte. Willst du nicht mit mir nach Hause, fragte Wolf und versuchte betrübt zu kucken. Doch, doch, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück, aber weißt du, mir geht gerade was durch den Kopf, darüber könnten wir hier noch sprechen und außerdem…sie zögerte etwas, setzte ihren „bitte- bitte- Schmollblick“ auf und zeigte auf einen kleinen Tisch in der Ecke. Außerdem ist mir jetzt kalt. Raul hat sicher einen leckeren Tee mit was drin für mich, rief sie ihm noch halblaut hinterher.
Als Wolf eine Stunde später gemeinsam mit ihr die Wohnung betrat, ahnte er, weshalb Sarah gezögert hatte und ihm nicht um den Hals gefallen war vor Freude, dass er bei ihr übernachten wollte. Sie hatte den gestrigen Tag ihrer Ankunft noch nicht verarbeitet, sie war geflüchtet. Der Einkaufskorb stand unberührt in der Küche, das grüne Kleid lag immer noch auf dem Bett, etwas zusammengeknüllt, dass sah er sofort. Er wollte gar nicht daran denken, wie sie sich gefühlt haben musste. Plötzlich stand sie hinter ihm, drückte ihr tränennasse Gesicht in seinen Nacken und schlang die Arme fest um seinen Oberkörper.
Die Begrüßung am Sonntagnachmittag im Quartier hatte sich Sarah etwas anders vorgestellt. Keiner ihrer Schützlinge kam auf sie zugerast und überschüttete sie mit Fragen, kleinen Problemen oder sonst etwas. Sie hockten um den Tisch herum und schwiegen. Joseph hatte schon angedeutet, dass die Jugendlichen sauer auf sie waren. Und das musste sie jetzt wieder geradebiegen. Wolf hatte auch gemeint, dass ihre Privatangelegenheiten den Jungs eigentlich nichts angingen, aber ganz außen vor konnten sie sie auch nicht lassen. In der Stadt kursierten die dollsten Gerüchte, da half wohl nur, darüber zu reden.
Kurzentschlossen drehte Sarah sich wortlos um, ging raus und kaum sofort zurück. Alle starrten sie jetzt an, manche grinsend, andere verunsichert oder misstrauisch.
„Hallo Leute, da bin ich wieder“, rief sie lachend in die Runde, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an die Stirnseite. „Ehe ihr über mich herfallt, muss ich mich bei euch allen entschuldigen. Ich habe mich vor zwei Wochen einfach aus dem Staub gemacht, ohne es euch zu sagen, quasi über Nacht, ich brauchte ein paar Tage Urlaub. Aber jetzt bin ich wieder hier und…ich habe euch etwas von der Nordsee mitgebracht“
Es wurde unruhig am Tisch, sie tuschelten miteinander, Aky und Batu machten Platz und sie stellte ihre Mitbringsel in die Tischmitte: einen Leuchtturm, ein rustikales Steuerrad und einen dazugehörigen Anker. „Wem fällt was dazu ein? Warum habe ich gerade diese Souvenirs ausgesucht“, forderte Sarah sie heraus. Doch keiner reagierte darauf. Es blieb still in der Runde, sie maulten weiter, und Peter, der schon eine Weile am Billardtisch lehnte, zuckte mit den Schultern. „Gut, ihr seid noch sauer auf mich, dann sage ich es euch. Der Leuchtturm symbolisiert für mich: einen festen Hafen; das Steuerrad; wie ihr da hinkommt und der Anker; dass ihr euer Ziel erreicht habt. Was sagt ihr dazu? Aky, bitte, oder gefällt euch das nicht?“
„Na klar, gefällt uns, oder Leute“, quetschte er lustlos raus. „Aber wir haben gequatscht, in der Stadt wird geredet, war Wolf nun mit dir im Urlaub oder nicht? Peter meinte, er war auf Dienstreise, stimmt das?“
„Ah, daher weht der Wind, ihr wollt mich aushorchen, Joseph hat wohl nicht geplaudert, oder?“ Sarah stemmte die Arme in die Hüften und lachte herzlich, schaute jeden einzelnen ins Gesicht und wurde plötzlich ernst. Sie wollten es von ihr hören.
„Ja und ja“ begann sie vorsichtig, „Wolf war auf einer Dienstreise, aber vorher hatten wir uns an der Nordsee getroffen, auch er hatte sich Sorgen gemacht, weil ich einfach verschwunden war. Er wollte mit mir reden und wir haben viel geredet, auch über unser Quartier und…“
Nun labere doch nicht drumherum, unterbrach Toni sie vorlaut, geht ihr jetzt zusammen, oder nicht, wollte er wissen und lautes Gejohle und Geklopfe auf den Tischen übertönte alles. Sarah zog die Augenbrauen hoch, schaute wieder zu Peter, aber der grinste nur.
„Schluss jetzt Leute!“, beendete sie energisch den Trubel. „Ich sage nur so viel dazu, und das im Vertrauen; ich mag Wolf, sehr sogar, aber es ist Privatsache und kompliziert. Es gibt genug Gerüchte in der Stad und es gefällt nicht allen Leuten, was da über uns erzählt wird. Ich habe es schon zu spüren bekommen. Deshalb, bitte, behaltet es für euch. Kann ich mich darauf verlassen?“
Wie auf Kommando verließen die 10 Jungs den Tisch, steckten in der Ecke die Köpfe zusammen und drehten sich dann zu ihr um. Sarah, sprach Aky für alle, du kannst dich auf uns verlassen, Ehrenwort. „So kenne ich euch, das habe ich erwartet, danke Jungs, und jetzt sucht mal einen Platz für die Souvenirs aus.“ Sie atmete erleichtert durch und folgte Peter ins Büro.
„Buh, eine komplizierte Sache, oder? Ich konnte dich leider nicht vorwarnen, aber die Kids haben einiges mitgebracht, was so im Viertel geredet wird. Und Wolfs Tochter war Anfang der Woche kurz hier. Andrey hat es mir erzählt. Von den Jungs hat keiner mit ihr gesprochen, da wollte sie ihn aushorchen, erfolglos. Wir wussten ja auch nichts und der Klatsch interessiert uns nicht. Da ist sie wieder abgezogen und vor der Tür lümmelten ihre Freunde herum, du weißt schon, die vom letzten Mal.“
„Gut, Peter.“ Sarah sah ihren Kollegen prüfend an. „Ist eine verzwickte Geschichte, wie das Leben eben spielt“, deutete sie noch an und verdrehte die Augen. „Gibt es sonst noch irgendwas zu berichten?“
„Die üblichen Zänkereien am Billardtisch, ansonsten alles wie immer. Aky, Sem, Toni sind oft mal zu Joseph rübergerutscht, ach ja, die Mädchen haben sich in der Zeit gar nicht sehen lassen. Und vielleicht eins noch. Am verwilderten Spielplatz hatte einmal der Papierkorb gebrannt und die Feuerwehr musste ausrücken, wegen Waldbrandgefahr.“
Sarah hatte still zugehört, nickte ein paar Mal und wollte rausgehen, da hielt Peter sie zurück. Übrigens, sagte er, deine Mitbringsel gefallen mir gut, aber die Jungs hatten sich auf euch eingeschossen, es beschäftigt sie. Das habe ich gemerkt, antwortete Sarah und zog eine Grimasse, die beruhigen sich auch wieder.
Ihre Schützlinge hatten sich schon umgesehen und den rustikalen Bücherschrank an der Wand aufgeräumt, die Spiele und Bücher ordentlich in den Fächern einsortiert und auf einem Brett die Souvenirs aufgestellt. Sarah lobte sie, und gleichzeitig kam ihr eine Idee.
„Was haltet ihr davon, wenn wir das Wäldchen neben unserem Haus nächstes Wochenende auch etwas aufräumen. Joseph hilft uns bestimmt dabei. Wir könnten das Holz zusammentragen und vielleicht, wenn wir die Erlaubnis bekommen, im Herbst eine Grillfete mit Lagerfeuer organisieren, das Geld dafür haben wir.“
Na, da hatte sie was losgetreten, die Jungs waren begeistert, wären am liebsten gleich losgestürmt. Stopp Leute, bremste sie die Euphorie, wir müssen das erst mit Wolf und den anderen besprechen. Und jetzt würde ich noch eine Runde Billard spielen, wer opfert sich, fragte sie gleich hinterher und sie gaben sich zufrieden.
Heute bin ich dran, rief Batu und packte voller Stolz sein Queue aus, das er beim Sommerfest gewonnen hatte. Nach drei verlorenen Spielen verabschiedete sie sich mit süßsaurer Miene und alle hatten ihren Spaß.
Vor der Tür atmete Sarah tief durch. ‚Das war erstmal geschafft‘, murmelte sie vor sich hin und durchquerte das Wäldchen, vorbei an dem Spielplatz, auf dem es kürzlich gebrannt hatte. Die Spuren waren noch deutlich zu sehen. Die ganze Zeit hörte sie Schritte hinter sich, sie blieb stehen, die Schritte waren weg. Wurde sie verfolgt? Bis „Alis Box Bude“ war es nicht weit, doch sie zögerte. War es nicht zu früh bei Frank reinzuschauen? Er sollte sich um Gottes Willen nicht bedrängt fühlen. Immerhin war es seine Familie, die er ausspionieren wollte. Und das rechnete Sarah ihm hoch an.
Kurzentschlossen eilte sie den Weg zurück, blieb an der Weggabelung abermals stehen. Und wieso rannte sie jetzt noch zu Joseph? In einer Stunde wurde es schon dunkel, morgen musste sie wieder ins Büro. Jetzt hörte sie schon Gespenster und hatte nun den doppelten Heimweg. Oder…wollte sie gar nicht nach Hause? Verdammt, sie konnte nicht davonlaufen, wo war die alte, kämpferische Sarah geblieben? Sie fing an zu lachen, kriegte sich kaum wieder ein und dachte nur; wenn ich jetzt eine Kippe hätte…
Im Studio war heute zum Sonntag nichts los. Frank schickte Tina eine Stunde früher nach Hause und schaute dem aufgedrehten Grufti Mädchen lachend hinterher, als sie mit lautem Juppi Jeh rausmarschierte. Sie war mit ihrer schwarzen Kluft und gepiercten Körperteilen schon etwas speziell, aber sehr zuverlässig und loyal. Auf seiner Runde musste er an Sarah denken. Er konnte es gut verstehen, dass sein Vater dieser Frau verfallen war, aber es schmerzte auch, wenn er an seine Mutter und seine Schwester dachte. Und trotzdem, das Leben spielte nach eigenen Regeln, die man irgendwann akzeptieren sollte.
Seine Bürotür ging auf und plötzlich stand Kati vor ihm. Hast du mein Klopfen nicht gehört, zwitscherte sie und ließ sich in einen Sessel fallen. Hallo Brüderchen, ich bin es, rief sie laut und fuchtelte mit den Händen vor ihm herum. Träumst du vielleicht, motzte sie ihn weiter an, dann kann es nichts Gescheites sein, so wie du kuckst. Sie holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank und fläzte sich wieder hin.
Das alles verschaffte Frank etwas Zeit, um sich zu sammeln. Er wusste genau, dass das flapsige Benehmen nur Show war, um ihre Unsicherheit zu überspielen.
„Ich grüße dich auch, kleine Schwester, reagierte er gelassen, „und ja, der Tag könnte schöner sein.“
„Wie meinst du das? Bist du sauer, weil Leonie in ein paar Tagen weg muss? Hast du gedacht, ich bekomme das nicht mit, dass zwischen euch was läuft?“
„Na das ist ja kein Geheimnis, aber darum geht es nicht. Außerdem kommt sie jedes Wochenende zu mir. Ich mache mir Sorgen um Sarah.“
„Wieso das denn, spinnst du? Die soll doch auf sich selbst aufpassen“, plusterte Kati sich auf und funkelte ihren Bruder zornig an.
„Kati, bitte! Das macht sie ja. Und trotzdem hat Papa große Sorge um sie und ich auch. Wir haben ihr geraten, zur Polizei zu gehen und Anzeige gegen unbekannt zu stellen.“ Frank hatte richtig vermutet. Bei den lauten Worten wurde Kati etwas blass und rutschte im Sessel zusammen. Er tat so, als bemerke er es nicht und sprach einfach weiter. „Oder was würdest du machen, wenn jemand heimlich in deiner Wohnung herumschnüffeln würde? Wenn du das Gefühl hättest, ständig verfolgt zu werden, und einen Schmierzettel mit Drohungen im Briefkasten finden würdest? Das alles hat Sarah seit Freitagabend erlebt.“
„Vielleicht bildet die sich das nur ein, eure Sarah“, warf Kati ihm kratzbürstig an den Kopf. „Und woran will sie das gemerkt haben, dass da jemand drin war?“ Sie wich Franks Blick aus und setzte leiser hinzu, „was soll die Polizei schon finden.“
„Na ja, die Anzeige wird sehr ernst genommen und sie werden den Spuren nachgehen, Fingerabdrücke nehmen und so. Sarah hat es am fremden Geruch gemerkt, und das smaragdgrüne Kleid auf dem Bett war zerknittert, und die Tür war nur einmal abgeschlossen.“
Das würde wohl reichten, dachte Frank, als Kati einen Schein blasser wurde. Sanft zog er sie zu sich hoch und nahm sie fest in die Arme. „Aber Kleines, darüber musst du dir keine Gedanken machen. Soll ich dich dann mit nach Hause nehmen, es dauert aber noch. Ich bin mit Moped, murmelte sie und huschte zur Tür raus.
Auf dem Weg zur Arbeit beschlich Sarah schon die böse Ahnung, dass im Büro nichts Gutes zu erwarten war. Ihre vier Kolleginnen standen vor verschlossener Bürotür und waren ratlos. Frau Hamann hatte einen Schlüssel, aber das Schloss wurde wohl ausgetauscht, eine Information konnten sie nirgends entdecken. Fragend schauten sie ihr entgegen, doch sie zuckte mit den Schultern und zeigte zur Eingangstür. Gerade betraten Herr Theusdorf, der Seniorchef, und Frau Weller, seine ehemalige Sekretärin das Haus. Er schloss auf. Sorry meine Damen, entschuldigte er sich, wir treffen uns in einer halben Stunde im Konferenzraum, sagte er noch und verschwand mit Frau Weller in seinem Büro.
Niemand rührte auf den aufgeräumten Arbeitsplätzen etwas an. Die vier Frauen standen am Fenster zusammen, tuschelten und schüttelten mit den Köpfen. Sarah wollte sich dazustellen, sah in dem Moment Frau Weller das Büro verlassen und folgte ihr in die Kaffeeecke auf dem Gang. Souverän wie immer setzte ihre ehemalige, langjährige Kollegin Kaffee an, stellte Tassen und Teller auf ein Tablett und streifte sie mit einem traurigen Blick. Sarah, ich möchte nicht vorgreifen, sagte sie, Hans…äh, ich meine Herr Theusdorf, wird gleich alles notwendige ausführlich darlegen. Und glaube es mir, er hat es sich nicht leichtgemacht.
Sarah unterdrückte ein Schmunzeln. Da war Frau Weller wohl etwas sehr Privates herausgerutscht. Und wenn das stimmte, was sie längst vermutete, würde sie das ungemein freuen. Gemeinsam deckten sie im Konferenzraum ein. Der Auszubildende der Bäckerei Bertholt lieferte zwei Platten belegte Brötchen ab. Plötzlich stürmten die Kolleginnen rein, allen voran Katja Hamann, die nach ihr am längsten im Steuerbüro arbeitete. Was ist hier eigentlich los, rief sie aufgebracht, was läuft hier? Wir haben ein Recht es zu erfahren, also…
Sarah wollte sie beruhigen und hob die Hände. Aber ihr Chef, der hochaufgerichtet hinter ihnen in der Tür stand, nahm ihr das ab.
„Meine Damen, bitte, nehmen Sie erst mal Platz. Natürlich ist es rechtens, dass Sie alles erfahren, deshalb sitzen wir heute hier. Aber ich werde es kurz machen. Und Sie können mir glauben, das ist der schwerste Tag in meinem Berufsleben, seit ich das Steuerbüro von meinem Vater vor 30 Jahren übernommen habe.“ Schwerfällig ließ sich der Seniorchef an der Stirnseite nieder. Sehr gealtert war er in letzter Zeit, dachte Sarah. Mit aschfahler Gesichtsfarbe, die grauen Haare wirr zurückgestrichen, starrte er für Sekunden vor sich hin, und sein Tonfall wechselte von dienstlich ins persönliche, als er weitersprach. „Ihr werdet euch sicher fragen, wo ist der Juniorchef? Wieso ist Frau Wilkes Arbeitsplatz leer? Ich musste den beiden fristlos kündigen, meinem Sohn und Teilhaber wurde die Prokura mit sofortiger Wirkung entzogen, er ist raus. Die ungewöhnlichen „Betriebsferien“ habe ich angeordnet, auch die Schlösser austauschen lassen, um größeren Schaden gerade noch zu verhindern. Jetzt lasst uns frühstücken, danach geht es weiter.“
Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören, so still war es im Raum. Keiner wagte die Kaffeetasse zu heben oder ein Brötchen zu nehmen. Der Chef und Frau Weller sahen sich an und sie half ihm aus der Klemme. Nun Mädels, langt doch erstmal zu, lasst den Kaffee nicht kalt werden, rief sie laut und nahm sich ein Brötchen vom Teller. Sarah schloss sich an und die Starre lockerte sich etwas, aber keiner sagte einen Ton.
Stühle wurden gerückt, Katja und Sonja gingen für wenige Minuten raus, kamen zurück und ein schwacher Tabakduft schwebte in der Luft. Sarah musste grinsen, nur nicht dran denken, flüsterte ihre innere Stimme und sie zuckte zusammen, als der Senior sich laut räusperte. Es betraf natürlich nicht sie. Er wollte nur weitersprechen, denn eins war Sarah klar geworden, das dicke Ende kam noch.
„Also, werte Kolleginnen,“ begann Herr Theusdorf, „ich meine…, wir haben…, wir hatten…, verflixt und zugenäht, was ich sagen will, Ab November wird es das Steuerbüro Theusdorf nicht mehr geben. Ich werde wie geplant in den Ruhestand gehen, ein Nachfolger steht nicht zur Debatte. Ihre Arbeitsverträge laufen Ende Oktober aus, vorausgesetzt, sie ihr seid mit einem Aufhebungsvertrag einverstanden. Je nach Gehalt und Zugehörigkeit denke ich über eine Abfindung nach. Die Klienten sind schon informiert und ich erwarte von euch, dass alle Vorgänge diesbezüglich korrekt abgearbeitet werden und bis Ende Oktober zum Abschluss kommen. Frau Weller wird euch zur Seite stehen, Probleme und Fragen an mich weitergeben. Und jetzt ran an die Arbeit, hopp, hopp, Monatsabschluss steht vor der Tür.“
Es sollte lustig klingen, aber keiner lachte, Sarah auch nicht. Sie hatte einiges erwartet, aber das nicht, was zum Teufel hatte sich in den letzten Wochen hier abgespielt. Ihr Blick wanderte einige Male zum Chefbüro. Da rührte sich nichts und sie widerstand der Versuchung, einfach anzuklopfen. Wenn er sie näher einweihen wollte, würde er es sicher tun. Heute war ein schlechter Zeitpunkt dafür, vor allem den Kolleginnen gegenüber. Bedrückte Stimmung überschatte das Arbeitsklima und wortkarg liefen alle zum Feierabend auseinander.
Sarah ließ sich sehr viel Zeit für den Nachhauseweg. Sie musste einfach diese Hiobsbotschaft ein wenig verarbeiten. Im Kiosk bei Henry nahm sie die Tageszeitung mit und erfuhr nebenbei den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Viertel, auch über Wolf und sie. Er beobachtete sie genau dabei und sie schmunzelte nur, ließ sich auf kein Gespräch ein. Vor dem Cafe Shop, ein paar Meter weiter, genoss sie die untergehende Sonne und vertiefte sich im Tageblatt. Ein Artikel erregte ihre ganze Aufmerksamkeit, aber eine bekannte Stimme lenkte sie ab.
Mittig der Einkaufsmeile näherte sich Wolfs Tochter, begleitet von zwei jungen Männern, die ihr sehr bekannt vorkamen. Sarah tarnte sich mit der Zeitung, steckte sie dann ein und folgte im angemessenen Abstand. Der eine schob ein weißes Moped, um genau zu sein, Katis Moped, und sie sprach mit lauter Stimme auf die beiden ein. Kurz vor Bekroll, dem Gemüseladen auf der Ecke, blieben sie stehen und diskutierten ziemlich aufgebracht miteinander. Sarah versteckte sich hinter einem Müllcontainer in der Nische zwischen Geschäft und Nachbarhaus. Sie spähte vorsichtig um die Ecke, konnte ein paar Worte verstehen wie: … ja gut, … haben verstanden …ist noch offen…sag das deiner… Da ließ der eine das Moped los und drehte sich um. Gerade in dem Moment hatte Sarah einige Fotos mit dem Handy gemacht, duckte sich weg und hielt die Luft an. Nun komm schon, drängte der, der geredet hatte, und weg waren sie.
Kati stand fluchend vor dem umgefallenen Moped. Unter anderen Umständen hätte Sarah sofort geholfen, aber so. Gebückt huschte sie aus der Nische und plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Erstarrt verharrte sie in der Stellung, packte mit der linken Hand fest zu und schleuderte in einer Linksdrehung jemanden zu Boden.
„Bist du verrückt geworden, was ist mit dir denn los, Sarah“, schnauzte sie derjenige an und rappelte sich stöhnend hoch.
„Mein Gott Hans, es tut mir leid, warum hast du mich nicht angesprochen. Das war reiner Reflex, wenn mich von hinten jemand angreift. Was machst du eigentlich hier?“
„Das könnte ich dich fragen“, knurrte der lange, schlaksige Mann und klopfte an seiner Hose herum. „Meine Mutter wohnt hier, und ich auch, habe Müll rausgeschafft und dich beobachtet, wie du Wolfs Tochter und die Kerle belauscht hast. Da habe ich dich lieber nicht angesprochen.“
„Oh, Hans, entschuldige noch einmal, du hast mitgedacht, das finde ich super. Wie geht es deiner Mutter?“
„Lenk nicht ab, Sarah, ich bin nicht dumm. Erst verschwindest du, und jetzt das, und in der Stadt wird geredet. Ich bin auch nicht taub, verstehst du“, gab er zur Antwort, drehte zwei Zigaretten und hielt ihr eine hin.
Einen Moment zögerte Sarah, dann griff sie zu und sie rauchten schweigend. Es schmeckte scheußlich, aber sie paffte vor sich hin und lächelte ihn an.
„Das ist eine lange Geschichte, Hans, vielleicht reden wir mal bei Joseph darüber, jetzt muss ich endlich nach Hause.“ Sie trat ihre Kippe aus und schüttelte sich. Eigentlich rauche ich nicht mehr, rief sie lachend und eilte zwischen den Häusern davon. Sie vermutete, dass er ihr ratlos hinterher starrte und hob winkend die Hand.