Wenn Träume wahr werden - Sigrid Wagner - E-Book

Wenn Träume wahr werden E-Book

Sigrid Wagner

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Beschreibung

Unzählige Erinnerungen stürmen auf Charlotte ein, als sie auf Grund einer Dienstreise nach 20 Jahren das erste Mal wieder in ihren Heimatort zurückkehrt. Vieles hat sich verändert, und doch hat sie das Gefühl, die Zeit ist hier stehen geblieben. Sie verbringt wunderbare Stunden mit Freunden und Bekannten von früher, besucht Orte, die sie nie vergessen hat und heftige Gefühle für ihre Jugendliebe flammen wieder auf. Ihr Familienleben zuhause bricht nach 20 Jahren gerade auseinander und der Arbeitsplatz ist auch nicht mehr sicher. Aufgewühlt von Emotionen kehrt sie zurück und versucht, lang gehegte Träume mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, um ihren Kindern und sich selbst eine sorgenfreie Zukunft zu sichern.

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Inhalt

Vorwort

Rückkehr

Erinnerungen

Lebe deinen Traum

Im Strudel des Lebens

Neue Wege gehen

Epilog

Vorwort

Eine Dienstreise führte Charlotte nach fast 20 Jahren das erste Mal in ihren Heimatort Beeshain zurück. Eigentlich lag er nur eine Autostunde vom jetzigen Wohnort entfernt. Aber es gab einfach keine familiären oder andere Bindungen mehr, die Sehnsucht nach ihrem Geburtsort geweckt hätten, obwohl sie gern da gelebt hatte.

Kurz vor dem Ziel jedoch begann es unter ihrer Haut zu kribbeln und als sie beim Aussteigen Heimaterde berührte, überfielen sie starke Emotionen.

Rückkehr

Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste mich. Nach drei tiefen Atemzügen verschwand es und ich schaute mich etwas ratlos um, glaubte für einen winzigen Moment, ich wäre in den falschen Bus eingestiegen. Alles war fremd und der erste Blick in eine bestimmte Richtung stimmte mich fast traurig. Statt auf eine uralte große Wurzel, geformt wie ein Sessel mit Armlehnen, starrte ich auf Mauern von Beton. Ein Block Plattenbauten mit mindesten sechst Stockwerken starrte zurück. Die Parkplätze vor den Häusern begrenzten geradlinig eine Seite des Platzes und die Bushaltestelle lag eingebettet in einer kleinen Parkanlage. Den „Kreißl“ gab es nicht mehr. Der runde Dorfplatz war verschwunden. Auf der anderen Seite gegenüber überragte noch der Kirchturm die kleinen Siedlungshäuser und dazwischen entdeckte ich auch unsere Kneipe den „Eulenwirt“, die damals einzige Wirtschaft im Ort. Langsam wanderte mein Blick weiter und so nach und nach stellte sich etwas Vertrautheit wieder ein.

„Charly? Du bist doch Charly, oder?“

„Ja klar, denke schon.“ So plötzlich aus meinen Gedanken gerissen, schaute ich völlig überrumpelt auf die junge Frau, die ihr Fahrrad abbremste und mit einem kleinen Jungen im Kindersitz neben mir stehen blieb. Ihr Gesicht sagte mir etwas, aber ich musste in meinen Erinnerungen kramen.

„ Erkennst mich wohl nicht?“

Bei jedem Wort hüpfte ihr dicker Pferdeschwanz lustig hin und her, dabei strahlten ihre blauen Augen mich an, als hätte sie gerade einen Sieg errungen. „Na was, ich bin doch …“

„Du bist Biene, Biene ohne Co“, platzte ich dazwischen und amüsierte mich jetzt über ihren erstaunten Gesichtsausdruck. „Mein Gott, du hast dich ja gemausert, Sabine Wehrmann, hätte dich tatsächlich fast nicht erkannt. Bei uns in der Clique hieß es früher immer „da kommt Biene und Co“, wenn ihr uns über den Weg gelaufen seid.“

Jetzt lachten wir beide über die alte Erinnerung und das Echo prallte dumpf an den Betonmauern ab. Vor 20 Jahren wäre es bis in das kleine Wäldchen getragen worden, aber das gab es nun nicht mehr. Ihr Söhnchen quiekte fröhlich mit.

„Oh Gott, so spät schon“, rief sie hektisch beim Blick auf die Armbanduhr. „Ich muss ja los, 9 Uhr beginnt meine Arbeit, bin im Büro angestellt in der MAWEME, vorher noch KITA, die ist aber gleich daneben“, erklärte sie in Windeseile und schwang sich aufs Fahrrad.

Ich schaute ihr nach, bis sie hinter den ersten hohen Häusern verschwunden war. Plötzlich begriff ich, dass Sabine wohl in der kleinen Weberei angestellt war, die es im nächsten Jahr nicht mehr geben würde. Mit den 50 Arbeitern in der Produktion, vorwiegend Frauen, und den paar Angestellten in der Betriebsleitung konnten die Planvorgaben seit Jahren nicht mehr erfüllt werden, bedingt durch veraltete Technik, hohen Krankenstand und Freistellungen auf Grund von Schwangerschaft. Bei diesem Gedanke wurde mir mulmig. Die Weberei war der kleinste Betrieb in dem großen Textil Kombinat, indem ich nach Abschluss meines Studiums als Ökonom der Datenverarbeitung arbeitete. Natürlich gab es Sozialpläne für die Beschäftigten, ich hatte selbst an der Ausarbeitung mitgewirkt, die nach der Umstrukturierung in Kraft treten sollten. Um sie vorzustellen hatte ich heute 11 Uhr den Termin beim Bürgermeister und anschließend mit ihm zusammen eine Konferenz mit der Betriebsleitung. Aber die bittere Pille war wie jedes Mal; die Betroffenen selbst würden alles als Letzte erfahren

Beim „Eulenwirt“ ging die Tür auf und eine ältere Frau, paar Jahre jünger als meine Mutter vielleicht, fegte vor dem Haus. „Na da will ich mal“, motivierte ich mich laut, schüttelte die deprimierenden Gedanken ab und lief mit meinem leichten Handgepäck auf die Wirtschaft zu.

„Guten Morgen, ich gehe davon aus, dass noch geschlossen ist, könnte ich trotzdem meine Tasche hier schon abstellen?“

„Kommt darauf an!“ Seelenruhig stellte die Frau den Feger neben die Tür, drehte sich voll zu mir und musterte mich wortlos eine Ewigkeit von oben bis unten. Sie war eine aus dem Dorf, das Gesicht kannte ich, aber ein Name fiel mir dazu nicht ein.

„Bist du nicht Charlotte, die Tochter von der Friedel Bauer, lang nicht gesehen, wie geht es deiner Mutter?“

Jetzt war ich baff, auch sie erkannte mich sofort, ich musste wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Aber was mich noch mehr stutzig machte, sie nannte meine Mutter Friedel. Und ich hatte immer gedacht, dass nur mein Vater sie so nannte, als er noch lebte.

Ich grinste über alle vier Backen und trat freudig einen Schritt auf sie zu. „Aber ja, das bin ich, dass sie sich noch erinnern an mich……“

„Warum nicht, du hast ja früher für genug Aufregung im Dorf gesorgt, für gute Aufregung“, fügte sie schnell hinzu, als sie meinen fragenden Blick auffing, lachte dabei laut und herzlich und griff nach meiner abgestellten Tasche.

„Nun komm doch erst mal rein, ich bin hier Mädchen für alles seit 10 Jahren, möchtest du vielleicht einen Kaffee trinken, frisch aufgebrüht, siehst aus, als könntest du einen vertragen.“

„Wahnsinnig gern“, rief ich laut und folgte ihr nach drinnen. Plötzlich verspürte ich richtig Hunger und ich drückte meine Hand auf den knurrenden Magen, ich hatte ja noch gar nichts gefrühstückt außer einem Becher Jogurt zuhause. Meine lauten Magengeräusche musste sie wohl mitbekommen haben und stellte lächelnd gleich noch frische Brötchen, Butter und Wurst auf den Tisch, hockte sich daneben und schon sprudelte einiges aus ihr heraus. „Übrigens, ich bin Isolde Weidmann, wohne immer noch in dem kleinen Häuschen zwischen Beeshain und Borgsdorf. Seit dem Eulrich die Frau weggestorben ist arbeite ich hier und kümmere mich um den alten Chef. Er hat den Verlust schwer verkraftet und schwächelt jetzt selbst und ein paar Jahre führt sein Sohn Manfred schon die Wirtschaft. Aber der kommt vor Mittag nicht aus den Federn. Nun erzähl doch mal von dir, von euch, drei ältere Schwestern hattest du doch, oder? Wie ist es euch ergangen nach der furchtbaren Nacht, an die sich in den Dörfern wohl noch alle erinnern werden.

Ich blickte verstohlen auf meine Armbanduhr, musste mich langsam auf den Weg machen. Mit ein paar Sätzen erzählte ich von unsrer Familie, und ich verschwieg absichtlich den Grund meines Besuches, sonst hätte wohl bis heute Abend jeder im Ort darüber Bescheid gewusst. Das durfte so nicht passieren.

„Vielen Dank, liebe Frau Weidmann, sie haben mir wahrlich das Leben gerettet“, schreiben sie es mit auf die Rechnung. Ich muss in der Gemeinde einiges erledigen, dann werde ich einen sehr langen Spaziergang durch die alte Heimat machen, mir auch das Gewerbegebiet anschauen und mich heute Abend für eine Nacht bei euch einnisten. Ihr habt doch noch Gästezimmer, oder?“

„Ja klar, fünf Zimmer vermieten wir und zwei sind frei? Soll ich die Tasche gleich mit nach oben nehmen?“

„Sehr gerne, ich nehme nur etwas heraus. Ist das alte Gemeindehaus immer noch dort, wo es mal stand? Und wie lange läuft man zu Fuß in das neue Gebiet?“, bat ich noch um Auskunft und strahlte sie dabei mit unwiderstehlichem Lächeln an.

„So ist es, das Gemeindehaus steht noch dort, nur etwas aufgefrischt und nennt sich jetzt Rathaus. Und zu Fuß geht man straff eine halbe Stunde in das Gewerbegebiet, wenn man weiß, was man dort sucht.“

Ihre versteckte Frage war nicht zu überhören. Ich bedankte mich noch einmal und verabschiedete mich schnell bis zum Abend. Deutlich spürte ich ihre Blicke in meinem Rücken. Eigentlich wollte ich der Hauptstraße folgen, kurz nach einer ausgedehnten Rechtskurve würde ich genau auf das Gemeindehaus zulaufen. Aber dann lief ich doch quer über den Platz. Vor einigen Siedlungshäusern fegten und werkelten mehrere ältere Frauen herum, unterhielten sich dabei laut und die eine oder andere schaute schon in meine Richtung. Ich war mir sicher, dass die meisten davon mich erkennen würden und hatte gerade keine Zeit, mich auf Gespräche einzulassen.

Und da entdeckte ich es schon, unser altes Gemeindehaus. Von alt konnte keine Rede sein. Die Giebelseite war noch eingerüstet und die Vorderfront strahlte mit frischen Farben in hellgrau und einem warmen rotbraun in der Septembersonne. Mittig über dem Haupteingang prangte in schwarzer Schrift RATHAUS. Ich überflog die Orientierungstafel kurz und fand im Obergeschoss den Bürgermeister, Herrn Dr. Bröckelmann.

Oh, den Bürgermeister Müller gab es nicht mehr. Hatte man ihn abgewählt, dachte ich belustigt, halt, 20 Jahre, der könnte schon längst im Ruhestand sein, wie alt war der damals, ein ganzes Stück älter als Mama, und jetzt 20 Jahre später...

„Kann ich behilflich sein?“

„Danke, ich muss zum Bürgermeister, hab ihn schon gefunden“, erwiderte ich freundlich und drehte mich halb um zu dem Mann, der mich angesprochen hatte. Ich musste dabei hochschauen, bekannt kam er mir vor, aber die Zeit drängte. Er folgte mir die Treppe hoch, überholte mich und musterte mich dabei genau und eilte dann den Gang nach hinten, als ich vor der ersten Tür stehen blieb. Schnell warf ich noch einen Blick auf das Namensschild neben der Tür; Dr. H. Bröckelmann – Bürgermeister und darunter; Frau B. Bröckelmann – Sekretärin. Für Sekunden kribbelte es unter meiner Haut als ich anklopfte. Nach einem „Ja bitte“ stand ich mitten im Zimmer, erblickte die Empfangsdame und konnte mir das Kribbeln sofort erklären, meine alte Freundin Babsi!

Als sie mich ansah, froren ihre Gesichtszüge etwas ein, nicht eine Regung verriet, dass sie mich erkannte, doch ich konnte es an ihrem Mienenspiel ablesen. ‚Na warte, das zahl ich dir heim du kleines Luder‘, dachte ich und konnte ein Grinsen nicht verhindern. Erhaben schritt sie vor mir her, klopfte an und öffnete die Tür zum Nebenzimmer.

„Nehmen sie bitte Platz, Frau Wegner, bin gleich bei ihnen.“

„Guten Tag Bürgermeister Bröckelmann“, erwiderte ich locker, nahm am Konferenztisch Platz und musterte ihn. An seine Person konnte ich mich nicht wirklich erinnern, doch in Windeseile sausten mir ein paar Gedanken durch den Kopf und mir wurde einiges klar. Er erinnerte mich sehr stark an Bröckelmann, ein Gemeinderatsmitglied. Der ging damals bei Babsi und ihrer Mutter ein und aus. Anwalt Baumann, Babsis Vater, siedelte mit seiner Kanzlei in die Kreisstadt um und die Eltern ließen sich später auch scheiden. Na klar, Henry Bröckelmann saß vor ihr. Er lebte damals in einem Internat, seine Mutter war sehr früh verstorben, und er studierte später irgendwo im Land.

„Frau Wegner, entschuldigen sie, jetzt bin ich bei ihnen.“ Lächelnd begrüßte er mich mit einem festen Händedruck und nahm mir gegenüber Platz. „Wir wissen ja beide um was es geht und 13 Uhr treffen wir uns vor Ort beim Betriebsleiter des VEB MAWEME, aber ich wollte mir vorher einen Überblick verschaffen, was die Wegrationalisierung des kleinen Betriebes für unsere Gemeinde bedeutet!“

Überrascht von der zunehmenden Schärfe seines Tones spürte ich massive Abwehr. Wortlos schob ich die Unterlagen zu ihm rüber und verkniff mir jeglichen Kommentar. Wie ich persönlich darüber dachte, spielte keine Rolle, im Gegenteil, man musste sich heute genau überlegen, worüber und mit wem man redete. Die Unzufriedenheit vieler Menschen mit unserem System brodelte schon lange, auch in den Betrieben und die staatstreuen Spitzel waren überall.

Mit gerunzelter Stirn blätterte der Bürgermeister in den Unterlagen, schaute plötzlich hoch und lächelte wieder. „Wissen sie, mir liegen die Menschen meiner Gemeinde sehr am Herzen.“

„Mir auch, Herr Bröckelmann, mir auch!“ platzte es plötzlich aus mir heraus und sein etwas erstaunter Blick verwunderte mich gar nicht. Ehe ich in Erklärungsnot kam, klopfte es kurz und die Tür ging auf. Ich war heilfroh und schaute, genau wie der Bürgermeister, dem Eintretenden entgegen.

„Ah, Herr Hinrich, sie kommen gerade rechtzeitig, möchten sie auch einen Kaffee?“, empfing ihn Herr Bröckelmann und ich hatte den Eindruck, sogar ein wenig erleichtert. Er verschwand ins Vorzimmer und der Ankömmling streckte mir mit breitem Grinsen beide Hände entgegen.

„Habe ich mich doch nicht geirrt, Charly, du bist es tatsächlich, ich glaube es nicht!“

„Glaub es ruhig, Herr Hinrich!“, reagierte ich betont forsch, stand auf und ging lachend einen Schritt auf ihn zu. „Hallo Sprosse, bin auch überrascht, was machst du denn hier? Solltest du nicht in die Fußstapfen deines Vaters treten und einmal die Apotheke übernehmen?“

„Sollte ich, aber Pillen drehen liegt mir nicht, habe es wirklich versucht und ein paar Jahre später erst, du warst schon lange aus Beeshain weg, habe ich noch mal die Schulbank gedrückt und in der Abendschule meinen Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht und bin hier gelandet.“

„Verstehe ich das richtig, Frau Wegner stammt aus Beeshain und ihr kennt euch von früher?“ mischte sich der Bürgermeister in unser Gespräch ein und schaute fragend seinen Mitarbeiter an.

„Aber ja, das ist Charlotte Bauer, genannt Charly, von allen geliebt und von manchen gefürchtet, so war das früher, wenn sie mit Babsi, Leni und Eule durch die Gegend zog.“

„Nun übertreibe aber nicht Sprosse“, wehrte ich mich lachend, „was soll der Bürgermeister von mir denken.“

„Das hat mir meine Frau gar nicht erzählt, sie hätte mich ja vorwarnen können“, stimmte Bröckelmann in die allgemeine Heiterkeit ein, wurde aber sofort dienstlich, als sich die Tür öffnete und seine Sekretärin den Kaffee brachte. Trotzdem wollte er es jetzt wissen. „Sag mal Schatz, du erwähntest gar nicht, dass du Frau Wegner von früher kennst?“

„Frau Wegner?“ Mit perfekt gespielter Überraschung schaute sie zu mir, strich sich über die Stirn und zwitscherte dann in den höchsten Tönen. „Aber ja, natürlich, Charlotte Bauer, Charly jetzt erkenne ich dich, mein Gott wie die Zeit doch vergeht und wie man sich verändert hat.“

„Da hast du wohl recht, Babsi, wir haben uns alle verändert, sind alle älter geworden, Hauptsache hier oben bleibt man fit, oder“, säuselte ich liebenswürdig zurück und fing dabei einen verschmitzten Blick von Hinrich ein.

Das Tablett wie ein Schutzschild vor der Brust warf Barbara ihren Kopf nach hinten, so dass ihre blonde Hochsteckfrisur bedenklich ins Wanken kam, schritt zur Tür und schickte einen unfreundlichen Blick in die Runde. „Babsi gibt es schon eine Ewigkeit nicht mehr!“

“Schade eigentlich“, murmelte ich grinsend und hoffte darauf, dass es keiner mitbekommen hatte. Wenn ja, ließen sie es sich nicht anmerken. Nach einer halben Stunde brachen wir auf. Meine Begleiter hatten sich mit den Unterlagen etwas vertraut gemacht und an ihren Gesichtern konnte ich ablesen, dass sie sehr besorgt waren.

Im Konferenzraum ging es hoch her. Neben den Gemeindevertretern und meiner Wenigkeit saßen der Betriebsdirektor und seine leitenden Mitarbeiter für Produktion, Technik, Ökonomie und Personalfragen, sowie eine Sprecherin der Gewerkschaft am runden Tisch und redeten sich die Köpfe heiß. Die Sekretärin verteilte ständig neue Unterlagen, die sie aus der Vorlagenmappe der Kombinatsleitung kopierte und die dann Punkt für Punkt heftig ausdiskutiert wurden. Ich verfolgte sehr genau jedes Wort und nahm nur Stellung, wenn ich direkt angesprochen wurde und wenn es in mein Aufgabenbereich fiel, ich stand sowieso auf verlorenem Posten.

Nach knapp zwei Stunden schloss Betriebsleiter Dr. Heimann geräuschvoll die dicke Unterlagenmappe und damit die Arbeitsbesprechung. Anspannung knisterte noch im Raum und Dr. Heimann nahm mich mit einem ernsten, aber nicht unfreundlichen Blick ins Visier.

„Frau Wegner, mir ist nicht verborgen geblieben, dass sie aus diesem Dorf stammen und bis vor 20 Jahren hier gelebt haben. Was sagen sie zu unserem Dilemma?

Ich hatte es befürchtet, meine Gedanken schon etwas geordnet und schaute ziemlich entspannt in die Runde.

„Meine Herren, werte Kollegin, ich kann nicht behaupten, dass es mir im Moment gut geht und könnte ich es persönlich betrachten, würde ich es lieber bei einem kühlen Bier oder Gläschen Wein in gemütlicher Runde tun.“ Keiner konnte sich ein Schmunzeln verkneifen und ich hatte etwas Land gewonnen.

„Aber“, fuhr ich ernst fort, „hier geht es nicht um Befindlichkeiten, sondern um Fakten. Und die Fakten liegen auf dem Tisch in Form von Zahlen und Prozenten, die seit Jahren nicht bergauf, sondern bergab marschieren. Die Gründe dafür sind bekannt. Ich sehe hier einen gut durchorganisierten Betriebsablauf, mit voller Nutzung und Ausschöpfung aller Ressourcen, unter hervorragenden sozialen Aspekten, aber auch mit einer veralteten und störanfälligen Technik im Produktionsbereich. Das wiederum ist zurückzuführen auf die Anfang 70 Jahre, genauer gesagt, auf die Verstaatlichung und übergangslose Nutzung des kleinen privaten Textilbetriebes. Sie erfolgte einfach im derzeitigen Zustand, ohne jegliche Modernisierung, die damals schon erforderlich gewesen wäre und heute akut ist

In mein Aufgabenbereich gehören soziale Belange der Betriebsangehörigen und ich werde die Bedeutung ihres Betriebes für die Region und für ihre Menschen hervorheben, auch unter dem Gesichtspunkt, dass mit der Entstehung des neuen Wohngebietes viele junge Familien extra zugezogen sind.“

„Ich danke ihnen, Frau Wegner, ich glaube das ist in unser aller Sinn“, beendete er die Sitzung und klopfte auf den Tisch. Mit Klopfen und Kopfnicken verließen die Mitarbeiter nach und nach den Raum.

Und keiner von uns konnte wohl ahnen, dass es zwei Jahre später alles ganz anders kam.

Dr. Heimann verabschiedete sich persönlich von uns und hielt den Bürgermeister noch kurz auf.

„Du hast dich gut geschlagen, Charly, wie immer.“

„Danke, was Besseres fiel mir nicht ein, aber lassen wir das jetzt, Sprosse, ich brauche frische Luft und eine Zigarette“, drängelte ich und gab meinem Nachbar einen Schubs in Richtung Tür. „Oder bist du auch beleidigt, wenn ich dich so nenne Herr Hinrich.“

„Charly, Charly, immer noch die Alte“, kicherte er und auf dem Gehweg tänzelte er vor mir her und flötete mit hoher Stimme „Babsi gibt es schon eine Ewigkeit nicht mehr.“ Wir krümmten uns vor Lachen und erst ein tiefes Räuspern im Rücken stoppte uns.

„So, so!“, äußerte sich der Bürgermeister nur und sah auf die Uhr. „Was halten sie davon, wenn wir im Einkaufzentrum einen kleinen Imbiss zu uns nehmen?“

Gesagt, getan, eine Stunde verging wie im Fluge und in gelöster Atmosphäre. Der Bürgermeister bestand darauf, dass wir ihm einige „Schandtaten“ von früher erzählten, und amüsierte sich köstlich.

„Davon möchte ich mehr hören, von meiner Frau erfahre ich bestimmt nichts“, beendete er lachend die Unterhaltung und bezahlte die Rechnung. „Frau Wegner, sie haben uns beeindruckt.“

„Danke, Dr. Bröckelmann, genauso werde ich es meinen Vorgesetzten im Kombinat darlegen, doch ich befürchte, mehr kann ich nicht tun.“

„Das sehe ich auch so, die Zukunft wird es zeigen, Veränderungen stehen an, glaube ich.“ Nachdenklich schwieg er und erwartete wohl keine Antwort.

„Fahren sie jetzt mit uns zurück ins Dorf?“

„Danke für den Imbiss, ich sehe mich hier noch ein bisschen um, stand eh auf meinem Plan, zu Fuß komme ich überall hin und der Nachmittag gehört meiner alten Heimat.“

„Ja dann mach‘s gut Charly, lass dich mal wieder sehen und nicht erst in 20 Jahren“, verabschiedete sich Sprosse der Apothekersohn kumpelhaft und der Bürgermeister förmlich, aber nett.

Diese Hürde war genommen. Auch wenn ich mein Bestes gegeben hatte, spürte ich doch, dass sich erst jetzt meine innere Anspannung endgültig auflöste. Schließlich war es kein Kuchen, den ich verteilt hatte, sondern ein Paket Maßnahmen, deren Umsetzung ganze Existenzen gefährden könnten.

Langsam bummelte ich durch das Gewerbegebiet mit einem Einkaufscenter, Baumarkt, Drogerie, Apotheke, Sparkasse und anderen diversen Geschäften und einer Tankstelle. Neben dieser Tankstelle entdeckte ich eine kleine KfZ Werkstatt. Das war wie ein Auslöser und genau wie bei meiner Ankunft am frühen Morgen, stoppte mich plötzlich ein leichtes Schwindelgefühl und ich setzte mich kurz auf eine kleine Mauer.

Es dauerte nur Sekunden, aber ich musste mich neu orientieren. Eine Menge Leute waren unterwegs, na klar, Freitagnachmittag und doch war ich fast froh, dass mich nicht schon wieder jemand erkannte. Entschlossen lenkte ich meine Schritte auf den letzten Wohnblock zu, hinter dem ich endlich etwas Grün und Bäume entdeckte. Der Ausflug ins Grüne war zu Ende ehe er begonnen hatte. Ein hoher Zaun bremste mich aus. „Hat sich denn hier alles verändert, verflixt noch mal, ich erkenne ja gar nichts wieder. Aber halt, wenn die Wohnblocks am „Kreißl“ anfingen und hier endete, dann ist das ja ehemaliges Land des Bauernhofes Grote“, sinnierte ich laut vor mich hin und fing mir ein paar eindeutige Blicke ein. Zwei Jugendliche überholten mich, blieben stehen und fuchtelten mit den Händen vor ihren Gesichtern herum.

„He Jungs, wartet doch mal“, rief ich laut und ging auf sie zu. Angriff war schließlich der beste Weg zur Verteidigung. „Ich habe hier mal gewohnt, war hier nicht mal ein Bauernhof und weiter dahinter ein alter Bunker auf einer Anhöhe mitten im Wald?“

„Keine Ahnung, muss schon eine Ewigkeit her sein“, brummelte einer und trottete weiter. Der andere blieb stehen und schaute mich neugierig an. „Mein Opa hat mal so etwas erzählt von einem Bunker, aber da haben die einen Gedenkstein draus gemacht, liegt noch ein ganzes Stück hinter dem Tiergehege, da wo die hohen Bäume stehen“, gab er freundlich Auskunft und trabte seinem Kumpel hinterher.

„Danke!“, rief ich, aber meine winkende Hand nahmen sie nicht mehr wahr und ich verspürte gerade keine Lust mehr, der Sache nachzugehen. Ich schlug den Weg zur Ortsmitte ein, stoppte aber am Ende des Zaunes. Es interessierte mich schon, was es mit dem Gehege auf sich hatte, und ich war überrascht, als ich am Eingangstor las: Tierasyl, Verwalter H. und J. Herold, Wir sind für jede Spende dankbar.

Da schau, das konnte eigentlich nur der Forstgehilfe Herold sein und sicher sein Sohn. Der war älter als wir und studierte damals irgendwo Forstwirtschaft.

Hinter dem Haupthaus, jetzt erkannte ich es wieder, und einigen Stallungen reihten sich links und rechts zahlreiche Pferche aneinander. Doch etwas neugierig geworden lief ich auf der anderen Seite entlang, der Zaun war hier nur halb so hoch, und man konnte einen Blick darüber werfen. Einige Pferche standen leer und in anderen entdeckte ich Ziegen, Schafe, Kaninchen, Federvieh und so weiter. Ein großer rotbrauner Kater schlich dazwischen herum, doch kein Mensch war zu sehen

Ehrlich, es reichte mir auch für heute, ein langer Tag und die Uhr zeigte 20 vor sechs. Nach wenigen Minuten Fußmarsches, rückte die Kirchturmspitze näher und ich erkannte die ersten Siedlungshäuser. Ich lief zügig darauf zu, auf der rechten Seite zogen sich die Neubauten entlang und links tat sich ein kleines Wäldchen auf, was wohl verschont geblieben war, und nach einer Weggabelung in eine niedrige Schonung überging.

Beim Anblick der aufgeforsteten Fläche schoss mir mit aller Macht eine Welle alter Erinnerungen hoch, Erinnerungen, die ich seit Jahren verdrängt hatte. Die Gefühlswallung war so mächtig, dass es mir die Tränen in die Augen trieb und ich eine Weile stehen bleiben musste. Ganz verschwommen tauchte das blasse, zarte Gesicht einer alten Frau vor mir auf. Genau hier, inmitten der Schonung, hatte Frau Weinhold in ihrem Häuschen gewohnt und zum Glück musste sie nicht miterleben, als es einem verheerenden Waldbrand zum Opfer fiel.

Sie lebte da schon zwei Jahre nicht mehr. Und Lars, ihr Sohn, hatte es an die Gemeinde abgetreten und Beeshain endgültig den Rücken gekehrt. Ach ja, Lars, Lässe, meine erste große Liebe. „Schluss jetzt, das ist und bleibt Vergangenheit!“ Ganz laut rief ich mich selbst zur Ordnung und trotzdem war ich machtlos gegen das Kribbeln unter meiner Haut, welches sich wie ein kleiner Igel durch den ganzen Körper rollte.

Der Weg endete genau am nicht mehr vorhandenen „Kreißl“, am Wohnblock, auf den ich morgens entsetzt geschaut hatte. „So, jetzt schaue ich mir auch noch unser altes Häuschen an, oder was davon über ist, und dann reicht es!“ Mit einem flauen Gefühl im Magen lief ich weiter an der Schonung entlang bis zum Siedlungsende. Unser Haus war weg, nein, daneben stehen ja noch zwei und wir hatten das drittletzte in der Siedlung. Nahe genug herangekommen ging mir ein Licht auf. Na klar, meine Mutter hatte mir erzählt, dass sich in unserem Häuschen eine Kleintierpraxis niedergelassen hatte. Jahrelang hatte es leer gestanden, der Gemeinde fehlte wohl das Geld, um es zu sanieren. Denn in der Nacht als der Wald neben und auch hinter uns vernichtet wurde, Weinholds Häuschen völlig niederbrannte hatte, es uns auch erwischt. Eine uralte Kiefer fing Feuer und krachte genau auf den Giebel des Daches. Meine Mutter war allein zuhause und kam mit einem riesigen Schrecken davon. Das einzig Gute daran, sie zog endlich zu uns in die Kreisstadt.

Und jetzt stand ich vor unserem ehemaligen Haus. Der gesamte Dachstuhl war wohl abgetragen und durch ein Flachdach ersetzt worden. Sah gut aus, wie ein Bungalow mit großen Fenstern und einer schönen Außentür. Rechts im Nachbarhaus beobachtete mich eine ältere Frau aus dem Fenster, konnte eigentlich nur Frau Ewers sein, erinnerte ich mich und trat einen Schritt bis an den Zaun. Sie schien sich in den letzten 20 Jahren gar nicht verändert zu haben. Mit Lockenwickler auf dem Kopf lehnte sie im Fensterrahmen, die Arme auf dem mächtigen Busen verschränkt, füllte sie das gesamte Fensterbrett voll aus.

„Guten Tag Frau Ewers, wie geht es ihnen“, rief ich laut zu ihr rüber.“

„Wer will da wissen“, krähte sie zurück, das Tor ist offen, komm näher, meine Augen sind nicht mehr die Besten.“

Einen Rückzieher konnte ich jetzt nicht mehr machen, na ja, 5 Minuten.

„Hallo, ich bin Charly, Charlotte Bauer, wir waren mal Nachbarn.“

„Charlotte, jetzt erkenne ich dich, wie geht es deiner Mutter, was machen deine Schwestern, habt euch ja nie wieder hier sehen lassen“, brummelte sie los und ein kleiner Vorwurf schwang mit.

„Ja das stimmt wohl, die Jahre vergehen so fix und jeder muss mit seinem Leben klarkommen. Uns geht es ganz gut. Meine Mutter wohnt mit bei Christel im Haus, die hat ihren Friseurmeister gemacht und inzwischen ein eigenes Geschäft eröffnet. Aber wie geht es ihnen, und lebt denn die Kräuter Ruth noch und unser Wachtmeister Weller“, versuchte ich sie von uns abzulenken, das gelang sehr erfolgreich. Nach einer geschlagenen halben Stunde wusste ich genau, wer alles verstorben war, dass der Dorfsheriff mit seiner Frau weggezogen war, die Kräuter Ruth in drei Jahren 100 wird, der Waldbrand damals wohl Brandstiftung gewesen war, die Zicklers kein Unheil mehr anrichten konnten und, und, und. Sie hätte noch für Stunden Gesprächsstoff gehabt und ich war heil froh, als eine Gemeindeschwester durch die Pforte kam und unseren Plausch beendete.

„So, ich muss jetzt, kann die Schwester nicht warten lassen, meine Beine machen nicht mehr mit, grüß deine Mutter von mir!“ Resolut, so wie ich sie von früher kannte, brach sie das Gespräch ab und ich eilte erleichtert davon. Bis zum „Eulenwirt waren es keine 5 Minuten und jetzt merkte ich, wie kaputt ich doch war, und der Abend fing erst an.

Erinnerungen

Schon vor der Tür hörte ich Stimmengemurmel und sogar meinen Namen. „Ach herrje“, entfuhr es mir laut, „da muss ich jetzt durch.“ Ich zog die schwere Tür auf, trat ein und alle Augen schauten auf mich.

„Sag ich doch, Charly ist im Dorf, meine Frau lügt doch nicht“, triumphierte ein Gast am Stammtisch, stand auf und nahm mich einfach in den Arm. Lachend versuchte ich mich freizumachen und schaute zu ihm hoch.

„Hallo Peter, hast du mich etwa vermisst, bist ganz schön grau geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

„Gesehen? Mensch Mädchen, das ist bestimmt 20 Jahre her“, prustete er los und schob mich zum Stammtisch. Vier Männer saßen noch da und drei erkannte ich sofort, Martin, Frank und Gerd, alle bei der Feuerwehr damals.

„Hallo, grüß dich Charly, die verlorene Tochter kehrt zurück?“, scherzte der letztere und drückte mir fest die Hand, genau wie die anderen. Martin schob ein Stuhl zurecht.

„Nun hocke dich schon hin, wir haben eine Menge Fragen.“

„Stopp Männer, sehr gerne gleich. Aber ich muss erst mal auf Bude“, wehrte ich mich lächelnd und blieb stehen. „Ich bin seit 6 Uhr unterwegs und jetzt muss ich mich frisch machen und habe einen Bärenhunger.“ In dem Moment stellte der Wirt ein Tablett Bier auf den Tisch ab und strahlte mich an.

„Mensch Charly, dass ich das noch mal erlebe, da schmeiß ich doch gleich eine Runde zur Begrüßung und dann sag ich in der Küche Bescheid.“

„Eule, Eule, ich freue mich auch, du hast mich noch oft im Traum verfolgt in den Jahren. Junge. Junge, du bist ja ein waschechter Kneipenwirt geworden“, scherzte ich und strich ihm über seinen beachtlichen Bauch.

„Eh, alles Samenstränge. Drei Mädels habe ich schon hinbekommen.“

„Nun lasst uns doch erst mal anstoßen“, drängelte Peter. Alle standen auf und stießen mit mir an und ich leerte das Glas in einem Zug, merkte jetzt erst, dass ich richtig durstig war.

„Charly beeil dich, wir sitzen nicht ewig hier.“

„Geht klar.“ Ich hob kurz die Hand, folgte Eule zum Tresen und ließ mir den Zimmerschlüssel geben. „Habt ihr eine Kleinigkeit zu essen, vielleicht Bratkartoffeln und Sülze?“

„Ich frag mal.“ Er verschwand in der Küche und ich schaute ein wenig umher, es hatte sich nicht viel verändert, warum auch.

„Charly, Sülze is nich, vielleicht Spiegeleier?“

„Auch Spiegeleier, zwei, von beiden Seiten gebraten.“

„Treppe hoch, zweite Tür links. Wann essen?

„Halbe Stunde, an dem Tisch hier“, Ich zeigte auf den kleinen Tisch neben dem Tresen und verschwand, und ich spürte ganz genau, dass die Stammtischbrüder mir nachschauten.

Kurz wanderte mein Blick durch das Zimmer, schlicht und einfach, aber das Bett und die Handtücher darauf dufteten frisch und das reichte mir. Die kleine Duschkabine war wohl erst eingebaut worden, sah ziemlich neu aus und ich ließ mir mit Wonne das warme Wasser über den Körper laufen. Keine fünf Minuten brauchte ich, rubbelte mich ab und von kaputt sein und Müdigkeit war nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, ein Hochgefühl strömte durch meinen Körper und ich freute mich wahnsinnig auf die nächsten Stunden zwischen alten Bekannten in meiner alten Heimat. Mit den Fingern fuhr ich durch die Haare. Christel hatte mir vor einer Woche einen Kurzhaarschnitt verpasst, der brauchte keinen Föhn, höchstens etwas Haargel. Beim Schminken nahm ich mir etwas mehr Zeit, schlüpfte dann in die nagelneuen Jeans, einen weichen Pulli und in die dazu passenden Stiefeletten, fertig war ich.

Am Stammtisch ging es hoch her und unbemerkt schlich ich mich am Tresen vorbei und setzte mich abseits zum Essen an den kleinen Tisch, wahrscheinlich der Personaltisch für ein Päuschen. Und schon stellte mir Frau Weidmann, die hatte ich ja morgens schon kennengelernt, einen Teller vor die Nase.

„Vielen Dank, sie retten mich schon wieder“, strahlte ich sie an, „sind sie denn immer noch hier?“

„Aber nein, früh für drei Stunden und abends bis Küchenschluss. Auf mich wartet doch niemand.“ Sie schmunzelte und legte das Besteck zurecht. „Lass es dir schmecken. Ach übrigens, von uns wusste es niemand, dass du hier bist im Dorf, Peter hat das mitgebracht“, flüsterte sie noch und ließ mich allein.

Aufmerksam geworden durch unser Gespräch drehten sich einige zu mir um, es waren inzwischen doppelt so viele Männer, die um den großen runden Stammtisch saßen, und wünschten guten Hunger. Eule, der eigentlich Manfred hieß, doch das sagte kein Mensch zu ihm, stellte mir ein frisch gezapftes Bier hin.

„Noch ein Begrüßungsbier, auf einem Bein kann man ja nicht stehen, oder willst du was anderes trinken?“

„Aber nein, passt zum Essen und Danke.“ Die Bratkartoffeln waren sehr lecker, Gürkchen dazu und die Eier wie ich sie mochte rum und um gebraten. Anschließend gönnte ich mir noch eine Zigarette, ließ die Schachtel dort liegen, stand auf und ging rüber zum vollbesetzten Tisch.

Klopfen und lautes Gejohle empfing mich, neben Frank hatten sie noch einen Stuhl gestellt und ich setzte mich. Er schob mich auch gleich als erster an.

„Nun erzähle, Charly, wie geht es deinen Schwestern und deiner Mutter. Ach übrigens haben wir festgestellt; du hast dich ganz schön raus gemacht.“

„Wenn das ein Kompliment war, danke, aber ihr erwartet jetzt nicht, dass ich rot werde“, konterte ich grinsend und holte tief Luft. „Also die kurze Version: meiner Mutter geht es gut, sie hilft, wo sie kann, wie schon immer und wohnt bei Christel im Haus. Die hat inzwischen einen eigenen Friseursalon und wenn ihr mal einen richtig guten Haarschnitt haben wollt, in „Christels Haar Oase“ bekommt ihr ihn.“ Einige fingen an zu lachen, aber sie unterbrachen mich nicht. „Ursula unsere Große ist eine Weile im Land herum getingelt, hat als Bedienung in der Saison gearbeitet, ist verheiratet, hat zwei Söhne und verkauft Klamotten. Die Evelin wohnt schon lange in Coswig, bei Dresden, ist verheiratet, hat auch einen Sohn und arbeitet in einer Gärtnerei. Das wars schon, und jetzt zu Beeshain, was gibt es...“

„Oho, langsam“, fiel mir Peter ins Wort, von dir hast du noch nichts erzählt.“

„Ach, auch das wollt ihr wissen“, zierte ich mich ein bisschen, griff feixend nach meinem Bierglas und trank in aller Ruhe aus. „Ich habe eine Tochter, 15 Jahre und einen Sohn, 6 Jahre, bin noch verheiratet, man weiß ja nie und habe ein Stück Herz in Beeshain gelassen.

„Horch, horch, und warum tauchst du nach 20 Jahren erst wieder hier auf? Die Stadt liegt keine Autostunde von hier“, frotzelte Peter und stieß seine Nachbarn an, „oder was sagt ihr?“

„Da ist was dran, Peter“, kam ich den anderen zuvor, „aber sag mal; als ich vor einer guten Stunde hier reinkam fiel der Satz von dir, meine Frau lügt doch nicht. Meintest du da Biene, Sabine Wehrmann, das war die erste, die ich heute Morgen getroffen hatte.

„Genau die meinte er, unseren kleinen Feldwebel“, platzte Friedhelm heraus, und in der Runde brach eine unbändige Heiterkeit aus.

„Genau die Biene, Christel, deine Schwester wollte mich ja nicht“, fügte Peter trocken hinzu, aber der Schalk blitzte in seinen Augen. „Und ihr Doofköppe seid doch bloß neidisch, dass sie mich genommen hat“, konterte er lachend.

„Das könnte ich mir vorstellen“, mischte ich mich fröhlich ein, „Biene war schon immer ein tolles Mädchen, ließ sich nichts gefallen und hatte das Herz auf dem richtigen Fleck.“

Martin schaute in die Runde und feixte mich an. „Das erinnert mich doch ganz stark an jemanden“

Nun wurde ich doch etwas verlegen und musste mich da raus retten. „Mensch Peter, da kann ich dir nur gratulieren, hast einen guten Griff gemacht. Aber jetzt mal ernsthaft. Von Frau Ewers, unserer ehemaligen Nachbarin, weiß ich ja schon einiges, zum Beispiel: wer alles gestorben ist in den Jahren, dass Weller weggezogen ist, dass sich der Bauer Grote mit seinem Land dumm und dämlich verdient hat und die Kräuter Ruth bald 100 Jahre alt wird.“ Fast ohne Luft zu holen, posaunte ich mein Wissen heraus und nahm erst mal einen Schluck, schon wieder stand ein volles Bier vor mir. „Eule die nächste Runde geht auf mich!“, rief ich dem Wirt hinterher und erstickte die Proteste mit einer Handbewegung.