Das Problem sind die Lehrer - Sigrid Wagner - E-Book

Das Problem sind die Lehrer E-Book

Sigrid Wagner

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lehrer zu sein gehört zu den wichtigsten Aufgaben unserer Gesellschaft. Doch Deutschlands Lehrer stehen ihren Schülern in vielen Fällen desinteressiert oder autoritär gegenüber. Sigrid Wagner war selbst über 20 Jahre lang Lehrerin und geht mit ihren Kollegen hart ins Gericht. Anhand erschreckender Beispiele aus ihrem Berufsleben offenbart sie die Defizite in deutschen Lehrerzimmern und kritisiert Inkompetenz, Neid und Mobbing unter den Kollegen sowie Machtmissbrauch, Willkür und Schikane den Schülern gegenüber. Sie meint: Die falschen Menschen werden aus den falschen Gründen Lehrer.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 331

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sigrid Wagner

Das Problem sind die Lehrer

Eine Bilanz

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Lehrer zu sein gehört zu den wichtigsten Aufgaben unserer Gesellschaft. Doch Deutschlands Lehrer stehen ihren Schülern in vielen Fällen desinteressiert oder autoritär gegenüber. Sigrid Wagner war selbst über 20 Jahre lang Lehrerin und geht mit ihren Kollegen hart ins Gericht. Anhand erschreckender Beispiele aus ihrem Berufsleben offenbart sie die Defizite in deutschen Lehrerzimmern und kritisiert Inkompetenz, Neid und Mobbing unter den Kollegen sowie Machtmissbrauch, Willkür und Schikane den Schülern gegenüber. Sie meint: Die falschen Menschen werden aus den falschen Gründen Lehrer.

Über Sigrid Wagner

Sigrid Wagner wurde 1955 in Goslar geboren. Sie studierte an der Universität Hamburg Lehramt und war bis 2014 Lehrerin an allen Sekundarstufen in zwölf verschiedenen Fächern und in drei Bundesländern: Hamburg, Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen. Zuletzt war sie an einer Förderschule in NRW tätig. Nach ihrem «Spiegel»-Artikel «Der große Frust» über das Thema erreichten Sigrid Wagner körbeweise Zuschriften von Eltern und Kollegen, zustimmende wie kritische gleichermaßen.

Ich widme dieses Buch meinen wunderbaren Kindern

Hans Christian, Bernhard, Tobias, Nils und Natalie

In der Schule – Einführung

«Mumien, Monstren, Mutationen», so buhlte in meiner Kindheit der Animateur der Geisterbahn auf dem Jahrmarkt um seine Besucher. Für den Schauder und das Gruseln musste ich bezahlen. Mit der Schulpflicht bekam ich den Horror umsonst.

Massen von Kindern fluteten damals, Anfang der Sechziger, die engen Schulflure – keine Seltenheit in der Generation «Baby-Boomer», der ich angehöre. Wir wurden angebrüllt, geschubst, zusammengestaucht und: geschlagen. Es waren immer dieselben drei Jungs, die, wenn sie sich mal wieder in der Pause geprügelt hatten, im Anschluss im Unterricht vorgeführt wurden – in jeder einzelnen der vier Klassen. Sie mussten sich bäuchlings übers Pult legen, um dann mit dem «apfelgelben Dietrich», so nannte ein Lehrer euphemistischerweise seinen dünnen, gelb angemalten Stock, nach Strich und Faden verprügelt zu werden. Diese Tortur ging minutenlang, und die Schreie der Kinder höre ich noch heute. Wir anderen wurden von unseren Lehrern nach diesem «Schauspiel» gewarnt, dass uns ein ähnliches Schicksal blühen würde wie diesen drei Jungs, falls wir uns nicht benehmen würden.

Ich war damals sieben Jahre alt, und noch heute weiß ich ihre Namen – was zeigt, wie nah mir diese Ereignisse gegangen sind.

Nicht vergessen habe ich auch, dass ich bis zur vierten Klasse nie einen Lehrer gehabt habe, der herzlich gelacht hätte. Die meisten Lehrerinnen wirkten verbittert oder einfach nur böse, schrien uns Kinder regelmäßig an. Aus Angst, etwas falsch zu machen und ihren Zorn auf mich zu ziehen, lernte ich wie eine Wahnsinnige.

Trotz meiner Erfahrungen – oder gerade deswegen – hatte ich schon als Kind den Wunsch zu unterrichten; ich wollte es besser machen als meine Lehrer. Wenn ich mittags aus der Schule nach Hause kam, spielte ich mit Puppen und Teddybären Schule nach, so, wie ich sie mir vorstellte. Ein alter Schuhschrank diente als Tafel, und mein Umgangston mit meinen «Schülern» war freundlich und zugewandt.

Wenn ich eines aus meiner eigenen Schulzeit gelernt habe, dann, dass man Kindern in einer Atmosphäre von Zwang und Angst nichts beibringen kann. Ich überstand die Schulzeit glücklicherweise unbeschadet, doch viele meiner Mitschüler habe ich an Schule und Lehrern zerbrechen sehen.

Nun mag man einwenden, dass das Jahre her ist. Aber: Noch heute wissen die meisten Menschen zahlreiche Gruselgeschichten von strengen, berechnenden, furchteinflößenden Pädagogen zu erzählen. Lehrer haben, allen Initiativen für mehr Anerkennung zum Trotz, keinen guten Ruf: Sie gelten als rechthaberisch, humorlos, kleinlich, selbstherrlich, launisch, wehleidig, geizig, faul und ungerecht. So charakterisieren erstaunlicherweise auch die meisten meiner lieben Kollegen die Angehörigen ihres eigenen Berufsstands – nur sie selbst sind eine rühmliche Ausnahme.

Ich habe mich oft genug dabei ertappt, dass ich, nach meinem Beruf gefragt, nur leise, fast entschuldigend, Auskunft gab. Die Reaktionen waren zu frustrierend: «Ach du meine Güte, das hätte ich jetzt gar nicht gedacht, Sie wirken so sympathisch …» Oder: «Was, Sie sind Lehrerin? Das ist doch kein Beruf, das ist eine Diagnose.» Manchen Menschen merkt man das Unwohlsein in Gegenwart eines Lehrers sogar durch körperliche Reaktionen an: In dem Moment, da sie den Beruf erfahren, weichen sie automatisch einen Schritt zurück, die Schultern gehen hoch, sie wirken angespannt.

Woran liegt es, dass Menschen Lehrern so skeptisch, ja abwehrend gegenübertreten? Warum haben sie derart schlechte Erinnerungen an ihre Schulzeit? Sind das Einzelfälle, Vorurteile, die sich verselbständigt haben, sodass es heute quasi zum guten Ton gehört, auf Lehrer zu schimpfen? Schließlich empfindet sich jeder durch seine eigene Schulzeit als Experte. Aber sind nicht eigentlich die Lehrer die Opfer des Bildungssystems, Spielball der ständigen Reformen?

Ich bin überzeugt: Hier geht es nicht um Vorurteile oder Einzelfälle oder Gefangene des Systems (wobei das die kritisierten Verhaltensweisen befördert, aber dazu später mehr). In fast fünfundzwanzig Jahren als Vertretungslehrerin habe ich mehr Schulen gesehen als festangestellte Lehrer und außerdem Schulsysteme in unterschiedlichen Bundesländern kennengelernt, in Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Dies und die Erziehung unserer eigenen fünf Kinder haben mir eines klargemacht: Das Problem steht vor der Klasse. Es ist Zeit, dass wir über Lehrer reden.

Der Schulalltag Hunderttausender Kinder wird geprägt von Frauen und Männern, die langweiligen Unterricht machen, die ihre Schüler traktieren, die träge sind. Dabei gibt es auch die anderen: motiviert, begeisternd, zugewandt, idealistisch, neugierig. Meiner Erfahrung nach ist es aber leider nicht die Regel, dass unsere Kinder von solchen Prachtexemplaren durch die Schuljahre begleitet werden. Öfter sind sie Pädagogen ausgeliefert, denen man im Alltag kein zweites Mal begegnen möchte. Es sind jene Mitmenschen, die auch im Privatleben stets ihre eigene Befindlichkeit in den Vordergrund stellen, beim Amt lamentieren, an der Supermarktkasse überheblich den Kopf schütteln, wenn die Kassiererin einen Fehler macht, die im Wartezimmer beim Arzt drängeln. Sucht der Ehemann einer Lehrerin eine Wohnung, bekommt er vom Makler schon mal den guten Rat: «Sagen Sie bloß nicht, dass Ihre Frau Lehrerin ist. Lehrer sind dafür bekannt, dass sie ständig nörgeln und böse Briefe schreiben.»

Die Kinder werden in der Schule häufig kleingemacht. Lehrer lassen ihren Frust an ihnen aus, und so wird die Schule für viele zu einem Ort der Demütigung. Diese Demütigungen hängen ihnen länger nach, als man denkt – auch das wird Thema dieses Buches sein.

Die Frage, warum Lehrer frustriert sind, hängt mit der Frage zusammen, wer überhaupt Lehrer wird. Häufig sind Lehrer, so meine These, Menschen, die im Grunde genommen Angst vor dem Leben haben. Was irritiert dann mehr als eine Meute lachender, überschwänglicher Kinder? Achten Sie mal auf die Körpersprache vieler Lehrer: Nur wenige stehen geerdet vor ihrer Klasse. Dabei brauchen wir körperlich wie seelisch gesunde Lehrer, die dem Leben zugewandt sind, die den Schülern vermitteln können, dass das Beste im Leben noch kommt und sich nicht bereits in der Zeit vor der Einschulung abgespielt hat. Stattdessen studieren meiner Erfahrung nach viele deshalb Lehramt, weil sie nicht wissen, was sie sonst anfangen sollen. Es ist ja auch so ein schön sicherer Job. Das große Ziel der meisten Junglehrer ist die Verbeamtung – und wer kann es ihnen mit Blick auf den Arbeitsmarkt verdenken? Die Verbeamtung ist allerdings das schlechteste Motiv, Lehrer werden zu wollen.

Viele Aspiranten glauben aber auch, dass der Arbeitstag nach dem letzten Schrillen der Schulklingel erledigt ist, nicht wissend, dass er dann eigentlich erst losgeht.

Und dann, das will ich nicht verhehlen, kommt der Druck dazu: durch PISA, den Lehrplan, eine zunehmende Anzahl verhaltens- und lerngestörter Kinder, fordernde Eltern. Nirgends wird so viel geheult wie in Lehrerzimmern. Lehrer sind überfordert, weil sie an der Vielzahl der neuen Anforderungen und einem Mangel an Unterstützung (Stichwort: Inklusion) schier verzweifeln oder sogar zerbrechen. Die Rehakliniken sind voll mit burnoutgeschädigten Lehrern. Nur einer von zehn Lehrern erreicht das normale Rentenalter.

Unsäglicher Frust prägt also den Alltag der Lehrer: weil a) die falschen Menschen Lehrer werden, sie es b) aus den falschen Gründen heraus tun und c) selbst gute Lehrer mit besten Absichten an den vorhandenen Strukturen und den damit im Zusammenhang stehenden Herausforderungen scheitern. Die Folge ist ein Schulklima, das alle Beteiligten in eine negative Grundstimmung versetzt. Vom Hausmeister bis zum Schulleiter: Alle jammern und klagen.

Hinzu kommen die Kämpfe und Gehässigkeiten in den Lehrerzimmern. Hast du nicht das richtige Parteibuch, das die Schule fordert, kannst du gleich wieder gehen. Mobbing, Korruption, Sexismus, Machtspiele und Intrigen nehmen den Platz ein, der für das Wesentliche da sein sollte: die Bildung unserer Kinder. Unsere Söhne und Töchter erwartet eine sich rasant ändernde Welt, mit Herausforderungen, wie sie noch keine Schülergeneration vor ihnen meistern musste. Schüler wie Lehrer müssten sich eigentlich gehörig auf den Hosenboden setzen, um den veralteten Apparat, die «SBI», die «School Before Internet», abzulösen durch etwas Neues.

Stattdessen vermitteln viele Lehrer ihren Schülern, dass Schule Angst, Ungerechtigkeit und Demütigungen bedeutet, mit denen man nun mal zurechtkommen muss – und damit ersticken sie jegliche Wissbegierde, Phantasie und Kreativität im Keim.

Ich behaupte, dass zu viele Lehrer unsere Kinder benutzen, um ihrer eigenen Unzufriedenheit ein Ventil zu verschaffen, getreu dem Motto: «Ich zeige dir mal, wer hier das Sagen hat.» Ein perfides Spiel, das der Schüler nicht gewinnen kann und das ich viele Jahre selbst erlebt habe; im Lehrerzimmer, auf dem Schulhof, bei Konferenzen, bei meinen eigenen Kindern. Ich sage es klar und deutlich: Diese Frauen und Männer haben an unseren Schulen nichts verloren.

Natürlich kann man nicht alle Lehrer über einen Kamm scheren – wer das tut, dem empfehle ich, mal eine Woche in einer Brennpunktschule in Berlin zu unterrichten und sich anzuschauen, was das Gros des Kollegiums dort leistet. Dennoch werde ich in diesem Buch immer wieder zuspitzen; ich will wachrütteln und aufmerksam machen, und dazu muss man manchmal auch polemisch werden.

Das Verharmlosen und Bagatellisieren von Missständen und menschlichem Versagen von Lehrkräften in unseren Schulen war für mich schon immer ein unerträglicher Zustand. Wir haben uns über die Jahre und Jahrzehnte viel zu sehr daran gewöhnt, dass schlechte Lehrer die Lebenswege von Kindern und Jugendlichen maßgeblich negativ beeinflussen können – und das auch tun. Wir nehmen es mit einem Anflug von Ergebenheit in ein scheinbar unausweichliches Schicksal hin, als stünden keine Menschen dahinter, die die Schuld für lebenslange Versagensängste oder falsch geleitete Lebensläufe der ihnen anvertrauten Kinder tragen würden.

Damit möchte ich aufräumen, und dazu muss ich sie manchmal doch über einen Kamm scheren, die Lehrer – wenn der «Kamm» dabei hilft zu sehen, wie sich gute Lehrer von den schlechten trennen, dann möge man es mir an dieser Stelle verzeihen.

Tatsache ist: Es gibt zu viele Lehrer, die unmotiviert sind. Und ich bin nicht mehr bereit, den Grund dafür einzig in den schwierigen Arbeitsbedingungen zu suchen.

Die entscheidende Frage muss doch sein: Was wollen wir als Lehrer erreichen – und wie? Unser Job ist es, so viel wie möglich aus den jungen Menschen herauszuholen. Ihnen Perspektiven aufzuzeigen. Nicht zu sagen: Wenn ihr die Schule absolviert habt, dann seht zu, wer euch einstellt. Sondern zu fragen: Welches Unternehmen möchtet ihr später mal führen?

Es muss ein radikales Umdenken geben, was die Persönlichkeit und Funktion des Lehrers anbelangt – das habe ich auch in einem Artikel im Magazin «Der Spiegel» deutlich gemacht, der Ende 2016 erschienen ist. Und wie nicht anders zu erwarten, musste ich mir daraufhin den Vorwurf der «Nestbeschmutzung» gefallen lassen. Doch glauben Sie mir, die «Nester», die auf den Dächern unserer Schulen zusammengeschustert wurden, könnten dreckiger nicht sein.

Welche abstrusen Vorstellungen über Schule und die richtige Form von Bildung geistern durch die Nation! Jeder Bildungspolitiker oder vermeintliche Bildungsspezialist meint, seinen Senf dazugeben zu müssen: «Unser Schulsystem soll dreigliedrig bleiben, nein, wir brauchen nur noch Gesamtschulen, wir brauchen mehr Durchlässigkeit zwischen den Schulformen, nur noch G8 für Gymnasien, nein, G9 war besser, stellen wir doch G8 oder G9 zur Wahl …»

Immer wieder wird in den Medien die Erfindung eines neuen bildungspolitischen Rads verkündet. Es sind verzweifelte Versuche, eine Struktur in unsere Schullandschaft zu bringen, die allerdings zum Scheitern verurteilt sind, weil sie einen zentralen Aspekt außer Acht lassen. Im Jahre 2018 führen wir immer noch hauptsächlich Diskussionen über Inhalte, Methoden und Ziele, debattieren wir kontrovers, wie man Schule den Anforderungen der sich ständig und rasant verändernden Welt anpassen kann – und vergessen dabei völlig die Person und die Persönlichkeit des Lehrers.

Denn was nützt es, um mal ein anderes Bild zu bemühen, wenn ich ein Restaurant eröffne, es wunderbar einrichte, gute und gesunde Lebensmittel einkaufe, in der Speisekarte durchdachte und raffinierte Gerichte anbiete und dann Köche einstelle, die gerade mal Schinkennudeln auf den Tisch bringen können?

Um eine neue Kultur des Unterrichtens zu kreieren, bedarf es eines neuen Lehrertypus und gleichzeitig der gezielten und effektiven Unterstützung guter Lehrer, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, die mit beiden Beinen im Leben stehen und Schule nicht als isolierten «Sperrbezirk» in Sachen Bildung ansehen.

Deshalb schreibe ich dieses Buch, in dem ich von meinen eigenen Erfahrungen als Lehrerin und Mutter von fünf Kindern berichte, aber auch aus Augenzeugenberichten und Unterlagen zitiere, die mir zugespielt worden sind, von Schulleitern, Kollegen, Eltern und Journalisten.

Es wird nicht immer angenehm sein, manches wird unglaublich klingen – aber wir müssen den Tatsachen ins Gesicht gucken, damit sich etwas ändert.

Und dafür wird es höchste Zeit.

Im Klassenzimmer

Die Forderung nach einem neuen Lehrertypus bedeutet Veränderung, in vielerlei Hinsicht – in Bezug auf die Ausbildung, aber auch in Bezug auf das Verhalten des Lehrers. Die Crux: Nichts verängstigt und irritiert Menschen, und damit auch Lehrer, mehr als Veränderung. Sie hängen am Althergebrachten, befürchten, mit Unbekanntem nicht zurechtzukommen, haben Angst vor Versagen, Angst, in den Augen von Kollegen oder Vorgesetzten schlecht dazustehen. Darum ist der Lehrer froh, nach dem Betreten des Klassenraumes die Tür hinter sich schließen zu können, um dort ungestört sein Süppchen zu kochen. Wollen wir ihm doch die Suppe etwas versalzen und werfen einen Blick hinter die Tür, in sein Heiligstes: das Klassenzimmer.

Die Szenen, die ich im Folgenden beschreibe, habe ich selbst erlebt, einige sind mir auch zugetragen worden. Es sind Geschichten über Lehrerkollegen, die von der ersten Schulstunde an die Schwächsten identifizieren und stigmatisieren, und solche, die an den harmlosesten Konflikten im Klassenzimmer scheitern.

Ich urteile, also bin ich

Der erwachsene Betrachter wird sich wundern, wie wenig sich seit seiner eigenen Schulzeit im typisch deutschen Klassenzimmer verändert hat: Mehr oder weniger intaktes, auf jeden Fall aber zu kleines Mobiliar, eine alte, zerkratzte Tafel, mit Glück sogar ein fortschrittliches «Whiteboard», dessen Handhabung jedoch den wenigsten Lehrern geläufig ist. Schüler sitzen in Reihen oder in Tischgruppen.

Ein neuer Klassenlehrer tritt zum ersten Mal vor jene Schüler, mit denen er künftig einen Großteil seiner Arbeitszeit verbringen wird. Schon der Einstieg spricht Bände in Bezug auf seine Persönlichkeit. In der Regel stellt er sich vor, schreibt seinen Namen an die Tafel und geht dann nach wenig Informativem zu seiner Person schnell zur Tagesordnung über: die Überprüfung der Anwesenheit der Schüler und die Verteilung der verschiedenen Ämter wie Klassenbuchführung, Blumengießen, Tafeldienst etc. Ist dies erledigt, lässt er die Schüler wissen, welche Materialien für sein Unterrichtsfach angeschafft werden müssen, und beauftragt die Schüler, zur nächsten Stunde zehn Euro für Kopien mitzubringen. Abschließend fordert er die Klasse auf, sich für das nächste Mal Gedanken über mögliche Kandidaten zur Wahl des Klassensprechers und dessen Stellvertreters zu machen. So weit, so gut. Kein spektakulärer Einstieg, aber je nach Freundlichkeit und Zugewandtheit des Lehrers annehmbar.

Doch es gibt auch solche Einstiege, von denen mir Schüler einer neunten Klasse berichtet haben: Die neue Lehrerin, eine Frau mit resolutem Auftreten, betritt den Klassenraum. Sie begrüßt die Schüler, schreibt ihren Namen an die Tafel und stellt dann eine Frage, die auch den letzten noch quatschenden Schüler in Schockstarre versetzt: «Nun mal ganz ehrlich: Wer bei euch ist das Opfer? Jede Klasse hat doch so ein typisches Opfer …?!»

Da die Klasse fatalerweise wirklich einen Mitschüler hatte, der Mobbingopfer geworden war und aufgrund seiner isolierten Stellung im Klassenverband schon mehrmals Hassbotschaften in Richtung Mitschüler auf Facebook gepostet hatte, bekam diese Frage eine explosive Brisanz. Alle schwiegen, besagter Schüler saß starr vor Schreck und mit hochrotem Kopf versteinert an seinem Tisch. Um die Situation etwas zu entkrampfen, fragte ein Schüler: «Was soll denn bitte das Ziel Ihrer Frage sein?» – «So, du antwortest mit einer Gegenfrage. Jetzt weiß ich zwar noch nicht, wer das Opfer bei euch ist, aber immerhin kenne ich nun den Dummschwätzer der Klasse. Dein Name?!»

Lehrer sind oft sehr vorschnell in ihren Schülereinschätzungen. Anhand gewisser Parameter, sprich: Beruf und Bildungsniveau der Eltern, sozialer oder Migrationshintergrund, männlich oder weiblich, machen sie sich ein vorurteilsbeladenes Bild der Schülerin oder des Schülers, noch bevor dieser überhaupt das erste Wort zum Unterricht beigetragen hat. In einer Hospitationsstunde in einer Realschulklasse habe ich es erlebt, dass eine Lehrerin einen Schüler konstant als «Penner» oder «Langweiler» betitelte, weil er im Unterricht häufig einzuschlafen drohte. Es war so auffällig, dass ich den Schüler nach einer Weile fragte, was denn los sei und wann er abends ins Bett ginge. Er blieb wortkarg und wimmelte mich mit fadenscheinigen Ausreden ab. Die Klassenlehrerin sagte später zu mir, dass ich unnötige Energie in den Jungen stecken würde, der käme aus «asozialen Verhältnissen»: Die Eltern hielten es nicht mal für nötig, zum Elternsprechtag in die Schule zu kommen. Meine Nachforschungen ergaben, dass Vater und Mutter des Jungen blind waren und er nach der Schule den gesamten Haushalt schmiss, seine Eltern versorgte, die Einkäufe tätigte und den Hund ausführte. Er war schlicht und ergreifend erschöpft. Die Eltern suchten keinen Kontakt zur Schule, da sie fürchteten, ihren Sohn an eine Pflegefamilie zu verlieren, wenn ein Lehrer auf die Idee gekommen wäre, dass es dem Jungen zu Hause an Fürsorge mangelte.

Obwohl anderen Lehrern und dem Schulleiter die familiären Verhältnisse bekannt waren, war die schwierige Situation des Jungen nie thematisiert worden. Man überließ ihn einfach seinem Schicksal und stempelte ihn als «Penner» ab. Als ich mich der Sache annahm, kam Bewegung in die Angelegenheit. Schließlich konnte der Junge bei seinen Eltern bleiben, weil sich der Schulleiter um eine Lösung bemühte und die Familie zusätzliche pflegerische Unterstützung und eine Haushaltshilfe erhielt. Von der Klassenleiterin bekam ich allerdings einen gehörigen Anpfiff: Ich solle mich doch bitte um meinen eigenen Kram kümmern, sonst würde mir mein eigenständiges Handeln noch irgendwann zum Verhängnis werden …

Oft genug machen sich Lehrer sogar auf Kosten der Schüler, die vermeintliche Makel haben, lustig. Die Beweggründe sind wohl vielschichtig: Ich kenne Lehrer, die damit verdeutlichen wollen, wer am längeren Hebel sitzt. Manche meinen wiederum, damit beim Rest der Schülerschaft punkten zu können: «Dunkelhaarige Frauen haben ja leider das Pech, dass man einen Damenbart schneller sieht. Nicht wahr, Saskia? Zum Glück gibt es ja auch gute Rasierer für Frauen.» Mit den dadurch erhofften Lachern bei der Klasse (während Saskia mit hochrotem Kopf beschämt vor sich auf dem Tisch starrt) wollen diese Lehrer gute Stimmung machen. Ein fataler Irrglaube, dass solche Anbiederungsversuche gelingen.

Auch die folgende Szene, von der mir meine Kinder berichteten, zeugt nicht gerade von sozialer Kompetenz des Lehrers: Er forderte eine sehr klein geratene Schülerin auf, an die Tafel zu kommen, grinste schon hämisch, als sie aufstand, und kommentierte dann: «Na, wird das die nächste halbe Stunde noch was mit den kurzen Beinchen? Wenn du dann mal angekommen bist, bitte ganz links oben an die Tafel schreiben, ha, ha, ha.»

Beispiele für eine solchen, freundlich ausgedrückt, Mangel an Sensibilität gibt es viele: Einer unserer Söhne musste bedingt durch eine Sehschwäche ein Abklebepflaster auf dem gesunden Auge tragen, um das geschwächte Auge anzuregen. Da auch das «gesunde» Auge nicht über die hundertprozentige Sehkraft verfügte, trug er eine Brille, die das Auge stark vergrößerte. Eine seiner Lehrerinnen, die dafür bekannt war, die Schüler zu demütigen, ließ auch in seinem Fall keine Gelegenheit dazu aus: «Schaut euch mal euren Mitschüler an, fällt euch an dem etwas auf?» Die Kinder meldeten sich und sagten: «Der hat ein Pflaster auf dem Auge, da ist ein bunter Aufkleber drauf, sein anderes Auge ist ganz groß.» Das war der Satz, auf den sie wartete: «Genau», lobte sie, «dieser Junge hier nimmt nämlich Drogen, das sieht man ganz genau an seiner vergrößerten Pupille, und wenn er so weitermacht, dann wird er höchstens mal Bäcker.»

Selbstverständlich stellte ich diese Lehrerin am nächsten Tag zur Rede. Was ihr einfiele, meinen zehnjährigen Sohn als Drogenabhängigen zu bezeichnen? Wollte sie witzig sein? Wollte sie ihre Macht ausspielen? Brauchte sie einfach nur einen Blitzableiter? Sie versuchte mich zu belehren, dass aufmerksame Eltern doch wissen müssten, dass erweiterte Pupillen ein deutliches Zeichen für Drogenkonsum seien. Der Versuch, ihr zu erklären, dass dieser Umstand dem Brillenglas geschuldet sei, scheiterte. Sie blieb hartnäckig bei ihrer Einschätzung, eine Entschuldigung oder Richtigstellung kam für sie nicht in Frage.

Es folgte eine Dienstaufsichtsbeschwerde meinerseits gegen diese Lehrerin, wie auch gesondert von unserem Kinderarzt. Ihn hatte ich konsultiert, um den medizinischen Nachweis für die Schule zu erbringen, dass mein Sohn keinerlei Drogen nahm. Während ich das schreibe, kann ich selbst die Absurdität der Situation kaum glauben. Sprachlos war ich auch, als ich erfuhr, dass der Kinderarzt bereits sieben weitere Schüler betreute, die unter hanebüchenen Unterstellungen dieser Frau litten. Was genau sie mit den anderen Kindern gemacht hatte, konnte er mir aufgrund der Schweigepflicht natürlich nicht sagen. Immerhin wurde die Bewerbung der Lehrerin als Oberstudienrätin für ein Jahr ausgesetzt. Aber wie jemand, der offensichtlich keinerlei Sympathie (geschweige denn Empathie) für Schüler aufbringen kann, ausgerechnet in den Schuldienst geht, wird mir ein Rätsel bleiben.

Es gibt zahlreiche weitere Beispiele für demotivierendes, bisweilen schlichtweg unverschämtes Verhalten von Lehrern. Dabei sticht immer wieder ins Auge, dass viele Lehrer eine negative Grundeinstellung ihren Schülern gegenüber haben: Sie sehen das Glas eher halbleer als halbvoll. Dabei wäre es wichtig, stärker auf das Potenzial von Schülern zu achten, als sich auf ihre Schwierigkeiten zu fokussieren. Eine positive Haltung bringt erfahrungsgemäß eine Vielzahl von Erleichterungen, gerade im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern, die auf Konfrontationskurs gehen oder die sich schwertun, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen.

Ein Beispiel: An einer meiner Wirkungsstätten sollte ich eine junge Kollegin, nennen wir sie Frau K., während des Mutterschutzes und in der anschließenden Elternzeit vertreten. Ihre Klasse bestand nur aus zehn Schülern, was ich als ausgesprochenen Luxus empfand. Frau K. hatte angeboten, mir im Rahmen von Hospitationsstunden selbst ein Bild von der Klasse machen zu können, bis ich sie dann eigenverantwortlich führen sollte.

Und es gefiel mir gar nicht, was ich sah: Im Unterricht saßen die Schüler wie Roboter, denen man die Batterie ausgeschaltet hatte. Sie trugen nichts selbständig zum Unterricht bei, sie wagten keine Kritik und ließen die Monologe der Lehrerin über sich ergehen. Da ein Lachen oder eine spaßige Bemerkung unmittelbar bestraft wurde, hatte Frau K. keinerlei Disziplinprobleme – außer mit Jens, der ab und zu wagte, mehr oder weniger leise, gegen sie aufzubegehren. Als Tipp gab sie mir deshalb mit auf den Weg, ein besonderes Auge auf diesen lernbehinderten Schüler zu werfen. Ich solle mich nicht wundern, er wäre ein absoluter «Macho» und «Kotzbrocken». Außerdem habe er eine Menge frauenfeindlicher Sprüche auf Lager, die man mit aller Härte sanktionieren müsse. Deshalb habe sie ein Heft mit seinen Verfehlungen angelegt, das ich bitte akribisch weiterführen solle. Dieses Heft lag für alle Kollegen und Schüler sichtbar auf dem Pult.

Ich war doch einigermaßen irritiert angesichts dieser drakonischen Maßnahme, sagte aber zunächst nichts dazu – ich hatte Jens bisher zwar eher als unwilligen Schüler erlebt, wollte mir aber selbst ein genaueres Bild machen.

Am folgenden Montagmorgen begrüßte ich meine Schüler: «Ich möchte, dass wir uns kennenlernen, außerdem möchte ich wissen, welche Erwartungen ihr an unseren gemeinsamen Unterricht habt.» Es war Jens, der sich daraufhin meldete: «Also, wir sind jetzt doch enttäuscht. Wir hatten nämlich gehofft, dass wir eine junge, hübsche, blonde, sportliche Vertretungslehrerin bekommen, so mit den Maßen 90/90/60.» Sein Nachbar stieß ihn in die Rippen: «Du Idiot, das heißt 90/60/90.» Die Klasse wartete gespannt grinsend auf meine Reaktion. Ich erwiderte: «Hm, mit Jugend kann ich nicht dienen, sportlich bin ich für mein Alter, blond bin ich auch, bis auf ein paar graue Strähnen, und selbst deine gewünschten Maße von 90/90/60 bringe ich mit, also, was willst du mehr?» Jens und seine Mitschüler lachten verschämt. Ich versprach ihm, diese Anekdote in der Abschiedsrede beim Schulabschluss zum Besten zu geben, damit müsse er dann eben leben.

Die Klasse bekam von mir an dieser Stelle mehrere Botschaften: Erstens ist da jemand, der sie wirklich kennenlernen möchte, und zweitens, dieser Jemand hat Humor. Die allerwichtigste Botschaft gab es allerdings für Jens. Mit der Androhung, ich würde seinen lustigen Versprecher in der Abschlussrede unterbringen, machte ich ihm klar, dass ich selbstverständlich davon ausging, dass er den angestrebten Hauptschulabschluss schaffen würde.

Die Arbeit mit Jens war alles andere als einfach, nicht zuletzt deshalb, weil er sich über die Jahre mit seiner speziellen Rolle als Aufwiegler und Störenfried der Klasse nicht nur abgefunden hatte, sondern sich inzwischen vollends mit ihr identifizierte. Er beobachtete mich sehr kritisch, testete mich ständig: von unverschämtem, beleidigendem Verhalten bis hin zum höflichen Türaufhalten oder Taschetragen war alles dabei.

Bei jedem Fehlverhalten von Jens forderte mich die Klasse auf, es in besagtem Heft festzuhalten. Ich weigerte mich und erklärte, dass ich allen eine Chance auf einen Neuanfang einräumte. Außerdem gab ich Jens mit einem Augenzwinkern zu verstehen, dass ich als Maßnahme bei schlechtem Verhalten bedeutend unangenehmere Dinge draufhätte als einen Hefteintrag. Ich ahndete es, wenn es denn wirklich einmal vonnöten war, gerne mit einer «Schüler gegen Lehrerin»-Competition in einer Sportstunde. Da ich in vielen Sportarten fitter war als die meisten meiner Schüler, war es für mich nicht schwer, mir auszumalen, in welchen Disziplinen ich sie besiegen konnte. Hatte sich jemand schlecht benommen, stand eine Competition unter Aufsicht der Klasse an. Es gab keinen Schüler, dem es nicht extrem peinlich war, gegen die Lehrerin zu verlieren. Zumal es keinen Ausweg aus der Misere gab: Kneifen war blöd und verlieren noch blöder. Also wusste jeder meiner Schüler bald genau, an welcher Stelle es galt, sich besser zusammenzureißen … Diese eher lustige Maßnahme griff natürlich eher bei harmlosen Verfehlungen.

In anderen Fällen war mit Witz und Zuwendung nicht viel zu erreichen: Eines Tages sprach ich empört einen mir fremden Schüler auf dem leeren Schulhof an (er war wegen Randalierens aus dem Unterricht geworfen worden), der gerade einen Mülleimer aus Frust über den Rauswurf von der Hauswand abgerissen hatte. Ansatzlos, ohne ein Wort zu sagen, gab er mir einen gezielten Aufwärtsschwinger gegen das Kinn. Ich ging zu Boden, konnte mich aber berappeln, während er weiter auf mich einschlug und versuchte, gegen meinen Kopf zu treten. Instinktiv zog ich ihm die Beine weg und warf mich auf ihn, drehte ihn bäuchlings, hielt seine Arme fest und drückte ihm mein Knie in den Rücken. Die durch sein Geschrei herbeigeeilte Hauswirtschaftslehrerin hatte tatsächlich nichts Besseres zu tun, als mich zu ermahnen: «Du weißt doch, wir dürfen keine Schüler anfassen …»

In diesem Fall habe ich diesen Schüler wegen Körperverletzung angezeigt. Ein Teil des Kollegiums verurteilte meine Anzeige, doch als ich erfuhr, dass dieser Junge wegen gewalttätiger Übergriffe schon von drei Schulen geflogen war, hielt ich meine Entscheidung für absolut richtig. Interessant in dem Zusammenhang war die Äußerung meines Schulleiters, als ich ihm den Vorfall im Detail schilderte: «Wie gut, dass es dich erwischt hat und nicht unsere zartbesaitete Kollegin B.»

Jens’ Eltern zählten, wie es so schön heißt, zur bildungsfernen Gesellschaftsschicht, was in vielerlei Hinsicht nachteilig für ihn war. Er hatte sowieso schon einen schwierigen Schuleinstieg durch seine Sprachbeeinträchtigung, und von zu Hause wurde wenig getan, z.B. vorgelesen, um seine Sprachkompetenz zu verbessern, die ihm das Schulleben erleichtert hätte. Bemerkt ein solcher Schüler, dass er im direkten Vergleich mit Klassenkameraden Defizite aufweist, entsteht oft ein Teufelskreis: Unglücklich über das eigene Nichtkönnen oder Versagen in Klassenarbeiten und Unterricht, reihen sich Störungen wie Dazwischenreden, den Nachbarn ablenken, sich über den Lehrer lustig machen bis hin zu Rangeleien und Prügeleien mit den Mitschülern meist nahtlos aneinander. So versucht er, ein Gefühl von Mangel zu kompensieren und die Aufmerksamkeit zu erhalten, die er sonst nicht bekommt.

Die Situation wird umso prekärer, wenn jemand wie Jens an eine Lehrkraft wie Frau K. gerät, die nicht imstande ist, die zugrunde liegende Problematik zu erkennen, und stattdessen durch einen eklatanten Mangel an Selbstdistanz das Verhalten des Schülers persönlich nimmt und das ohnehin schon kleine Ego des Schülers systematisch weiter in Einzelteile zerlegt. Immer wieder führte sie ihn vor der Klasse vor: «Na, von dir war ja mal wieder nichts anderes zu erwarten», oder: «Seht ihr, der Jens hat noch ein viel schlimmeres Problem als ihr, er ist halt in allem hinterher.»

Ich sollte allerdings bald feststellen, dass Jens keineswegs lernbehindert war. Frau K. hatte den Jungen ohne die vorgeschriebenen Tests im Alleingang als lernbehindert eingestuft! Ich vermute, weil sie ihn nicht leiden konnte, weil er ihr es schwermachte, ständig gegen sie aufbegehrte und sie mit seinen frauenfeindlichen Kommentaren persönlich traf. Warum sonst das «Schwarzbuch» als demütigende Maßnahme? Frau K. hatte mir gegenüber jedenfalls sehr deutlich gemacht, dass sie sein Verhalten als Anmaßung und zutiefst verwerflich empfand. Statt Ursachenforschung zu betreiben, hat sie sich meiner Ansicht nach von persönlichen Animositäten leiten lassen. Ihr Verhalten erfüllt für mich den Tatbestand der Ermessenswillkür – solche Lehrer gehören schlichtweg nicht vor eine Klasse. Gott sei Dank suchte Frau K. schließlich selbst nach einer neuen Herausforderung außerhalb des Schuldienstes.

Jens hat schließlich ohne große Probleme seinen Hauptschulabschluss gemacht. Letztes Jahr schrieb er mir, dass er seinen Realschulabschluss anstrebe.

Und Jens ist kein Einzelfall: Man stelle sich vor, wie es ist, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat um Monat, teilweise bis zu drei Jahre lang solch einem Klassenlehrer ausgeliefert zu sein, der alles daransetzt, einen kleinzuhalten. Schüler erzählten mir von Kommentaren wie «Für dich ist der Bildungszug eh längst abgefahren» oder «Kannst du deinen Sprachfehler jetzt mal in den Griff kriegen, wir haben keine Zeit für dein Gestotter».

Eine Lehrerin, die sowieso für ihren zynischen Umgangston bekannt war, kommentierte die Klassenarbeit eines Fünferkandidaten, der eine Vier geschrieben hatte, damit, dass ja auch ein blindes Huhn mal ein Korn fände. Als er, für die Lehrerin überraschenderweise, ein Gedicht gut vortrug, «lobte» sie ihn mit den Worten: «Na ja, unter den Blinden ist halt der Einäugige König.»

Auch aus anderen Schulen höre ich immer wieder von den Schülern, dass gewisse Lehrer sie runtermachen: «Falls ihr G8 übersteht, seid ihr hinterher sowieso alle Psychowracks.» Ein Schüler, der pubertätsbedingt zu schnell fettendem Haar neigte, wurde alle paar Tage vor der Klasse von seinem Lehrer aufgefordert, doch mal wieder einen «Ölwechsel» vorzunehmen.

Umgekehrt erwarten viele Lehrer zuvorkommendes, ja geradezu schmeichlerisches Verhalten von ihren Schülern. Während meiner Schullaufbahn konnte ich immer wieder beobachten, dass speziell Kolleginnen sehr empfänglich waren für Komplimente, und wenn sie nicht kamen, entsprechend nachteilig für den Schüler reagierten.

«Ihr Sohn könnte mir ruhig mal ein Kompliment machen, Christine sagt mir jeden Morgen etwas Nettes …» Mit diesen Worten kritisierte eine Lehrerin meinen Sohn beim Elternsprechtag. Er sei immer so «trocken» und würde selten über ihre Scherze lachen. Mein Sohn erklärte mit der Ehrlichkeit eines Zwölfjährigen, dass er ihre Witze eben nicht lustig fände. Beleidigt beendete die Lehrerin das zehnminütige Elterngespräch, ohne uns ihre Einschätzung seiner Leistungen mitgeteilt zu haben – der eigentliche Grund unseres Kommens.

In einem anderen Fall forderte eine Lehrerin beinahe jede Unterrichtsstunde mehr oder weniger offen Komplimente von den Schülern ein. Ich weiß, das klingt unglaublich. Aber es ist genau so geschehen. Den Jungen war dieses Fishing for Compliments verständlicherweise extrem peinlich, und schließlich fasste sich einer von ihnen ein Herz und bat sie, das doch zu lassen. Beleidigt nahm sie ihn die nächsten vier Wochen nicht mehr im Unterricht dran, selbst wenn er der Einzige war, der sich meldete. Als einige Schüler sie darauf ansprachen, wischte sie den Einwand einfach beiseite: «Ach, von dem kommt doch sowieso weiter nichts als ‹Ich habe mein Buch vergessen› …»

Mobbing von Lehrern hat viele perfide Gesichter. Manchmal braucht es eben gar keine Worte: Da werden Wortmeldungen ignoriert, Fragen nicht beantwortet, und wenn es unvermeidlich ist, einen Schüler dranzunehmen, wird durch Mimik und Gestik gedemütigt: Dann macht der Lehrer jedes Mal ein wahlweise angewidertes, zynisches oder spöttisches Gesicht à la: «Mal gucken, was da jetzt schon wieder für Müll aus deinem Mund kommt.»

Ein Bekannter von mir benutzte kürzlich den Begriff «gebonsait» für Menschen, die in ihrer Persönlichkeit und ihren Fähigkeiten immer wieder zurechtgestutzt und kleingehalten werden, sei es im Privaten, in der Schule oder im Berufsleben allgemein. Ich bin der Ansicht, dass unsere Kinder und Jugendlichen allzu oft von ihren Lehrern gebonsait werden.

Das haben Lehrer schon immer gemacht, das ist nun mal so, lautet die resignierte Antwort, wenn sich Schüler oder Eltern über solches Lehrerverhalten beschweren. So als wäre es in dem Beruf unausweichlich, sich ausgrenzend und demütigend zu verhalten. Mein Großvater hat gehumpelt, mein Vater hat gehumpelt, ich tue es auch, und meine Kinder werden bestimmt auch mal humpeln … Doch ist Resignation angesichts von Ungerechtigkeiten und Demütigungen wirklich das, was wir unseren Kindern vermitteln wollen?

Es darf nicht sein, dass Stigmatisierungen und Vorverurteilungen in vielen Schulen an der Tagesordnung sind. Schüler fragen sich dann: «Warum mag der Lehrer mich nicht, passe ich nicht in seine Vorstellung von ‹Idealschüler›, warum geht er mit mir so fies um?» Sie mühen sich, Vorurteile wieder loszuwerden, die ihnen schon aus den Schülerbögen der Grundschule anhaften wie Kletten: einmal Störenfried, immer Störenfried, einmal «Asi», immer «Asi». Es ist so schön einfach für den Lehrer, ein festgezurrtes Kompaktpaket in Sachen Schülereinschätzung zu übernehmen.

Und hier kommen wir zu einem weiteren Problem: Der in meinen Augen falschen Nutzung des sogenannten Schullaufbahnbogens, auch bekannt als Schülerbogen. Er geht auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Ursprünglich wurde er für die Berliner Hilfsschulen, wie man sie damals noch nannte, entwickelt. In ihm sollten bestimmte Zusatzinformationen und Eigenschaften des Schülers festgehalten werden, die sich nicht so leicht in das Ziffernotensystem pressen ließen, etwa wenn schwierige häusliche Verhältnisse vorlagen. Der Schülerbogen sollte also dem Lehrer signalisieren, dass dieses Kind zusätzliche Zuwendung und Unterstützung braucht. So weit, so gut. Weil er sich in der Lehrerschaft höchster Beliebtheit erfreute, wurde der Schülerbogen schon bald flächendeckend zunächst in Berlin und anschließend in ganz Deutschland etabliert.

Leider wurde er damals wie heute allzu oft dafür missbraucht, Schüler zu stigmatisieren, sie in Schubladen zu packen oder, im schlimmsten Fall, sogar Unwahrheiten über sie in die Welt zu setzen – hier spielen dann Sympathie bzw. Antipathie eine Rolle.

Bequeme Lehrer betrachten die Schülerbögen kritiklos, wenn sie sich mit einer neuen Lerngruppe auseinandersetzen müssen. Da brauche ich ja als Lehrer das Rad nicht neu erfinden, hat doch schon der Kollege vor mir gemacht. Also wird im Lehrerzimmer schon bei der Zuweisung der Klassen die Liste durchgegangen, und Lehrer witzeln herum, wer wohl die meisten Kevins, Chantals, Justins oder Jacquelines aus «Asi-Sippen» zu «ertragen» hat: Ein Blick in den Schülerbogen, ein Blick auf Noten, Verhalten und Sozialstatus – und schon ist die Meinung gebildet, ohne den betreffenden Schüler, die betreffende Schülerin überhaupt gesehen zu haben. Es wird einfach die Einschätzung des Vorgängers übernommen. Da hat Chantal dann keine Chance mehr, den Stempel «faul und träge» wieder abzuwaschen. Nur allzu selten wird den Schülern von neuen Lehrern das Gefühl vermittelt: Für jeden von euch beginnt ab heute Neuland, ich kenne euch noch nicht und ihr mich nicht. Also lernen wir uns kennen, hoffentlich schätzen, und schauen wir, wohin für jeden von euch die Reise geht.

Natürlich liegt es nahe, den Lehrer auf sein Fehlverhalten anzusprechen, aber die Aussicht auf Erfolg ist meiner Erfahrung nach ziemlich gering, zumal eher dem Lehrer geglaubt wird als dem Schüler. Kein Wunder, dass sich Ablehnung, Wut und Hoffnungslosigkeit in den betroffenen Schülern aufstauen. Und Angst. Angst zu versagen, Angst vor der eigenen Enttäuschung, Angst aber auch, die Eltern zu enttäuschen oder später keine Ausbildung oder keinen Studienplatz zu bekommen. Kinder gehen morgens mit Angst in die Schule hinein und kommen nachmittags mit noch mehr Ängsten wieder heraus.

Die Intensität dieser Missempfindung richtet sich dabei nach der Sensibilität und Veranlagung des jeweiligen Schülers. Die Sensiblen bekommen sehr oft psychische Probleme, sie ritzen sich oder werden depressiv. Sie möchten Vertrauen entgegengebracht bekommen und werden täglich enttäuscht – und wenn es dann zu Hause auch noch andere Probleme gibt, dann befinden sich diese Schüler in einer emotionalen Abwärtsspirale.

Im Grundschulalter führen diese diffusen Ängste oft zu Schlafstörungen oder zu der Weigerung, die Schule zu besuchen. Dann klagt das Kind über immer wiederkehrende Bauch- oder Kopfschmerzen. Das sind Alarmsignale, die Eltern unbedingt ernst nehmen sollten. Bei älteren Schülern kommen noch Schulschwänzen, erhöhter Drogenkonsum und Essstörungen hinzu. Sie fressen diesen Frust buchstäblich in sich hinein, kiffen sich am Wochenende die Hucke voll oder treffen sich zum Koma-Saufen mit Gleichgesinnten. (Ich finde es in diesem Zusammenhang immer sehr dreist, wenn Schulleiter bei Vorträgen am «Tag der offenen Tür» mit der Behauptung für ihre Schule werben, sie sei drogenfrei.)

Andere ziehen sich zurück, sind genervt und hängen stundenlang vor dem Computer. Dann gibt es aber auch die Schüler, die wütend sind, die sagen: «Okay, wenn ihr den bad boy (oder das bad girl) haben wollt, dann bitte schön!» Sie verhalten sich aggressiv, aufmüpfig und lehnen alles, was mit Schule zu tun hat, ab, inszenieren Mobbing-Szenarios und versuchen ihren Frust auf andere zu projizieren. Denn ihre Mitschüler verweigern ihnen oft die erhoffte Rückendeckung: Bloß nicht neben dem üblichen Schulstress auch noch den vom Klassenkameraden schultern. Auf keinen Fall selbst in den Fokus bei Lehrern, Schulleitern oder den eigenen Eltern geraten. Alles, bloß keinen Ärger!

Also machen diese Schüler einen Haken hinter das System Schule, dessen Hauptakteure sie behandeln, als könnte man ihnen nicht über den Weg trauen. Bei ihnen können dann leider selbst gute und um Vertrauen bemühte Lehrer keinen Blumentopf mehr gewinnen. Ein Teufelskreis.

Kein Wunder, dass sich auch innerhalb der Lehrerschaft langsam Kritik regt über die Kollegen und deren Vorurteile und herablassenden Äußerungen. Im Frühjahr 2017 veröffentlicht die Lehrerin einer Berliner Brennpunktschule einen Brandbrief im «Tagesspiegel». Sie bleibt anonym, müsste sie doch bei Veröffentlichung ihres Namens mit Repressalien rechnen, zumal sie an besagter Schule noch tätig ist. Unter der Überschrift «Lasst uns endlich über Problemlehrer sprechen!» schreibt sie: «Was diese Lehrenden so problematisch macht, ist ihre positive Sicht auf sich selbst und ihre negative Einstellung gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern. Eine der ersten Formulierungen, die ich lernte, als ich neu an die Schule kam, war ‹die Schüler rundmachen›.»

In dem daraus entstehenden emotional hochexplosiven Gemisch aus Zurückweisung von allen Seiten, Demütigung und Alleingelassenwerden sehe ich eine wesentliche Ursache für störendes, asoziales Verhalten im Unterricht und in den Pausen, ja für Gewaltexzesse gegen Lehrer und Mitschüler. Das kommt mir auch immer wieder in den Sinn, wenn in Nordrhein-Westfalen die «Chaostage» der Abiturienten stattfinden, mit denen das Ende der Schulzeit «gefeiert» wird. Bei uns in Münster münden sie in den sogenannten Tag X, den letzten offiziellen Schultag der Abiturienten. Was ich im Frühjahr 2017 sah, war zwar viel Freude und Ausgelassenheit, aber auch wütende, erschreckende Destruktivität. Schüler liefen volltrunken und randalierend durch die Stadt, zerstörten Blumenbeete derart, dass es der ortsansässigen Zeitung einen Artikel wert war, schmissen Bierflaschen durch die Gegend und skandierten Schmähgesänge gegenüber ihrer eigenen Schule. Wer auch nur über einen Funken Sensibilität verfügte, merkte sehr deutlich, wie neben der Freude über das bestandene Abitur sehr viel Bitterkeit und Wut auf die vergangenen Jahre mitschwang (durch reichlich Alkohol noch verstärkt). Gewohnt war ich, Schmähgesänge über andere Schulen zu hören, zumal sich einige Gymnasien rivalisierend gegenüberstehen. Aber dass Schüler, pikanterweise mit dem Schullogo auf dem Abiturienten-T-Shirt, sich grölend, aggressiv und unflätig über dieselbe und ihre Lehrer ausließen, das war für mich Neuland und spricht, wie ich meine, Bände.

Im schlimmsten Fall ist ein solcher Negativ-Gefühlscocktail Ursache für Amokläufe.